Palästina, Wunde und Traum: Karim Kattan

On s’y habitua. On oublia, même, que ce n’était pas normal. On ne trouva pas de nom à donner à la saison. Ce fut, simplement, l’été.

Karim Kattan, L’Éden à l’aube.

Man gewöhnte sich daran. Man vergaß sogar, dass es nicht normal war. Man fand keinen Namen für die Jahreszeit. Es war einfach Sommer.

Karim Kattans L’Éden à l’aube (elyzad, 2024) erzählt eine Liebe in Palästina zwischen Isaac und Gabriel, die sich in einem von politischen, religiösen und gesellschaftlichen Konflikten durchzogenen Jerusalem entfaltet. Der Roman wechselt zwischen lyrischer Entrücktheit und politischer Realität, zwischen mythischer Überhöhung und der Brutalität des Alltags. Der Autor betont, dass der Roman in einer Zeit geschrieben wurde, bevor die aktuellen gewalttätigen Ereignisse in Gaza stattfanden, und dass er politisch relevant ist, aber in einem langen zeitlichen Rahmen verankert bleibt, der über die kurzfristigen politischen Ereignisse hinausgeht. Seither äußert sich Kattan u.a. in Le Monde engagiert zur Situation Palästinas. Der Roman gewann u.a. den Prix littéraire du 2e roman. Jurymitglied Sorj Chalandon beschreibt das Werk als eine Mischung aus Tausendundeiner Nacht und dem Hohelied, die eine poetische, orientalische und zugleich bisweilen rohe Sprache verwendet (Tatsächlich erscheint übrigens Sheherazade bereits in Kattans Erzählsammlung Préliminaires pour un verger futur von 2017). Emilie Gavoille problematisiert die stereotype Zuordnung zu einer „orientalischen“ Erzähltradition: „Die Verflechtung der Erzählungen und die gewundene Struktur erinnern uns gerne an Tausendundeine Nacht, aber Karim Kattan antwortet mit Jacques le Fataliste und den philosophischen Erzählungen der Aufklärung. Ohne die literarische Tradition, die man in Ermangelung eines besseren Begriffs als orientalisch bezeichnet, rundweg abzulehnen, zieht er es vor, sie auf Distanz zu halten. Oder besser gesagt, sie zu hybridisieren und mit all den Beiträgen zu färben, die das barocke Gebäude seiner persönlichen Kultur bilden.“ 1

Bonjour.

Bonjour, Isaac.

Je t’ai donné le nom d’un prince ou d’un rescapé, mais il ne faut pas chercher plus loin que l’euphonie, que la suggestion de ta respiration qui a dit « Isaac » et puis tu n’es sans doute ni l’un ni l’autre, seulement un humain dans une ville qui se rétracte juste assez pour te laisser entrer au monde.

Bonjour. Tu ne m’entends pas, mais je suis là, autour de toi, par-dessus toi, lourd de tous mes astres cachés derrière le bleu, de tous mes nuages passés et à venir, lourd de tout mon bleu. Bonjour, Isaac, il faut se réveiller maintenant. Il faut se lever, et quitter les décombres et le sommeil. Il faut trouver ta basket, tu ne peux pas aller pieds nus dans cette ville éventrée, et il faut trouver un chemin.

Bonjour, Isaac. Allez, il est temps. Tu as assez dormi. Tu as dormi sept mille ans peut-être. Debout. Je ne t’ai pas nommé pour rien.

Karim Kattan, L’Éden à l’aube.

Guten Morgen.

Guten Morgen, Isaac.

Ich habe dir den Namen eines Prinzen oder eines Überlebenden gegeben, aber du musst nicht weiter suchen als bis zum Wohlklang, bis zur Suggestion deines Atems, der „Isaac“ sagte, und dann bist du wahrscheinlich weder das eine noch das andere, nur ein Mensch in einer Stadt, die sich gerade weit genug zusammenzieht, um dich in die Welt zu lassen.

Guten Morgen. Du hörst mich nicht, aber ich bin da, um dich herum, über dir, schwer von all meinen hinter dem Blau verborgenen Gestirnen, von all meinen vergangenen und zukünftigen Wolken, schwer von all meinem Blau. Guten Morgen, Isaac, du musst jetzt aufwachen. Du musst aufstehen und die Trümmer und den Schlaf verlassen. Du musst deinen Turnschuh finden, du kannst nicht barfuß durch diese aufgerissene Stadt gehen, und du musst einen Weg finden.

Guten Morgen, Isaac. Komm schon, es ist Zeit. Du hast lange genug geschlafen. Du hast vielleicht siebentausend Jahre geschlafen. Steh auf. Ich habe dir nicht umsonst einen Namen gegeben.

Der Text entfaltet sich in einer traumhaften Erzählweise, während er zugleich die Spuren kolonialer Gewalt und territorialer Enge unübersehbar macht. Der Autor nutzt poetische Bilder, fragmentierte Zeitlichkeit und mythische Referenzen, um eine Erzählweise zu schaffen, die zwischen Realität und Traum wechselt und sich einer eindeutigen Lesart entzieht. Kattans Sprache ist kühn: Die Satzstrukturen schwanken zwischen rhythmisierten Wiederholungen und abrupten Verkürzungen, zwischen meditativer Weite und radikaler Reduktion. Manche Passagen lösen sich fast gänzlich von der narrativen Prosa und tendieren ins Lyrische.

Moi, je voulais seulement vous conter leur amour et le commenter. Mais en réalité comment vous décrire leur amour sans vous dire la minutieuse administration dans lequel il est né ? Qu’est-ce que tout cela signifie si vous ne savez pas quels sont les papiers, les frontières, les finances, qui organisent la vie de l’un et de l’autre ? Rien, rien que des mots. Car voilà, l’un comme l’autre vit dans un pays qui n’est pas vraiment le leur. Ils vivent enchaînés à des systèmes conçus pour les empêcher, élaborés pour maintenir leur vie au stade minimal, pour couper l’épanouissement et, ainsi, tuer dans l’oeuf la possibilité de vivre libre ou amoureux. C’est-à-dire qu’ils vivent, colonisés, dans un espace dont les coordonnées sont composées de telle manière à empêcher qu’ils puissent imaginer aimer (sa famille, ses amis, ses amours, l’univers) en toute sécurité. C’est là le coeur de l’histoire, en réalité. Le coeur de l’histoire est la nature du passeport de l’un et de l’autre, de leurs comptes en banque, du fait que l’un a besoin d’un permis pour être auprès de l’autre, tandis que l’autre ne peut quitter plus d’un an ce pays sous peine de tout perdre. Ils sont tous deux régis par une machine coloniale si vieille et profonde et sophistiquée, qu’ils l’ont presque oubliée. L’amour ne triomphe de rien, et certainement pas de cette administration. Gare à vous, si vous l’oubliez. Gare à eux, qui l’ont déjà, et si facilement, oublié.

Karim Kattan, L’Éden à l’aube.

Ich selbst wollte Ihnen nur von ihrer Liebe erzählen und sie kommentieren. Aber wie kann ich Ihnen ihre Liebe beschreiben, ohne Ihnen die minutiöse Verwaltung zu erzählen, in der sie entstand? Was bedeutet das alles, wenn Sie nicht wissen, welche Papiere, Grenzen und Finanzen das Leben des einen wie des anderen organisieren? Nichts, nichts als Worte. Denn das ist es: Beide leben in einem Land, das nicht wirklich ihr eigenes ist. Sie leben angekettet an Systeme, die entwickelt wurden, um sie zu behindern, die entwickelt wurden, um ihr Leben auf einer minimalen Stufe zu halten, um die Entfaltung abzuschneiden und so die Möglichkeit, frei oder verliebt zu leben, im Keim zu ersticken. Das heißt, sie leben kolonisiert in einem Raum, dessen Koordinaten so zusammengesetzt sind, dass sie sich nicht vorstellen können, sicher zu lieben (ihre Familie, ihre Freunde, ihre Lieben, das Universum). Das ist in Wirklichkeit der Kern der Geschichte. Der Kern der Geschichte ist die Art der Pässe der beiden, ihre Bankkonten, die Tatsache, dass der eine eine Genehmigung braucht, um bei dem anderen zu sein, während der andere das Land nicht länger als ein Jahr verlassen darf, weil er sonst alles verlieren würde. Beide werden von einer kolonialen Maschinerie regiert, die so alt und tief und ausgeklügelt ist, dass sie sie fast vergessen haben. Die Liebe triumphiert über nichts, und schon gar nicht über diese Verwaltung. Wehe Ihnen, wenn Sie sie vergessen. Wehe ihnen, die sie schon so leicht vergessen haben.

Isaac wächst in einem palästinensischen Dorf in der Nähe von Jerusalem auf. Seine Kindheit ist geprägt von Geschichten, Träumen und dem Gefühl der Enge, das der Alltag mit sich bringt. Gabriel stammt aus einer wohlhabenderen, privilegierten Familie, die in Birzeit lebt. Der mystische Charakter dieser Stadt mit ihrem eigenen Zeitgefüge beeinflusst Gabriels Wahrnehmung der Welt. Er ist künstlerisch begabt und träumt von einer Welt, in der Schönheit und Frieden die Gewalt und Zerstörung verdrängen. Ihre erste Begegnung ist geprägt von einer fast magischen Anziehung. Isaac sieht in Gabriel eine fremdartige, fast außerirdische Schönheit, während Gabriel von Isaacs melancholischer Tiefe fasziniert ist. In einer Gesellschaft, die von Misstrauen, Gewalt und politischen Konflikten geprägt ist, ist ihre unmögliche Liebe ein stiller Akt des Widerstands. Sie teilen Momente der Intimität an versteckten Orten, geschützt vor den Blicken der Außenwelt. Der Blick auf die Körperlichkeit wird in Kattans Roman mit einer poetischen Sprache beschrieben, die die sinnliche Spannung zwischen den beiden betont. Die Sehnsucht nach dem anderen Körper, das Verlangen nach Berührung und Nähe wird durch die Metapher des Sandes, der sich störend in jede Ritze drängt, verstärkt. Der Höhepunkt ihrer Geschichte ist ein gemeinsamer Moment in einer Ruinenlandschaft. Karim Kattan zeichnet mit Isaac und Gabriel nicht nur eine Liebesgeschichte, sondern auch das Bild einer zerrissenen Gesellschaft. Ihre Geschichte ist eine Allegorie auf die Sehnsucht nach Nähe in einer Welt der Trennung, auf die Hoffnung auf Frieden trotz allgegenwärtiger Konflikte und auf die unbändige Kraft der Liebe in einer zerstörten Welt.

Zum Romanbeginn

Comment t’aimer dans cette ville caractérielle, si prompte à la colère, cette ville hantée par le dieu et qui ne me laisse pas la place de t’adorer toi plutôt que lui ? Comme je voudrais être un beau vase d’Hébron, bleu translucide et plus lourd que la nuit, et toi l’artisan qui me fabrique, ton souffle et ton doigté qui me font prendre chair, tournoyer, luire, qui me distendent jusqu’à mes extrémités, m’illimitent pour devenir l’objet exact de ton désir, ta volonté faite lueur, faite moi, ta main sur mon corps qui me fait étinceler, briller en fournaise, pour fabriquer ta cocagne, ton foisonnement. Comme je voudrais être le résultat unique, pour tous les temps et toutes les nuits, de ton désir, façonné par ton souffle, tes poumons, ta salive.

Cette année-là, le khamsin se leva en février. Les vents d’Égypte secouèrent le pays sans répit jusqu’en octobre. Il faisait chaud. Les maisons, les fenêtres, les grilles, les vitres étaient recouvertes de sable, ainsi que les checkpoints, les vendeuses d’herbes, les chiens errants, les fusils et les chardons, les voitures vieilles et neuves, les draps fraîchement repassés, les concombres et les courgettes, et les roses, et les piscines, et le ciel.

Un écran de sable se dressa entre chaque enfant d’Ève et son voisin. Les aéroports cessèrent leurs opérations. Sur les trois mers, la blanche du milieu, la rouge, la morte, l’horizon s’effaça. L’écran de sable s’étendit aussi sur le fleuve sacré. Tous les pays de l’autre côté des frontières disparurent derrière le maelström, comme si ce pays-là, l’ici, avait été depuis toujours l’unique pays, l’unique ici. La modernité fut frappée de cécité, ses instruments désorientés, ses appareils décalibrés. Les drones et miradors étaient aveuglés, les satellites de reconnaissance déphasés, les scanners confondus, les [10] applis détraquées, les antennes affolées. La géo-localisation, brouillée par les vents, pour la première fois depuis longtemps ne localisait rien ni personne. Plus la saison avançait, plus le khamsin déglinguait ce petit coin du monde qui ne produisait désormais presque aucune donnée traçable, pas le moindre signal, pas une once de data. Le pays, caché sous ce vent, s’était comme dérobé à la planète, volatilisé.

On se demanda s’il restait encore du sable en Égypte, tant il y en avait dans l’air. On accusa, selon ses affinités et ses inimitiés, les juifs, les Palestiniens, les Israéliens, les Samaritains, les sorciers, les Américains, les musulmans, les Russes, les Druzes, les Chinois, les Arabes, les homosexuels, les femmes, les chrétiens, l’enfer, l’adversaire, le dieu.

On n’arrivait plus à respirer. On s’était habitué à retrouver sur le bord de la route ou dans une maison ou dans les champs ou attablés dans un café ou même amoncelés le long de la côte — que le mal demeure loin de vos oreilles — des cadavres, étouffés, les lèvres gercées et salées, les poumons gorgés de sable, les yeux arrachés par le vent. Celui-ci tuait surtout les jeunes hommes en pleine santé.

Karim Kattan, L’Éden à l’aube.

Wie kann ich dich lieben in dieser temperamentvollen Stadt, die so schnell zum Zorn neigt, dieser Stadt, die vom Gott heimgesucht wird und mir keinen Raum lässt, dich statt ihn anzubeten? Wie gerne wäre ich eine schöne Vase aus Hebron, blau durchscheinend und schwerer als die Nacht, und du der Handwerker, der mich herstellt, dein Atem und deine Fingerfertigkeit, die mich Fleisch werden, wirbeln, glühen lassen, die mich bis zu meinen Enden dehnen, mich grenzenlos machen, um das genaue Objekt deines Wunsches zu werden, dein Wille zum Glühen gebracht, zu mir gemacht, deine Hand auf meinem Körper, die mich funkeln, im Ofen glühen lässt, um dein Kokain, deinen Überfluss herzustellen. Wie gerne wäre ich das einzigartige Ergebnis, für alle Zeiten und alle Nächte, deines Verlangens, geformt durch deinen Atem, deine Lungen, deinen Speichel.

In jenem Jahr ging der Khamsin im Februar auf. Die Winde Ägyptens schüttelten das Land unaufhörlich bis zum Oktober. Es war heiß. Die Häuser, Fenster, Gitter und Scheiben waren mit Sand bedeckt, ebenso die Checkpoints, die Kräuterverkäuferinnen, streunende Hunde, Gewehre und Disteln, alte und neue Autos, frisch gebügelte Bettwäsche, Gurken und Zucchini und Rosen und Swimmingpools und der Himmel.

Zwischen jedem Kind von Eva und seinem Nachbarn wurde eine Sandwand errichtet. Die Flughäfen stellten ihren Betrieb ein. Auf den drei Meeren, dem weißen Mittelmeer, dem roten Meer und dem toten Meer, verschwand der Horizont. Der Sandschirm dehnte sich auch über den heiligen Fluss aus. Alle Länder jenseits der Grenzen verschwanden hinter dem Mahlstrom, als wäre dieses Land, das Hier, seit jeher das einzige Land, das einzige Hier gewesen. Die Moderne wurde mit Blindheit geschlagen, ihre Instrumente desorientiert, ihre Geräte dekalibriert. Die Drohnen und Wachtürme waren geblendet, die Aufklärungssatelliten phasenverschoben, die Scanner verwirrt, die Apps verrückt, die Antennen in Panik. Die Geo-Lokalisierung, die von den Winden vernebelt wurde, konnte zum ersten Mal seit langem nichts und niemanden mehr orten. Je weiter die Jahreszeit voranschritt, desto mehr khamsin zerlegte diese kleine Ecke der Welt, die nun fast keine verfolgbaren Daten mehr produzierte, nicht das geringste Signal, nicht eine Unze data. Das Land, versteckt unter diesem Wind, hatte sich dem Planeten entzogen, sich in Luft aufgelöst.

Man fragte sich, ob es in Ägypten überhaupt noch Sand gab, so viel war in der Luft. Man beschuldigte je nach Affinität und Feindschaft die Juden, die Palästinenser, die Israelis, die Samariter, die Hexen, die Amerikaner, die Muslime, die Russen, die Drusen, die Chinesen, die Araber, die Homosexuellen, die Frauen, die Christen, die Hölle, den Widersacher, den Gott.

Wir konnten nicht mehr atmen. Man hatte sich daran gewöhnt, dass am Straßenrand oder in einem Haus oder auf dem Feld oder in einem Café oder sogar an der Küste – möge das Böse von euren Ohren fern bleiben – Leichen lagen, erstickt, mit aufgesprungenen, salzigen Lippen, sandigen Lungen und vom Wind herausgedrückten Augen. Dieser tötete vor allem junge, gesunde Männer.

Die ersten Absätze von Karim Kattans Roman L’Éden à l’aube schaffen ein poetisch-dystopisches Szenario, das wesentliche Themen, narrative Strategien und gesellschaftliche Fragen des gesamten Romans vorwegnimmt. Bereits hier entfaltet sich ein vielschichtiges literarisches Universum, das von Liebe und Gewalt, von Identitätsfragen und gesellschaftlicher Fragmentierung geprägt ist.

Der Khamsin, der heiße Ostwind, dient nicht nur als meteorologisches Phänomen, sondern auch als metaphorische Kraft, die das Land mit Sand bedeckt und es von der Welt isoliert. Die Sandmauer, die zwischen den Menschen errichtet wird, verweist auf gesellschaftliche Trennungen, politische Barrieren und kollektives Misstrauen. Die Verweise auf Verdächtigungen gegenüber verschiedenen Gruppen spiegeln eine zerrissene Gesellschaft wider, in der Vorurteile und Ressentiments das soziale Miteinander vergiften. Diese Atmosphäre der Angst und Gewalt deutet die konfliktreiche Realität an, in der sich die Protagonisten bewegen.

„Wie kann ich dich lieben?“ Dieser eröffnende Monolog zeigt die Spannung zwischen spiritueller und sinnlicher Liebe. Die Stadt erscheint als Ort der Repression, der von einer religiösen, autoritären Präsenz beherrscht wird. Die Metapher des Glasbläsers und des blauen Vasenwunsches symbolisiert die Sehnsucht nach Hingabe, Identitätsauflösung und bedingungslosem Verlangen. Hier ist die Dynamik von Macht und Unterwerfung spürbar, ein zentrales Motiv, das ebenfalls in der späteren Liebesgeschichte zwischen Isaac und Gabriel anklingt. Die Sandmassen, welche Satelliten und Geo-Lokalisierungsgeräte lahmlegen, weisen auf einen Kontrollverlust, der sowohl politische als auch persönliche Dimensionen hat. Die moderne Überwachungstechnologie versagt; das Land wird unsichtbar und entzieht sich der globalen Ordnung. Dies eröffnet Räume für Freiheit, Chaos und intime Begegnungen, verweist aber gleichzeitig auf eine fragile Realität, die zwischen Mythen und Moderne wechselt. Der Himmel als personifizierter Erzähler ist eine narrative Besonderheit. Er blickt von oben auf die Geschehnisse und bringt eine kosmische Perspektive ein. Dieser Erzähler spielt mit der Zeit, kündigt zukünftige Entwicklungen an und spricht die Lesenden direkt an („Das müsst ihr mir glauben“). Durch diese allwissende, aber emotionale Erzählhaltung entsteht ein Gefühl von Schicksalhaftigkeit und Vorherbestimmung. Der gesellschaftliche Kontext, der Gewalt, Vorurteile und die Zerbrechlichkeit von Nähe thematisiert, stellt die Frage nach der Möglichkeit wahrer Verbindung in einer zerrissenen Welt.

Herr Wargrave ruft Isaac zu sich

Monsieur Wargrave repräsentiert den kolonialen Blick auf den Orient. Er betrachtet die Palästinenser – einschließlich Isaac – mit einer paternalistischen und exotisierenden Haltung. Obwohl er vorgibt, sie zu mögen und zu unterstützen, betrachtet er sie als „diese Leute“ und „diese Länder“, was eine tief verwurzelte Distanz und Überlegenheit ausdrückt. Diese Sichtweise zeigt, wie Wargrave die Kolonisierten zwar romantisiert, aber gleichzeitig auf stereotype Kategorien reduziert. Wargraves Beziehung zu Isaac ist von einem ungleichen Machtverhältnis geprägt. Er ist fast 60, Konsul und hat die Macht, über Isaacs Bewegungsfreiheit zu entscheiden. Isaac wiederum ist auf diese Genehmigungen angewiesen und begibt sich in eine Abhängigkeit, die Wargrave ausnutzt, um seine erotischen Wünsche zu befriedigen. Es wird deutlich gemacht, dass Wargrave seine Position nie offen missbraucht, aber seine Macht subtil einsetzt, um Isaac zu manipulieren und sich seiner Dankbarkeit zu versichern. Wargrave exotisiert Isaac und reduziert ihn auf ein erotisches Objekt, wobei er seine Attraktivität mit rassistischen Stereotypen verknüpft. Er betrachtet Isaacs Körper orientalisierend, indem er seine Hautfarbe und seine Gesichtszüge als „exotisch“ wahrnimmt und sexualisiert. Gleichzeitig versucht er, Isaacs religiöse und kulturelle Identität zu entschlüsseln, um seine eigene sexuelle Dominanz besser anzupassen. Wargrave pflegt ein starkes Selbstbild, das auf Macht, Kontrolle und körperlicher Pflege beruht. Seine ritualisierte Körperpflege spiegelt seinen Versuch wider, die Zeit und das Altern zu kontrollieren, und zeigt seine narzisstische Besessenheit von Jugend und Attraktivität. Diese Selbstdisziplin und sein Streben nach Perfektion zeigen auch, wie sehr er an äußeren Machtstrukturen und Hierarchien festhält. Obwohl Wargrave sich selbst als humanistischen Vermittler sieht, bleibt er doch emotional leer und manipulativ. Seine Freundlichkeit gegenüber Isaac und den anderen Palästinensern ist nicht selbstlos, sondern dient seiner eigenen Selbstbestätigung und Machtdemonstration. Seine Großzügigkeit verlangt immer eine Gegenleistung, was seine moralische Ambiguität und seine emotionale Distanz verdeutlicht. In L’Éden à l’aube dient er als Symbol für die politischen und sozialen Machtverhältnisse, die Isaacs und Gabriels Leben bestimmen.

Il rentrera à l’hôtel, sûrement avec un ou deux amis. C’est évident. C’est facile ici. Pas besoin de tâter le terrain, de se poser de question, de déchiffrer les corps et les esprits. Même leur manière de faire l’amour, à eux, est différente. Certes ils sont tout aussi friands de violence et de brutalité que les Palestiniens — d’un peuple militarisé au peuple sous le joug militaire, les pratiques ne sont pas bien éloignées. Mais chez eux, c’est plus organisé. Ce ne sont pas des individus éparpillés mais une communauté qui se pense en soi et pour soi, qui constitue son sexe comme un trésor partagé, là où les autres crachent seulement de petits bijoux par-ci par-là sans agencement sans réflexion. La brutalité des Israéliens est articulée en corpus de pratiques sexuelles ; celle des Palestiniens est à peine réfléchie, le réflexe de copulation de chiens battus (Monsieur Wargrave est surpris de la crudité de sa réflexion, et se reprend). Et il se dit, Monsieur Wargrave, que ces derniers aiment les coups comme d’autres aiment les caresses, les confondent, ne distinguent pas les usages variés et séparés de la salive et des paumes des mains, il se dit qu’ils ont une sexualité malade, voilà, malade, la sienne est joyeuse, épanouie, solaire car il choisit ses modalités — douce, violente, tendre, brutale, il dispose d’un éventail de plaisirs dont il est seul décideur, mais eux ne font pas exprès, eux, il y a quelque chose de rabougri, comme un papier d’aluminium qu’on aurait froissé et jeté par terre avec négligence. Voilà ce qu’ils sont, de l’alu froissé jeté à terre. […]

À chaque fois qu’il rentre à Jérusalem, Monsieur Wargrave convoque Isaac. Le verbe est important, bien que ni l’un ni l’autre ne l’avoueraient. Il l’invite, cordialement, à prendre un verre et à manger ensemble. Un petit bout, dit-il pour faire simple, comme s’il n’y avait pas une cuisinière quelque part dans une cuisine. Isaac vient. Monsieur Wargrave lui offre un cadeau. Isaac le remercie avec profusion, met le cadeau dans son sac à dos, mais ne l’ouvre jamais devant lui. Monsieur Wargrave se dit que ça doit être un reste de tradition bédouine, un truc comme ça, donc il n’ose pas insister, mais tout ce qu’il veut, c’est voir le regard de joie, de reconnaissance, chez Isaac. Le sourire à la découverte du joli carré coloré comme une forêt tropicale, des boutons de manchette en or, de la cravate plus bleue qu’un ciel du désert, du bracelet d’émeraudes déniché dans une boutique qui vient d’ouvrir sur Dizengoff.

Karim Kattan, L’Éden à l’aube.

Er wird ins Hotel zurückkehren, wahrscheinlich mit einem oder zwei Freunden. Es ist offensichtlich. Hier ist es einfach. Es ist nicht nötig, sich vorzutasten, Fragen zu stellen, Körper und Geist zu entschlüsseln. Selbst die Art und Weise, wie sie Sex haben, ist bei ihnen anders. Zwar sind sie genauso gewaltbereit und brutal wie die Palästinenser – von einem militarisierten Volk zu einem Volk unter Militärherrschaft sind die Praktiken nicht weit voneinander entfernt. Aber bei ihnen ist es organisierter. Sie sind keine verstreuten Individuen, sondern eine Gemeinschaft, die in sich und für sich denkt, die ihr Geschlecht wie einen geteilten Schatz konstituiert, wo die anderen nur kleine Juwelen hier und da ausspucken, ohne Anordnung ohne Reflexion. Die Brutalität der Israelis wird in einem Korpus sexueller Praktiken artikuliert; die der Palästinenser ist kaum reflektiert, der Kopulationsreflex geschlagener Hunde (Herr Wargrave ist überrascht von der Rohheit seiner Überlegung und fängt sich wieder). Und Herr Wargrave, er sagt sich, dass sie Schläge lieben wie andere das Streicheln, sie verwechseln sie, sie unterscheiden nicht zwischen den verschiedenen und getrennten Verwendungen von Speichel und Handflächen, er sagt sich, dass sie eine kranke Sexualität haben, na bitte, eine kranke, seine ist fröhlich, erfüllt, er hat eine ganze Reihe von Vergnügungen, die er selbst bestimmen kann, aber sie machen das nicht absichtlich, sie haben etwas Verkümmertes, wie eine zerknitterte Alufolie, die man achtlos auf den Boden geworfen hat. Das ist es, was sie sind, zerknitterte Alufolie, die auf den Boden geworfen wird. […]

Jedes Mal, wenn er nach Jerusalem zurückkehrt, ruft Herr Wargrave Isaac zu sich. Das Verb ist wichtig, obwohl keiner von beiden es zugeben würde. Er lädt ihn herzlich zu einem Getränk und einem gemeinsamen Essen ein. Ein kleines Stück, sagt er der Einfachheit halber, als ob es nicht irgendwo in einer Küche einen Herd gäbe. Isaac kommt mit. Herr Wargrave überreicht ihm ein Geschenk. Isaac bedankt sich überschwänglich, steckt das Geschenk in seinen Rucksack, öffnet es aber nie vor ihm. Herr Wargrave denkt sich, dass es ein Überbleibsel der Beduinentradition oder so etwas sein muss, also wagt er es nicht, darauf zu bestehen, aber alles, was er will, ist, den freudigen, dankbaren Blick in Isaacs Gesicht zu sehen. Das Lächeln, wenn er das hübsche Quadrat entdeckt, das so bunt ist wie ein Regenwald, die goldenen Manschettenknöpfe, die Krawatte, die blauer ist als ein Wüstenhimmel, das Armband aus Smaragden, das er in einer neu eröffneten Boutique in Dizengoff aufgestöbert hat.

In L’Éden à l’aube gibt es mehrere Formen kolonialer Hierarchien, die vergleichbar strukturiert sind wie die zwischen Monsieur Wargrave und Isaac. Ihm ähnliche Figuren tauchen im Roman in Form von Diplomaten, Geschäftsleuten oder NGO-Mitarbeitern auf, die sich als übergeordnet empfinden und sich kaum mit den Einheimischen identifizieren. Die räumliche Trennung zwischen verschiedenen Vierteln der Stadt spiegelt die koloniale Hierarchie wider. Die „neue“ Stadt, die modernen Viertel mit besserer Infrastruktur, steht im Kontrast zur „alten“ Stadt, die oft als überfüllt und chaotisch beschrieben wird. Diese räumliche Segregation erinnert an koloniale Stadtplanungen, in denen europäische Viertel besser ausgestattet waren als die indigene Bevölkerung. Die militärische und bürokratische Kontrolle über Bewegungsfreiheit bildet eine koloniale Hierarchie, in der die einheimische Bevölkerung systematisch unterdrückt und schikaniert wird. Diese Situation zeigt, wie koloniale Strukturen in modernen Besatzungsregimen weiter existieren. NGOs und internationale Organisationen, die im Roman vorkommen, sind oft in einer ambivalenten Position: Einerseits leisten sie Hilfe, andererseits verstärken sie koloniale Dynamiken, indem sie sich als Retter inszenieren und sich von den eigentlichen Betroffenen distanzieren. Die Frage der Sprache schließlich – welche Sprachen als legitim betrachtet werden und welche nicht – ist ein weiteres Element kolonialer Hierarchie. Französische oder englische Bildung wird im Roman als Aufstiegsmöglichkeit dargestellt, während arabische Identitäten oft marginalisiert werden.

Verneinung der Himmelsrichtungen

Jerusalem wird als Ort der Widersprüche gezeigt: historisch und modern, heilig und profan, geordnet und chaotisch. Die Stadt bedeutet zugleich eine physisch-politische Realität und eine Projektionsfläche für Sehnsüchte und Ängste. Der Roman ist zugleich eine homoerotische Liebesgeschichte als auch eine Reflexion über Identität, Sehnsucht und Widerstand gegen koloniale und patriarchale Strukturen. Politisch zeigt Kattan die Auswirkungen der israelischen Besatzung auf palästinensische Leben und dekonstruiert gleichzeitig feste nationale und geschlechtliche Kategorien. Bemerkenswert ist etwa, wie vage die Zugehörigkeit zu einer der drei abrahamitischen Religionen belassen wird. Die Namen der beiden Männer, Isaac und Gabriel, sind beide mehrdeutig: Isaac der Sohn Abrahams, den zu opfern er bereit war; Gabriel heißt im Judentum ein Engel der Verkündigung, im Christentum bringt er Maria die Botschaft von der Geburt Jesu (Karim Kattan stammt aus einer katholischen Bürgerfamilie in Bethlehem), und im Islam ist er der Engel, der den Koran an Mohammed übermittelt.

Sur cette étendue de moins d’un kilomètre carré le monde s’était replié sur lui-même en un origami si complexe, un labyrinthe si changeant, une négation si irrévocable des points cardinaux, qu’il était impossible de s’y retrouver, et impossible que la ville reste fixe. Car Jérusalem avait abdiqué toute géométrie. Et dans les ruelles et les parvis il y a toujours des vendeurs poussant leur charrette, qui proposent nounours ou maïs, pâtisseries ou café, ka’ak, oeufs durs et zaatar. Et ceux qu’Isaac préférait, les jeunes mecs magnifiques, affublés d’improbables costumes, de beaux fez brodés d’or, comme des runes magiques sur leur front et qui servaient le thé comme on fait une acrobatie.

Karim Kattan, L’Éden à l’aube.

Auf dieser Fläche von weniger als einem Quadratkilometer hatte sich die Welt zu einem so komplexen Origami, einem so wandelbaren Labyrinth und einer so unwiderruflichen Verneinung der Himmelsrichtungen zusammengefaltet, dass es unmöglich war, sich darin zurechtzufinden, und unmöglich, dass die Stadt unbeweglich bleiben konnte. Denn Jerusalem hatte jeder Geometrie abgeschworen. Und in den Gassen und auf den Vorplätzen gab es immer noch Verkäufer, die ihre Karren schoben und Teddybären oder Mais, Gebäck oder Kaffee, Ka’ak, hartgekochte Eier und Zaatar anboten. Und die, die Isaac am liebsten mochte, waren die jungen, wunderschönen Männer in unwahrscheinlichen Kostümen, mit schönen, goldbestickten Fez, die wie magische Runen auf ihrer Stirn lagen, und die Tee servierten, wie man eine akrobatische Darbietung macht.

Gabriels Heimat Birzeit wird in L’Éden à l’aube als eine Stadt außerhalb der Zeit dargestellt. Durch einen administrativen Fehler gerät die Stadt in einen eigenen Zeitzonenrhythmus, was zu paradoxen Phänomenen führt: Während in der umliegenden Region der Tag voranschreitet, bleibt Birzeit in einer Art zeitlicher Blase gefangen. Diese Verschiebung erzeugt eine absurde, fast magisch-realistische Atmosphäre, in der das Wetter und sogar die Jahreszeiten nicht mit der Außenwelt übereinstimmen. Indem Birzeit von Checkpoints, der israelischen Besatzung und sogar von der palästinensischen Autorität verschont bleibt, wird die Stadt zu einem utopischen, aber auch melancholischen Ort, der weder ganz real noch vollständig imaginär ist. Für Gabriel wird Birzeit zu einem Ort der Erinnerung und der Identitätssuche. Er sieht die Stadt als eine Art Refugium, das zwar Schutz vor der politischen Realität bietet, ihn aber zugleich von der Welt isoliert und entfremdet.

Karim Kattan, Une histoire d’amour palestinienne sous l’occupation, TV5 Monde.

Die Wüste vor seinen Augen

Licht und Farbe übernehmen im Roman eine tiefere symbolische und erzählerische Funktion. Kattan erschafft so eine Stadtlandschaft Jerusalems, die sich stetig verändert und die inneren Zustände der Figuren reflektiert, als Spiegel der Erinnerung, als Symbol für Flüchtigkeit und Transformation. Das Licht, das sich hier in jeder Straße, in jeder Ecke anders bricht, unterstreicht die Wandelbarkeit der Stadt. So ist auch der Titel zu verstehen. Die Morgendämmerung bringt Licht, das sich sanft über die alten Mauern legt. Sanfte Gold- und Rosatöne des Sonnenaufgangs symbolisieren sowohl Erneuerung als auch die wehmütige Erinnerung an eine Vergangenheit, die sich langsam ins Bewusstsein der Figuren schleicht. Die brennende Mittagssonne verstärkt das Gefühl der Unbarmherzigkeit der Stadt: Das gleißende Licht lässt keine Schatten zu, es enthüllt alles und lässt keine Geheimnisse bestehen. Dies spiegelt das Gefühl der Überwachung und der unerbittlichen Realität wider, mit der die Protagonisten konfrontiert sind.

Ils ont donc une première escale d’une nuit sur leur route vers la maison du soleil et des ruines romaines. C’est Jéricho, ville-zéro, la sous-marine, le bijou vert et bleu de la plaine. Ville des choses maudites, qui frit sous un soleil de plomb — avez-vous déjà vu frire du bleu ? Sur le chemin vers Jéricho, tandis que le paysage passait avec une tranquillité infinie, du vert et bleu à l’ocre et bleu, Isaac assis, se laissant conduire, jouissant de se laisser conduire, s’émerveillait de sa chance, d’être dorloté, bercé, dans le métal de Gabriel. Et voir le désert se dérouler sous ses yeux et de celui-ci émerger le bleu prussien des oasis et des mers du désert, et tout cela devenir la peinture de l’amour qu’il portait à ce garçon indigo, ce Gabriel…

Karim Kattan, L’Éden à l’aube.

Auf ihrem Weg zum Haus der Sonne und den römischen Ruinen legen sie also einen ersten Zwischenstopp für eine Nacht ein. Es ist Jericho, die Nullstadt, die Unterwasserstadt, das grün-blaue Juwel der Ebene. Stadt der verfluchten Dinge, die in der sengenden Sonne brutzelt – haben Sie schon einmal Blaues braten sehen? Auf dem Weg nach Jericho, während die Landschaft mit unendlicher Ruhe von grün und blau zu ocker und blau wechselte, saß Isaak da, ließ sich fahren, genoss es, sich fahren zu lassen, und wunderte sich über sein Glück, in Gabriels Metall verhätschelt und gewiegt zu werden. Und zu sehen, wie sich die Wüste vor seinen Augen entfaltete und aus ihr das Preußischblau der Oasen und Wüstenmeere hervortrat, und all das wurde zum Gemälde seiner Liebe zu diesem Indigo-Jungen, diesem Gabriel …

Farben haben in L’Éden à l’aube eine ebenso zentrale Rolle wie das Licht. Märkte werden als eine Explosion von Farben beschrieben, die die Vielfalt und die Lebendigkeit der Stadt unterstreichen. Gleichzeitig sind sie Orte der Verwirrung, in denen sich die Charaktere verlieren oder wiederfinden. Die Beschreibung Jerusalems als eine Stadt aus „falschem Gold und echtem Perlmutt“ („Jérusalem d’or faux, de nacre vraie“) deutet auf die Ambivalenz der Stadt hin – zwischen Trugbild und Wahrheit, zwischen materieller Vergänglichkeit und spiritueller Tiefe: Gold erinnert an sakrale Elemente, während Perlmutt eine fragile, schwer fassbare Schönheit darstellt. Der Sandsturm als Naturphänomen verwandelt die Stadt in ein monochromes Bild, eine Welt ohne klare Konturen, verloren und unwirtlich. Licht und Farben reflektieren Hoffnung, Angst, Erinnerung und Verwandlung und poetisieren so sinnliche Wahrnehmung.

Karim Kattan, Quelle: https://camargofoundation.org/en/karim-kattan

Die Frankreichnähe palästinensischer Literatur lässt sich im vorliegenden Fall nicht nur durch historische Gründe erklären 2, sondern auch durch Kattans französische Bildungsgeschichte, er promovierte 2020 an der Universität Paris-Nanterre bei Jean-Marc Moura über „Aspects de l’imaginaire littéraire du désert à l’ère post-coloniale“. 3 Kattan beschreibt in seiner Thèse die Wüste als Prozess und Raum des Werdens, in dem Identitäten nicht festgeschrieben, sondern fluide und hybrid sind. Eine solche Fluidität spiegelt sich in Isaacs Suche nach Zugehörigkeit wider. Seine Reise durch die Wüste ist eine metaphorische Reise zu sich selbst, bei der er sich seinen Erinnerungen, Ängsten und Sehnsüchten stellen muss. Die Wüste fungiert dabei als Spiegel seiner fragmentierten Identität – einer Identität, die durch Exil, Diaspora und das Gefühl der Entwurzelung geprägt ist. Isaac ist zwischen Vergangenheit und Gegenwart gefangen, zwischen der Erinnerung an eine verlorene Heimat und der Sehnsucht nach einem Ort der Zugehörigkeit. In der Wüste wird diese Zerrissenheit greifbar: Sie ist gleichzeitig ein Ort der Leere und der Fülle, der Abwesenheit und der Präsenz.

Le désert est en effet un sujet éminemment politique. Il se situe, bien souvent, dans les espaces de la colonisation : il devient alors un hypotexte, auquel les écrivains vont répondre. En définitive, le désert en littérature n’est pas un état statique, ni une réalité géologique, mais plutôt un processus. Au lieu d’une définition illusoire du désert, nous avons tenté ici de voir ce qu’il permet aux écrivains qui s’en emparent. Dès lors, il apparaît comme le paysage de l’écriture et de la réécriture : il permet de réinventer les origines, de répondre au passé, de rêver des avenirs alternatifs et d’élaborer une parole du désert, un langage hybride pour dire l’indicible.

Karim Kattan, „Aspects de l’imaginaire littéraire du désert à l’ère post-coloniale“, Résumé. 4

Die Wüste ist in der Tat ein höchst politisches Thema. Sie befindet sich häufig in den Räumen der Kolonialisierung: Sie wird somit zu einem Hypotext, auf den die Schriftsteller reagieren. Letztendlich ist die Wüste in der Literatur weder ein statischer Zustand noch eine geologische Realität, sondern vielmehr ein Prozess. Anstelle einer illusorischen Definition der Wüste haben wir hier versucht, zu sehen, was sie den Schriftstellern ermöglicht, die sich ihrer annehmen. Sie erlaubt es, die Ursprünge neu zu erfinden, auf die Vergangenheit zu antworten, von alternativen Zukünften zu träumen und ein Wüstensprechen zu entwickeln, eine hybride Sprache, um das Unsagbare zu sagen.

Sehr tief eingeschlafen

Das Buch ist in drei Abschnitte gegliedert: Vor dem Sommer, Sommerbeginn, Sommerende. Doch dieser Sommer ist kein linear verlaufender Zeitraum, er scheint entgrenzt. Isaac und Gabriel bewegen sich durch diese entrückte Welt, deren Grenzen ebenso geopolitisch wie emotional sind. Ihre Liebe ist intensiv, aber distanziert erzählt, als wäre sie durch einen Filter von Licht und Sand verhüllt. Kattan benutzt eine Erzählstimme, die sich von der klassischen Autor- und Figurenperspektive löst: Es ist der Himmel selbst, der spricht, eine allsehende, poetische Instanz.

J’ai le malheur de tout observer. Isaac et Gabriel pensent que le khamsin s’est arrêté, que l’écran de sable s’est levé, que les couleurs vont revenir au monde. Et ils ont oublié où ils étaient, et la violence qui coule dans les veines de leur pays. Gare à eux qui se sont laissé oublier. Ils se sont endormis très profondément, comme jamais, enveloppés par des rêves de jardins enclos. Ils sont seuls, c’est-à-dire isolés, nus, vulnérables, enchevêtrés, immobiles.

Karim Kattan, L’Éden à l’aube.

Ich habe das Pech, alles zu beobachten. Isaac und Gabriel glauben, dass der Khamsin aufgehört hat, dass der Sandschirm sich gehoben hat, dass die Farben in die Welt zurückkehren werden. Und sie haben vergessen, wo sie waren, und die Gewalt, die in den Adern ihres Landes fließt. Wehe ihnen, die sich haben vergessen lassen. Sie sind sehr tief eingeschlafen, so tief wie nie zuvor, eingehüllt in Träume von eingezäunten Gärten. Sie sind allein, d.h. isoliert, nackt, verletzlich, verstrickt, unbeweglich.

Die drei Teile zeigen eine klare narrative und emotionale Entwicklung: von der Entdeckung und dem Erwachen des Begehrens (Avant l’été), über die Intensivierung der Beziehung und den Versuch, sich der Realität zu entziehen (Le début de l’été), bis hin zur unvermeidlichen Trennung und dem Ende ihrer Liebe (La fin de l’été). Das Ende des Sommers symbolisiert nicht nur das Ende ihrer Liebe, sondern auch das Ende einer Illusion von Freiheit und Identität in einer von Konflikten geprägten Welt.

Karim Kattans Roman L’Éden à l’aube führt uns in eine Welt zwischen Wachsein und Schlaf. Der Roman beginnt mit einer unwirklichen Landschaft, in der ein scheinbar ewiger Sandsturm das Land in einen Dornröschenschlaf versetzt. Isaac und Gabriel werden immer wieder im Zustand des Schlafs oder Halbschlafs gezeigt. Isaac wird eingeführt, während er schläft, und der Erzähler betont seine fast totenähnliche Ruhe. Gabriel erscheint als schlafender Engel, als schönes, entrücktes Wesen, das wie aus einer anderen Welt zu stammen scheint. Ihre Begegnungen sind geprägt von einem Schwebezustand zwischen Wachen und Träumen, zwischen Sehnsucht und Entfremdung. Der verzauberte Schlaf betrifft nicht nur die Natur und die Figuren, sondern ebenso die gesellschaftliche Wirklichkeit. Die Stadt Birzeit, die durch einen technischen Fehler in einer eigenen Zeitdimension existiert, wird zum Sinnbild für eine Gesellschaft, die sich zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verliert. Der Schlaf ist hier kein erholsamer Zustand, sondern ein Ausdruck von Isolation und Stillstand. Karim Kattan stellt Schlaf auch als Sehnsucht nach einer anderen Wirklichkeit dar, jenseits von Grenzen, Gewalt und Verlust.

So sehr der Roman einen entrückten, fast mystischen Ton annimmt, verweigert er doch einem vollständigen Eskapismus. Die Realität der Besatzung bleibt ein ständiges Echo im Hintergrund. Checkpoints, Besatzungssoldaten, administrative Willkür – all dies ist in den Rissen der poetischen Oberfläche spürbar. Kattan integriert diese Elemente jedoch nicht mit der Absicht, ein explizit politisches Statement zu setzen, sondern um zu zeigen, dass in Palästina selbst die Poesie besetzt ist:

Et partout autour de lui, la ville est en décombres. Bâtiments éventrés. Barres métalliques élancées contre le ciel comme pour me percer et me faire saigner sur le dormeur. Mais le ciel est indifférent à leurs attaques. Derrière l’écran de sable, je suis bleu et clair, comme sont les ciels des aubes et des bombardements.

Karim Kattan, L’Éden à l’aube.

Und überall um ihn herum liegt die Stadt in Trümmern. Aufgerissene Gebäude. Metallstangen, die gegen den Himmel geschleudert werden, als wollten sie mich durchbohren und auf den Schlafenden bluten lassen. Aber der Himmel ist gleichgültig gegenüber ihren Angriffen. Hinter dem Sandschirm bin ich blau und klar, wie die Himmel der Morgenröte und der Bombardements sind.

Dieser doppelte Modus ist charakteristisch für den Roman: Schönheit und Gewalt existieren unauflöslich nebeneinander.

Kattans Roman zeigt Trümmer, zerstörte Städte, verwitterte Gebäude und eine vom Sandsturm gezeichnete Umwelt. Die Ruinen sind Ausdruck einer Realität, in der Gewalt, Verlust und Verfall allgegenwärtig sind. Sie spiegeln die politischen und sozialen Zerrüttungen wider, die das Leben der Protagonisten bestimmen. Isaacs Kindheitserinnerungen an das zerfallene Jerusalem oder an das verlassene Haus seines Freundes Amir stehen für psychische Brüche und Verlust. In den Ruinen der Stadt begegnen sich Isaac und Gabriel allerdings auch, was den zerstörten Ort zu einer Bühne für zwischenmenschliche Beziehungen macht. Diese Ruinen sind ebenso Projektionsflächen für Hoffnungen. Die Trümmerlandschaften im Roman sind zugleich ein Kommentar zur geopolitischen Realität des Nahen Ostens: Die Zerstörung von Häusern, das Verwischen von Grenzen und die Isolation durch Mauern verdeutlichen die Auswirkungen von Besatzung, Konflikt und Verlust auf die Lebenswelt der Figuren. Kattan nutzt diese Bilder, um die Zerbrechlichkeit menschlicher Beziehungen ebenso zu veranschaulichen wie die gesellschaftlichen Wunden, die durch politische Konflikte verursacht werden. In dieser zerstörten Welt bleibt die Hoffnung auf das, was nach den Trümmern entstehen kann.

Une fois Isaac alla même passer la nuit à Tel-Aviv, se disant qu’il s’agissait là de la ville de l’oubli, qu’elle mettrait à mort son chagrin. Il ne savait pas trop quoi faire, avait erré d’un bar à l’autre, s’était fait draguer, était allé en boîte — c’était comme être dans des vestiaires de soldats. Même torses nus, ils étaient comme des fusils qui le fixaient. Il aurait voulu leur dire — lui qui de coutume s’en branlait un peu — qu’ils dansaient tous, qu’ils suaient tous, sur les restes de villages que leurs parents sans doute ou leur pépé avaient rasés. Il se sentait humilié par l’existence tranquille et balnéaire de cette ville, l’insouciance de ses plaisirs. L’impression que la modernité ne pouvait s’accomplir que dans sa destruction à lui, personnelle, à lui Isaac, petit con qui traînait son petit mal-être dans une boîte pourrie d’une ville de merde.

Karim Kattan, L’Éden à l’aube.

Einmal übernachtete Isaac sogar in Tel Aviv, weil er sich einredete, dass dies die Stadt des Vergessens sei und dass sie seinen Kummer töten würde. Er wusste nicht so recht, was er tun sollte, war von einer Bar zur anderen gezogen, hatte sich anmachen lassen, war in Clubs gegangen – es war wie in Soldatenumkleiden. Selbst mit nacktem Oberkörper waren sie wie Gewehre, die ihn anstarrten. Er hätte ihnen gerne gesagt, dass sie alle tanzten, dass sie alle schwitzten, auf den Überresten der Dörfer, die ihre Eltern oder ihr Großvater wahrscheinlich dem Erdboden gleichgemacht hatten. Er fühlte sich gedemütigt von der ruhigen Badeexistenz dieser Stadt, von der Unbeschwertheit ihrer Vergnügungen. Er hatte das Gefühl, dass die Moderne sich nur in seiner eigenen, persönlichen Zerstörung vollenden konnte, in der Zerstörung von Isaac, einem kleinen Arschloch, das sein kleines Unwohlsein in einem verrotteten Club in einer beschissenen Stadt herumschleppte.

L’Éden à l’aube ist kein klassischer Roman mit einer stringenten Handlung oder eindeutigen Charakterentwicklungen. Vielmehr ist es eine Erfahrung, eine sprachliche Landschaft, die sich zwischen Liebesgeschichte, Metapher und Zeitdokument bewegt. Wer sich auf Kattans hypnotische, bildgewaltige Prosa einlässt, wird einen literarischen Raum entdecken, der sich jeder einfachen Kategorisierung entzieht – ein schwebendes Eden, das gleichzeitig Traum und Wunde ist.

Der Palast der zwei Hügel

Kattans vorangegangener Roman Le palais des deux collines (2021) beleuchtet mit einer anderen Handlungsstruktur die Situation in Nahost und Dimensionen des Konflikts – historisch, politisch, persönlich und existenziell – in der Welt des Protagonisten. Der titelgebende Palast symbolisiert das Erbe einer vergangenen Ära, das sich zunehmend auflöst. Der Protagonist Faysal sieht sich mit den Spuren der Vergangenheit konfrontiert, insbesondere mit den Geistern seiner palästinensischen Familie und der politischen Geschichte des Landes. Er ist ein Rückkehrer, der zwischen Welten lebt und sich weder in seinem Exil noch in seiner Heimat vollständig zugehörig fühlt. Die Rückkehr in den alten Familiensitz in einem verlassenen Dorf Jabalayn zwingt ihn, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob eine Rückkehr überhaupt möglich ist. Faysal wird von Erinnerungen an seine Kindheit, die Geschichten seiner Familie und den politischen Veränderungen heimgesucht. Kattan zeigt nachvollziehbar, wie der Nahostkonflikt nicht nur Länder und Grenzen betrifft, sondern zugleich tief in die Psyche der Menschen eingreift. Der Roman verweist mehrfach auf die Besatzung und die schleichende Aneignung des Landes durch israelische Siedler, hier ist bspw. die Präsenz der Kolonialmacht im Dorf Jabalayn zu erwähnen. Kattan zeichnet ein Bild der Ohnmacht, aber auch des Widerstands, der sich nicht nur durch offene Konfrontation, sondern ebenso durch das Festhalten an der Erinnerung und dem kulturellen Erbe manifestiert. Der Text bleibt dabei offen für Ambivalenzen und für innere Konflikte der Figuren. Die Figuren sind von der Vergangenheit gezeichnet, sei es durch persönliche Verluste oder durch eine andauernde Bedrohung ihrer Existenz. Faysals Rückkehr ist auch eine Auseinandersetzung mit den Geistern der Vergangenheit, die ihn nicht loslassen: Sie spiegeln das Trauma einer ganzen Gemeinschaft wider. Die Landschaft wird lebendig beschrieben und steht symbolisch für den inneren Zustand des Protagonisten. Die beiden Hügel des Dorfes werden als fast mythische Figuren dargestellt – „wie zwei unbezwingbare Kriegerinnen“. In der Kommunikation der Figuren zeigt sich eine Ambivalenz, Gespräche sind teils von Andeutungen und Schweigen geprägt. Die Figuren sprechen in poetischen Bildern oder durch Erinnerungen, anstatt direkt ihre Gefühle zu offenbaren.

Ayoub hat eine enge Beziehung zum Protagonisten. Er wird als charismatisch, schön und faszinierend beschrieben, und er besitzt eine anziehende Aura. Seine Rolle gegenüber dem Protagonisten ist vielschichtig: Faysal betrachtet Ayoub mit einer Mischung aus Bewunderung, Begehren und Respekt. Er beobachtet ihn in der Kirche und schwärmt von seiner Eleganz. Ayoub scheint den Protagonisten zu beschützen und steht ihm nah, sowohl familiär als auch emotional. Er wird verhaftet und verschwindet für einige Zeit, was für den Protagonisten traumatisch ist. Später wird seine Krankheit thematisiert, und die Angst um sein Leben wird spürbar. Ayoub verkörpert eine fragile Schönheit, die eng mit den Themen Begehren, Verlust und Identität verknüpft ist. Seine Präsenz im Roman hinterlässt einen tiefen Eindruck und beeinflusst das Innenleben des Protagonisten maßgeblich:

Ayoub est couché mollement sur l’ottomane dorée et regarde la télé avec moi. Il porte un large débardeur gris qui laisse entrevoir ses aisselles et accentue sa musculature fine. Il est élégant. Ses clavicules sont comme des vallées. Des précipices.

Karim Kattan, Le palais des deux collines.

Ayoub liegt lässig auf der goldenen Ottomane und schaut mit mir fern. Er trägt ein weites graues Tanktop, das seine Achselhöhlen zeigt und seine schlanke Muskulatur betont. Er sieht elegant aus. Seine Schlüsselbeine sind wie Täler. Wie Abgründe.

Als Ayoub später in seinem „hübschen grauen Tanktop“ von Soldaten mitgenommen wird, rennt Faysal los, um ihm einen Pullover zu bringen, aus Angst, dass Ayoub frieren könnte. Bei aller Faszination hegt er aber auch widersprüchliche Gefühle für ihn. In einem Moment von Wut und Schmerz wünscht sich Faysal, dass Ayoub stirbt. Später versucht er, dieses Gebet zu „annullieren“.

Ayoub est plus maigre, c’est vrai. Il va mal, dit Jeannette, mais je le trouve beau comme ça. Avec ses grands yeux. Tous les matins et tous les soirs, j’essaye de renvoyer une nouvelle prière pour annuler l’ancienne ; j’explique à Dieu, je ne voulais pas vraiment qu’il meure, c’était pour rire, est-ce qu’on peut annuler ma requête et la remplacer par Ayoub-va-bien ?  

Une fois, je vais au petit matin dans la cham­bre d’Ayoub et je m’allonge à ses côtés. La prière sera plus efficace si je suis près de lui. Il fait froid, je me blottis contre lui. Il est un peu endormi et il grogne. Alors je le chatouille. Ça le fait rire quand Joséphine fait ça.

« Casse-toi, tu ne vois pas que tu me gênes », il me dit. Ayoub est très différent en haut. Il est comme les ombres ennemies. Il y a quelque chose dans l’air ici qui les intoxique. J’attendrai qu’on aille chez Joséphine pour refaire la prière.

Karim Kattan, Le palais des deux collines.

„Ayoub ist dünner, das stimmt. Ihm geht es schlecht“, sagte Jeannette, „aber ich finde ihn schön, so wie er ist. Mit seinen großen Augen.“ Jeden Morgen und jeden Abend versuche ich, ein neues Gebet zu schicken, um das alte zu annullieren; ich erkläre Gott, ich wollte nicht wirklich, dass er stirbt, es war nur zum Spaß, können wir meine Bitte annullieren und sie durch Ayoub-va-bien ersetzen?

Einmal gehe ich am frühen Morgen in Ayoubs Zimmer und lege mich neben ihn. Das Gebet ist effektiver, wenn ich neben ihm liege. Es ist kalt und ich kuschle mich an ihn. Er ist etwas schläfrig und grunzt. Dann kitzle ich ihn. Er muss lachen, wenn Josephine das tut.

„Verpiss dich, merkst du nicht, dass du mich störst“, sagt er. Oben ist Ayoub ganz anders. Er ist wie die feindlichen Schatten. Hier liegt etwas in der Luft, das sie vergiftet. Ich warte, bis wir zu Josephine gehen, um das Gebet zu wiederholen.

Diese Szenen zeigen ein komplexes, widersprüchliches Verhältnis: Faysal schwankt zwischen Anziehung, Eifersucht und Schuld. Seine emotionale Bindungen zu anderen Männern, insbesondere zu Ayoub und George, verweisen auf eine alternative Vorstellung von Männlichkeit, die nicht durch Dominanz, sondern durch Empathie und Introspektion geprägt ist.

Le silence dans une maison aussi pleine de piaillements est un délice tout particulier pour Ayoub qui savoure le calme. Sur la terrasse, il admire quelques secondes la vue. Il se dit qu’il comprend pourquoi certains voudraient mourir pour ces collines. Au loin, la Judée poudroie de rose. Il est saisi par une immense tristesse : ce paysage est beau comme quelque chose qui disparaît. Il le trouve beau parce qu’il ne sera plus à eux bientôt. Il ne comprend pas la ferveur nationaliste qui se déploie tout autour de lui. Peut-être est-il trop doux pour ces considérations. N’ont-ils pas déjà perdu, en 1948 et en 1967 et encore et encore et encore ? Vont-ils continuer à perdre jusqu’au dernier souffle ? Vont-ils tous se ruer pour se faire massacrer comme des moutons jus­qu’au jour où il n’y aura plus rien ? Le ciel, seul, dans ce pays, lui semble être d’une réalité supérieure. Il est charnu ; les nuages pleins et gonflés. Comme si le ciel existe bien davantage qu’eux ici-bas. Il y a tout pourtant, ici, et tout est bien réel : les montagnes et le ciel et la rosée ; les fleurs dans les vallées et, plus loin, le désert fleuri. Il y a les amandiers et les plaines recouvertes de coquelicots. Il y a les citronniers et les orangeraies et il y a, encore, toujours, où que se pose son regard, le ciel charnu et abondant et, au-delà, imperceptible, la saison des abricots. Il y avait tout sauf la mer. Rien ne semble sur le point de disparaître.

Karim Kattan, Le palais des deux collines.

Die Stille in einem Haus, das so voller Gezwitscher ist, ist ein ganz besonderer Genuss für Ayoub, der die Ruhe genießt. Auf der Terrasse bewundert er einige Sekunden lang die Aussicht. Er sagt sich, dass er versteht, warum manche Menschen für diese Hügel sterben möchten. In der Ferne ist Judäa rosa gepudert. Er wird von einer großen Traurigkeit erfasst: Diese Landschaft ist schön wie etwas, das vergeht. Er findet sie schön, weil sie ihnen bald nicht mehr gehören wird. Er versteht den nationalistischen Eifer nicht, der sich um ihn herum entlädt. Vielleicht ist er zu weich für solche Überlegungen. Haben sie nicht schon verloren, 1948 und 1967 und wieder und wieder und wieder? Werden sie weiter verlieren, bis zum letzten Atemzug? Werden sie alle losstürmen, um sich wie Schafe abschlachten zu lassen, bis zu dem Tag, an dem es nichts mehr gibt? Der Himmel allein in diesem Land scheint ihm von einer höheren Wirklichkeit zu sein. Er ist fleischig; die Wolken sind voll und aufgeblasen. Als ob der Himmel viel mehr existieren würde als sie hier unten. Dennoch gibt es hier alles, und alles ist sehr real: die Berge und der Himmel und der Tau; die Blumen in den Tälern und weiter hinten die blühende Wüste. Da sind die Mandelbäume und die mit Mohnblumen bedeckten Ebenen. Es gibt die Zitronenbäume und die Orangenhaine und es gibt, immer noch, immer noch, wohin der Blick auch fällt, den fleischigen, üppigen Himmel und dahinter, unmerklich, die Aprikosenzeit. Es gab alles außer dem Meer. Nichts scheint kurz vor dem Verschwinden zu sein.

Der Palast der zwei Hügel verweist nicht nur auf einen realen Ort innerhalb der Erzählung, sondern trägt auch metaphorische und historische Bedeutungen, die eng mit den Themen des Romans verknüpft sind: der einstige Wohlstand der eigenen Familie, ein Ort des Verfalls und der Erinnerung an etwas, das verschwindet. Die zwei Hügel erinnern an die Dualität von Vergangenheit und Gegenwart, Heimat und Exil oder eben Macht und Ohnmacht. Der Palast steht auf einem Hügel, während auf dem anderen Hügel die Kolonialmacht und ihre Spuren zu finden sind. So ist die Topographie von einem symbolischen Gegensatz geprägt, von Zugehörigkeit und Enteignung. Der Schluss von Karim Kattans Roman Le palais des deux collines ist mehrdeutig und offen, so mit der ausstehenden Entscheidung, ob Faysal bleibt oder geht, ob er die Verwurzelung hinter sich lässt oder ob er sich der schwierigen Situation in der Heimat stellt. Der Roman enthält wenige explizit jüdische Figuren, Figuren des Konflikts erscheinen weniger als Individuen, sondern vielmehr als Teil eines übergeordneten kolonialen Systems, d.h. der israelischen Besatzung und der Siedler: Die fortschreitende Expansion der israelischen Siedlungen, die militärische Präsenz und die Enteignung palästinensischer Gebiete sind wiederkehrende Themen. Der Roman ist einsamer, verzweifelter, härter, in Teilen vielleicht auch grenzwertiger für europäische Leser als Eden a l’aube, es gibt harte Aussagen im Buch, die je aus Perspektive einer Person geschildert werden. Der Roman ermöglicht gleichwohl den Lesern, die Auswirkungen der Besatzung aus einer palästinensischen Perspektive zu verstehen, ohne dabei in einfache Schwarz-Weiß-Muster zu verfallen.

J’aimerais juste finir de te parler, au cas où. Je n’ai pas arrêté de te dire, que Jabalayn disparaisse, que m’importe. Maintenant que c’est le cas, que la disparition, tel un brouillard, envahit les deux collines, maintenant que la ville commence à s’évaporer – déjà, les rochers semblent s’envoler vers le ciel et moi avec –, j’ai comme une vague mélancolie entre la poitrine et le ventre. J’aurais voulu passer au cimetière. Je n’y ai pas été depuis mon arrivée. Juste pour voir Ayoub. Je ne sais pas. Après ça, il n’y aura plus Ayoub, plus de cimetière, plus sa mémoire. Je serai le seul dépositaire, l’unique souvenir d’Ayoub et de Joséphine. J’aimerais pouvoir me souvenir, de la barbe à papa à Bethléem, au moins. J’aurais voulu faire l’inven­taire de Jabalayn, pour qu’elle ne disparaisse pas sans traces dans la brume.

Karim Kattan, Le palais des deux collines.

Ich möchte nur noch mit dir zu Ende reden, für den Fall der Fälle. Ich habe dir immer wieder gesagt, dass es mir egal ist, ob Jabalayn verschwindet. Jetzt, da es so ist, da das Verschwinden wie ein Nebel die beiden Hügel überzieht, jetzt, da die Stadt beginnt, sich in Luft aufzulösen – schon jetzt scheinen die Felsen in den Himmel zu fliegen und ich mit ihnen -, habe ich so etwas wie eine vage Melancholie zwischen Brust und Bauch. Ich wäre gerne am Friedhof vorbeigegangen. Seit meiner Ankunft war ich nicht mehr dort. Nur um Ayoub zu sehen. Ich weiß es nicht. Danach wird es keinen Ayoub mehr geben, keinen Friedhof, keine Erinnerung an ihn. Ich werde der einzige Treuhänder sein, die einzige Erinnerung an Ayoub und Josephine. Ich wünschte, ich könnte mich erinnern, zumindest an die Zuckerwatte in Bethlehem. Ich wünschte, ich hätte Jabalayn inventarisiert, damit es nicht spurlos im Nebel verschwindet.

Der Protagonist Faysal erlebt seine Identität als mehrfach gebrochen – durch Exil, familiäre Erwartungen und gesellschaftliche Normen. Seine Auseinandersetzung mit Männlichkeit und Begehren verläuft in Le palais des deux collines subtiler als in L’Éden avant l’aube. Faysals Erinnerungen und Beziehungen zu anderen männlichen Figuren weisen auf eine homoerotische Spannung hin, die jedoch unausgesprochen bleibt. Faysals Sehnsucht und seine affektive Welt sind von Zurückhaltung und Ambivalenz geprägt, was den inneren Konflikt zwischen Begehren und gesellschaftlicher Erwartung unterstreicht.

Paradies bei Sonnenaufgang

Gerade im Kontrast zum vorhergehenden Roman werden die Stärken von L’Éden à l’aube sichtbar, der sich nun in einem Spannungsfeld zwischen Utopie und Dystopie bewegt, in einer Welt, die gleichermaßen von Hoffnung und Untergangsvisionen durchzogen ist. Die Stadt Jerusalem erscheint als verlorenes Paradies zwischen Geschichte und Vorstellungskraft, wird zu einem Raum der Sehnsucht, einer Utopie, die unerreichbar bleibt. Zwischen den Figuren entfaltet sich eine Liebesgeschichte, die in ihrer Intensität eine utopische Dimension erhält. Die Liebe wird als ein Moment des Aufgehobenseins in einer zerrissenen Welt dargestellt, als eine mögliche Alternative zur Gewalt und zum Chaos der Realität. Sprache und Imagination selbst werden als utopischer Widerstand greifbar: Der Erzähler erschafft durch seine poetische Sprache eine imaginäre Welt, in der Erinnerungen, Träume und Hoffnungen lebendig werden. – Parallel zur utopischen Sehnsucht nach Jerusalem wird die Stadt auch als dystopischer Ort beschrieben: ein Labyrinth aus Checkpoints, Ruinen und militärischer Kontrolle. Diese Darstellung steht in starkem Kontrast zu der poetischen Vision der Stadt als Paradies. Kattan verwendet Naturphänomene wie den Sandsturm, um eine düstere Vision der Zukunft zu entwerfen. Der Sturm verdeckt die Stadt, erschwert die Orientierung und symbolisiert das Verschwinden von Identität und Geschichte. Die Figuren im Roman stehen einer feindlichen Umgebung gegenüber, militärische Machtstrukturen, staatliche Repression und soziale Hierarchien verstärken das Gefühl der Ausweglosigkeit. Interessanterweise bleiben Utopie und Dystopie in L’Éden à l’aube nicht klar getrennt. Vielmehr entsteht eine Hybridität, in der Hoffnung und Zerstörung ineinander übergehen. Isaac, der potenziell geopferte Sohn Abrahams, und Gabriel, der göttliche Bote, befinden sich in einer Welt, die am Rande des Paradieses steht. Die Morgendämmerung als Übergang zwischen zwei Zuständen spiegelt die Natur ihrer Beziehung wider – sie leben in einer unklaren, ambivalenten Zeit, in der Frieden und Krieg, Liebe und Trennung, Licht und Dunkelheit nebeneinander existieren. Für Isaac und Gabriel bedeutet die Morgendämmerung, dass der Tag möglicherweise kommt, aber auch, dass sie vielleicht niemals das Paradies erreichen, das sie suchen.

Et, enfin, tout s’endort. Les piscines sont rendues à leur calme et à leur solitude. Il n’y a plus rien, que du sang des enfants d’Eve qui a coulé en territoire fée.

C’est un petit jardin en marge de la terre des commencements où il fut un jour décidé que moi, le ciel, j’étais un, seul, unique. Une vaste solitude au-dessus de vous. Et sous moi, en ce petit jardin, tout s’endort. Le grand bassin d’eau est baigné de silence. L’eau me reflète et je la reflète. Une biche s’est égarée — en route pour où ? — et s’approche de la piscine.

Elle a tendu son museau. Elle lape de l’eau et un peu de ciel. Tout est revenu à la quiétude d’avant les enfants d’Eve et leur sang ; le vent souffle doucement, et les abeilles bourdonnent, et le bruit des coquelicots qui poussent non loin comme un murmure. C’est l’aube en ce petit jardin où tout est là, et tout est seul, et tout s’endort.

C’est l’aube, peut-être, dans ce petit coin de la planète et le soleil se lève sur un monde bleu, mouillé de rosée, à peine arraché à la préhistoire. Tout est embué et brumeux. Et le silence. Tout s’est calmé. Tout dort.

Demain, il pleuvra beaucoup.

Karim Kattan, L’Éden à l’aube.

Und schließlich schläft alles ein. Die Swimmingpools werden ihrer Ruhe und Einsamkeit zurückgegeben. Es ist nichts mehr da, nur noch das Blut von Evas Kindern, das in das Feenland geflossen ist.

Es ist ein kleiner Garten am Rande des Landes der Anfänge, in dem einst beschlossen wurde, dass ich, der Himmel, eins, allein, einzigartig bin. Eine weite Einsamkeit über dir. Und unter mir, in diesem kleinen Garten, schläft alles. Das große Wasserbecken ist in Stille getaucht. Das Wasser spiegelt mich und ich spiegele es. Ein Reh hat sich verirrt – auf dem Weg wohin? – und nähert sich dem Wasserbecken.

Es streckt seine Schnauze aus. Es schleckt Wasser und ein wenig Himmel. Alles ist wieder so ruhig wie vor Evas Kindern und ihrem Blut; der Wind weht sanft, und die Bienen summen, und das Geräusch der Mohnblumen, die nicht weit entfernt wachsen, klingt wie ein Flüstern. Es ist Sonnenaufgang in diesem kleinen Garten, wo alles da ist und alles allein ist und alles einschläft.

Es ist Sonnenaufgang, vielleicht, in dieser kleinen Ecke des Planeten, und die Sonne geht über einer blauen, taufeuchten Welt auf, die gerade erst der Urzeit entrissen wurde. Alles ist beschlagen und nebelig. Und diese Stille. Alles ist zur Ruhe gekommen. Alles schläft.

Morgen wird es reichlich regnen.

Anmerkungen
  1. „L’enchevêtrement des récits, la sinuosité de leur structure nous évoquent volontiers Les Mille et Une Nuits, mais Karim Kattan répond Jacques le Fataliste et contes philosophiques des Lumières. Sans rejeter en bloc la tradition littéraire qu’à défaut de mieux on qualifie d’orientale, il préfère la tenir à distance. Ou plutôt, l’hybrider et la colorer de tous les apports venus composer l’édifice baroque de sa culture personnelle.“ Emilie Gavoille, „L’écrivain palestinien Karim Kattan“, Télérama, 3. Juni 2024.>>>
  2. Nach dem Ersten Weltkrieg teilten Großbritannien und Frankreich den Nahen Osten untereinander auf: Frankreich wurde verantwortlich für Syrien und den Libanon, Großbritannien für Palästina, Jordanien und den Irak. Palästina war keine französische Kolonie, aber das Land hat traditionell enge Beziehungen zur palästinensischen Sache und zur Autonomiebehörde; Französisch wird häufig benutzt, und viele Palästinenser leben in frankophonen Ländern, insbesondere in Frankreich, Belgien und Kanada.>>>
  3. Karim Kattan, „Aspects de l’imaginaire littéraire du désert à l’ère post-coloniale“, https://theses.hal.science/tel-04861130v1.>>>
  4. Karim Kattan, „Aspects de l’imaginaire littéraire du désert à l’ère post-coloniale“, https://theses.hal.science/tel-04861130v1.>>>

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