Etwas Unsichtbares streicheln: Debora Levyh

Sprechen über eine Welt in der Sprache einer anderen Welt

Très franchement, je ne crois pas qu’on puisse parler d’un monde dans la langue d’un autre monde. Je ne veux pas dire que ce ne serait pas souhaitable, simplement que ce n’est peut-être pas possible. À moins de recourir à des artifices.

Sauf que tout ça prend du temps, tout ça demande de l’énergie, et je ne crois pas qu’on en ait tant que ça. Parce qu’autant le dire clairement : je ne la parle pas leur langue, je ne l’ai jamais parlée. Avec le temps, j’ai fini par la comprendre. Mais ça s’arrête là.

Debora Levyh, La version, Éd. Allia, 2023.

Ganz offen gesagt, glaube ich nicht, dass man das kann: sprechen über eine Welt in der Sprache einer anderen Welt. Ich will damit nicht sagen, dass das nicht wünschenswert wäre, sondern nur, dass es vielleicht nicht möglich ist. Es sei denn, man greift auf Kunstgriffe zurück.

Nur, all das braucht Zeit, all das braucht Energie, und ich glaube nicht, dass wir so viel davon haben. Denn ich muss ganz klar sagen: Ich spreche ihre Sprache nicht, ich habe sie nie gesprochen. Mit der Zeit habe ich sie verstanden. Aber da endet es auch schon.

Debora Levyhs Erzählerin in La version (2023) begegnet einer Gesellschaft, die sich in fundamentalen Aspekten von der Welt der Erzählerin unterscheidet. Diese Differenzen betreffen nicht nur Sprache und soziale Organisation, sondern auch Wahrnehmung, Zeit, Körper, Raum und die Bedeutung von Objekten. Die Wahrnehmung des Raumes etwa erfolgt in jener Welt nicht durch Orientierungspunkte, sondern durch die Veränderungen von Mustern und Rhythmen in der Umgebung. Ohne feste Zeitabschnitte, mit zirkulierenden Objekten, ohne stabile Körper und Namen wird auch früheren Identitäten nicht nachgetrauert. Geschichten verändern sich mit der Zeit, Figuren mutieren oder verschwinden ganz. Und solche Erzählungen werden in Kunstwerken oder schriftlichen Dokumenten auch nicht fixiert, sondern existieren nur in der mündlichen Kommunikation. Auch unbelebte Dinge existieren nicht isoliert, sondern in Konstellationen: Materialien werden mit Himmelskörpern verknüpft, mechanische Strukturen verstärken Windbewegungen. Der Text entzieht sich sich bewusst den herkömmlichen Erzählstrukturen und konstruiert stattdessen einen fließenden, fast ätherischen Raum, in dem Zeit, Identität und Sprache ihre gewohnten Funktionen verlieren. La version fordert den Leser heraus, die herkömmlichen Erwartungen an Narration und Sprache zu überdenken. Der Roman arbeitet mit Ambiguität und Desorientierung, um eine alternative Realität zu präsentieren, in der alles im ständigen Wandel begriffen ist. Die literaturtheoretische Intervention von Levyh zeigt auf, wie eng Form und Inhalt miteinander verwoben sind: Die Fragmentierung des Textes spiegelt die Fragmentierung der Wirklichkeit wider, und die Unzulänglichkeiten der Sprache eröffnen einen Raum, in dem das Unfassbare – die reine Erfahrung des Seins – zumindest ansatzweise literarisch erfahrbar gemacht werden kann.

Ils ne se battaient pas avec leurs pieds ni ne se tapotaient le dos pour se réconforter. Ils ne se déshabillaient pas pendant les rattroupages ni ne se roulaient par terre durant les affluaisons. Ils ne se permettaient pas n’importe quel geste en toute situation. Ça paraît évident. Et bien pour la parole, c’était pareil. Ils ne proféraient pas inhabilement ni ne formulaient maladroitement. Ils ne disaient pas à tort et à travers. Des usages étaient observés.

Il n’y avait pas de sanction prévue bien sûr, c’était comme pour les gestes. On n’était pas condamné pour avoir saisi la trandeuse un peu trop brutalement ou pour avoir déposé les chanles sans aucune délicatesse. Mais il y avait des conséquences, nombreuses. C’est ce qui fait que ces usages ne sont pas tacites, mais formulés explicitement. Dans de petits livrets très fins, presque transparents. Si fragiles qu’ils se désagrègent parfois au contact de la transpiration.

Ils en détenaient tous un exemplaire qu’il fallait périodiquement échanger contre un nouveau parce que deux versions consécutives avaient de grandes chances de diverger substantiellement. Les prescriptions portaient sur tous les plans, mais elles ne s’appliquaient que dans certaines situations. Il pouvait par exemple être proscrit de répéter les mots d’un interlocuteur pendant quatre tours de paroles après le sien. Mais ce n’était valable que pour les énoncés qui modifiaient les conditions mêmes de l’énonciation. Ou ceux dits lorsque l’on était en train de manger à plusieurs. Aucun mot n’était interdit pour toujours, à part ceux de la liste qui, je le rappelle, change souvent. Mais aucun mot n’était non plus autorisé en permanence. Certains ne pouvaient être dits qu’une seule fois par jour et d’autres uniquement avec une voix fluette.

Debora Levyh, La version, Éd. Allia, 2023.

Sie kickten einander nicht mit den Füßen und klopften sich nicht gegenseitig auf den Rücken, um sich zu trösten. Sie zogen sich während der Razzien nicht aus und wälzten sich nicht auf dem Boden. Sie erlaubten sich nicht jede Geste in jeder Situation. Das klingt selbstverständlich. Nun, was das Sprechen betrifft, war es genauso. Sie äußerten sich nicht unüblich und formulierten nicht ungeschickt. Sie sagten nicht einfach so drauflos. Es wurden Usancen beachtet.

Natürlich war keine Strafe vorgesehen, das war genauso wie bei den Gesten. Man wurde nicht verurteilt, wenn man die Tränke etwas zu grob packte oder die Chanles ohne jegliches Feingefühl ablegte. Aber es gab Konsequenzen, und zwar viele. Deshalb sind diese Bräuche nicht stillschweigend, sondern explizit formuliert. In kleinen, sehr dünnen, fast durchsichtigen Büchlein. So fragil, dass sie manchmal zerfallen, wenn sie mit Schweiß in Berührung kommen.

Jeder besaß ein Exemplar, das regelmäßig gegen ein neues ausgetauscht werden musste, da zwei aufeinanderfolgende Versionen mit großer Wahrscheinlichkeit erheblich voneinander abwichen. Die Vorschriften betrafen alle Ebenen, galten aber nur in bestimmten Situationen. So konnte es zum Beispiel verboten sein, die Worte eines Gesprächspartners vier Runden lang nach seinem eigenen Wort zu wiederholen. Das galt aber nur für Äußerungen, die die Bedingungen des Sprechens selbst veränderten. Oder solche, die gesagt wurden, wenn man mit mehreren Personen zusammen aß. Kein Wort war für immer verboten, außer denen auf der Liste, die sich, wie ich mich erinnere, häufig ändert. Aber es gab auch kein Wort, das immer erlaubt war. Einige durften nur einmal am Tag und andere nur mit leiser Stimme gesagt werden.

In der radikalsten Form ihrer Gruppenbildung wird von Levyh ein „peuple intercalaire“ beschrieben, das gar kein festes Identitätskonzept aufweist, keinen festen Namen oder Status für die Individuen, was zu einer fluiden und dynamischen Existenz führt, parasitär in Bezug auf die Identitätskonzepte anderer Völker. Dieses Volk unterliegt ständigen Veränderungen und Metamorphosen. Ihre Körper sind singulär und spezifisch, geprägt von verschiedenen Markierungen und Mustern, mit verschiedenen kulturellen und sozialen Bedeutungen aufgeladen, die durch äußere Einflüsse geformt werden. Es gibt keine formalen Hierarchien innerhalb des „peuple intercalaire“. Jeder ist gleich und es gibt eine kollektive Verantwortung für das Wohlergehen der Gemeinschaft. Die Rollen sind transient und reversibel, was bedeutet, dass jeder in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Rollen übernehmen kann. Auch die Erinnerung spielt eine andere Rolle in dieser Gemeinschaft: Ohne feste Identität gibt es keine Geschichte im klassischen Sinne; die Erinnerungen sind flüchtig, und es gibt keinen festen Bezug zu einem linearen Zeitverständnis. Das „peuple intercalaire“ ist sehr sensibel für das, was nicht ausgesprochen oder sichtbar ist; sie erkennen und schätzen die Dinge, die im Fluss sind und nicht konkret benannt werden können, was ihnen eine einzigartige Perspektive auf ihre Umwelt verleiht. Diese Gemeinschaft ist in ihrer Kreativität und ihrem Ausdruck sehr dynamisch, sie schaffen und teilen Geschichten und Erfahrungen, die oft in Form von Darstellungen oder Performances lebendig werden.

Le peuple intercalaire vit dans un monde labile où les principes d’identité, de hiérarchie et de stabilité sont exclus. Il y fait nuit la moitié du temps, tout est toujours en mouvement et aucun dieu n’existe. Logée dans une petite tente, la narratrice décrit sa rencontre avec ce peuple imaginaire. Travaillant à rendre compte d’un monde qui n’est pas le sien, elle essaye à tout prix d’éviter l’écueil du symbolisme ou de la métaphore. Ses mots traduisent une atmosphère de lenteur, d’obscurité, de beauté et de joie. Mais ce monde n’est pas pour autant exemplaire. Il n’échappe pas à la violence. Elle écrit : « Je ne suis pas là pour décrire une organisation idéale, un monde de bonheur et d’harmonie parfaite. Ça n’existe pas ». Ce monde à double tranchant où « rien n’est valable partout et toujours » est hanté par les contraires et les paradoxes.

Marie Viguier, „Une autre façon de vivre: Debora Levyh, La version“, En attendant Nadeau, 15 septembre 2023.

Das Zwischenvolk lebt in einer labilen Welt, in der die Prinzipien von Identität, Hierarchie und Stabilität ausgeschlossen sind. Die Hälfte der Zeit ist es dunkel, alles ist immer in Bewegung und es gibt keinen Gott. Die Erzählerin, die in einem kleinen Zelt untergebracht ist, beschreibt ihre Begegnung mit diesem imaginären Volk. Bei ihrer Arbeit an der Darstellung einer Welt, die nicht ihre eigene ist, versucht sie um jeden Preis, die Klippen des Symbolismus oder der Metapher zu umschiffen. Ihre Worte vermitteln eine Atmosphäre der Langsamkeit, der Dunkelheit, der Schönheit und der Freude. Diese Welt ist jedoch nicht beispielhaft. Sie ist nicht frei von Gewalt. Sie schreibt: „Ich bin nicht hier, um eine ideale Organisation, eine Welt des Glücks und der perfekten Harmonie zu beschreiben. So etwas gibt es nicht. Diese zweischneidige Welt, in der „nichts überall und immer gilt“, wird von Gegensätzen und Paradoxien heimgesucht.

Levyhs La version lässt sich auf vielfältige Weise interpretieren: als hermeneutische Reflexion, als Akkulturationserzählung, als Entfremdungsnarrativ, als ethnologische Studie oder als Sprachtheorie. Gemeinsam ist diesen Lesarten die zentrale Erkenntnis, dass jede Annäherung an das Fremde auch eine Verschiebung der eigenen Perspektive bedeutet – und dass es am Ende nicht darum geht, die fremde Welt vollständig zu verstehen. Roussel schreibt in seiner Besprechung in Libération: „Man kommt Stück für Stück voran und spürt, dass dieses Volk das verbannt hat, was uns manchmal belastet: Besitz, Zerebralität, Egozentrik, Verwirklichung, Zukunftsbesessenheit. Ihre Lebensweise vermittelt „den Eindruck eines genügsamen Überflusses“. Dieser Initiationsroman bewegt sich auf einem traumhaften, fast surrealistischen Grat. Keine Fabel, keine Utopie, eher eine erstaunliche Aufführung.“ 1

Liest man den Text als erkenntnistheoretische Reflexion über Sprachkontakt und Übersetzung, so mit der Prämisse, dass jede Übersetzung unweigerlich einen Bedeutungsverlust oder eine Bedeutungsverschiebung mit sich bringt. Die Erzählerin erkennt, dass ihre eigene Sprache nicht ausrecht, um die Welt, in der sie sich befindet, angemessen zu beschreiben. Sie ist gezwungen, neue sprachliche Kategorien zu entwickeln – doch diese bleiben unzureichend. Damit greift der Roman auf fundamentale Probleme der Übersetzungstheorie zurück, beispielsweise Walter Benjamins Idee der „reinen Sprache“, die jenseits der individuellen Sprachen existiert, aber niemals vollständig erreicht werden kann:

Worin kann die Verwandtschaft zweier Sprachen, abgesehen von einer historischen, gesucht werden? In der Ähnlichkeit von Dichtungen jedenfalls ebensowenig wie in derjenigen ihrer Worte. Vielmehr beruht alle überhistorische Verwandtschaft der Sprachen darin, daß in ihrer jeder als ganzer jeweils eines und zwar dasselbe gemeint ist, das dennoch keiner einzelnen von ihnen, sondern nur der Allheit ihrer einander ergänzenden Intentionen erreichbar ist: die reine Sprache. Während nämlich alle einzelnen Elemente, die Wörter, Sätze, Zusammenhänge von fremden Sprachen sich ausschließen, ergänzen diese Sprachen sich in ihren Intentionen selbst. Dieses Gesetz, eines der grundlegenden der Sprachphilosophie, genau zu fassen, ist in der Intention vom Gemeinten die Art des Meinens zu unterscheiden. In „Brot“ und „pain“ ist das Gemeinte zwar dasselbe, die Art, es zu meinen, dagegen nicht. In der Art des Meinens nämlich liegt es, daß beide Worte dem Deutschen und Franzosen je etwas Verschiedenes bedeuten, daß sie für beide nicht vertauschbar sind, ja sich letzten Endes auszuschließen streben; am Gemeinten aber, daß sie, absolut genommen, das Selbe und Identische bedeuten. Während dergestalt die Art des Meinens in diesen beiden Wörtern einander widerstrebt, ergänzt sie sich in den beiden Sprachen, denen sie entstammen. Und zwar ergänzt sich in ihnen die Art des Meinens zum Gemeinten. Bei den einzelnen, den unergänzten Sprachen nämlich ist ihr Gemeintes niemals in relativer Selbständigkeit anzutreffen, wie bei den einzelnen Wörtern oder Sätzen, sondern vielmehr in stetem Wandel begriffen, bis es aus der Harmonie all jener Arten des Meinens als die reine Sprache herauszutreten vermag. So lange bleibt es in den Sprachen verborgen. Wenn aber diese derart bis ans messianische Ende ihrer Geschichte wachsen, so ist es die Übersetzung, welche am ewigen Fortleben der Werke und am unendlichen Aufleben der Sprachen sich entzündet, immer von neuem die Probe auf jenes heilige Wachstum der Sprachen zu machen: wie weit ihr Verborgenes von der Offenbarung entfernt sei, wie gegenwärtig es im Wissen um diese Entfernung werden mag.

Damit ist allerdings zugestanden, daß alle Übersetzung nur eine irgendwie vorläufige Art ist, sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen. Eine andere als zeitliche und vorläufige Lösung dieser Fremdheit, eine augenblickliche und endgültige, bleibt den Menschen versagt oder ist jedenfalls unmittelbar nicht anzustreben.

Walter Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“.

Benjamin sieht die Übersetzung als Mittel, um das Wachstum der Sprachen zu fördern und das Verborgene der reinen Sprache zu offenbaren. In seinem Essay „Die Aufgabe des Übersetzers“ argumentiert er, dass die Verwandtschaft zwischen Sprachen nicht in der Ähnlichkeit ihrer Dichtungen oder Wörter liegt, sondern in ihrer gemeinsamen Intention, die „reine Sprache“ auszudrücken. Das Gemeinte ist in den einzelnen Sprachen nicht statisch, sondern befindet sich in ständigem Wandel. Erst durch die Harmonie der verschiedenen Arten des Meinens kann die reine Sprache hervortreten. Bis dahin bleibt sie in den Sprachen verborgen. Allerdings erkennt er an, dass jede Übersetzung nur eine vorläufige Annäherung an die Überwindung der Fremdheit zwischen den Sprachen darstellt. Eine endgültige Lösung dieser Fremdheit bleibt den Menschen verwehrt. In der Übersetzungstheorie stellt Benjamin somit die traditionelle Auffassung in Frage, die hauptsächlich auf die getreue Wiedergabe des Inhalts oder der Form eines Textes abzielt. Stattdessen betont er, dass eine Übersetzung nicht nur der Übertragung von Bedeutung dient, sondern auch dazu beiträgt, die tiefere, essenzielle Verbindung zwischen den Sprachen offenzulegen. Benjamins Konzept der „reinen Sprache“ hat die Übersetzungstheorie nachhaltig beeinflusst, indem es den Fokus von der reinen Inhaltswiedergabe auf die transformative Kraft der Übersetzung verlagerte. Übersetzen wird somit zu einem kreativen Akt, der über die bloße Vermittlung hinausgeht und das Potenzial hat, die tiefere Essenz der Sprache zu enthüllen.

Debora Levyhs La version entfaltet eine Poetik, die sich durch eine radikale Reflexion über Sprache und Fremdheit auszeichnet. Die Unmöglichkeit der Übersetzung zeigt sich in fehlenden Äquivalenten, in der Kontextabhängigkeit der Bedeutung, in der Ablehnung von Theorien und Kategorisierungen durch die Bewohner der fremden Welt, in ihrer Verknüpfung von Sprache mit Körperlichkeit, also der Privilegierung von Performanz gegenüber Semantik, schließlich in der ständigen Veränderung von Regeln. Diese Elemente führen dazu, dass jede interkulturelle Vermittlung scheitert – nicht nur, weil die Worte fehlen, sondern weil die grundlegenden Strukturen des Denkens und Wahrnehmens inkompatibel sind. La version zeigt so eine radikale Form der Unübersetzbarkeit, die über rein sprachliche Barrieren hinausgeht und in eine tiefere epistemologische Krise führt.

Cela dit, ils s’adressaient souvent les uns aux autres par des gestes sans paroles. Se glisser l’index sur la paupière inférieure. Cligner des yeux très lentement. Caresser quelque chose d’invisible. Parmi tant d’autres.

Ces gestes leur permettaient d’échanger des informations d’un certain type. Des informations concernant ni spécifiquement les uns ni spécifiquement les autres mais ce qui se produisait entre. Comme le niveau de crédulité donné par l’un à la parole de l’autre. Comme le degré d’attention transférable de l’un vers l’autre. Comme l’exaspération suscitée chez l’un par l’autre. Ou son embrasement.

Je ne les appellerais pas des “signes”, non. Ils étaient partiellement normalisés, c’est vrai. Un même geste adressé par une même personne à une même autre personne avait toutes les chances de transmettre la même information. Mais dans tous les autres cas, on ne pouvait être sûr de rien.

Je me rends compte de l’incohérence. De loin, on dirait un espace de liberté, alors qu’à bien y regarder, tout est codifié. La moindre parole, le moindre geste, inutile de le nier. Sauf que l’on voit bien que la norme est inconstante, que la règle est versatile. On voit bien que le code n’est pas stable. Déjà, il est toujours local et transitoire. Il ne s’applique que parfois et par endroits. Mais en plus, il est constamment mis en doute et renouvelé. Brisé puis recréé.

Allerdings sprachen sie oft mit Gesten ohne Worte miteinander. Mit dem Zeigefinger über das untere Augenlid streichen. Sehr langsam mit den Augen blinzeln. Etwas Unsichtbares streicheln. Unter vielen anderen.

Diese Gesten ermöglichten es ihnen, Informationen einer bestimmten Art auszutauschen. Informationen, die sich weder spezifisch auf den einen noch spezifisch auf den anderen bezogen, sondern auf das, was zwischen ihnen geschah. Zum Beispiel, wie viel Vertrauen der eine in die Worte des anderen setzte. Wie der Grad der Aufmerksamkeit, der von einem auf den anderen übertragen werden kann. Wie die Verärgerung, die der eine durch den anderen hervorgerufen hat. Oder deren Entflammbarkeit.

Ich würde sie nicht als „Zeichen“ bezeichnen, nein. Sie waren teilweise standardisiert, das stimmt. Eine gleiche Geste, die von einer Person an eine andere Person gerichtet wurde, übermittelte mit hoher Wahrscheinlichkeit die gleiche Information. Aber in allen anderen Fällen konnte man sich nicht sicher sein.

Mir wird die Widersprüchlichkeit bewusst. Von weitem sieht es aus wie ein Raum der Freiheit, doch bei genauerem Hinsehen ist alles kodifiziert. Jedes Wort, jede Geste – es ist sinnlos, das zu bestreiten. Nur sieht man, dass die Norm unbeständig ist, dass die Regel wandelbar ist. Man sieht, dass der Kodex nicht stabil ist. Schon jetzt ist er immer ortsspezifisch und vorübergehend. Er wird nur manchmal und an bestimmten Stellen angewandt. Aber darüber hinaus wird er ständig in Frage gestellt und erneuert. Gebrochen und dann neu erschaffen.

Bei aller poetischen Offenheit sind die elf Kapitel doch klar thematisch gegliedert in bestimmte Themen der Fremdheitserfahrung und -beschreibung. In Kapitel drei von La version wird bspw. die Beziehung zwischen Nachahmung und Schöpfung erforscht. Die Bewohner der Welt führen komplexe Rituale der Mimesis durch: Sie beobachten die Bewegungen anderer und wiederholen diese mit großer Präzision. Die Wiederholung wird jedoch nicht als Kopie verstanden, sondern als kreativer Akt – als performative Handlung, durch die neue Bedeutungen entstehen. Kapitel vier fokussiert auf die Beziehung zwischen Körper und Sprache. Die Bewohner kommunizieren nicht nur durch Worte, sondern durch körperliche Handlungen – Berührungen, Blickkontakte und Bewegungen im Raum. Die Erzählerin bemerkt, wie die Sprache der Bewohner auf einer tiefen körperlichen Intimität beruht. Levyh deutet hier eine Theorie der Verkörperung an: Sprache wird nicht als abstraktes Zeichen, sondern als materieller Akt erfahrbar. Die Bewohner verfügen über ein ausgeprägtes Vokabular für die Beschreibung von Körpererfahrungen – die Textur der Haut, die Intensität einer Berührung, die Empfindung von Kälte oder Wärme. Levyh stellt die Frage, ob der Körper selbst ein Medium der Sprache sein kann und inwiefern Sinn nicht nur durch Begriffe, sondern durch physische Präsenz und Interaktion entsteht. In Kapitel fünf erweitert Levyh die Reflexion über die Rolle des Körpers. Die Bewohner führen regelmäßige Rituale der Körperpflege durch – das gemeinsame Baden, die Massage von Muskeln, das Einreiben der Haut mit Ölen und Cremes. Diese Handlungen werden nicht als private, sondern als gemeinschaftliche Akte inszeniert. Die Körper der Bewohner sind nicht nur Träger von Sinn, sondern aktive Agenten der Bedeutungskonstitution. Die Reinigung wird als performativer Akt verstanden, durch den der Körper in einen neuen Zustand versetzt wird, die Haut als Oberfläche der Wahrnehmung, auf der sich die Erfahrungen der Welt einschreiben.

In Levyhs La version nimmt die Dimension der Kunst eine zentrale Rolle in der Konstruktion von Wirklichkeit und Bedeutung ein. Kapitel 9 eröffnet eine Reflexion über die Beziehung zwischen Kunst, Sprache und Wirklichkeit, indem Levyh die ästhetischen Praktiken der fremden Gesellschaft als Spiegel und Katalysator für die Schöpfung von Sinn untersucht. Kunst erscheint hier nicht als autonomes kulturelles Produkt, sondern als performativer Akt, der direkt in die soziale und ontologische Ordnung der Gemeinschaft eingreift. Die künstlerische Praxis fungiert dabei nicht nur als ästhetisches Experiment, sondern als ein Mittel zur Organisation von Zeit, Raum und sozialer Identität. Levyh macht deutlich, dass Kunst in dieser Gesellschaft nicht als intellektuelles oder kognitives Phänomen betrachtet wird, sondern als eine verkörperte Praxis. Die Bewohner schaffen Kunst nicht primär durch Sprache oder Repräsentation, sondern durch körperliche Handlungen und materielle Interaktion. Ein zentraler Aspekt der künstlerischen Praxis in La version ist ihre Offenheit und Unabschließbarkeit. Die künstlerischen Werke der Bewohner sind keine abgeschlossenen Produkte, sondern prozesshafte Strukturen, die sich durch Wahrnehmung und Interpretation ständig verändern. Levyh beschreibt, wie Kunstwerke nicht als fertige Objekte betrachtet werden, sondern als dynamische Felder der Erfahrung. Kunst wird hier nicht als autonomes Feld der kulturellen Produktion betrachtet, sondern als zentraler Bestandteil der sozialen Ordnung, und die künstlerische Kompetenz wird zur Grundlage von sozialer Anerkennung und kultureller Zugehörigkeit.

Kapitel 11 von La version von Debora Levyh bildet den erzählerischen und philosophischen Abschluss des Romans, indem es die zuvor aufgeworfenen Fragen nach Sprache, Realität und Identität auf eine radikale Ebene der ontologischen Reflexion hebt. Levyh verhandelt in diesem Kapitel die Spannung zwischen der Materialität der Sprache und der Unfassbarkeit von Wahrheit, zwischen der Beständigkeit des Körpers und der Flüchtigkeit von Sinn. Die Erzählerin reflektiert die Beziehung zwischen sprachlicher Praxis und der Konstruktion von Wirklichkeit und deutet an, dass Realität letztlich weniger eine gegebene Ordnung als ein Effekt performativer und sozialer Übereinkünfte ist. Hier wird die Idee des Unaussprechlichen verhandelt – der Bereich des Realen, der sich der sprachlichen Fixierung entzieht. Levyh beschreibt eine Gesellschaft, die über ein spezielles Wort für die Dinge verfügt, die sterben, weil sie nie benannt wurden. Dieses Wort ist jedoch nicht übersetzbar – seine Bedeutung bleibt im kulturellen und sprachlichen System der Bewohner verankert und entzieht sich der begrifflichen Aneignung durch die Erzählerin. Insgesamt ist dieses Kapitel die philosophische und erzählerische Kulmination von La version. Levyh hinterfragt die fundamentalen Annahmen über die Beziehung zwischen Sprache, Körper und Wirklichkeit und zeigt, dass Realität letztlich ein Produkt sozialer und sprachlicher Praxis ist. Wahrheit ist nicht die Übereinstimmung von Sprache und Welt, sondern das Ergebnis eines kollektiven Prozesses der Bedeutungsproduktion – ein fragiles Gleichgewicht zwischen Ordnung und Variation, zwischen Körper und Sprache, zwischen Sagen und Schweigen.

Die Schönheit des Textes liegt in der Spannung zwischen Nähe und Unzugänglichkeit, zwischen Beobachtung und Teilhabe. Die Erzählerin ist eine Grenzfigur, die sich einer fremden Welt annähert, ohne sie jemals ganz zu durchdringen, sie gibt kaum Informationen über ihre eigene Geschichte oder ihren Hintergrund preis, tritt vielmehr als suchende Instanz auf, ohne sich selbst explizit in den Vordergrund zu stellen. Die sprachliche Gestaltung des Romans verstärkt diese Unbestimmbarkeit: Die fremde Welt bleibt vage, ihre Ordnung ist nicht vollständig erklärbar. In dieser Fremdheit liegt ein poetischer Reiz – die Welt von La version bleibt immer einen Schritt entfernt, immer ein wenig unverständlich. Zudem lebt der Roman von einer Ästhetik der Stille und der Sprachlosigkeit. Die Erzählerin kann die fremde Sprache annähernd verstehen, aber nicht sprechen. Dieser Zustand der halb verstandenen Kommunikation wird zu einem poetischen Modus, der nicht nur das Unausgesprochene, sondern auch die strukturelle Unmöglichkeit einer vollständigen Übersetzung thematisiert. Die Schönheit von La version liegt nicht in einer opulenten Sprache oder in der Konstruktion eines exotischen Universums, sondern in den feinen Nuancen des Unausgesprochenen, im Ringen um Bedeutung und im Schweigen, das mehr sagt als Worte.

Auch der Name der Autorin selbst, Debora Levyh, hat eine unhörbare Verschiebung erfahren, bürgerlich heißt sie laut eigener Homepage Deborah Stella Levy (auf einer fast identischen Homepage nennt sie sich übrigens Dvora Levy). Ein vom Vor- zum Nachnamen gewandertes h lässt sich als poetologisches Programm ihres Romans interpretieren. Hier schreibt Debora Levyh über sich:

After I dedicated to architecture for a while, I now make documental installations and non-narrative fiction. I am interested in communities of practices, possible forms of the living, non-prescriptive sensorialities, the unspeakable and the unsaid, the psychoactive effects of speech, the tangible materiality of language, among others things.

Debora Levyh, http://deboralevyh.com, abgerufen am 12. März 2025.

Nachdem ich mich eine Zeit lang der Architektur gewidmet habe, mache ich jetzt dokumentarische Installationen und nicht-narrative Fiktion. Ich interessiere mich für Praktiken in Gemeinschaften, mögliche Formen des Lebens, nicht präskriptive Sinneswahrnehmungen, das Unsichtbare und das Ungesehene, die psychoaktiven Effekte des Sprechens, die greifbare Materialität der Sprache u.a.

Poetische Anthropologien

Julio Cortázar, Historias de Cronopios y de Famas (1965)

Bei der Lektüre von Levyhs Annäherung ans Fremde kommen Assoziationen zu anderen imaginären Anthropologien auf, etwa Julio Cortázars spielerische und poetische Erforschung menschlicher Gesellschaftsstrukturen in seinen Historias de Cronopios y de Famas (1965). Die Figuren – Cronopien, Famen und Esperanzen – verkörpern keine realen Menschen, sie sind allegorische Wesen, die gesellschaftliche Kategorien aufbrechen und karikieren. Der Erzähler betrachtet die Charaktere mit anthropologischem Blick und stellt sie wie Forschungsobjekte vor, ähnlich einem ethnografischen Bericht. Anders als klassische Anthropologie betrachtet Cortázar die Gruppenkulturen nicht mit systematischem Ernst, er unterläuft die Grenzen dieses Ansatzes mit Humor und Absurdität, vielleicht vergleichbar einer pointierten Moralistik des 17. Jahrhunderts. Die Cronopien haben ein chaotisches, kreatives und poetisches Wesen. Sie stehen für Individualität, Unangepasstheit und eine naive Lebensfreude. Die Esperanzen haben eine passive, resignierte Natur. Sie nehmen das Leben hin, anstatt es aktiv zu gestalten. Famen, die dritte Gruppe, sind strukturiert und bürokratisch, ihr Name erinnert an „Fama“ (Ruhm), was ihre Strebsamkeit und Ordnungsliebe widerspiegelt. Cortázars Kategorien sind also keine biologische oder soziologische Typologie, sondern poetische und ironische Anthropologie – eine alternative Form, den Menschen zu klassifizieren.

VIAJES

Cuando los famas salen de viaje, sus costumbres al pernoctar en una ciudad son las siguientes: Un fama va al hotel y averigua cautelosamente los precios, la calidad de las sábanas y el color de las alfombras. El segundo se traslada a la comisaría y labra un acta declarando los muebles e inmuebles de los tres, así como el inventario del contenido de sus valijas. El tercer fama va al hospital y copia las listas de los médicos de guardia y sus especialidades.

Terminadas estas diligencias, los viajeros se reúnen en la plaza mayor de la ciudad, se comunican sus observaciones, y entran en el café a beber un aperitivo. Pero antes se toman de las manos y danzan en ronda. Esta danza recibe el nombre de «Alegría de los famas».

Cuando los cronopios van de viaje, encuentran los hoteles llenos, los trenes ya se han marchado, llueve a gritos, y los taxis no quieren llevarlos o les cobran precios altísimos. Los cronopios no se desaniman porque creen firmemente que estas cosas les ocurren a todos, y a la hora de dormir se dicen unos a otros: «La hermosa ciudad, la hermosísima ciudad». Y sueñan toda la noche que en la ciudad hay grandes fiestas y que ellos están invitados. Al otro día se levantan contentísimos, y así es como viajan los cronopios.

Las esperanzas, sedentarias, se dejan viajar por las cosas y los hombres, y son como las estatuas que hay que ir a ver porque ellas no se molestan.

Debora Levyh, La version, Éd. Allia, 2023.

REISEN

Wenn die Famen auf Reisen gehen, sind ihre Gewohnheiten beim Übernachten in einer Stadt folgende: Ein Fame geht ins Hotel und erkundigt sich sorgfältig nach den Preisen, der Qualität der Bettlaken und der Farbe der Teppiche. Die zweite begibt sich zur Polizeiwache und gibt das gesamte bewegliche und unbewegliche Eigentum der drei sowie ein Inventar des Inhalts ihrer Koffer zu Protokoll. Der dritte Fame geht ins Krankenhaus und schreibt die Listen der diensthabenden Ärzte und ihre Fachgebiete ab.

Nachdem diese Formalitäten erledigt sind, treffen sich die Reisenden auf dem Hauptplatz der Stadt, tauschen ihre Beobachtungen aus und gehen ins Café, um einen Aperitif zu trinken. Doch vorher fassen sie sich an den Händen und tanzen im Kreis. Dieser Tanz trägt den Namen „Freude der Famen“.

Wenn die Cronopien auf Reisen gehen, stehen sie immer vor ausgebuchten Hotels, die Züge sind schon abgefahren, es regnet in Strömen, und die Taxis wollen sie nicht mitnehmen oder verlangen horrende Preise. Doch die Cronopien lassen sich nicht entmutigen, denn sie glauben fest daran, dass alles das jedem passiert. Und wenn es Zeit ist, schlafen zu gehen, sagen sie zueinander: „Was für eine schöne Stadt, eine wunderschöne Stadt.“ Die ganze Nacht träumen sie von großen Festen in der Stadt, zu denen sie eingeladen sind. Am nächsten Morgen wachen sie überglücklich auf – so reisen die Cronopien.

Die Esperanzen hingegen, sesshaft wie sie sind, lassen Dinge und Menschen für sich reisen. Sie sind wie Statuen, zu denen man zu Besuch kommen muss, weil sie sich nicht die Mühe machen, sich zu bewegen.

Cortázars Geschichte Viajes aus der Sammlung übersetzt als imaginäre Anthropologie auf poetische Weise unterschiedliche Typen und deren Weltsicht in absurde, aber treffende Bilder, für die Bürokratisierung des Reisens bei den Famen, für die anarchische Lebensfreude der Cronopien, für die Unbeweglichkeit der passiven Esperanzen. Cortázar imitiert in dieser Geschichte die Methodik der Anthropologie, indem er seine Figuren wie Kulturen beschreibt – mit typischen Verhaltensmustern, Ritualen und symbolischen Handlungen. Diese komische Klassifikation zeigt, wie Cortázar ethnologische Kategorien ad absurdum führt und eine poetische und subversive Anthropologie entwirft – eine, die vielleicht mehr über das menschliche Wesen aussagt als trocken wissenschaftliche Modelle.

Henri Michaux, Voyage en Grande Garabagne (1936)

Henri Michaux’ 1936 bei Gallimard erschienene Voyage en Grande Garabagne konfrontiert die Leser in jeder der kurzen Geschichten mit einem anderen fiktiven Volk. Hier werden andere Stimmungen aufgerufen, teils ebenfalls grotesk komisch, aber auch autonomer, absurder, surrealer. Die Émanglons etwa scheinen eine ganz eigene Art der Kommunikation zu haben, die stark von ihrer Umgebung beeinflusst ist. Sie fühlen sich in der Nähe von Wasser wohl, und so erfolgt ihre Kommunikation oft in Form von Glucksen und minimalen Worten. Peter Kuon wies darauf hin, dass Michaux’ Text zu den wenigen rechnet, bei denen imaginäre Gemeinschaften auf Science Fiction-Elemente verzichten. 2

Sowohl Debora Levyh in La version als auch Henri Michaux in Grande Garabagne konfrontieren den Leser mit radikal fremden Kulturen und Sprachen, die sich der konventionellen Verständigung entziehen. Beide Werke zeigen auf, wie Sprache nicht nur ein Mittel der Verständigung ist, sondern auch eine Barriere darstellen kann, wenn sie mit anderen Logiken oder Strukturen konfrontiert wird. Michaux macht in Grande Garabagne deutlich, dass bestimmte Konzepte einer Kultur nicht in die Sprache einer anderen übertragen werden können, weil ihnen andere kognitive und soziale Strukturen zugrunde liegen. Auch Levyh thematisiert das Unübersetzbare: Ihre Figuren erleben eine Entfremdung von ihrer eigenen Sprache, weil das, was sie ausdrücken wollen, innerhalb des fremden Systems nicht denkbar ist. Bei Michaux sind die fremden Sprachen oft verstörend, weil sie grundlegende Gewissheiten der eigenen Wahrnehmung infrage stellen. Diese Sprachen haben manchmal keine feste Syntax oder verändern sich je nach Sprecher. Die Begegnung mit radikal anderen Sprachlogiken zerstört mit der Fremdheitserfahrung ihr ungebrochenes Sprechvermögen. Auch in Levyhs Werk führt die Auseinandersetzung mit einer anderen Denkweise dazu, dass die eigene Sprache nicht mehr ausreicht. Die Protagonistin erlebt einen Moment, in dem die Grenzen der Sprache identisch mit den Grenzen des Denkens werden. Während Michaux diese Problematik durch surrealistische Überzeichnung und groteske Bilder verdeutlicht, geht Levyh analytischer vor und untersucht, wie Sprache das Erleben der Realität formt. In beiden Fällen bleibt die zentrale Frage: Wie kann man eine völlig fremde Welt sprachlich erfassen – oder ist dies überhaupt möglich?

CHEZ LES HACS

Comme j’entrais dans ce village, je fus conduit par un bruit étrange vers une place pleine de monde au milieu de laquelle, sur une estrade, deux hommes presque nus, chaussés de lourds sabots de bois, solidement fixés, se battaient à mort.
Quoique loin d’assister pour la première fois à un spectacle sauvage, un malaise me prenait à entendre certains coups de sabots au corps, si sourds, si souterrains.

Le public ne parlait pas, ne criait pas, mais uhuhait. Râles de passions complexes, ces plaintes inhumaines s’élevaient comme d’immenses tentures autour de ce combat bien « vache », où un homme allait mourir sans aucune grandeur.

Et ce qui arrive toujours arriva : un sabot dur et bête frappant une tête. Les nobles traits, comme sont même les plus ignobles, les traits de cette face étaient piétinés comme betterave sans importance. La langue à paroles tombe, tandis que le cerveau à l’intérieur ne mijote plus une pensée, et le cœur, faible marteau, à son tour reçoit des coups, mais quels coups !

Allons, il est bien mort à présent ! A l’autre donc la bourse et le contentement.

« Alors, me demanda mon voisin, que pensez-vous de cela ?

– Et vous ? dis-je, car il faut être prudent en ces pays.

– Eh bien ! reprit-il, c’est un spectacle, un spectacle parmi d’autres. Dans la tradition, il porte le numéro 24. »

Et sur ces paroles, il me salua cordialement.

Henri Michaux, „Chez les Hacs“, Voyage en Grande Garabagne.

BEI DEN HACS

Als ich in dieses Dorf kam, wurde ich von einem merkwürdigen Geräusch zu einem Platz voller Menschen gelockt, in dessen Mitte auf einem Podest zwei fast nackte Männer mit fest sitzenden und schweren Holzschuhen auf Leben und Tod gegeneinander kämpften. Obwohl ich nicht zum ersten Mal ein so rohes Schauspiel erlebte, überkam mich ein Unbehagen beim Klang bestimmter Holzschuhtritte gegen den Körper, so dumpf, so unterirdisch.

Das Publikum sprach nicht, schrie nicht, sondern ühühte. Diese unmenschlichen Klagen, ein Röcheln komplexer Leidenschaften, umgaben wie riesige Wandbehänge diesen „gemeinen“ Kampf, wo ein Mensch ohne jede Größe sterben würde.

Und was immer geschieht, geschah: ein harter und blöder Holzschuh traf einen Kopf. Die edlen Züge, auch die unedelsten sind es, die edlen Züge dieses Gesichts wurden zertreten wie irgendeine Rübe. Die Sprachzunge fällt. Während das Gehirn im Innern nicht einen Gedanken mehr ausbrütet und das Herz, dieser schwache Hammer, seinerseits Schläge erhält, aber was für Schläge.
Genug, er ist ja schon tot! Dem andern also der Geldbeutel und die Befriedigung.

„Nun“, fragte mich mein Nebenmann, „was halten Sie davon?“

„Und Sie?“ sagte ich, denn in solchen Ländern muß man vorsichtig sein.

„Na ja!“ erwiderte er, „das ist ein Schauspiel, ein Schauspiel wie jedes andere. In der Tradition hat es die Nummer 24.“

Und nach diesen Worten grüßte er mich herzlich.

Ü: Traugott König. S. Fischer Verlag.
Henri Michaux, Signes à l’encre de chine, Mouvements

Henri Michaux’ Voyage en Grande Garabagne setzt gleichwohl auf eine völlig andere Poetik der Fremdheit als La version. Während Levyh eine leise, hermetische Welt erschafft, entwirft Michaux eine grelle, überzeichnete Parodie einer Ethnografie, in der Fantasiewelten mit absurden Ritualen, grotesken Körpern und bizarren Gesellschaftsformen aufeinandertreffen. Der Reiz von Michaux’ Text liegt nicht im Entzug, sondern in der Überfülle von Eindrücken; er kreiert eine Reihe imaginärer Gesellschaften – die Hacs, die Émanglons, die Omobuls etwa –, deren Rituale oft grausam, komisch oder schlichtweg unverständlich sind. Anders als Levyh hält er sich nicht an eine subtile, latente Fremdheit, sondern bringt das Unverständliche direkt auf die Bühne, indem er es grotesk übersteigert. Ein Beispiel dafür ist der Bericht über die Kämpfe in der Gesellschaft der Hacs, in denen zwei Männer sich mit Holzschuhen zu Tode treten, während das Publikum nur unartikulierte Laute von sich gibt. Diese Welt ist nicht durch Stille geprägt, sondern durch ein überschäumendes, unkontrolliertes Zuviel an Bedeutungen und (nummerierten) Bräuchen. Die Schönheit von Michaux’ Prosa liegt in der surrealistischen Übertreibung, in der sich anthropologische Neugier mit einer anarchischen Lust am Absurden verbindet. Raymond Bellour schlägt eine politische Lesart dieses anthropologisch Absurden bei Michaux vor:

Je me demande par exemple si Au Pays de la Magie et le Voyage en Grande Garabagne ne parlent pas de notre monde, et non pas de son seul désordre général et de la déraison du corps, ce qui serait trop simple, mais aussi des structures sociales et plus encore politiques, vues par un homme pour qui la politique n’est pas un objet de savoir, ni celui d’une enquête précise, comme le sera le « psychique », mais sur qui elle pèse, au point qu’il nous en restitue l’image dans les détours d’une logique démentielle qui n’est pas sans raison et marque la distance, l’effroi d’un sujet contraint à SA logique ; distance, effroi qu’on retrouve, portés toujours par l’incision précieuse de l’humour, en bien d’autres textes – je pense en particulier au Secret de la Situation Politique – qui tous rappellent si fort ce que dans un dialogue il disait ressentir devant la politique ; je me demande si Michaux ne retrouve pas, à sa façon unique, sans les analogies déterminées de l’un et les miroirs textuels de l’autre, la vertu visionnaire des représentations de Swift et des interprétations de Kafka, et s’il ne serait pas le plus pressant interprète de notre monde actuel.

Raymond Bellour, „La passion de Narcisse“, in Michaux: cahier de l’Herne, hrsg. Von Raymond Bellour (Paris: Éditions de l’Herne, 1966), 67.

Ich frage mich zum Beispiel, ob nicht Au Pays de la Magie und die Reise in die Grande Garabagne von unserer Welt handeln, und zwar nicht nur von ihrer allgemeinen Unordnung und der Unvernunft des Körpers, was zu einfach wäre, sondern auch von den sozialen und vor allem politischen Strukturen aus der Sicht eines Mannes, für den die Politik kein Wissensgegenstand ist, noch das einer genauen Untersuchung, wie es das „Psychische“ sein wird, sondern auf dem sie lastet, so sehr, dass er uns das Bild davon in den Umwegen einer verrückten Logik wiedergibt, die nicht ohne Grund ist und die Distanz, den Schrecken eines Subjekts markiert, das in SEINE Logik gezwungen wird; Distanz und Schrecken, die wir, immer getragen vom wertvollen Einschnitt des Humors, in vielen anderen Texten wiederfinden – ich denke insbesondere an das Geheimnis der politischen Situation -, die alle so stark an das erinnern, was er in einem Dialog sagte, dass er vor der Politik empfinde ; frage ich mich, ob Michaux auf seine einzigartige Weise, ohne die determinierten Analogien des einen und die textuellen Spiegel des anderen, die visionäre Tugend der Darstellungen Swifts und der Interpretationen Kafkas wiederfindet, und ob er nicht der dringendste Interpret unserer heutigen Welt ist.

Während Levyh eine hermeneutische Struktur aufbaut, in der die Erzählerin langsam beginnt, die fremde Welt zu verstehen, ist das Fremde in Voyage en Grande Garabagne eine zelebrierte Form des Andersseins, das sich der Rationalität entzieht. Wie Armand Hoog in seiner Analyse von Michaux betont, liegt die Kraft seiner Texte in ihrer mythopoetischen Dimension: Seine Welten sind keine realistischen ethnografischen Beschreibungen, sondern „die Mythologie des modernen Geistes“, ein Universum, das aus Träumen, Ängsten und kulturellen Fragmenten besteht. Während Levyh also ein erkenntnistheoretisches Drama inszeniert, erzählt Michaux ein Märchen ohne Didaxe, das keine Erkenntnis, sondern ein Delirium der Bedeutungen produziert. Es sind zwei völlig unterschiedliche, aber gleichermaßen faszinierende Arten, die Erfahrung des Fremden literarisch zu gestalten: La version ist eine Meditation über die Sprachlosigkeit, Voyage en Grande Garabagne eine Ekstase des Unverständlichen. Michaux überflutet den Leser mit so vielen Details und Absurditäten, dass jeglicher Versuch des Verstehens ins Leere läuft. Während Levyhs Poetik die Grenzen des Verstehens respektiert, sprengt Michaux sie mit surrealer Gewalt. Levyh zeigt, wie eine Welt sich allmählich dem Verstehen entzieht, während die Erzählerin dennoch versucht, sich ihr anzunähern.

Je l’ai dit, ils parlaient peu, par peur de ce qui pourrait se produire pendant que toute leur attention est prise par la parole. Par peur de rater ces choses qui apparaissent à tout instant et disparaissent aussitôt. Ces choses qui saillent, qui affleurent à peine et qui, s’ils ne les nomment pas, s’évanouissent instantanément, s’enfoncent dans le néant à tout jamais.

S’ils se retiennent de converser, c’est pour pouvoir faire exister toutes les choses innommées qui sinon s’éteignent sans que personne ne les aperçoive. Les sensations, les intuitions, les possibilités. Les flottements. Une voix que l’on entend à peine, un espace que personne n’a remarqué. De petites phrases qui ne se forment pas tout à fait à la surface et qu’ils n’entendent que lorsqu’il n’y a aucun bruit.

Ils disposent, pour désigner le vaste continent des choses qui seront mortes de n’avoir jamais été nommées, d’un mot intraduisible.

Devora Levyh, La version, Éd. Allia, 2023.

Ich habe gesagt, dass sie wenig reden, aus Angst vor dem, was passieren könnte, während ihre ganze Aufmerksamkeit vom Reden eingenommen ist. Aus Angst, sie könnten die Dinge verpassen, die jeden Moment auftauchen und sofort wieder verschwinden. Diese Dinge, die hervortreten, die kaum an die Oberfläche kommen und die, wenn sie sie nicht benennen, augenblicklich verblassen, für immer im Nichts versinken.

Wenn sie sich mit Gesprächen zurückhalten, dann nur, um all die unbenannten Dinge existieren lassen zu können, die sonst unbemerkt vergehen würden. Die Empfindungen, die Intuitionen, die Möglichkeiten. Das Schweben. Eine Stimme, die man kaum hört, eine Lücke, die niemand bemerkt. Kleine Sätze, die sich nicht ganz an der Oberfläche bilden und die sie nur hören, wenn es keinen Lärm gibt.

Sie verfügen über ein unübersetzbares Wort, um den riesigen Kontinent der Dinge zu bezeichnen, die tot sein werden, weil sie nie benannt wurden.

Überdehnungen der Sprachgrenzen

Übersetzung und Poetik der Periphrase

Le langage doit ainsi se faire fidèle à la perception en mettant des mots sur ce qui est le plus déconcertant.

Mathieu Champalaune, „Debora Levyh : un autre monde“, Zone critique, 5. September 2023.

Die Sprache muss also der Wahrnehmung treu bleiben, indem sie das Verwirrendste in Worte fasst.

In La version von Debora Levyh ist die Unmöglichkeit der Übersetzung ein zentrales Thema. Die Erzählerin kämpft mit den Grenzen ihrer eigenen Sprache, während sie versucht, die fremde Welt zu beschreiben. Die Unmöglichkeit einer adäquaten Übertragung resultiert nicht nur aus sprachlichen Differenzen, sondern aus grundlegenden Unterschieden in der Welterfahrung und Wahrnehmung. Die Erzählerin ist gezwungen, ungenaue oder unpassende Begriffe zu verwenden.

Während in der Welt der Erzählerin Dinge in Kategorien eingeordnet werden, leben die Fremden in einer unteilbaren Wirklichkeit, in der Dinge nicht in klaren Klassen existieren, sondern je nach Perspektive Ähnlichkeiten oder Unterschiede aufweisen. Die Fremden nutzen Sprache nicht als festes System zur Repräsentation von Bedeutungen, sondern als dynamische Praxis, die sich je nach Situation verändert, wird beeinflusst von äußeren Faktoren wie Wetter, Stimmung oder Kontext. Eine Übersetzung in eine Sprache, die auf stabilen Bedeutungen basiert, wird dadurch unmöglich. Die Erzählerin erkennt, dass die Fremden gar kein Interesse an Theorien oder Erklärungen haben. Während westliche Wissenschaft und Philosophie auf Analyse und Begriffsbildung beruhen, lehnen die Fremden jede Form des Abstrahierens ab. Eine Übersetzung ihrer Welt in eine analytische Sprache ist somit zum Scheitern verurteilt. Denn in der fremden Welt ist Sprache eng mit Körperlichkeit und Performativität verbunden. Bestimmte Dinge können nur unter bestimmten körperlichen Bedingungen gesagt werden:

Non, puisque tout pouvait être dit. Mais pas toujours, pas partout, et surtout, pas sous n’importe quelle forme. Certaines choses pouvaient être dites debout et d’autres accroupi. Certaines paroles devaient être murmurées et d’autres criées ou chantées, avec un regard soutenu ou vide, dans l’immobilité totale ou avec des gestes de la main, sur un ton fragile ou assuré, d’une voix grège ou sirupeuse. Et cætera, on a compris, la forme était excessivement importante. À tel point que leurs conversations étaient des ouvrages magnifiques, d’éphémères chefs-d’œuvre. Je ne veux pas dire qu’il s’agissait de captiver ou d’enchanter, il faut me comprendre. Seulement que la forme était d’une importance capitale. Tant et si bien que leurs textes étaient en réalité la simple transcription de leurs paroles.

Debora Levyh, La version, Éd. Allia, 2023.

Nein, denn alles konnte gesagt werden. Aber nicht immer, nicht überall und vor allem nicht in jeder Form. Manche Dinge konnten im Stehen und andere in der Hocke gesagt werden. Manche Worte mussten geflüstert und andere geschrien oder gesungen werden, mit festem oder leerem Blick, in völliger Bewegungslosigkeit oder mit Handbewegungen, in zerbrechlichem oder selbstbewusstem Ton, mit einer grauen oder sirupartigen Stimme. Und so weiter, wir haben es begriffen, die Form war außerordentlich wichtig. Das ging so weit, dass ihre Gespräche wunderbare Werke waren, kurzlebige Meisterwerke. Ich will nicht sagen, dass es darum ging, zu fesseln oder zu verzaubern, Sie müssen mich verstehen. Nur, dass die Form von größter Bedeutung war. So sehr, dass ihre Texte in Wirklichkeit die bloße Transkription ihrer Worte waren.

Hier zeigt sich, dass Bedeutung in jener Welt nicht nur durch Wörter, sondern durch Körperhaltung, Stimme und Gestik entsteht. In einer Sprache, die nur auf Schrift oder Klang basiert, gehen diese Dimensionen verloren. Ein grundlegendes Hindernis für die Übersetzung ist die Instabilität der sprachlichen Regeln. In der fremden Gesellschaft existieren feine Vorschriften für den Sprachgebrauch, die sich aber kontinuierlich verändern. Diese sich wandelnden Regeln machen es unmöglich, eine feste Grammatik oder ein Wörterbuch zu erstellen. Eine Übersetzung wäre immer nur eine Momentaufnahme eines sich permanent verändernden Systems.

Immergée dans ce monde nouveau, la narratrice doit faire face à l’obstacle de la langue et à l’incertitude de la traduction. Ces êtres parlent une langue qu’elle ne connaît pas. Leurs mots ne découpent pas le réel de la même manière que les nôtres. Aussi, les coordonnées qui la guident habituellement sont devenus obsolètes. Dans leur vocabulaire, un repas n’existe pas, le temps ne se calcule pas, la psychologie n’a pas d’importance et aucun dictionnaire n’existe pour fixer le sens des mots. Elle œuvre à trouver les mots qui permettent de dire ce qui n’en a pas dans sa langue.

Marie Viguier, „Une autre façon de vivre: Debora Levyh, La version,“ En attendant Nadeau, 15 septembre 2023.

In diese neue Welt eingetaucht, muss sich die Erzählerin mit dem Hindernis der Sprache und der Unsicherheit der Übersetzung auseinandersetzen. Diese Wesen sprechen eine Sprache, die sie nicht kennt. Ihre Worte zerlegen die Realität anders als unsere. Auch die Koordinaten, an denen sie sich normalerweise orientiert, sind obsolet geworden. In ihrem Wortschatz gibt es keine Mahlzeit, die Zeit lässt sich nicht berechnen, die Psychologie spielt keine Rolle, und es gibt kein Wörterbuch, das die Bedeutung der Wörter festlegt. Sie arbeitet daran, Wörter zu finden, die es ermöglichen, das auszudrücken, was in ihrer Sprache keine Wörter hat.

Die Bewohner der fremden Welt haben kein Äquivalent für Begriffe wie „Art“, „Typ“ oder „Klasse“. Stattdessen existiert ein unteilbares Kontinuum, in dem Dinge je nach Perspektive Ähnlichkeiten oder Unterschiede aufweisen. Sie haben kein Bedürfnis, etwas zu analysieren oder zu erklären:

Je dis “théorie” pour aller vite, mais ils n’ont évidemment rien conçu qui ressemble à des théories. Ils se foutent pas mal d’expliquer quoi que ce soit. Ils n’analysent pas, n’interprètent rien. Ils n’essaient en aucun cas d’éclaircir l’obscur. Au contraire, ils en restituent l’obscurité, ils la recréent.

Ça prend plus de temps oui, c’est certain. Mais il suffit pour s’en sortir de limiter les obscurités à recréer, c’est tout. Voilà pourquoi on ne recrée dans une vie qu’un petit nombre d’obscurités.

J’aimerais éviter d’utiliser des mots qui ne sont pas traduisibles dans leur langue mais je n’ai pas le choix. Comme par exemple “sorte”, “type” ou “classe”. Je reconnais qu’ils n’en ont aucun équivalent. C’est qu’ils ne disposaient pas de ces sortes de boîtes dans lesquelles on place des choses qui se ressemblent et diffèrent de celles qui sont dans les autres boîtes. Toutes les choses, les types de choses et les sous-genres de choses étaient dans la même boîte. De sorte que les choses n’étaient pas séparées par des intervalles, qu’ils soient pleins ou vides, mais formaient un continuum insécable. Sous un angle, elles ressemblaient à certaines, et sous un autre, elles s’en distinguaient.

Cette conception est intéressante, mais on pourrait objecter qu’elle présente le risque de les noyer dans l’infini des différences. Et c’est ennuyeux parce que certaines différences sont anodines tandis que d’autres pas.

On pourrait aussi me faire remarquer que ça génère un grand flou pour la nomination. Ça, par contre, ce n’est pas un problème. Comme chaque chose est une combinaison unique de caractéristiques, il suffit pour la désigner d’indiquer un certain nombre d’entre elles. Ce nombre dépend de la situation d’énonciation, de l’intention réelle de celui qui parle ou de l’humeur de celui qui écoute. Du temps qu’il fait aussi.

Debora Levyh, La version, Éd. Allia, 2023.

Ich sage „Theorie“, um es schnell zu machen, aber sie haben natürlich nichts entworfen, was wie eine Theorie aussieht. Sie scheren sich einen Teufel darum, etwas zu erklären. Sie analysieren und interpretieren nichts. Sie versuchen nicht, das Dunkle zu erhellen. Im Gegenteil, sie geben das Dunkle wieder, sie erschaffen es neu.

Es dauert länger, ja, das ist klar. Aber um das zu schaffen, muss man nur die Dunkelheit begrenzen, die man wiederherstellen muss, das ist alles. Deshalb erschafft man in einem Leben nur eine kleine Anzahl von Dunkelheiten neu.

Ich würde es gerne vermeiden, Wörter zu verwenden, die nicht in ihre Sprache übersetzt werden können, aber ich habe keine andere Wahl. Zum Beispiel „Art“, „Typ“ oder „Klasse“. Ich gebe zu, dass sie kein Äquivalent dafür haben. Das liegt daran, dass sie nicht über diese Art von Kästen verfügten, in die man Dinge legt, die sich ähneln und sich von denen in den anderen Kästen unterscheiden. Alle Dinge, Arten von Dingen und Unterarten von Dingen befanden sich in der gleichen Schachtel. So dass die Dinge nicht durch Lücken, seien sie nun voll oder leer, getrennt waren, sondern ein untrennbares Kontinuum bildeten. Aus einem Blickwinkel ähnelten sie bestimmten, aus einem anderen unterschieden sie sich von ihnen.

Diese Auffassung ist interessant, aber man könnte einwenden, dass sie die Gefahr birgt, sie in der Unendlichkeit der Unterschiede zu ertränken. Und das ist ärgerlich, weil einige Unterschiede harmlos sind, während andere es nicht sind.

Man könnte mir auch entgegenhalten, dass sie eine große Unschärfe für die Benennung erzeugt. Das allerdings ist kein Problem. Da jedes Ding eine einzigartige Kombination von Merkmalen ist, reicht es zur Benennung aus, eine bestimmte Anzahl von Merkmalen anzugeben. Diese Anzahl hängt von der Situation der Äußerung ab, von der tatsächlichen Absicht des Sprechers oder der Stimmung des Zuhörers. Auch vom Wetter.

Die Sprache in La version dient nicht als reines Informationsmedium, sondern wird als Instrument gezeigt, das unzureichend ist, um das Unbeschreibliche zu fassen. Die Autorin setzt auf Umschreibungen, weil ihr Sujet – ein fremdes, beinahe außerweltliches Volk – sich einer klaren sprachlichen Darstellung entzieht. So entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Drang zur Erklärung und der Unmöglichkeit, das Erleben adäquat zu übersetzen.

Debora Levyhs Roman La version ist von einer spezifischen sprachlichen Strategie geprägt, einer Poetik der Periphrase. Die ständige Umschreibung von Dingen, Orten, Körpern und Ereignissen ist nicht bloß ein stilistisches Mittel, sondern Ausdruck einer fundamentalen Erkenntnis: Die Sprache ist unzulänglich, um eine fremde Welt direkt zu benennen. Durch Periphrasen entwickelt sie eine Poetik der Unsicherheit und des Wandels, die nicht nur die Fremdheit der erzählten Welt betont, sondern auch die Grenzen der menschlichen Kognition herausfordert. Von den ersten Seiten an macht die Erzählstimme deutlich, dass es unmöglich ist, die fremde Welt mit den Begriffen der eigenen Sprache zu erfassen. Diese Einsicht führt zu einer eigenwilligen Form der Beschreibung. Statt mit klaren Definitionen zu operieren, nähert sich die Erzählerin den Dingen über Umwege, Vergleiche und paradoxe Formulierungen. Eine Landschaft ist nicht einfach eine Landschaft, sondern eine „frange intégrale“, ein Rand, der überall existiert und keine Mitte kennt. Ein Ritual ist kein Ritual, sondern eine „activité“, die sich dem Gegensatz zwischen Arbeit und Spiel entzieht. Diese Periphrasen suggerieren, dass jedes Wort nur eine Annäherung sein kann, eine vorläufige Konstruktion, die sich niemals mit der Wirklichkeit deckt.

Au sein de cette collectivité remplie de « non-intériorités », l’énergie-flux se moule dans des codes stricts en perpétuelles modifications et réinventions. Pour tenter d’appréhender la logique régissant le rapport au temps, à l’espace, à l’objet, à l’habit, au patronyme, à la parole, à l’écriture, à la conservation et à tout ce qui interroge un humain à l’aune de ce que le narrateur raconte, le lecteur se voit contraint de repousser les limites de son entendement, d’ouvrir les perspectives et de tester sa résistance aux contorsions mentales. Il n’est pas question ici de complexifications prétentieuses et creuses, mais d’évocations prudentes, dialectiques, tâtonnantes. Les descriptions épousent en effet un mouvement étrange : elles s’avancent, reviennent sur elles-mêmes, affirment leur contraire, se nuancent à nouveau et se figent en développement. Aucune certitude, aucune affirmation, seule une volonté esquissée d’approcher sans prétendre à la compréhension, à la justesse, au définitif.
Quelle expérience prenante, déroutante, étrange, incommodante, fascinante que de suivre le témoignage de ce « Je » dont on connaît si peu, si ce n’est peut-être un désir de protéger ces « Eux ».

Samia Hammami, « Entendons-nous bien, rien de ce que je raconte n’est métaphorique », Le carnet et les instants, 21. August 2023.

In dieser Gemeinschaft voller „Nicht-Innerlichkeiten“ wird der Energiefluss in strenge Codes gepresst, die ständig verändert und neu erfunden werden. Um die Logik zu verstehen, die die Beziehung zu Zeit, Raum, Gegenständen, Kleidung, Namen, Sprache, Schrift, Aufbewahrung und allem, was einen Menschen in Frage stellt, anhand dessen, was der Erzähler berichtet, regelt, muss der Leser die Grenzen seines Verständnisses erweitern, Perspektiven öffnen und seine Widerstandsfähigkeit gegen geistige Verrenkungen testen. Hier geht es nicht um prätentiöse und hohle Komplexisierungen, sondern um vorsichtige, dialektische, tastende Beschwörungen. Die Beschreibungen folgen in der Tat einer seltsamen Bewegung: Sie schreiten voran, drehen sich um sich selbst, behaupten ihr Gegenteil, nuancieren erneut und erstarren in der Entwicklung. Keine Gewissheit, keine Behauptung, nur ein skizzierter Wille, sich zu nähern, ohne den Anspruch auf Verständnis, Richtigkeit oder Endgültigkeit zu erheben.
Was für eine fesselnde, verwirrende, seltsame, unbequeme und faszinierende Erfahrung, dem Zeugnis dieses „Ich“ zu folgen, über das wir so wenig wissen, außer vielleicht dem Wunsch, diese „Sie“ zu schützen.

Besonders auffällig ist hierbei Lévyhs Umgang mit Körpern und Materie. Die Bewohner dieser Welt werden nicht durch eindeutige Kategorien wie Geschlecht oder Identität definiert, sondern über ihre physischen Zustände und Praktiken. Die Sprache weicht dabei festen Substantiven aus und operiert mit dynamischen Umschreibungen:

Souvent, après, ils se prélassaient avec les entités. Je parle d’“entités” parce que je ne peux pas dire “êtres”, elles n’“étaient” pas à proprement parler. Et je ne peux pas non plus les désigner de “non-êtres”, car leur incidence était bien réelle, leur emprise effective.

Elles frôlaient, frottaient, léchaient, pinçaient, mordaient. Les extrémités, les creux, les plis, les membranes. Elles sautillaient et grouillaient, glissaient et rampaient. Elles s’insinuaient. Partout où elles pouvaient. Des matières animées et des formes ondulantes qui entrent et sortent, des substances qui subjuguent et assujettissent. Partout sur eux. Des langues sans bouches, des serpents à visages et de fins êtres fuchsia.

Leurs organes de toutes formes, leurs textures instables, l’infinie gamme de leurs couleurs fluctuantes. Leurs odeurs aussi. Pastel gras, laque coiffante, musc blanc.

Ce que je ne m’explique pas, ce que je ne m’expliquerai jamais, c’est qu’ils les engendraient par la parole. Ils en décrivaient le moindre aspect avec tant de précision qu’on les percevait concrètement.

Étrange, surprenant, trouble, certainement. Différent, autre, pas tant que ça en fin de compte. Ou bien si, mais pas là où l’on pourrait le croire. En revanche, surnaturel, non, absolument pas. Je n’ai rien vu qui entre en contradiction avec l’état de nos connaissances. Je n’ai rien vu non plus qui aurait pu être le fait de quelque chose qu’on appellerait magie. Aucun prodige, aucune intervention divine, aucun mystère. Pas de transcendance.

Debora Levyh, La version, Éd. Allia, 2023.

Oftmals tummelten sie sich danach mit den Instanzen. Ich spreche von „Instanzen“, weil ich nicht „Wesen“ sagen kann, denn sie „waren“ nicht im eigentlichen Sinne. Und ich kann sie auch nicht als „Nicht-Wesen“ bezeichnen, denn ihr Einfluss war real, ihre Macht effektiv.

Sie streiften, rieben, leckten, zwickten, bissen. Die Extremitäten, die Vertiefungen, die Falten, die Membranen. Sie hüpften und krabbelten, rutschten und krochen. Sie schlichen sich ein. Überall, wo sie konnten. Belebte Materie und wabernde Formen, die ein- und ausgingen, Substanzen, die unterwarfen und unterwarfen. Überall auf ihnen. Zungen ohne Mäuler, Schlangen mit Gesichtern und feine fuchsienfarbene Wesen.

Ihre Organe in allen Formen, ihre unbeständigen Texturen, die unendliche Palette ihrer fluktuierenden Farben. Auch ihre Gerüche. Fettige Pastellfarben, Haarspray, weißer Moschus.

Was ich mir nicht erklären kann und nie erklären werde, ist, dass sie diese mit Worten erzeugten. Sie beschrieben jeden einzelnen Aspekt so genau, dass man ihn konkret wahrnehmen konnte.

Seltsam, überraschend, verwirrend, sicherlich. Abweichend, fremdartig, letztlich gar nicht so sehr. Oder doch, aber nicht da, wo man es vermuten würde. Übernatürlich hingegen, nein, absolut nicht. Ich habe nichts gesehen, was im Widerspruch zu unserem Wissensstand steht. Ich habe auch nichts gesehen, was auf etwas zurückzuführen wäre, das man als Magie bezeichnen könnte. Keine Wunder, keine göttlichen Eingriffe, keine Mysterien. Keine Transzendenz.

Selbst das scheinbar Konkrete – der Körper – unterliegt einer ständigen Transformation. Die Periphrase dient hier nicht nur der Umschreibung, sondern der Verflüssigung der Kategorien. Es gibt keine festen Begriffe für Körper, weil diese selbst keine stabilen Entitäten sind. Ähnlich verhält es sich mit der räumlichen Dimension: Die Orte sind nicht fix, sondern fluktuierend, schwankend und sich verändernd. Die Welt ist nicht in distinkte Bereiche unterteilt, sondern besteht aus Übergängen, Intervallen und Zwischenzonen. Das klassische Konzept der Topographie wird durch eine Sprache ersetzt, die räumliche Grenzen auflöst:

Tout endroit était à la fois lointain et adjacent. Comme le paysage était vaste, cela prenait nécessairement du temps pour aller d’un lieu à l’autre. Mais curieusement, il arrivait sans cesse qu’on se retrouve ici qu’on pensait être là-bas ou l’inverse. C’est aussi que personne n’avait réellement la volonté de se rendre quelque part. On se retrouvait, on tombait, on survenait à la rigueur, mais on ne parvenait pas. De ce fait, personne ne se préoccupait vraiment de connaître les distances entre les lieux.

Debora Levyh, La version, Éd. Allia, 2023.

Jeder Ort war gleichzeitig weit entfernt und angrenzend. Da die Landschaft so weitläufig war, dauerte es zwangsläufig lange, von einem Ort zum anderen zu gelangen. Seltsamerweise kam es aber immer wieder vor, dass man sich hier wiederfand, obwohl man dachte, man sei dort oder umgekehrt. Das lag auch daran, dass niemand wirklich den Willen hatte, irgendwohin zu gehen. Man befand sich, man fiel hin, man tauchte allenfalls auf, aber man gelangte nicht wohin. Daher beschäftigte sich auch niemand wirklich damit, die Entfernungen zwischen den Orten zu erfahren.

Levyhs Poetik der Periphrase ist nicht nur eine sprachliche Notwendigkeit, sondern auch eine epistemologische Strategie. Indem die Begriffe nie direkt genannt, sondern nur umschrieben werden, verweigert der Text eine klare Festlegung von Bedeutung. Die Periphrase wird zur Reflexionsfigur, die den Leser zwingt, sich der Unmöglichkeit einer exakten Beschreibung bewusst zu werden. Dies zeigt sich besonders in der Darstellung von Zeit und Rhythmus. Statt eine klare Chronologie zu etablieren, beschreibt der Text ein System aus unbestimmten Rhythmen, deren Logik sich jeder Konvention entzieht. Statt eine Illusion von Transparenz zu erzeugen, führt die Periphrase vor, dass jede sprachliche Repräsentation notwendigerweise lückenhaft bleibt. Dies hat Konsequenzen für die Leserperspektive: Da Begriffe nicht fix sind, sondern sich durch Umschreibungen annähern, wird der Leser gezwungen, die Welt nicht als ein stabiles Konstrukt, sondern als ein Netz aus Relationen und Übergängen zu begreifen. Levyhs Sprache operiert dabei nicht nach dem Modell der Benennung, sondern nach dem Modell der Verkettung. Die Welt entsteht also nicht durch Festlegung, sondern durch Demonstration. Sie ist nicht, sie wird – und diese Bewegung kann allenfalls durch Periphrasen vermittelt werden.

Oui, c’est certain que, pour faire de telles choses, il faut penser d’une étrange manière. Mais je l’ai déjà dit, je n’ai pas plus d’informations à ce propos. Je ne sais pas ce qu’ils pouvaient penser pour vivre ainsi. Et même si je le savais, honnêtement, je ne crois pas que je le dirais. Parce que j’ai comme l’impression que ça pourrait se retourner contre moi, contre eux. Ou contre d’autres. Je ne vois pas ce qui me garantit que ce que j’en dirais ne soit pas au mieux mal compris, au pire mal utilisé. Dans l’intention de nuire. Dans l’intention de prendre le pouvoir.

J’ai des embryons d’hypothèses, ne serait-ce qu’intérieurement. Mais il serait risqué de les partager, je pourrais avoir mal compris. Je pourrais dire des choses fausses, dont je ne mesure pas toutes les conséquences, et qui pourraient être reprises à mauvais escient. Si je me trompe, je pourrais nuire. Et je pourrais les trahir. Ou me trahir moi-même. Je vois mal, dans les circonstances, pourquoi je prendrais ce risque.

Je dis ça comme si j’avais le choix mais en réalité, eux-mêmes n’en savaient rien.

Ils ne désireraient pas énoncer les conceptions qui soutiennent leurs actions. Ils ne se confiaient pas leurs théories, ne fournissaient jamais leurs hypothèses. Ils en étaient incapables, ils ne le souhaitaient pas. Sans doute en avaient-ils, je ne vois pas comment expliquer, sinon, l’incroyable précision de leurs actions. Seulement, ils les gardaient pour eux. On pourrait dire que ça relevait du “privé”, mais ils n’avaient dans leur langue aucun équivalent de ce mot.

Il n’était pas non plus possible de voir les présupposés de leur vie. Pas plus que de les entendre. Il n’existait aucune image de croyance quelconque, de modèle du monde, de cosmogonie explicative.

Rien de tout ça n’était discuté, rien de tout ça n’était montré. Et encore moins célébré. C’est sans doute que tout le monde savait bien dans quel sens allaient les choses en réalité, ce qui déterminait quoi des présupposés et de la vie.

Mais il y avait malgré tout des endroits où l’on pouvait entrevoir des choses. C’étaient de petits endroits peu remarquables, sur lesquels ont tombait pour ainsi dire par hasard. Et qui une fois qu’on les avait vus pouvaient tout de même dégager une certaine monumentalité.

Debora Levyh, La version, Éd. Allia, 2023.

Ja, es steht fest, dass man, um solche Dinge zu tun, auf eine seltsame Art und Weise denken muss. Aber ich sagte bereits, dass ich keine weiteren Informationen darüber habe. Ich weiß nicht, was sie gedacht haben könnten, um so zu leben. Und selbst wenn ich es wüsste, glaube ich ehrlich gesagt nicht, dass ich es sagen würde. Denn ich habe irgendwie das Gefühl, dass das nach hinten losgehen könnte, gegen mich oder gegen sie. Oder gegen andere. Ich weiß nicht, was mir garantiert, dass das, was ich sagen würde, nicht im besten Fall missverstanden und im schlimmsten Fall missbraucht wird. In der Absicht, zu schaden. In der Absicht, die Macht zu übernehmen.

Ich habe Ansätze für Hypothesen, wenn auch nur innerlich. Aber es wäre riskant, sie zu teilen, denn ich könnte sie falsch verstanden haben. Ich könnte etwas Falsches sagen, dessen Konsequenzen ich nicht überblicke und das missbraucht werden könnte. Wenn ich mich irre, könnte ich schaden. Und ich könnte sie verraten. Oder mich selbst verraten. Ich kann unter den gegebenen Umständen kaum erkennen, warum ich dieses Risiko eingehen sollte.

Ich sage das so, als hätte ich eine Wahl gehabt, aber in Wirklichkeit wussten sie selbst nichts davon.

Sie würden sich nicht wünschen, die Vorstellungen, die ihre Handlungen stützen, zu formulieren. Sie würden sich ihre Theorien nicht anvertrauen und niemals ihre Hypothesen liefern. Sie waren dazu nicht in der Lage, sie wollten es nicht. Zweifellos hatten sie welche, ich weiß nicht, wie sonst die unglaubliche Präzision ihrer Handlungen erklären könnte. Nur behielten sie sie für sich. Man könnte sagen, dass es „privat“ war, aber sie hatten in ihrer Sprache kein Äquivalent für dieses Wort.

Es war auch nicht möglich, die Voraussetzungen ihres Lebens zu sehen. Ebenso wenig konnte man sie hören. Es gab kein Bild irgendeines Glaubens, kein Weltmodell, keine erklärende Kosmogonie.

Nichts von all dem wurde diskutiert, nichts von all dem wurde gezeigt. Und noch weniger wurde es gefeiert. Das lag wahrscheinlich daran, dass jeder genau wusste, in welche Richtung die Dinge in Wirklichkeit liefen, was die Annahmen und das Leben wie bestimmte.

Aber es gab dennoch Orte, an denen man etwas sehen konnte. Es waren kleine, unauffällige Orte, auf die man sozusagen zufällig stieß. Und wenn man sie einmal gesehen hatte, konnten sie dennoch eine gewisse Monumentalität ausstrahlen.

Die Poetik der Periphrase in La version ist so viel mehr als eine stilistische Eigenart. Sie ist Ausdruck einer epistemologischen Haltung, die sich der Unmöglichkeit einer vollständigen sprachlichen Erfassung bewusst ist. Levyh zeigt, dass die einzige Möglichkeit, sich einer fremden Welt anzunähern, in der Umschreibung liegt – im ständigen Versuch, über die Sprache hinauszugehen, ohne sie je ganz zu verlassen. Die Periphrase wird so zum zentralen Verfahren einer Literatur, die sich nicht mit eindeutigen Definitionen zufriedengibt, sondern die Grenzen des Sagbaren auslotet. Sie offenbart eine Welt, die niemals fixiert, sondern immer nur im Wandel begriffen werden kann.

Dante Alighieri, Paradiso XXXIII

In der Sprache selbst ihre Grenzen zu erweisen, das ist kein Kennzeichen erst der Moderne, man denke nur an die Mystiker oder an Dante Alligieris Paradiso, den dritten Teil seiner Comedia, hier betont der Dichter wiederholt die Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache, die göttliche Wirklichkeit angemessen zu beschreiben. Im 33. Gesang des Paradiso, wo Dante seine Erfahrung des Göttlichen als unaussprechlich schildert, bedenkt und überdehnt der Jenseitsreisende seine Begrenztheit:

Oh quanto è corto il dire e come fioco
al mio concetto! e questo, a quel chi’ vidi,
è tanto, che non basta a dicer ‚poco‘.
O luce etterna che sola in te sidi,
sola tintendi, e da te intelletta
e intendente te ami e arridi!

Dante Alighieri, Paradiso, XXXIII, 123-28.

Wie klein, wie schwächlich ist das Wort, gemessen
an meinem Denken, ach! Und dieses erst
an dem, was ich erschaute. Kaum ein Hauch!
Du ewig Licht ruhst in dir selbst allein,
verstehst, erkennst dich, bist erkannt, verstanden
in dir und lächelst dir in Liebe zu.

Ü: Karl Vossler.
„De l’alto lume parvemi tre giri, Di tre colori e d’una continenza“, Divina Commedia by Dante, illustration designed by John Flaxman, engraved by Tommaso Piroli, 1793, Public Domain.

Dantes paradoxe Geste steht zwischen Bescheidenheit und Selbstautorisierung: Der Ausruf, dass seine menschlichen Sinne, seine Vorstellungskraft und Ausdrucksfähigkeit versagen, wenn es darum geht, die erlebte göttliche Realität zu beschreiben, begrenzt und überschreitet zugleich. Dante fühlt sich hier ganz von der Liebe durchdrungen, die das Universum bewegt. Da die göttliche Wirklichkeit die Kapazitäten menschlicher Sprache und Vorstellungskraft übersteigt, kann nur unmittelbare, persönliche Erfahrung (oder die dichterisch erfahrbare Vision) sich dieser göttlichen Wirklichkeit nähern.

Ähnlich wie Dante in Paradiso XXXIII die Grenzen der menschlichen Sprache angesichts des Göttlichen anspricht, zeigt Debora Levyh in La version, dass Sprache nicht ausreicht, um eine radikal fremde (wenn auch nicht transzendente) Welt zu erfassen. Während Dante die Unzulänglichkeit der Worte im Rahmen der mittelalterlichen Theologie sichtbar macht, experimentiert Levyh mit einer Poetik, die Begriffe umkreist, anstatt sie direkt zu benennen. Beide Texte überschreiten ihre sprachlichen Begrenzungen, indem sie das Unaussprechliche dennoch zu formulieren versuchen – sei es im Licht des Göttlichen oder in der fragmentierten Wahrnehmung einer unbegreiflichen Welt. In beiden Fällen wird die Sprachgrenze nicht nur als Hindernis, sondern als Möglichkeit begriffen, neue Formen der Erkenntnis zu erproben, die jenseits des rein Sagbaren liegen.

Edwin A. Abbott, Flatland (1884)

In anderer Weise wissenschaftlich begründet, konfrontiert im 19. Jahrhundert Edwin Abbott Abbott in Flatland. A Romance of Many Dimensions ( Flächenland, 1884) die drei oder vier Dimensionen in einer bemerkenswerten Verbindung aus mathematischem Essay und gesellschaftskritischer Satire. Der Ich-Erzähler, ein Quadrat, beschreibt seine zweidimensionale Welt, in der alle Lebewesen geometrische Formen sind und einem rigiden Kastensystem unterliegen: Frauen erscheinen als Linien, während die soziale Stellung der Männer von der Anzahl ihrer Seiten abhängt. Höhere gesellschaftliche Ränge sind durch Vielseitigkeit im wörtlichen Sinn gekennzeichnet – bis hin zu den Kreisen, die die Priesterkaste bilden. Die Erzählung entwickelt sich über zwei Ebenen: Einerseits karikiert Abbott die starren Hierarchien und Geschlechterrollen der viktorianischen Gesellschaft, andererseits vermittelt er ein Gedankenexperiment über die Existenz höherdimensionaler Räume. Der Protagonist reist zunächst in eine eindimensionale Welt (Linienland), deren Bewohner sich keine zweite Dimension vorstellen können, und begegnet schließlich einem dreidimensionalen Wesen, das ihn für einen Moment aus seiner begrenzten Wahrnehmung herausführt. Als das Quadrat selbst beginnt, über eine vierte Dimension zu spekulieren, führt ihn diese gedankliche Erweiterung in gesellschaftliche Isolation – er wird als Ketzer inhaftiert. Abbott nutzt diese narrative Struktur, um sowohl die Begrenztheit menschlicher Wahrnehmung als auch den Widerstand gegen neue Ideen zu thematisieren. Trotz seiner ursprünglichen Veröffentlichung als mathematische Fabel hat Flächenland bis heute Einfluss auf die Wissenschaftsphilosophie und die Populärkultur – von der Relativitätstheorie bis hin zu modernen literarischen und filmischen Adaptionen.

Cover of Edwin Abbott Abbott, Flatland: A Romance of Many Dimensions, with illustrations by the author, A Square (London: Seeley & Co., 1884).

Bei Abbott versucht ein Bewohner von „Raumland“, dem Erzähler die dritte Dimension zu erklären, indem er darauf hinweist, dass jede Linie auch eine „Höhe“ hat. Der Erzähler versteht darunter jedoch Helligkeit und nicht eine zusätzliche Raumdimension. Die Sprache von Flächenland ist auf zweidimensionale Erfahrungen zugeschnitten und hierauf begrenzt. Daher missversteht der Erzähler das Konzept der dritten Dimension als eine Variation eines bereits bekannten Merkmals, nämlich der Helligkeit​. Sowohl La version von Debora Levyh als auch Flächenland von Edwin A. Abbott unternehmen den Versuch, fiktionale Räume zu erschaffen, die radikal von unserer gewohnten Realität abweichen. Dabei unterscheiden sich ihre Ansätze grundlegend: Während Flächenland auf mathematischer Spekulation beruht und eine neue Perspektive auf Raum und Dimensionen eröffnet, setzt La version auf eine surreale Erzählweise, die eine alternative Zivilisation beschreibt, die sich durch eine andere Zeitwahrnehmung, Körperlichkeit und Sprache auszeichnet. In Flächenland wird eine zweidimensionale Welt geschildert, deren Bewohner nur Linien und Punkte wahrnehmen können. Die Erzählung entwickelt sich aus der Begegnung mit einem Wesen aus der dritten Dimension, einer Kugel, die den Protagonisten aus seiner begrenzten Welt herausführt und ihm eine höhere Realität zeigt. La version hingegen konstruiert eine Gesellschaft mit völlig anderen Zeit-, Raum- und Körperkonzepten. Die Bewohner leben in einem Zustand permanenter Transformation, ohne festgelegte Identitäten oder abgeschlossene Ereignisse. Die Wahrnehmung von Zeit und Handlung unterscheidet sich drastisch von unserem linearen Verständnis und lässt sich nicht wissenschaftlich auflösen.

Abbott nutzt eine satirische Darstellung, um gesellschaftliche Strukturen in Frage zu stellen. Flächenland spiegelt eine streng hierarchische Gesellschaft wider, in der geometrische Formen die soziale Ordnung bestimmen. Der Kontakt mit höheren Dimensionen bedroht diese Ordnung, was zur Unterdrückung neuer Erkenntnisse führt. Levyh hingegen beschreibt eine Welt ohne festgelegte soziale Strukturen, in der Individuen ihre Rollen ständig verändern und keine klaren Grenzen zwischen Subjekt und Kollektiv bestehen. Die Kategorien von Arbeit, Kunst und Ritual sind aufgehoben. Beide Werke erproben radikal andere Wirklichkeiten, aber mit unterschiedlichen Methoden: Flächenland ist eine didaktische Allegorie, die durch ein mathematisches Gedankenexperiment unsere Wahrnehmung von Realität hinterfragt. La version hingegen dekonstruiert unsere Vorstellungen von Zeit, Körperlichkeit und Sprache durch eine poetische, dichte Erzählweise. Während Abbott den rationalen Zugang zu einer neuen Dimension erforscht, entzieht sich Levyhs Welt einer logischen Erfassung und bleibt ein flüchtiges, sich ständig veränderndes Phänomen.

Die Protagonistin berichtet von ihrer Reise in ein Land, in dem es keine Jahreszeiten gibt und die Zeit keine Rolle spielt – weder als Messgröße noch als Abfolge von Anfang und Ende. Stattdessen erleben die Bewohner ihre Freude in alltäglichen Gesten, ohne festgelegte Ziele oder eine klare Orientierung, da Richtungen wie Norden, Süden, oben oder unten keine Bedeutung haben. In dieser Welt herrscht ein ständiger, zielloser Wandel, bei dem alles – von kleinen Ereignissen wie der Geburt einer Henne bis hin zu größeren Ereignissen wie einem Feuer – lediglich als isoliertes Ereignis erscheint. Die Einwohner sprechen wenig über ihre persönlichen Geschichten, während ihre Gefühle symbolisch in einem zentralen „Wald“ gesammelt werden, was ihnen Vitalität verleiht, ohne dass jemand sich als etwas Besonderes versteht. Rituale und feste Gewohnheiten existieren nicht, da sie für das Wesen dieser Gemeinschaft überflüssig sind. So präsentiert Debora Levyh in ihrem Werk ein fließendes, dynamisches Bild einer Gesellschaft, die sich von herkömmlichen Ordnungen völlig löst. Der Roman macht deutlich, dass Sprache an sich unzureichend ist, um eine fremde Wirklichkeit abzubilden. Der Zwang, sich Begriffen umschreibend zu nähern – weil es in der fiktiven Welt weder ein Wort für „Abschied“ noch für „Besitz“ gibt – verweist auf die Grenzen des linguistischen Systems.

Denis Villeneuve, Arrival (2016)

Der Science Fiction-Film Arrival (2016) von Denis Villeneuve erzählt die Geschichte der Linguistin Louise Banks, die von der US-Regierung beauftragt wird, mit außerirdischen Wesen, den Heptapoden, zu kommunizieren, nachdem zwölf muschelförmige Raumschiffe weltweit auf der Erde gelandet sind. Während sie deren komplexe, kreisförmige Schriftsprache entschlüsselt, erkennt sie, dass diese Sprache die menschliche Wahrnehmung von Zeit verändert: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren gleichzeitig. Als internationale Spannungen eskalieren, weil die Botschaft der Heptapoden als Bedrohung missverstanden wird, kann Banks dank ihrer neu erlangten Fähigkeit einen drohenden Krieg verhindern. Sie erkennt, dass die Sprache der Außerirdischen ein „Werkzeug“ ist, das es den Menschen ermöglichen wird, die Zeit nichtlinear zu erfahren – eine Fähigkeit, die die Heptapoden in 3000 Jahren benötigen werden. Wenn die Menschen eine neue Wahrnehmung der Zeit von ihnen lernen, können sie sie in der Zukunft an dieses Wissen erinnern. Der Film kombiniert eine philosophische Auseinandersetzung mit Sprache und Zeit mit einer emotionalen Geschichte über persönliche Entscheidungen: Banks sieht ihre eigene Zukunft voraus, einschließlich der Geburt und des frühen Todes ihrer Tochter. Damit ist Arrival ist ein visuell wie inhaltlich anspruchsvoller Science-Fiction-Film, der sich dem radikal Fremden zuwendet. Im Zentrum steht die Begegnung mit außerirdischen Wesen, deren nichtlineare, kreisförmige Sprache die gewohnte Vorstellung von Zeit und Raum auf den Kopf stellt. Durch die schrittweise Entschlüsselung dieser Sprache erlangt die Protagonistin Louise Banks nicht nur die Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, sondern wird auch gezwungen, ihr bisheriges, linear strukturiertes Denken zu hinterfragen. Der Film zeigt, wie das Überschreiten sprachlicher und kognitiver Grenzen einen tiefgreifenden Wandel in der Wahrnehmung und im Selbstverständnis ermöglicht – ein Versuch, durch Kommunikation eine neue, umfassendere Wirklichkeit zu erschließen.

Still aus Arrival (2016) von Denis Villeneuve: Linguistin Dr. Louise Banks und Physiker Ian Donnelly vor den außerirdischen Heptapoden und einem ihrer kreisförmigen Zeichen.

Beide Werke – Villeneuves Film Arrival und Debora Levyhs Buch – untersuchen ästhetisch die Begegnung mit einer radikal fremden Welt und thematisieren dabei die Schwierigkeit und den transformativen Charakter sprachlicher Annäherung. Der Film zeigt eine außerirdische Intelligenz, deren Sprache und Denkweise fundamental anders ist als alles Vertraute. Die Heptapoden präsentieren ein nicht-lineares, visuell zirkuläres Sprachsystem, das die menschliche Wahrnehmung von Zeit und Realität in Frage stellt. Kritiken betonen, dass die fremde Welt in Arrival nicht als bedrohlich, sondern als Einladung zu einem neuen Verständnis von Kommunikation und Existenz inszeniert wird. Debora Levyhs Buch hingegen entwirft eine alternative Welt, in der die Bewohner – ähnlich wie in Arrival – nicht über individuelle Biographien, sondern über körperliche, kollektive und fließende Zustände kommunizieren. Auch hier wird deutlich, dass Sprache weniger ein Mittel der Beschreibung als vielmehr ein Werkzeug zur Schaffung und Formung einer völlig anderen Wirklichkeit ist.

In Arrival steht die linguistische Herausforderung im Mittelpunkt: Die Protagonistin bemüht sich, das komplexe, visuelle Sprachsystem der Außerirdischen zu entschlüsseln. Die Annäherung an diese radikal fremde Sprache wird dabei als ein Prozess dargestellt, der nicht nur das Verständnis von Kommunikation, sondern auch das eigene Zeitgefühl verändert. Ähnlich untersucht Levyhs Buch, wie Sprache als Brücke zu einer andersartigen Welt dienen kann. Dabei wird deutlich, dass die Versuchung, sich dieser fremden Logik sprachlich zu nähern, gleichzeitig die Grenzen der herkömmlichen Sprache aufzeigt. Beide Texte regen dazu an, über die Verknüpfung von Sprache, Wahrnehmung und Realität nachzudenken: Während Arrival den Prozess des Erlernens und der Transformation betont, schildert Levyh eine Welt, in der Sprache selbst zu einem dynamischen, nahezu ritualisierten Akt wird.

De temps en temps, ils traçaient sur des surfaces ductiles de très grandes figures composées d’aplats et de hachures distinctes ou superposées et y plaçaient des pastilles qui se meuvent en se dupliquant.

Chaque pastille était légèrement différente de la précédente par sa couleur, sa taille, sa forme. Les différentes pastilles étaient liées entre elles, même à distance.

Parfois, aux abords des changements de hachures ou d’aplats, une pastille disparaissait.

Ils faisaient ces figures pour la plupart des domaines de la vie. Comme par exemple le rapport entre ce que l’on ressent et ce que l’on fait.

Si je devais dire quelque chose de ces figures, j’arguerais qu’elles montrent l’espace et le temps à l’intérieur duquel une de leur certitude est stable.

Certains d’entre eux font ces figures dans les trois dimensions. Ils assemblent des filaments et des perles, des tiges et des voiles, des fragments, des éclats, des brisures. De multiples matières et couleurs.

Je n’ai jamais rien vu de si beau.

Debora Levyh, La version, Éd. Allia, 2023.

Von Zeit zu Zeit zeichneten sie auf elastischen Oberflächen sehr große Figuren, die aus einzelnen oder übereinander liegenden Flächen und Schraffuren bestanden, und platzierten darauf Plättchen, die sich bewegten, indem sie sich vervielfältigten.

Jedes Plättchen unterschied sich in Farbe, Größe und Form leicht von dem vorherigen. Die einzelnen Plättchen waren auch über größere Entfernungen hinweg miteinander verbunden.

Manchmal verschwand an den Rändern der Schraffur- oder Volltonwechsel ein Plättchen.

Sie machten diese Figuren für die meisten Bereiche des Lebens. Wie zum Beispiel die Beziehung zwischen dem, was man fühlt, und dem, was man tut.

Wenn ich etwas über diese Figuren sagen müsste, würde ich argumentieren, dass sie den Raum und die Zeit zeigen, innerhalb derer eine ihrer Gewissheiten stabil ist.

Einige von ihnen machen diese Figuren in allen drei Dimensionen. Sie setzen Fäden und Perlen, Stangen und Schleier, Fragmente, Splitter, Zerbrochenes zusammen. Aus unzähligen Materialien und Farben.

Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen.

Sowohl der Film als auch das Buch laden dazu ein, sich von gewohnten Denkstrukturen zu lösen. Arrival überzeugt in der filmischen Umsetzung einer fremden, nicht-linearen Sprachlogik, die unser Verständnis von Zeit und Existenz erweitert, während Debora Levyh in ihrem Buch die Herausforderung beleuchtet, eine radikal andere Wirklichkeit sprachlich erfahrbar zu machen. Beide Werke zeigen, dass die Annäherung an das Fremde – sei es durch visuelle Sprache oder poetische Erzählung – nicht nur eine kommunikative, sondern auch eine erkenntnistheoretische Transformation bedeutet.

Still aus Arrival (2016): Transformation der Zeichen.

Instabile Räume und Architekturen

Parfois, les soirs de grande chaleur, on les trouvait dans les sables asphaltiques. Ils fabriquaient patiemment de petites constructions à même le sol. Ils faisaient cela avec délicatesse et lenteur. Chacun en confectionnait une pour lui-même. Un mur qui enclôt un espace plus ou moins circulaire sous-divisé lui-même par d’autres murs distinguant des sous-espaces. Toutes sur le même principe mais toutes différentes.

Le temps de la construction s’étalait sur la nuit. Pendant ce processus, ils avaient l’air absents à eux-mêmes.

À un moment qu’aucun signe n’annonçait, la construction arrivait à son terme. Transitoirement du moins. Ils entreprenaient alors de pratiquer des ouvertures de façon à relier entre eux certains sous-espaces. À cet instant seulement, ils revenaient à eux-mêmes.

Les percées étaient réalisées par chacun d’une manière spécifique. Joy Assouline ne creusait que des souterrains de section carrée. Ursule Kanaan abaissait certains murs de façon irrégulière de sorte que les espaces adjacents communiquaient largement jusqu’à fusionner par endroits.

Debora Levyh, La version, Éd. Allia, 2023.

An heißen Abenden waren sie manchmal im Asphaltsand zu finden. Sie bauten geduldig kleine Konstruktionen auf dem Boden. Sie taten dies mit Feingefühl und Langsamkeit. Jeder baute eine für sich selbst. Eine Mauer, die einen mehr oder weniger kreisförmigen Raum umschließt, der wiederum von anderen Mauern unterteilt wird, die wiederum Unterräume abgrenzen. Alle nach demselben Prinzip, aber alle unterschiedlich.

Die Bauzeit erstreckte sich über die ganze Nacht. Während dieses Prozesses schienen sie sich selbst abwesend zu sein.

Zu einem Zeitpunkt, den kein Zeichen ankündigte, war der Bau abgeschlossen. Zumindest vorübergehend. Dann begannen sie damit, Öffnungen zu machen, um bestimmte Unterräume miteinander zu verbinden. Nur in diesem Moment kamen sie zu sich selbst zurück.

Die Durchbrüche wurden von jedem auf eine bestimmte Art und Weise ausgeführt. Joy Assouline grub nur unterirdische Gänge mit quadratischem Querschnitt. Ursule Kanaan senkte einige Wände unregelmäßig, so dass die angrenzenden Räume weitgehend miteinander kommunizierten und an manchen Stellen sogar miteinander verschmolzen.

In klassischen Architekturtheorien – von Vitruv bis Le Corbusier – steht häufig die Frage nach der Funktionalität von Bauwerken im Zentrum. Levyhs architektonisches Universum hingegen kennt keine festen Nutzungsweisen. Gebäude oder Objekte haben keine vordefinierte Funktion; ihre Bedeutung entsteht erst im Prozess ihrer Nutzung und Veränderung. Dieser Ansatz erinnert an den postmodernen Diskurs, wie ihn etwa Rem Koolhaas in Delirious New York (1978) formuliert: Architektur ist nicht dazu da, Ordnung zu schaffen, sondern um Räume der Möglichkeit zu eröffnen. Levyh zeigt eine konsequente Umsetzung dieses Gedankens: Ihre Gebäude und Strukturen sind nicht dazu bestimmt, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, sondern bieten eine Bühne für Transformation. Debora Levyhs La version entwirft eine Welt, in der Architektur nicht als starre, funktionale Struktur existiert, sondern als ein sich ständig wandelndes Gefüge von Räumen, Materialien und Übergängen. Im Zentrum steht eine Architektur des Prozesses, die sich jeder finalen Form verweigert und sich durch Instabilität, Flexibilität und eine radikale Offenheit gegenüber der Umwelt auszeichnet. Diese Architekturtheorie folgt keinem traditionellen Paradigma der Konstruktion, sondern einer Logik ständiger Veränderung.

Les endroits où ils mangeaient, rêvaient, parlaient, ces endroits où ils vivaient, étaient, comment dirais-je, fluctuants. Ils étaient vivants. C’est-à-dire rarement pareils à eux-mêmes. Ils s’agrandissaient ou se rétrécissaient. De la matière y était retranchée ou ajoutée. Et leurs atmosphères variaient d’un moment à l’autre. Car il leur serait inimaginable que tout ceci soit stable.

Debora Levyh, La version, Éd. Allia, 2023.

Die Orte, an denen sie aßen, träumten und sprachen, diese Orte, an denen sie lebten, waren, wie soll ich sagen, fluktuierend. Sie waren lebendig. Das heißt, sie waren selten gleich. Sie vergrößerten oder verkleinerten sich. Materie wurde weggenommen oder hinzugefügt. Und ihre Atmosphären variierten von einem Moment zum anderen. Denn es wäre für sie unvorstellbar, dass all dies stabil sein sollte.

In La version gibt es keine abgeschlossenen Räume oder endgültige architektonische Formen. Stattdessen ist die gebaute Umwelt von einer ständigen Metamorphose geprägt. Hier wird Architektur nicht als statisches Konstrukt verstanden, sondern als etwas Lebendiges, das sich permanent verändert. Die Räume dehnen sich aus, schrumpfen oder verlieren zeitweise ihre Materialität. Dies verweist auf eine dekonstruktivistische Architektur, die sich gegen klassische Konzepte der Stabilität und Dauerhaftigkeit stellt. Diese Haltung erinnert an die Theorien von Bernard Tschumi, der in Architecture and Disjunction (1994) betont, dass Architektur keine festen Bedeutungen transportiert, sondern ein Feld von Ereignissen ist. Levyh radikalisiert diesen Gedanken, indem sie architektonische Strukturen als inhärent unfertig und instabil darstellt.

Plakat Debora Levyh, La version, Rencontres du Samedi, Maison CFC, 2024.

Ein eindrückliches Beispiel ist die Schilderung eines Hexaeders, der nicht nur gebaut, sondern aktiv verändert und untersucht wird. Erst durch gezielte Eingriffe wird das Objekt wieder in Bewegung versetzt, seine Materialität wird erforscht, seine strukturellen Eigenschaften durch Experimente verändert. Architektur wird hier nicht als abgeschlossene Form, sondern als ein Labor verstanden, das sich durch Interaktion stetig weiterentwickelt:

L’hexaèdre rose pâle est resté une éternité dans la plaine sans que personne ne s’y intéresse. Il ne bougeait pas, ni ne frémissait ni ne tremblait.

Quatre silhouettes sont apparues au loin.
Djonne Molina et Octavii Bloom transportaient de grandes malles d’un gris étincelant. Ambroaz Fabre portait Antone Hassan sur son dos. Le ciel était tellement couvert qu’on avait la sensation de se trouver à l’intérieur d’une très vaste pièce. C’était presque impossible de dire d’où provenait la lumière jaune-vert-orange qui faisait qu’on y voyait malgré tout nettement. L’air était opaque et poudreux. Il sentait la rivière artificielle, la roche synthétique, la flore tropicale.

Ambroaz Fabre a défait lascivement les liens qui l’encordaient à Antone Hassan. Djonne Molina et Octavii Bloom ont ouvert précautionneusement les malles et en ont extrait des instruments et appareils. Ambroaz Fabre a saisi des lambeaux de feutre pour obturer soigneusement toutes les ouvertures de l’hexaèdre. Antone Hassan a perforé le feutre de sorte à y glisser la tige du compresseur à vide qui tournait déjà.

Tous retenaient leur souffle.

Au bout d’un certain temps, Ambroaz Fabre a arrêté le compresseur et annoncé aux autres le volume d’air retiré du cœur de l’hexaèdre. Antone Hassan a dit qu’il était largement supérieur aux prédictions les plus optimistes et ils en ont ri pendant un long moment.

Octavii Bloom a défait le feutre. Djonne Molina a placé un objet au cœur de l’hexaèdre à l’aide d’une pince télescopique équipée d’une caméra. C’était une grille en forme de labyrinthe remplie de poudre d’encens. Octavii Bloom a placé à l’extérieur de l’hexaèdre une grille identique contenant une même quantité d’encens. Djonne Molina a enflammé la pointe de la pince et embrasé la poudre contenue dans chaque grille. L’encens de l’extérieur s’était intégralement consumé au moment où l’encens de l’intérieur avait brûlé pour moitié. Octavii Bloom a noté sur sa main gauche la quantité de poudre restante et sur sa main droite le temps équivalent à cette quantité de poudre. Les autres restaient pensifs.

Ambroaz Fabre a enduit deux sphères de pâte photosensible bleu clair et les a enfermées chacune dans une boîte puis a placé l’une d’elles au cœur de l’hexaèdre. Antone Hassan a ouvert puis fermé simultanément les deux boîtes à l’aide d’une pince double à déclenchements synchronisés. Ambroaz Fabre a extrait les sphères des deux boîtes. Celle de l’intérieur était beaucoup plus foncée que l’autre. Djonne Molina a dit que c’était étrange parce qu’il faisait noir dans la plaine.

Juste avant la tombée de la nuit, Ambroaz Fabre s’est accroupi auprès de l’hexaèdre pour y insérer un tube cristallin par lequel les gaz contenus dans le cœur se déplaçaient vers un bocal tout aussi cristallin. Le bocal ainsi rempli est allé rejoindre ceux qui étaient déjà entreposés dans les espaces périphériques de l’hexaèdre.

On pouvait ouvrir l’opercule supérieur et décrire ce qui s’en échappait sur les étiquettes. Odeur de résine coagulée ou de feuilles qui pourrissent, odeur de vase détériorée, d’humus ou de terre dans quoi se vautrent les hérissons des plaines.

C’est surprenant, n’est-ce pas, d’examiner avec tant d’attention un objet qu’on a soi-même fabriqué. Ils consacraient pourtant à ce type d’activité une grande part de leur énergie. Ils amenaient un objet à l’existence matérielle, le laissaient reposer, et puis l’examinaient. C’était difficile, dans ces circonstances, de savoir si l’objet était fabriqué en vue d’un examen ou si l’examen était effectué pour comprendre l’objet. Plusieurs explications sont possibles, aucune d’entre elles ne suppose de phénomène surnaturel, on en a déjà parlé. Si on était paresseux, on pourrait penser qu’ils sont naïfs au point de croire que les choses qu’ils fabriquent s’autonomisent, qu’ils ne fabriquent pas tant un objet qu’une autre réalité. Imprédictible, récalcitrante. Mais je ne crois pas qu’il faille aller si loin, je parie sur une explication beaucoup plus simple. Peut-être leur mémoire est-elle absolument dysfonctionnelle. Ce qui m’autorise à le penser, c’est de les avoir vus étudier compulsivement de petites pièces métalliques de toutes sortes.

Ils les organisaient sur de larges plateaux selon des classes, familles, genres, espèces et faisaient de grands dessins qui en montraient l’ordre d’engendrement. Ils rédigeaient aussi des questionnaires à choix multiples permettant d’identifier les pièces qu’on ne connaissait pas. Comme s’ils avaient oublié les avoir faites eux-mêmes. Ou bien est-ce parce qu’ils ne font aucune différence entre ce qui leur préexiste et le reste. Sincèrement, ça ne m’étonnerait pas. D’autres épisodes de ce genre l’ont démontré.

Debora Levyh, La version, Éd. Allia, 2023.

Das blassrosafarbene Hexaeder stand eine Ewigkeit lang in der Ebene, ohne dass sich jemand für ihn interessierte. Er bewegte sich nicht, zitterte oder bebte nicht.

In der Ferne tauchten vier Silhouetten auf.
Djonne Molina und Octavii Bloom trugen große Koffer in einem funkelnden Grau. Ambroaz Fabre trug Antone Hassan auf seinem Rücken. Der Himmel war so bedeckt, dass man das Gefühl hatte, sich im Inneren eines sehr großen Raumes zu befinden. Es war fast unmöglich zu sagen, woher das gelb-grün-orangefarbene Licht kam, das dafür sorgte, dass man trotzdem scharf sehen konnte. Die Luft war trüb und staubig. Sie roch nach künstlichen Flüssen, synthetischem Gestein und tropischer Flora.

Ambroaz Fabre löste lasziv die Fesseln, die ihn an Antone Hassan ketteten. Djonne Molina und Octavii Bloom öffneten vorsichtig die Koffer und holten Instrumente und Geräte heraus. Ambroaz Fabre griff nach Filzfetzen, um alle Öffnungen des Hexaeders sorgfältig abzudichten. Antone Hassan perforierte den Filz so, dass er die Stange des Vakuumkompressors, der sich bereits drehte, durchschieben konnte.

Alle hielten den Atem an.

Nach einiger Zeit stoppte Ambroaz Fabre den Kompressor und teilte den anderen mit, wie viel Luft aus dem Kern des Hexaeders entfernt wurde. Antone Hassan sagte, dass es weit über den optimistischsten Vorhersagen lag, und sie lachten eine ganze Weile darüber.

Octavii Bloom löste den Filz auf. Djonne Molina platzierte mithilfe einer Teleskopzange mit Kamera ein Objekt im Herzen des Hexaeders. Es war ein labyrinthförmiges Gitter, das mit Weihrauchpulver gefüllt war. Octavii Bloom platzierte außerhalb des Hexaeders ein identisches Gitter mit der gleichen Menge Weihrauch. Djonne Molina entzündete die Spitze der Zange und entzündete das in jedem Gitter enthaltene Pulver. Der Weihrauch von außen war zu dem Zeitpunkt vollständig verbrannt, als der Weihrauch von innen zur Hälfte verbrannt war. Octavii Bloom notierte auf seiner linken Hand die Menge des verbliebenen Pulvers und auf seiner rechten Hand die Zeit, die dieser Menge Pulver entsprach. Die anderen blieben nachdenklich.

Ambroaz Fabre bestrich zwei Kugeln mit hellblauer lichtempfindlicher Paste, schloss sie jeweils in eine Schachtel ein und legte eine der Kugeln in das Herz des Hexaeders. Antone Hassan öffnete und schloss die beiden Schachteln gleichzeitig mithilfe einer Doppelklemme mit synchronen Auslösungen. Ambroaz Fabre entnahm die Kugeln aus beiden Kästen. Die innere war viel dunkler als die andere. Djonne Molina sagte, das sei seltsam, weil es in der Ebene dunkel war.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit hockte sich Ambroaz Fabre neben das Hexaeder und führte ein kristallines Rohr ein, durch das die im Kern enthaltenen Gase in ein ebenso kristallines Glas strömten. Das so gefüllte Glas kam zu den bereits in den Randbereichen des Hexaeders gelagerten Gläsern.

Man konnte den oberen Deckel öffnen und auf den Etiketten beschreiben, was herauskam. Es roch nach geronnenem Harz oder verrottenden Blättern, nach verwittertem Schlamm, Humus oder der Erde, in der sich die Igel der Prärie suhlen.

Es ist erstaunlich, nicht wahr, einen Gegenstand, den man selbst hergestellt hat, so genau zu untersuchen. Dennoch widmeten sie dieser Art von Tätigkeit einen großen Teil ihrer Energie. Sie brachten einen Gegenstand in die materielle Existenz, ließen ihn ruhen und untersuchten ihn dann. Es war unter diesen Umständen schwer zu erkennen, ob der Gegenstand für eine Prüfung hergestellt wurde oder ob die Prüfung durchgeführt wurde, um den Gegenstand zu verstehen. Es gibt mehrere mögliche Erklärungen, keine davon setzt ein übernatürliches Phänomen voraus, das wurde bereits erwähnt. Wenn man faul wäre, könnte man denken, dass sie so naiv sind, zu glauben, dass die Dinge, die sie herstellen, sich verselbstständigen, dass sie nicht so sehr einen Gegenstand herstellen, sondern eine andere Realität. Unberechenbar, widerspenstig. Aber ich glaube nicht, dass man so weit gehen muss, sondern tippe auf eine viel einfachere Erklärung. Vielleicht ist ihr Gedächtnis absolut dysfunktional. Das kann ich nur vermuten, weil ich gesehen habe, wie sie zwanghaft kleine Metallteile aller Art studierten.

Sie ordneten sie auf großen Tafeln nach Klassen, Familien, Gattungen und Arten an und fertigten große Zeichnungen an, die die Reihenfolge ihrer Entstehung zeigten. Sie verfassten auch Multiple-Choice-Fragebögen, mit denen man unbekannte Stücke identifizieren konnte. Als ob sie vergessen hätten, sie selbst gemacht zu haben. Oder liegt es daran, dass sie keinen Unterschied machen zwischen dem, was ihnen bereits vorher bekannt war, und dem Rest. Das würde mich ehrlich gesagt nicht wundern. Andere Episoden dieser Art haben das gezeigt.

In dieser Passage aus La version wird das rosafarbene Hexaeder als ein zentrales Objekt einer experimentellen Untersuchung dargestellt. Das zunächst unauffällige und unbeachtete Gebilde wird durch eine Gruppe von Figuren einer intensiven Untersuchung unterzogen. Dieser Abschnitt offenbart Aspekte von Levyhs Architektur- und Erkenntnistheorie. Das Hexaeder war vollständig in seiner Umgebung aufgegangen und scheint nicht als signifikantes Objekt wahrgenommen worden zu sein. Seine hermetische Geschlossenheit wird im weiteren Verlauf betont. Erst durch das Auftreten der vier Wesen – Djonne Molina und Octavii Bloom, Ambroaz Fabre und Antone Hassan – wird es in eine neue Dynamik überführt. Die Gruppe beginnt sofort mit Maßnahmen, die darauf abzielen, das Innere des Hexaeders zu isolieren und unter kontrollierten Bedingungen zu erforschen. Die wissenschaftlich-systematische Anmutung der Anordnung mit Weihrauch wird durch Messungen verstärkt. Hier wird Zeit nicht als konventionelle lineare Abfolge verstanden, sondern als eine physikalische Größe, die mit materiellen Prozessen korreliert. Die Architektur des Hexaeders fungiert als Medium für eine alternative Zeitmessung – nicht über Uhren oder Kalender, sondern über die Veränderung von Stoffen. Ein weiteres Experiment mit lichtempfindlichen Kugeln verstärkt diese Idee: Eine Kugel wird innerhalb des Hexaeders, eine andere außerhalb platziert, um festzustellen, wie Lichtverhältnisse sich auf die chemische Reaktion auswirken. Überraschenderweise zeigt die innere Kugel eine stärkere Abdunklung, obwohl es draußen „dunkel“ ist. Nach den Experimenten folgt eine philosophische Reflexion über das Verhältnis zwischen geschaffenen Objekten und der Erkenntnis über sie. Die Erzählerin stellt die zentrale Frage: Dient das Hexaeder dem Zweck der Analyse oder entsteht seine Bedeutung erst durch die Untersuchung?

Architektur existiert in La version nicht nur als physische Form, sondern als Speicher von Wissen. Doch anstatt als verlässliches Archiv zu fungieren, entzieht sich dieses Wissen immer wieder dem Zugriff der Erschaffer. Das Hexaeder wird zu einem hermetischen Raum, der von außen analysiert, aber nie vollständig erfasst werden kann. Die Experimente demonstrieren die Instabilität epistemologischer Kategorien wie Zeit, Licht und Materialität. Schließlich bleibt die zentrale Frage offen: Ist das Hexaeder ein bloßes Artefakt oder eine autonome Realität? Diese Ungewissheit macht es zu einem Sinnbild für Levyhs gesamte Poetik der Periphrase – einer Sprache, die um das Unbenennbare kreist, ohne es je ganz zu fixieren. Architektur wird bei Levyh nicht mehr nur als physische Disziplin verstanden, sondern als ein Medium, das die Wahrnehmung und Strukturierung der Realität beeinflusst. Dieser Gedanke findet sich auch in den architekturtheoretischen Konzepten von Yona Friedman, der in seinen Spatial City-Entwürfen (1959) eine radikale Flexibilität von Bauten forderte, die sich den Bedürfnissen ihrer Bewohner anpassen können. Levyh geht jedoch einen Schritt weiter: Ihre Räume verändern nicht nur ihre Form, sondern auch die physikalischen und temporalen Bedingungen der Umwelt.

Nicht als einheitlicher Block existiert Architektur in La version, sondern besteht aus variablen Fragmenten und modularen Strukturen. Dies zeigt sich insbesondere in der Darstellung der „Objekte“, die in einer Art architektonischem Gedächtnis zusammengetragen und kombiniert werden. Diese Methode erinnert an das Prinzip der Assemblage in der Kunst und Architektur, wie es etwa von Peter Eisenman oder den Archigram-Entwürfen propagiert wurde. Bauen bedeutet hier nicht das Erschaffen eines homogenen Ganzen, sondern das Zusammensetzen unterschiedlicher Elemente zu neuen, ständig sich verändernden Strukturen. Levyhs Roman vermittelt eine Architekturtheorie, die keine endgültigen Antworten gibt, sondern Fragen stellt: Wie kann ein Raum geschaffen werden, der nicht fixiert, sondern immer in Bewegung ist? Wie können Gebäude nicht nur geformt, sondern auch transformiert werden? In La version sind Räume unfertig, prozesshaft und widersprüchlich – genau wie die Sprache, mit der sie beschrieben werden. Damit entwirft Levyhs Buch auch eine Architekturtheorie, die sich gegen Stabilität und Ordnung stellt und stattdessen das Potenzial von Veränderung und Unvorhersehbarkeit ins Zentrum rückt.

Häutungen

Hors des temps de mues, ils oubliaient avoir été un autre et ignoraient s’ils allaient le redevenir un jour. Ils tenaient leur individualité pour ferme et définitive. Le passé reculé s’en trouvait abstrait et le futur lointain occulté. Ils ne percevaient que l’instant d’avant et l’instant d’après. Jamais le présent rétracté entre les deux. Mais pendant les temps de mue, tout était inversé. Ils perdaient l’usage des verbes calculer, préméditer, projeter, pour ne plus pouvoir dire qu’accomplir, effectuer, exécuter, imaginer, envisager, concevoir. Ils ne voyaient rien juste derrière et juste devant, mais vivaient avec la conscience aiguë du lointain avant et du lointain après. Alors seulement ils percevaient à nouveau le pur présent. Et ce présent était superposé aux présents de toutes les autres mues antérieures et ultérieures. C’est comme ça qu’ils vivaient dans plusieurs temps, qu’il n’y avait plus pour eux de temps.

Debora Levyh, La version, Éd. Allia, 2023.

Außerhalb der Zeiten der Häutung vergaßen sie, jemals ein anderer gewesen zu sein, und wussten nicht, ob sie es jemals wieder werden würden. Sie hielten ihre Individualität für fest und endgültig. Die ferne Vergangenheit wurde abstrahiert und die ferne Zukunft ausgeblendet. Sie nahmen nur den Moment davor und den Moment danach wahr. Nie die Gegenwart, die sich dazwischen befand. Aber während der Häutung war alles umgekehrt. Sie verloren den Gebrauch der Verben berechnen, planen, voraussehen, und konnten nur noch sagen: vollziehen, ausführen, umsetzen, imaginieren, erwägen, entwerfen. Sie sahen nichts mehr direkt hinter und direkt vor sich, sondern lebten mit dem scharfen Bewusstsein des fernen Vorher und des fernen Nachher. Erst dann nahmen sie wieder die reine Gegenwart wahr. Und diese Gegenwart wurde von den Gegenwarten aller anderen früheren und späteren Häutungen überlagert. So lebten sie in mehreren Zeiten, es gab für sie keine Zeit mehr.

Levyhs Erzählweise ist stark fragmentiert. Die Erzählerin – deren Hintergrund in der Architektur spürbar ist – ordnet hunderte von Schreibfragmenten zu einem Ganzen, das ständiger Veränderung und Transformation unterworfen ist. Diese fortwährende Metamorphose spiegelt sich auch in der Darstellung der Gemeinschaft wider: Es gibt keine fixen Identitäten oder Hierarchien, sondern nur fortwährende Wandlungen, bei denen selbst Begriffe wie „Besitz“ oder „Abschied“ sprachlich kaum fassbar sind. Die Szene beschreibt eine Landschaft voller Netzwerke von Wurzeln und schwebenden Formationen, die sich ausdehnen, verdichten oder scheinbar in der Luft schweben. Die Veränderung der physischen Umgebung dient hier nicht nur der Ästhetik, sondern beeinflusst aktiv Parameter wie Temperatur, Licht oder Zeitfluss​.

J’ai découvert un endroit par hasard. Je sais qu’il y en avait d’autres du même genre mais je ne sais pas où.

Ils sont toujours entre les paysages. Dans les paysages intercalaires. Ce qui ne veut pas dire qu’on n’y vit pas, seulement c’est d’une autre façon.

Cela ne m’aurait pas surpris que celui-là soit le plus vaste, le plus spectaculaire. Peut-être parce que je l’ai d’abord vu en plein jour depuis le haut.

Une lumière brutale jaillissait sur chaque chose. Les couleurs étaient crues et les contours tranchants. L’air sentait la terre viciée, les racines aériennes, les grottes profondes.

Il y avait partout des enchevêtrements. Des réseaux radicellaires sortaient du sol et s’étendaient en se dilatant à leurs extrémités. Des entrelacements méandreux s’érigeaient en s’étrécissant. De larges et hautes concrétions sinuaient à distance du sol. On aurait dit qu’elles flottaient.

De vastes surfaces plus épaisses en leur centre s’étageaient à différentes hauteurs. Elles semblaient flotter, elles aussi, mais moins comme si elles étaient suspendues que comme si elles étaient repoussées du sol à une certaine distance.

Des cylindres presque parfaits s’élevaient très haut par endroits.

Certains étaient mats, d’autres brillants. Il y en avait qui étaient poreux et d’autres lisses. Aucun n’était creux.

Je ne les ai jamais pris sur le fait mais il me paraît évident que c’étaient eux qui les confectionnaient. J’ai compris comment lorsque j’ai plongé mon corps épuisé dans un immense lagon hypogé.

La voûte suintante était trouée de sorte que les rayons du soleil auraient dû illuminer la surface de l’eau cristalline. Mais aucun rayon ne pouvait passer parce qu’une vaste plaque plus épaisse en son centre et de la même forme que le lagon s’y superposait parfaitement à une courte distance du sol.

Debora Levyh, La version, Éd. Allia, 2023.

Ich habe durch Zufall einen Ort entdeckt. Ich weiß, dass es noch andere dieser Art gab, aber ich weiß nicht, wo.

Sie sind immer zwischen den Landschaften. In den Landschaften, die dazwischen liegen. Was nicht bedeutet, dass man dort nicht lebt, nur auf eine andere Art und Weise.

Es hätte mich nicht überrascht, wenn diese die weitläufigste, spektakulärste gewesen wäre. Vielleicht liegt es daran, dass ich diesen Ort zuerst am hellichten Tag von oben gesehen habe.

Ein brutales Licht schoss auf alles. Die Farben waren roh und die Konturen scharf. Die Luft roch nach verrotteter Erde, nach Luftwurzeln und tiefen Höhlen.

Überall gab es Verflechtungen. Wurzelnetze ragten aus dem Boden und dehnten sich aus, indem sie sich an ihren Enden ausdehnten. Mäanderförmige Verflechtungen richteten sich auf und verengten sich. Breite und hohe Konkretionen schlängelten sich weit vom Boden entfernt. Sie schienen zu schweben.

Große Flächen, die in der Mitte dicker sind, erstreckten sich über verschiedene Höhen. Auch sie schienen zu schweben, aber nicht so sehr als wären sie aufgehängt, sondern als würden sie in einiger Entfernung vom Boden abgestoßen.

An manchen Stellen ragten fast perfekte Zylinder sehr hoch auf.

Einige waren matt, andere glänzend. Manche waren porös und andere glatt. Keiner war hohl.

Ich habe sie nie auf frischer Tat ertappt, aber für mich war klar, dass sie es waren, die sie herstellten. Mir wurde klar, wie, als ich meinen erschöpften Körper in eine riesige unterirdische Keimlagune tauchte.

Das nässende Gewölbe war löchrig, sodass die Sonnenstrahlen die Oberfläche des kristallklaren Wassers hätten beleuchten müssen. Aber kein Strahl konnte hindurchdringen, weil eine riesige Platte, die in der Mitte dicker war und die gleiche Form wie die Lagune hatte, sich in geringer Entfernung vom Boden perfekt überlagerte.

Nicht nur der Raum, auch die Figuren verändern zugleich ihre Allianzen und Rollen und auch ihre körperliche Erscheinung – ihre Gesichter, Stimmen, Hautfarben und sogar Gerüche. Diese Prozesse werden als Häutung beschrieben, was eine organische, nicht-lineare Entwicklung suggeriert. Zudem ändern sie ihre Namen vollständig, ohne Spur der vorherigen Identität zu hinterlassen​. Die Räume, in denen sie essen, träumen und sprechen, sind niemals stabil. Sie erweitern oder verkleinern sich, ihre Materie verändert sich ständig, ohne jedoch einer vorher definierten Idee von Fortschritt oder Perfektion zu folgen. Vielmehr handelt es sich um kontinuierliche Anpassungen an neue Bedingungen​. Die Regeln und Konventionen der Gemeinschaft sind nicht fixiert, sondern ändern sich in dem Moment, in dem jemand sie zu brechen scheint. Anstatt feste Normen zu etablieren, bleibt alles in ständiger Neuaushandlung, sodass es keinen endgültigen Verstoß oder absolute Ordnung gibt​. Sie besitzen eine außergewöhnliche Fähigkeit, den Fluss der Zeit zu lenken – nicht durch Kontrolle, sondern durch ein intuitives Spüren von Rhythmen und Zyklen. So erscheinen Zeit und Raum in der Erzählung als flexible, modulierbare Elemente, die durch Wahrnehmung und Handlung permanent sich transformieren​ – und damit auch die Erzählung selbst.

Anmerkungen
  1. „On avance petit à petit, en sentant que ce peuple a banni ce qui nous pèse parfois, la propriété, la cérébralité, l’égocentrisme, la réalisation, l’obsession du futur. Leur manière de vivre donne «l’impression d’une abondance frugale». Ce roman initiatique circule sur une crête onirique, presque surréaliste. Pas une fable, ni une utopie, plutôt une étonnante performance.“ Frédérique Roussel, „«La version» de Debora Levyh: eux autres“, Libération, 4. November 2023.>>>
  2. „Nur wenige Autoren – u. a. Henri Michaux in Voyage en Grande-Garabagne (1936), Italo Calvino in Le città invisibili (1972) und Giannis Celati in Fata Morgana (2005) – verzichten bei der Erfindung imaginärer – utopisch-dystopischer – Gemeinschaften auf Science Fiction-Elemente. Damit läuft die Großgattung Utopie aber Gefahr, zu einer Untergattung der Science Fiction zu werden, die sich von dieser nur durch die bildhafte Ausgestaltung und kontroverse Reflexion komplexer Gesellschaften unterscheidet.“ Peter Kuon, „Utopie/Dystopie“, in Phantastik: ein interdisziplinäres Handbuch, hrsg. von Hans Richard Brittnacher und Markus May (Stuttgart: Metzler, 2013), 335.>>>

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