La présence de Yoann, remémorée ou fantasmée, est toujours encadrée par des crochets.
Laurent Mauvignier, Proches, „Notes“ (Minuit, 2023).
Yoanns erinnerte oder phantasierte Anwesenheit wird immer durch eckige Klammern eingerahmt.
Im Jahr 2023 erscheinen gleich zwei Romane des 1967 in Tours geborenen Laurent Mauvignier auf Deutsch: sein 500 Seiten starker Roman Histoires de la nuit (2020, dt. Geschichten der Nacht) bei Matthes und Seitz, außerdem Des hommes (2009, dt. Von Menschen) bei Wagenbach. In beiden Fällen sind das problematische Familienarrangements. Zugleich erscheint in Frankreich Mauvigniers Theaterstück Proches (im Sinne von Familienangehörige), das 2023 und 2024 in Frankreich in verschiedenen Theatern gespielt wird.
Tellement proches. On est si proches — tellement rapprochés qu’on peut plus respirer — j’étouffe — on étouffe à force d’être si proches.
Laurent Mauvignier, Proches (Minuit, 2023).
So nah. Wir sind uns so nah — so nah, dass wir nicht atmen können — ich ersticke — wir ersticken, weil wir uns so nah sind.
Zunächst kommt das Stück Proches im September 2023 in La Colline (Pressemappe und Programm) auf die Bühne, das Theater fasst das Werk Mauvigniers zusammen als Studie über Menschen, die „versuchen, ihre intimen Traumata zu überwinden, wie einen Selbstmord (Loin d’eux) und ein Verschwinden (Tout mon amour), oder kollektive Traumata, wie das Heysel-Drama (Dans la foule) und den Algerienkrieg (Des Hommes).“ 1 Und im neuen Theaterstück?
Nach vier Jahren Gefängnishaft wird Yoann entlassen, und in seiner Familie reagieren alle bereits vor seiner Ankunft irritiert, jeder allein mit seinen Erinnerungen. Auch die Familie in Proches hatte im Übrigen in der Kleinstadt ihren Preis für Yoanns Straffälligkeit zu zahlen. Der Vater mit Lungenkrebs und die Mutter, zwei Schwestern, die Schwager, auch eine ehemals geliebte Person, sie warten. Vergeblich. In der ansonsten eher kritischen Besprechung von Fabienne Pascaud bezieht sie diese Konstellation auf die tiefe Tradition des Theatermotivs: „Die Söhne oder männliche Unbekannte, die eine Familie durch ihre Rückkehr oder Ankunft stören, zerstören oder enthüllen, sind im Theater und im Kino seit jeher reichlich vorhanden. Von der Orestie des Aischylos (458 v. Chr.) bis zu Pasolinis Theorem (1968), von Molières Tartuffe (1669) bis zu Jean-Luc Lagarces Juste la fin du monde (1990). In Proches, dem neuesten Stück von Laurent Mauvignier, das er selbst — und zum ersten Mal! — geschickt inszeniert, bedarf es nicht einmal der realen Präsenz Yoanns, um seine „Verwandten“ zu elektrisieren.“ 2 Mauvignier selbst nennt als möglichen Bezug Jon Fosses Quelqu’un va venir (Da kommt noch wer) 3.
Joëlle Gayot bespricht Mauvigniers Stück als letztlich die Dekonstruktion der Familie nur deshalb in Szene setzendes Stück („Zu jeder Spielsequenz fügt er ein Sandkorn hinzu (einen Vorwurf, ein Geständnis, eine Schuld, eine Lüge, eine Untat)“), um hinter diesem Alibi vor allem ein Stück über das Schreiben für die Bühne zu versuchen. 4 Hinzu kommt: Ursprünglich hatte Laurent Mauvignier das Drehbuch für einen Kurzfilm geschrieben, es später dann fürs Theater weiter ausgearbeitet.
So kommt es zu Mauvigniers eigenen Hinweisen auf Pasolini und Hitchcock:
J’ai pensé beaucoup à Théorème de Pasolini. Même si ici le Visiteur de Pasolini est remplacé par un frère, un fils, un amant que tous connaissent, sa présence est aussi un vecteur de transformation de chacun. Yoann est également un peu le metteur en scène de la pièce, ou son narrateur, d’où sa capacité à transformer le décor, à déplacer les éléments, à abattre le quatrième mur. On pourrait presque croire, à un certain moment, que ce ne sont pas tant les personnages qui se souviennent de lui ou qui l’imaginent que lui, inversement, qui les imagine pensant à lui. Si vous n’avez jamais vu la bande annonce originale de Psycho, je vous invite à aller la regarder sur YouTube : Hitchcock se promène sur les lieux du crime, dans la maison de Norman Bates, dans le motel, jusque dans la fameuse et mythique salle d’eau. Il nous raconte ce qui va arriver, jusqu’à un certain point. Yoann, jusqu’à un certain point lui aussi, nous raconte ce qui va advenir, comme un démiurge, comme un créateur s’amusant de ses créatures.
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Ich habe viel an Pasolinis Theorem gedacht. Auch wenn Pasolinis Besucher hier durch einen Bruder, einen Sohn, einen Geliebten ersetzt wird, den alle kennen, ist seine Anwesenheit auch ein Vektor für die Transformation jedes Einzelnen. Yoann ist auch ein bisschen der Regisseur des Stücks oder sein Erzähler, daher seine Fähigkeit, das Bühnenbild zu verändern, Elemente zu verschieben und die vierte Wand niederzureißen. An einer Stelle könnte man fast meinen, dass es nicht so sehr die Figuren sind, die sich an ihn erinnern oder ihn sich vorstellen, sondern umgekehrt er, der sich vorstellt, dass sie an ihn denken. Wenn Sie den Originaltrailer zu Psycho noch nicht gesehen haben, sollten Sie ihn sich auf YouTube ansehen: Hitchcock spaziert am Tatort herum, im Haus von Norman Bates, im Motel, bis hin zum berühmten und legendären Waschraum. Er erzählt uns, was passieren wird, bis zu einem gewissen Punkt. Auch Yoann erzählt uns bis zu einem gewissen Punkt, was geschehen wird, wie ein Demiurg, wie ein Schöpfer, der sich an seinen Geschöpfen erfreut.
Im Gegensatz zur Linearität der Romanzeile kann Mauvignier die Sprache auf der Bühne befreit im Raum anordnen, auch befreit von der Dialogabfolge. So erklärt der Autor zum ersten von ihm selbst inszenierten Stück und den Notationsanmerkungen zu Beginn des Stücks, die die Orchestrierung der Sprache ja erläutern:
C’est un mouvement fait de reprises, de contradictions, de relance – c’est très difficile pour les comédiens, d’autant qu’il faut mémoriser autant les trous que les pleins, les silences, les arrêts et, bien sûr, apprendre à parler en même temps que les autres. Si dans l’art de la conversation on apprend à écouter les autres avant de leur répondre, dans la vie vivante, la vie des gens, on se parle dessus comme on se marche dessus, on déplie et déploie sa propre pensée bien avant de songer à répondre à son interlocuteur.
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Es ist eine Bewegung, die aus Wiederholungen, Widersprüchen und Neubeginn besteht – das ist sehr schwierig für die Schauspieler, zumal sie sich sowohl die Lücken als auch die Fülle, die Stille und die Stopps merken und natürlich lernen müssen, gleichzeitig mit den anderen zu sprechen. Während man in der Kunst der Konversation lernt, den anderen zuzuhören, bevor man ihnen antwortet, spricht man doch im lebendigen Leben, im Leben der Menschen, übereinander, wie man übereinander hinwegläuft, man entfaltet seine eigenen Gedanken und breitet sie aus, lange bevor man daran denkt, seinem Gesprächspartner zu antworten.
[Yoann la regarde, elle le voit, s’adresse à lui :
VANESSA. – Franchement, c’est nul. Je viens te voir dans cette saloperie de parloir et c’est comme si je venais pour que tu m’aides, alors que c’est moi qui devrais t’aider. (Un temps.) Tu me manques tellement, mon frère. Je t’aime.
YOANN. – Toi aussi tu me manques. Vous me manquez. Vous m’avez toujours manqué.
Didier lâche un râle d’agacement – un rire sarcastique, un signe de colère. Tous se retournent vers lui. Yoann disparaît.]
DIDIER. – Oui, bien sûr, c’est ça. La prison, ça rapproche.
VANESSA. – Moi, ça m’a rapprochée.
DIDIER. – C’est connu pour ça, de rapprocher les gens. On se sent si proches les uns des autres –
VANESSA. – Je dis pas pour les autres.
DIDIER. – T’avais remarqué comment on s’est rapprochés, tous ? Tellement proches. On est si proches – tellement rapprochés qu’on peut plus respirer – j’étouffe – on étouffe à force d’être si proches.
VANESSA. – Je dis pas pour les autres. Mais moi, oui – oui – moi ça m’a rapprochée de lui.
DIDIER. – Ah oui, toi… « Toi ».
MALOU. – Papa, laisse-la parler.
DIDIER. – Toi, dès qu’il s’agit de défendre ta sœur ou ton frère contre ta mère et moi… Mais dire que ça rapproche, ça, non, non… je peux pas. Je peux pas entendre ça.
MALOU. – Elle parle pas pour toi.
VANESSA. – J’en sais rien de ce que / les autres vivent, il y a pas que toi ici.
Laurent Mauvignier, Proches (Minuit, 2023).
[Yoann schaut sie an, sie sieht ihn, spricht ihn an:
VANESSA. – Ehrlich gesagt, das ist scheiße. Ich komme, um dich in diesem verdammten Besucherraum zu sehen und es ist, als ob ich komme, damit du mir hilfst, obwohl ich es bin, der dir helfen sollte. (Pause.) Ich vermisse dich so sehr, mein Bruder. Ich liebe dich.
YOANN. – Ich vermisse dich auch. Ich vermisse dich. Ich habe euch immer vermisst.
Didier lässt ein genervtes Räuspern los – ein sarkastisches Lachen, ein Zeichen von Wut. Alle drehen sich zu ihm um. Yoann verschwindet.]
DIDIER. – Ja, natürlich, das ist es. Das Gefängnis bringt einen näher zusammen.
VANESSA. – Mich hat es näher gebracht.
DIDIER. – Dafür ist es bekannt, dass es die Menschen einander näher bringt. Man fühlt sich einander so nah –
VANESSA. – Ich sage nicht für die anderen.
DIDIER. – Hast du bemerkt, wie nah wir uns alle gekommen sind? So nah. Wir sind uns so nah – so nah, dass man nicht mehr atmen kann – ich ersticke – man erstickt, weil man sich so nah ist.
VANESSA. – Ich sage nicht, was die anderen betrifft. Aber ich, ja – ja – ich bin ihm dadurch näher gekommen.
DIDIER. – Ach ja, du … „Du“. Du“.
MALOU. – Papa, lass sie reden.
DIDIER. – Du, sobald es darum geht, deine Schwester oder deinen Bruder gegen deine Mutter und mich zu verteidigen … Aber zu sagen, dass das zusammenschweißt, das, nein, nein … das kann ich nicht hören. Ich kann das nicht hören.
MALOU. – Sie spricht nicht für dich.
VANESSA. – Ich weiß nicht, was / die anderen erleben, es gibt nicht nur dich hier.
Kai Nonnenmacher
- „Son univers est celui d’êtres en prise avec le réel, qui tentent de surmonter leurs traumatismes intimes, tels un suicide (Loin d’eux) et une disparition (Tout mon amour), ou collectifs, comme avec le drame du Heysel (Dans la foule) et la guerre d’Algérie (Des Hommes).“ Seite zum Stück des Theaters La Colline.>>>
- „Les fils ou des inconnus mâles qui viennent perturber, détruire ou révéler une famille par leur retour ou leur arrivée, le théâtre comme le cinéma depuis toujours en regorgent. De L’Orestie d’Eschyle (– 458 av. J.-C.) au Théorème de Pasolini (1968), du Tartuffe de Molière (1669) à Juste la fin du monde de Jean-Luc Lagarce (1990). Dans Proches, la dernière pièce de Laurent Mauvignier qu’il met lui-même — et pour la première fois ! — habilement en scène, pas même besoin de la présence réelle de Yoann pour électriser ses « proches ».“ Fabienne Pascaud, „“Proches”, une pièce ultra psychologique et trop bavarde de Laurent Mauvignier“, Télerama, 13. September 2023.>>>
- Sean Rose, „Laurent Mauvignier, la mise en scène comme geste d’écriture“, Livres Hebdo, 11. September 2023.>>>
- „Le drame repose sur des presque riens que Laurent Mauvignier orchestre avec une virtuosité épatante. A chaque séquence de jeu, il ajoute un grain de sable (un reproche, une confession, une culpabilité, un mensonge, un méfait) jusqu’à former un édifice branlant voué à s’effondrer. Tant de systématisme dans l’élaboration du chaos sème le doute sur ses véritables intentions. Et s’il ne se servait de son alibi fictionnel (le démantèlement d’une famille) que pour traiter d’un autre sujet : l’écriture et ses usages possibles sur la scène du théâtre ?“ Joëlle Gayot, „Avec « Proches », Laurent Mauvignier fait dérailler la famille“, Le Monde, 15. September 2023.>>>
- Laurent Mauvignier, “ ‚Le désir de théâtre s’est toujours affirmé pour moi conjointement à la réalité du roman‘ (Proches)„, entretien avec Johan Faerber, Diacritik, 11. September 2023.>>>
- Laurent Mauvignier, “ ‚Le désir de théâtre s’est toujours affirmé pour moi conjointement à la réalité du roman‘ (Proches)„, entretien avec Johan Faerber, Diacritik, 11. September 2023.>>>