Herauskommen
Marouane Bakhtis Comment sortir du monde (2023) erzählt den Versuch eines jungen Mannes mit migrantischem Hintergrund, sich durch Erinnerung, Sprache und Spiritualität aus familiärer Gewalt, kultureller Entfremdung und innerer Zersplitterung zu befreien – nicht um die Welt zu verlassen, sondern um in ihr einen eigenen, verletzlichen und zugleich standhaften Ort des Daseins zu schaffen. Dies ist ein Selbstermächtigungstext, der in poetisch verdichteten Kapiteln die Kindheit, Jugend und frühe Selbstfindung eines queeren Ich-Erzählers mit französisch-arabischem Hintergrund schildert. Hierbei entwickelt er eine Poetik der Kindheit, in der Erinnerung nicht retrospektiv geordnet, sondern als sinnlich-fragiles Erleben rekonstruiert wird. Der Erzähler schreibt aus der Perspektive des verletzten, staunenden Kindes, dessen Wahrnehmung von Natur, Sprache und Körperlichkeit zugleich magisch und bedroht ist. Die fragmentarische Form, durchsetzt mit Bildern, Gerüchen, Geräuschen und poetischen Assoziationen, spiegelt die Zerrissenheit und Offenheit des kindlichen Bewusstseins. Kindheit erscheint dabei nicht als verlorene Unschuld, sondern als Ursprung von Differenz, von Scham, Begehren und Sprachlosigkeit – aber auch als Quelle einer Widerstandskraft, die sich dem Vergessen widersetzt. Der Roman macht spürbar, dass Schreiben hier nicht nur Erinnern ist, sondern ein behutsames Wiedererschaffen jener inneren Welt, die „aus der Welt“ gefallen war.
Das erste Kapitel entfaltet eine detailreiche Erinnerung an die Kindheit des Erzählers in einer nicht näher benannten französischen Provinz, geprägt von weiten Flächen, Bauernhöfen, Weiden, Seen und unterbrochen von urbanisierten Randzonen. Schon früh erlebt der Erzähler die Koexistenz von Naturwunder und gesellschaftlicher Enge: Die Wälder und Felder bieten Verstecke, Rückzugsorte, Räume für Imagination, während die soziale Realität von Ausgrenzung, Rassismus und Konformitätsdruck geprägt ist. Sein familiärer Hintergrund – mit einem arabischen Vater und einer „weißen“ französischen Mutter – macht ihn doppelt fremd: für die „Autochthonen“ wie für die migrantischen Familien. Dies drückt sich in vielfachen Rissen im Selbst aus: sprachlich, kulturell, emotional. Die Schulzeit ist durchzogen von Mobbing, Herabsetzung und internalisierter Scham. Besonders prägnant ist die Szene am See, wo der Vater, scheinbar bemüht um Integration, mit dem Sohn Fischen geht – doch dieser Moment bleibt leer, unauthentisch. Der Text kreist um die Ambivalenz kindlicher Entdeckungslust (Naturbeobachtung, Tiersymbolik, Basteln von mythischen Figuren aus Ton) und gleichzeitiger Marginalisierung. Die Differenz zum Vater zeigt sich exemplarisch an einem entscheidenden Moment: Als der Junge eine gandoura als Kleid trägt, schlägt der Vater ihn – Ausdruck der patriarchalen Angst vor männlicher Abweichung. Der Junge beginnt daraufhin, sich selbst zu beobachten, zu zensieren, Gesten zu kontrollieren. Ein Schweigen beginnt. Diese Welt zwischen kindlicher Imagination und kultureller Repression beinhaltet Bilder von toten Lämmern, ausgehöhlten Fischen, erkrankten Kaninchen, verstörend schönen Libellen und einer latent bedrohlichen Männlichkeit, verdichtet zu einem poetischen Archiv des prekären Aufwachsens.
Die kurzen Absätze in Comment sortir du monde erzeugen eine poetische Textur, die sich von linearer, narrativer Logik weitgehend absetzt und stattdessen auf Fragment, Bild und Rhythmus setzt. Ihre Wirkung besteht vor allem in der Freistellung einzelner Empfindungen, Gedanken und Erinnerungsbilder, die oft nur lose assoziativ verbunden sind und so die Erfahrungsweise des kindlichen Bewusstseins imitieren: sprunghaft und körpernah, durchsetzt von Lücken, Wiederholungen und plötzlichen Einbrüchen. Gleichzeitig laden die isolierten Abschnitte zu einer gewissermaßen meditativen Lektüre ein – sie bremsen das Lesen, erzeugen Stille zwischen den Sätzen, geben Raum zum Nachspüren. Dabei entsteht eine Wechselspannung zwischen Verlangsamung und innerer Dringlichkeit: Die Kürze verknappt, aber sie intensiviert auch. Diese Form steht der Poesie teils näher als an der klassischen Narration – sie erinnert an Gebet oder litaneiartige Reihung, in der nicht Handlung, sondern Bewusstseinszustand und sprachliche Geste im Zentrum stehen, eher Arie als Rezitativ. So spiegelt der Text formal das, was er thematisch verhandelt: die zersplitterte, suchende Subjektivität eines Menschen, der sich durch Sprache neu zusammensetzt:
Full of lust, je voulais partir à tout prix. Quitter la laideur, les trous verts moroses sur de grandes étendues grises. Je voulais tout tuer, éradiquer ma ruralité et le désert érotique dans lequel j’ai erré si longtemps — là-bas.
Dans ce territoire, mon moi juvénile a appris, pourtant, l’essence des arbres et comment tenir dans ses mains une bête qui vient de naître.
Je me vois plein de dégoût pour eux tous, sur le chemin plat que prend l’autocar. Le drame de ne voir nulle part des créatures similaires à moi.
L’immensité de ces étalements périurbains, condamnés à une folle inharmonie, reste le lieu des souvenirs.
À la bordure d’un champ rempli de bestiaux, le barbelé sur mes jambes de gamin.
Les bocages de mon coeur sont sertis de pierres noires, il y a la peur gigantesque d’être pris en flagrant délit de désir.
Les bocages de mon coeur sont sertis de dents de requin, celles que mon père m’a rapportées du désert.
Et sous la peau des orvets, je devine des oeufs prêts à naître.
Le long canapé du salon et son cuir craquelé par la sieste qui accueille mes interminables vociférations internes. La maison tout allongée qui fait face aux saules et aux bouleaux qui chantent dans le vent humide. La table de la salle à manger ouverte sur le jardin d’herbes, de chardons et de trous de taupe.
Ma lèvre qui saigne à cause de sa main toute dure. Le goût des dattes qui adoucit tout ça. Je rêvasse sur le carrelage blanc et glacé les après-midi. Des chats qui entrent et qui sortent, par toutes les fenêtres. Dans la maison entière, la lumière puissante.
Je crois aux météorites et je les cherche dans la terre meuble des sous-bois. Je crois au miracle de Dieu et je le cherche dans la terre meuble des sous-bois.
Il n’existe plus d’autres souvenirs que ceux-ci dans ma tête, ils s’écrivent seuls. Je ne sais pas pourquoi tout ça a envahi le derrière de mes paupières. Je ne vis plus que dans la merveille et le malheur de l’enfance clandestine.
Marouane Bakhti, Comment sortir du monde, Les Nouvelles Éditions du Réveil, 2023, 7f.
Full of lust wollte ich um jeden Preis fortgehen. Die Hässlichkeit hinter mir lassen, die tristen grünen Flecken auf den großen grauen Ebenen. Ich wollte alles zerstören, meine Provinzialität und die erotische Wüste ausmerzen, in der ich dort so lange umherirrte.
In dieser Gegend lernte mein jugendliches Ich jedoch die Namen der einzelnen Baumarten und wie man ein neugeborenes Tier in den Händen hält.
Voller Abscheu für sie alle sehe ich mich auf der ebenen Busstrecke. Die Tragödie, nirgendwo ein menschliches Wesen zu sehen, das mir ähnelt.
Die gewaltige Ausbreitung des Stadtrands, verdammt zu einer verrückten Disharmonie, bleibt ein Erinnerungsort.
Am Rand eines mit Vieh übersäten Feldes der Stacheldraht an meinen Kinderbeinen.
Mein Herz ist eine Heckenlandschaft, in die schwarze Steine eingefasst sind, ich trage diese riesenhafte Angst in mir, auf frischer Tat beim Begehren ertappt zu werden.
Mein Herz ist eine Heckenlandschaft, in die Haizähne eingefasst sind, die mein Vater mir aus der Wüste mitgebracht hat.
Und unter der Haut der Blindschleiche erahne ich Eier, die reif sind zum Schlüpfen.
Das lange Wohnzimmersofa und sein vom Mittagsschlaf zerknautschtes Leder, das mein endloses inneres Geschrei aufnimmt. Das langgestreckte Haus liegt gegenüber von den Weiden und Birken, die im feuchten Wind singen. Vom Esszimmertisch kann man den Kräutergarten, Disteln und Maulwurfshügel sehen.
Meine Lippe blutet von seiner trockenen Hand. Der Dattelgeschmack versüßt all das. Am Nachmittag träume ich auf den weißen eiskalten Fliesen vor mich hin. Durch die Fenster gehen die Katzen ein und aus. Das ganze Haus ist von hellem Licht durchflutet.
Ich glaube an Meteoriten und suche sie in der weichen Erde des Unterholzes. Ich glaube an das Wunder Gottes und suche es in der weichen Erde des Unterholzes.
Andere Erinnerungen als diese gibt es in meinem Kopf nicht, sie schreiben sich von selbst. Ich weiß nicht, warum ich all das vor meinem inneren Auge sehe, Ich lebe nur im Wunder und Unglück kindlicher Heimlichkeiten.
Marouane Bakhti, Wie man aus der Welt verschwindet, aus dem Französischen von Arabel Summent, März-Verlag, 2025, 5f.
Diese Passage aus dem ersten Kapitel Sous les saules stellt eine konzentrierte Verdichtung der poetischen, thematischen und emotionalen Bewegungen dar, die Marouane Bakhtis Roman insgesamt durchziehen. Sie inszeniert ein Erinnern, das assoziativ und fragmentarisch verläuft, bildhaft – ein Erinnern, das sich der Kontrolle entzieht und sich „allein schreibt“ („ils s’écrivent seuls“), wie es am Ende heißt. Diese Selbsttätigkeit des Gedächtnisses ist zentral: Die Kindheit „dringt hinter die Augenlider“ („a envahi le derrière de mes paupières“) – sie ist nicht Vergangenheit, sondern bleibt körperlich, visuell bzw. sprachlich eingeschrieben. Der Text beginnt mit einem Ausbruchswunsch: „Je voulais partir à tout prix“ – der Ich-Erzähler will fliehen, voller Lust, aus einer Welt, die er als hässlich, stumpf und steril erlebt. Die „grünen Löcher“ („les trous verts moroses“) auf „großen grauen Flächen“ sind Bilder einer ländlichen, suburbanen Welt, die jegliches Begehren oder Zugehörigkeit verweigert. Die radikale Formulierung „Je voulais tout tuer“ hebt den inneren Konflikt hervor: Es geht nicht nur um Flucht, sondern um Auslöschung einer Herkunft, die als „ruralité“ und „désert érotique“ zugleich soziale Enge und Unmöglichkeit sexueller Erfüllung bedeutet. Doch dieser Wunsch wird im nächsten Satz konterkariert: „Dans ce territoire […] j’ai appris, pourtant, l’essence des arbres…“ – die Kindheit war nicht nur Entfremdung, sondern auch Ort erster Sinnlichkeit, zärtlicher Erfahrung, Naturwissen. Hier liegt das poetische Paradox: Der Erzähler verabscheut („plein de dégoût“) die Menschen um sich, leidet an der Abwesenheit ähnlicher Kreaturen („des créatures similaires à moi“), und dennoch ist dieser Ort voller singulärer, poetischer Aufladungen. Die Metaphern, die folgen – die mit „Haifischzähnen“ besetzten „Hecken des Herzens“, das „barbelé sur mes jambes de gamin“, die „vociférations internes“ – verflechten Gewalt, Scham, sexuelles Erwachen und innere Überforderung zu einer dichten affektiven Kartografie. Besonders auffällig ist dabei die Doppelstruktur der Bilder: Die Haifischzähne, die der Vater aus der Wüste mitgebracht hat, können als Zeichen männlicher Härte, aber auch als unfreiwillig weitergegebene Waffe der Zensur gelesen werden. Gleichzeitig enthält das Tiermotiv Hoffnung: „Sous la peau des orvets, je devine des oeufs prêts à naître“ – Leben wächst im Verborgenen, unterhalb der Oberfläche. Die zweite Hälfte der Passage entfaltet sich wie ein innerer Kameraschwenk durch das Haus der Kindheit – das „canapé craquelé par la sieste“, der „carrelage glacé“, das Licht, die Katzen, der Geschmack von Datteln. Diese Details laden den Raum mit Gegensätzen auf: Zärtlichkeit und Schmerz, Wärme und Kälte, Stille und inneres Schreien. Schließlich mündet die Passage in eine Art poetologisches Credo: Die Erinnerung lässt sich nicht kontrollieren, sie ist weder wählbar noch geordnet. Und doch ist sie der eigentliche Lebensraum des Erzählers: „Je ne vis plus que dans la merveille et le malheur de l’enfance clandestine.“ – Das Wunder und das Unglück der „heimlichen“ (oder „versteckten“) Kindheit ist sein Zuhause und sein Ursprung. Diese Stelle steht exemplarisch für die Poetik der Kindheit im Roman: nicht als idyllische Rückblende, sondern als komplexer Speicher widersprüchlicher Wahrnehmungen, deren sprachliche Gestalt allein schon Widerstand ist – gegen das Schweigen und gegen Normierungen.
Die erste körperliche Begegnung des Jungen mit einem anderen evoziert eine rohe, fast brutale Form des Begehrens.
Je vois sa veste Airness sur le sol, pleine de boue. J’ai gardé son goût et son odeur longtemps sur moi. Ses taches sur la peau et ses poils roux, épais. On s’est retrouvé plusieurs fois, comme ça, derrière le scooter flambant neuf. Ça a duré quelques semaines tout au plus. C’est le premier à mettre son membre au fond de mon ventre.
Dans la nuit qui le protégeait et qui nous donnait l’impression de ne rien vivre pour de vrai, il arrivait sur son engin brillant et noir. Personne ne savait que nous avions l’habitude de nous retrouver pour fumer des cigarettes volées dans la cabane des chasseurs. Elle était faite de planches recouvertes de goudron. Il avait toujours des canettes de mousseuse dans son petit coffre. Il avait sur les mains des traces de brûlures. Lorsqu’il baissait son jogging, nos caleçons synthétiques étaient déjà mouillés, avant même que son excitation jaillisse sur moi. Il me donnait du plaisir et il repartait. Il me parlait un peu. Il me racontait d’où venait sa profonde et violette cicatrice qui partait du haut du front jusqu’à la commissure de sa lèvre, sautant par-dessus l’oeil gauche, creusée par les dents du chien qui avait brisé la chaîne pourtant tournée trois fois autour de la roue de sa caravane. Il ne sait pas ce qu’il est advenu du chien. Je lui raconte les moutons, ceux que j’aimais bien et qui sont devenus des tas de viande.
Nos baskets enfoncées dans le sol de brindilles et de cartouches de carabine. Les crochets pour suspendre les bêtes, la table large et plate pour allonger nos dos.
C’est dans ce petit monde que le silence a bâti ses grands murs tout autour du désir. Nous étions tout proches de la maison familiale. Notre refuge est fixé dans cet écosystème: le bois, la route habitée, la route déserte, le lac et ses marais.
Mon secret germe entre mes côtes et plonge ses racines au milieu des mares environnantes. Il veut sortir, il veut naître et je grandis en l’écrasant quelque part au fond. Et ça boit l’eau boueuse, le mensonge est assoiffé, il ne fait que grossir, gonfler sans limites. Il prend toute la place dans mon crâne. Je suis terrifié à l’idée que quelqu’un découvre ce que tout le monde sait déjà.
Quand je pense à mon chagrin d’adolescent, je vois la rue qui descend vers le lac et je me dis : c’est une géographie du sinistre. À la fin de l’été, A. m’a laissé. Il ne répond plus à mes messages. Je ne trouve plus alors que la forêt soit belle.
Ces sous-bois où nous nous cachions de nous aimer continuent du lac jusqu’au jardin de la maison, ça fait une boucle.
Je grandis, dans ce lieu difforme, en mutation vers un progrès et une prospérité qui ne se font jamais. La modernité est venue tuer tous les savoirs des temps d’avant, les ancrages ancestraux, elle a éclaté, aplati les bocages, elle a voulu trouer les paysages, faire des axes.
Cependant, ils restent, les garçons d’avant. Ils deviennent adultes, se marient et construisent ce qu’ils appellent des pavillons.
Beaucoup croyaient que c’était bien, que c’était normal. Beaucoup pensaient que c’était moi le problème et pas ce grand isolement et cette peur de tout qui les rendaient si brutaux.
Marouane Bakhti, Comment sortir du monde, Les Nouvelles Éditions du Réveil, 2023, 18f.
Ich sehe seine schlammverschmierte Airness-Jacke auf dem Boden liegen. Seinen Geschmack und Geruch behielt ich lange Zeit an mir. Seine Sommersprossen und sein dichtes rotes Barthaar. Wir trafen uns mehrmals einfach so hinter dem brandneuen Moped. Das ging höchstens ein paar Wochen. Er war der Erste, der mit seinem Glied tief in mich eindrang.
Im Schutz der Nacht, die uns ein Gefühl des Unwirklichen gab, kam er auf seinem glänzend schwarzen Moped angefahren. Niemand wusste, dass wir uns haufig in der Jagdhütte trafen, um geklaute Zigaretten zu rauchen. Sie bestand aus Brettern und einem Betondach. Er hatte immer Sekt in Dosen im kleinen Koffer seines Mopeds dabei. Seine Hãnde waren von Brandmalen gezeichnet. Wenn er seine Jogginghose herunterließ, waren unsere Synthetik-Boxershorts schon feucht, noch bevor sein Verlangen auf mich strömte. Er verschaffte mir Vergnügen und fuhr wieder weg. Er sprach ein bisschen mit mir. Er erzählte mir, woher die tiefe violette Narbe stammte, die sich vom oberen Teil seiner Stirn bis zum Mundwinkel hinunterzog und über das linke Auge hinwegsprang. Sie stammte von den Zähnen eines Hundes, der sich von seiner Kette losgerissen hatte, obwohl sie dreimal um das Rad des Wohnwagens geschlungen worden war. Er weiß nicht, was aus dem Hund geworden ist. Ich erzähle ihm von den Schafen, die ich liebgewonnen hatte und die zu Fleischhaufen geworden sind.
Unsere Sneakers sind in dem von Zweigen und Gewehrpatronen bedeckten Boden eingesunken. Haken, um die Tiere daran aufzuhängen, ein großer flacher Tisch, um uns dort der Länge nach auszustrecken.
In dieser kleinen Welt baute die Stille ihre hohen Mauern um das Verlangen herum. Wir waren ganz in der Nähe des Hauses meiner Familie. Unser Zufluchtsort ist Teil dieses Ökosystems: das Wäldchen, die belebte Straße, die verlassene Straße, der See und seine Sümpfe.
Mein Geheimnis keimt zwischen meinen Rippen und taucht sein Wurzelwerk in umliegende Sumpfgebiete. Es will hinaus, hinaus in die Welt, und während ich aufwachse, drücke ich es irgendwo ganz weit nach unten. Und so saugt sich die Lüge mit schlammigem Wasser voll, sie ist durstig. sie wächst und wächst, bläht sich grenzenlos auf. Sie nimmt allen Raum in meinem Kopf ein. Der Gedanke, jemand könnte herausfinden, was alle Welt eh schon weiß, versetzt mich in Angst Schrecken.
Wenn ich mich an meinen Kummer als Jugendlicher zurückerinnere, sehe ich die Straße, die zum See hinunterführt, und denke: Was für ein trostloser Ort. Am Ende des Sommers hat A. mich verlassen. Er antwortet nicht mehr auf meine Nachrichten. Ich finde den Wald nicht mehr so schön.
Dieses Unterholz, in dem wir uns liebten und versuchten, uns nicht zu lieben, führt vom See bis zum Garten des Hauses und bildet eine Schlaufe.
Ich wachse an diesem unförmigen Ort auf, der sich im Übergang zu Fortschritt und Wohlstand befindet, die je doch niemals eintreten. Die Moderne ist gekommen und hat das Wissen früherer Zeiten ausgelöscht, die tiefverwurzelten Überlieferungen herausgerissen, die Natur dem Erdboden gleichgemacht, sie wollte die Landschaft durchlöchern und zerhacken, um Verkehrswege zu bauen.
Die Jungs von gestern gibt es aber noch. Sie werden erwachsen, heiraten und bauen ihre Einfamilienhäuser.
Viele dachten, das wäre gut, das wäre normal. Viele dachten, ich wäre das Problem und nicht die große Isolation und die Angst vor allem, die sie so brutal werden ließ.
Marouane Bakhti, Wie man aus der Welt verschwindet, aus dem Französischen von Arabel Summent, März-Verlag, 2025, 19ff.
Das Begehren ist hier kein Ort der Identität, sondern der Krise. Die Szene markiert den Moment, in dem Lust untrennbar mit Scham und Geheimhaltung verbunden wird. Die Intensität der sexuellen Handlung wird durch die Nacht, den Schutz der Dunkelheit und die Nähe zur familiären Welt akzentuiert. Poetisch verschmilzt das erotische Begehren mit einer Atmosphäre von Scham und Geheimnis – der Ort der Begegnung (la cabane des chasseurs) steht symbolisch für einen Zwischenraum des Verborgenen. Im Gesamtroman fungiert diese Szene als Urszene des homosexuellen Begehrens, das aus Scham geboren, in Schweigen gehüllt und zugleich als elementare Wahrheit des Subjekts empfunden wird. Die beschriebene Episode stellt eine Schlüsselstelle im Roman Comment sortir du monde dar, in der die ersten sexuellen Erlebnisse des Erzählers mit einem anderen Jungen in der Jugend geschildert werden. Diese Szene ist in ihrer Dichte und Ambivalenz emblematisch für die zentrale Dialektik des Romans: Begehren und Scham, Geheimnis und Natur, Lust und Verlust, Intimität und Sprachlosigkeit. Bereits der erste Satz evoziert einen intensiven sinnlichen Eindruck: Kleidung, Geruch, Körperhaare – all dies wird nicht distanziert, sondern mit Nähe und Begehren erinnert. Das Schweigen ist hier nicht nur Ausdruck der Scham, sondern konstitutiv für das Begehren selbst. Diese Wände des Schweigens umschließen nicht nur die Szene, sondern durchziehen die gesamte Kindheit und Jugend des Erzählers wie ein Gewebe des Verbergens und der inneren Spannung. Das Begehren ist kein klar definierter Akt, sondern ein wucherndes, verwurzeltes, feuchtes Element – etwas, das lebt, das wachsen will, das sich aber unterdrückt, selbst vergiftet. Die Natur wird dabei zu einem Spiegel des Innenlebens: morastig, von Schuld und Angst durchtränkt, und zunehmend zerstört durch die „mutation vers un progrès“. Diese erste Erfahrung ist kein emanzipatorischer Akt, sondern ein ambivalenter Moment: zärtlich und brutal, lustvoll und traurig, befreiend und verschließend zugleich.
Die Beziehung im ersten Kapitel zu den Eltern, insbesondere zum Vater, ist schwierig. Die väterliche Strenge hinterlässt Spuren: eine blutende Lippe, der Versuch, sich an die Lebensweise der „hommes d’ici“ anzupassen. Inmitten dieser ambivalenten Sozialisation erlebt das Kind erste homoerotische Begegnungen – heimlich, versteckt, in der Nähe der heimischen Wälder, in einer Kabane des chasseurs. Die Erfahrung des Begehrens steht im Widerspruch zur allgegenwärtigen Scham, zur Angst vor Entdeckung, zur Gewalt der Mitschüler. Der Text bewegt sich zwischen traumwandlerischen Erinnerungen und präzisen ethnografischen Beschreibungen: Die Wiederbelebung der Kindheit durch Gerüche, Geräusche, durch Orte wie den Carrefour, die Fischtheke, die Kabane, den Fluss, wird kontrastiert durch ein Bewusstsein für soziale und kulturelle Differenz. Das Ich erlebt sich als „ennemi“ seiner Umwelt – nicht nur wegen seiner arabisch-französischen Herkunft, sondern auch wegen seiner geschlechtlichen und sexuellen Andersartigkeit. Im Zentrum steht die Beobachtungsgabe eines Kindes, das zwischen den Welten steht: zwischen dem bäuerlich-französischen Milieu der Großmutter („Mémé“) und den rituellen Praktiken der arabischen Familie väterlicherseits. Die Natur wird zum Schutzraum, aber auch zum Ort der Grausamkeit – etwa bei der myxomatösen Kaninchenplage oder beim Aïd el-Kébir, wo geliebte Lämmer geschlachtet werden. Die Gewalt gegen Tiere spiegelt die unterschwellige Gewalt gegen das Kind selbst. Erste künstlerische und mystische Impulse erwachen: Der Junge modelliert Tiere aus Ton, baut sich eine eigene Mythologie aus Lehmskulpturen, beobachtet die Vögel und fängt Libellen, die wie „robots au corps irisé“ erscheinen. Die Episode mit dem verletzten Tier, das der Großvater als „déjà mort“ bezeichnet, wird zu einer frühen Konfrontation mit Ohnmacht, Sterblichkeit und männlicher Unfähigkeit zum Trost. Das Kapitel endet mit einer Mischung aus Trauer, Wut und Reflexion über die eigene Andersheit, über die verlorene Sprache, die verlorene Zugehörigkeit, und über die Wege, wie das Kind versuchte, sich zwischen den Diskursen der Männlichkeit, des Schweigens und des Begehrens einen geheimen Ort zu schaffen.
Die Kapitelüberschriften – Sous les saules, Le feu de joie, Au milieu du brouillard, La mort de jeddi, Un fruit ouvert – strukturieren nicht nur den autobiografischen Fluss, sondern rahmen zentrale existenzielle Übergänge: „Sous les saules“ (Unter den Weiden) steht emblematisch für die Kindheit im ländlichen Frankreich, eine Kindheit zwischen Zauber und Bedrohung. Die Natur wird hier zur Zuflucht für ein sensibles Kind, das sich in Tierbeobachtung, Erdspielen und Fantasiewelten flüchtet, während es im sozialen Gefüge – als queerer Junge, als Sohn eines Arabers – keinen Ort findet. Die Weidenbäume, die das Kapitel überschreiben, stehen für eine verlorene, fast magische Zeit, die jedoch unter der Oberfläche bereits von Gewalt, Ausschluss und Stummheit durchzogen ist. – „Le feu de joie“ (Das Freudenfeuer) bezeichnet bitter den Moment, in dem der Vater die privaten Notizbücher des Sohnes verbrennt – Notizbücher, in denen dessen Sexualität, Begehren, Schmerz und Sehnsucht niedergeschrieben waren. Der Titel verweist auf das rituelle, gemeinschaftliche Feuerfest, doch hier ist es ein einsamer, zerstörerischer Akt, eine symbolische Vernichtung der inneren Welt des Erzählers. Dieses Kapitel markiert den Bruch mit der Herkunftsfamilie, aber auch einen möglichen Neuanfang. – „Au milieu du brouillard“ (Mitten im Nebel) erzählt die Zeit nach dem Bruch: Die Identität des Erzählers ist entgrenzt, er driftet durch Paris, körperlich anwesend, aber innerlich aufgelöst. Der „brouillard“ ist Metapher für Depression, Desorientierung und Erinnerungsschwäche, aber auch für ein schwebendes, noch unformuliertes Selbst, das zwischen zwei Kulturen, zwei Geschlechternormen, zwei Sprachen zerrieben wird. – „La mort de jeddi“ (Der Tod des Großvaters) wird zum existenziellen Wendepunkt. Der Tod des patriarchalen Vorfahren führt zu einer kollektiven, familiären Konfrontation mit Vergänglichkeit, aber auch zu einer neuen Nähe: Der Erzähler nimmt Abschied, hält die Hand des Sterbenden, erkennt, dass auch der Großvater ein Ausgestoßener war. Der Tod ermöglicht eine Revision der väterlichen Linie – nicht mehr nur als Quelle von Härte, sondern als Ort verdrängter Verletzbarkeit. – „Un fruit ouvert“ (Eine offene Frucht) schließlich steht für die innere Wandlung, die nach dem Trauerprozess einsetzt: Der Erzähler beginnt wieder zu beten, zu begehren, zu leben – nicht trotz seiner Wunden, sondern mit ihnen. Die „Frucht“ ist ein Sinnbild für Reife, Verletzlichkeit und Neubeginn zugleich. Offen zu sein bedeutet nicht mehr schwach zu sein, sondern: empfänglich und empfindsam, lebendig. So erzählt das Buch nicht nur vom Versuch „aus der Welt zu verschwinden“, sondern auch davon, wie man trotz aller Gewalt, Ablehnung und Zerrissenheit eine Sprache für sich selbst findet – eine Sprache der Erinnerung, der Zärtlichkeit und einer eigenwilligen Zugehörigkeit.

Der Titel Comment sortir du monde (dt.: „Wie man aus der Welt herauskommt“, der März-Verlag übersetzt: „Wie man aus der Welt verschwindet“) lässt sich als programmatisches Leitmotiv des gesamten Romans verstehen: Er verweist auf einen existenziellen, poetischen und politischen Versuch, sich einer Welt zu entziehen, die für das queere, migrantische, empfindsame Subjekt des Erzählers kaum Lebensraum bietet. Dabei steht das „Herauskommen“ nicht einfach für Flucht oder Rückzug, sondern für eine komplexe Bewegung zwischen Abkehr, Überleben, Transformation und Neuschöpfung. Zunächst evoziert der Titel eine radikale Geste des Ausstiegs: Ausstieg aus der Familie, aus normativen Männlichkeitsbildern, aus den Zumutungen kultureller Assimilation und aus dem repressiven Schweigen, das über Gewalt, Scham und Begehren liegt. Der Erzähler sucht Auswege – in der Kindheit über die Natur und die Phantasie, in der Jugend über das Schreiben, später über Körpererfahrung, Sexualität und eine individuelle Form der Spiritualität. Doch dieser Ausstieg ist nie vollständig: Der „Welt“ kann man nicht entkommen, ohne auch sich selbst zu verlieren. Gerade deshalb verweist der Titel auf eine widersprüchliche Bewegung: Comment sortir du monde bedeutet auch, eine andere Art des In-der-Welt-Seins zu finden – eine, in der der Erzähler seine Vielschichtigkeit (queer, gläubig, migrantisch, fragil, zärtlich, wütend) nicht länger abspalten muss. Der „Ausstieg“ wird zur poetischen Neuschreibung der Welt: durch das Erinnern, durch das Erzählen, durch das Erschaffen einer Sprache, die weder den Vater noch die Mehrheitsgesellschaft bestätigen muss. Die Frage, wie man „aus der Welt“ herauskommt, ist auch eine mystische Frage, wie sie in religiösen Traditionen auftaucht – als Suche nach Transzendenz, nach dem Ausstieg aus Leiden, Angst und den Grenzen des Ego. In diesem Sinne verweist der Titel auch auf die innere Arbeit, die der Erzähler leistet: Das Weltverlassen ist nicht Weltverneinung, sondern ein Weg zu einer anderen, offeneren, aber auch verletzlichen Weise des Daseins. So entfaltet der Titel eine doppelte Bewegung: Er beschreibt ein Überleben durch Abwendung – und zugleich ein neues Ankommen im Selbst.
Marouane Bakhtis Comment sortir du monde lässt sich durchaus auch als spiritueller Roman lesen – nicht im Sinne eines didaktisch-religiösen Textes, sondern als radikal subjektive, poetische Erkundung von Glaube, Zweifel, Transzendenz und innerer Wandlung. Die spirituelle Dimension durchzieht den Roman nicht als dogmatisches Gerüst, sondern als Suche nach Sinn inmitten von Schmerz, Entfremdung und existenzieller Zerrissenheit. Der Erzähler durchläuft existenzielle Krisen: den Bruch mit der Familie, die Auslöschung seiner Sprache (durch das Verbrennen seiner Notizbücher), depressive Rückzüge, Panikattacken und den Tod naher Angehöriger. In dieser Auflösung des Selbst wird Spiritualität nicht zur Flucht, sondern zur Ressource. Er beginnt zu beten – nicht im Rahmen einer institutionellen Religion, sondern alleine, im stillen Raum seines Zimmers. Die Gebete, das Hören religiöser Gesänge, das Ausrollen des Gebetsteppichs: all dies wird zu einer Geste der Sammlung, der Rückverbindung mit sich selbst und mit einer nicht greifbaren, aber spürbaren Transzendenz, als spirituelle Sprache des Überlebens. Eine zentrale Konfliktlinie des Romans ist die autoritäre, männlich-patriarchale religiöse Tradition, wie sie durch den Vater verkörpert wird: Gebet als Pflicht, als Disziplinierung oder Unterwerfung. Die Rückeroberung des Glaubens ist zugleich eine Befreiung vom Vaterbild. Der Erzähler emanzipiert sich von dieser erdrückenden Religiosität, indem er seine eigene Form der Gottesbeziehung entwickelt – zärtlich fragend, still, manchmal auch widersprüchlich. Der Glaube wird nicht länger als äußeres Gesetz, sondern als inneres Gespräch erfahrbar. In diesem Sinne ist der Roman ein Beispiel für eine queere Spiritualität, die das Religiöse nicht aufgibt, sondern transformiert. Die Konfrontation mit dem Tod des Großvaters und der Großmutter wird zur rituellen Schwelle: Der Erzähler erlebt religiöse Praktiken (das Totengebet, die Waschung, das Koranlesen) nicht mehr als äußeren Zwang, sondern als geteilte, bedeutungsvolle Handlung. Der Tod bringt eine Klarheit mit sich, die nicht nur die Vergangenheit ordnet, sondern auch das eigene Verhältnis zur Transzendenz verändert. Er erfährt den Tod nicht als nihilistischen Abbruch, sondern als Öffnung, als Übergang – sowohl für die Verstorbenen als auch für sich selbst. Der spirituelle Weg, den der Erzähler beschreitet, ist eng mit der sinnlichen Wahrnehmung des Alltags verbunden: das Gehen durch die Straßen von Paris, das Kochen, das Licht, das durch das Fenster fällt, der Duft des Gebetsteppichs, die Erinnerung an das Flattern der Libellen in der Kindheit. Diese ästhetische Aufmerksamkeit gegenüber dem Alltäglichen ist Teil einer modernen, nicht-institutionellen Mystik. Die „Transzendenz“ liegt nicht jenseits der Welt, sondern in der Vertiefung in die Wahrnehmung. Auch auf formaler Ebene lässt sich der Roman als spiritueller Text lesen: Seine fragmentierte Struktur, seine meditativen Passagen, sein rhythmischer Stil und seine wiederkehrenden Bilder (Wasser, Licht, Wind, Feuer, Schatten) erzeugen eine Sprache des Horchens, der inneren Bewegung. Der Text ist nicht linear, sondern kreisend – wie ein Gebet oder ein innerer Monolog. Comment sortir du monde ist insofern auch ein spiritueller Roman, weil er die Frage stellt, wie ein Mensch – verletzt, queer und migrantisch, schreibend – in einer Welt überleben kann, die ihn ausgrenzt. Und weil er zeigt, dass die Antwort nicht in der völligen Abkehr von Religion liegt, sondern in ihrer Reinterpretation: als Ort des Trostes, der stillen Gemeinschaft mit den Toten, der Sprache für das Unsagbare.
Marouane Bakhti, Comment sortir du monde, Librairie Mollat
Marouane Bakhtis Erstling Comment sortir du monde (2023) gehört zu den bemerkenswerteren Erscheinungen der neueren französischen Literatur, schon der Verlag Les Nouvelles Éditions du Réveil, das pudrige Rosa einer abweichenden Buchgestaltung im französischen Original, was in der deutschen Übersetzung von Arabel Summent, Wie man aus der Welt verschwindet, März-Verlag 2025, etwas buchhandelsüblicher produziert wird. Der Text steht exemplarisch für ein literarisches Schreiben, das Erfahrungen von Migration, Nicht-Zugehörigkeit, innerer Zerrissenheit und sprachlicher Fremdheit auf poetisch dichte Weise verhandelt. Erzählt wird aus der Perspektive eines Ichs, das als Kind in einem von Ambivalenz, Ausgrenzung und Zurückweisung geprägten Milieu aufwächst, sich zwischen zwei kulturellen Welten bewegt und zugleich mit einem nicht normgerechten Empfinden konfrontiert ist.
Zwischen den Sprachen
Im Zentrum des Textes steht die Darstellung eines Heranwachsens in einer ländlich geprägten französischen Umgebung, das von einem durchgängigen Gefühl der Entfremdung begleitet ist. Diese Entfremdung bezieht sich gleichermaßen auf die kulturellen Erwartungen der Umgebung wie auf die überlieferten Werte der eigenen Familie. Das Ich erlebt sich als nicht zugehörig – weder zur französischen Mehrheitsgesellschaft noch zur Herkunftskultur des Vaters. Das Ich beschreibt seine Position als doppelt randständig, gegenüber etwa den fußballspielenden Jungen. Nicht nur der Körper, auch die Sprache und die Gesten markieren das Fremde. Das Erleben des Andersseins wird nicht nur über äußere Ausgrenzung vermittelt, sondern auch über das Nicht-Erfüllen männlicher Erwartungen. Die Unfähigkeit, in einer bestimmten Weise zu sprechen, sich zu bewegen, „wie die anderen Jungen“ zu sein, bildet die Grundlage eines tiefgreifenden Selbstzweifels. Dieses Gefühl der Differenz äußert sich besonders in jenen Passagen, in denen zarte, körperlich geprägte Begegnungen mit anderen Jungen beschrieben werden. Diese Szenen sind von Unsicherheit und Sprachlosigkeit geprägt. Der Text vermeidet dabei jede Kategorisierung. Stattdessen bleibt das Erlebte im Bereich der Andeutung, des Flüchtigen. Diese Darstellung des unausgesprochenen Empfindens bildet einen zentralen Bestandteil der literarischen Qualität des Textes.
Ein zentrales Thema des Textes ist die Erfahrung von Scham. Diese manifestiert sich im Verhältnis zum eigenen Körper, zur Sprache und zur gesellschaftlichen Erwartung. Der Erzähler beschreibt, wie er sein Verhalten kontinuierlich kontrollieren muss. Diese Scham steht in engem Zusammenhang mit erlebter Ablehnung und Gewalterfahrung. In der Umgebung des Kindes gelten Abweichungen von vorgegebenen Rollenbildern als verdächtig. Der Erzähler versucht, sich in seiner Andersartigkeit zu verstecken – ein Vorgang, der zu innerer Vereinsamung führt. Die Darstellung dieser Zurücksetzung geschieht in lakonischer, oft reduzierter Sprache. Der Text zeigt nicht das Drama, sondern die Wiederholung, den Alltag der Verstellung. Zugleich findet in der literarischen Darstellung eine Form der Gegenwehr statt. Der Akt des Schreibens wird zur Möglichkeit, das Verborgene auszusprechen. Die Poetisierung des Erlebten ist dabei keine Verklärung, sondern eine Form der Sichtbarmachung. Gerade die sprachliche Zurückhaltung, das Unsagbare, das Ungeklärte machen die literarische Kraft des Textes aus.
Die Figur des Erzählers ist geprägt durch eine schwierige sprachliche Position: Zwischen dem nicht beherrschten Arabisch des Vaters und dem schulischen Französisch bleibt die eigene Ausdrucksmöglichkeit unsicher. Diese Unsicherheit wird zum Ausgangspunkt einer eigenständigen literarischen Sprache. Bakhti nutzt sprachliche Brüche, fragmentarische Satzstrukturen und die bewusste Störung grammatikalischer Normen, um ein Ausdrucksmittel zu schaffen, das nicht auf rhetorische Eleganz, sondern auf Eindringlichkeit und Unmittelbarkeit zielt.
Dabei ist der Text weniger narrativ als assoziativ organisiert. Erinnerungen erscheinen in Form dichter Momentaufnahmen, die sich über Gerüche, Körperempfindungen oder visuelle Eindrücke konstituieren. Die Sprache wird nicht zur Abbildung, sondern zur Evokation. Die Bildsprache Bakhtis ist von hoher poetischer Verdichtung. Sie bedient sich wiederkehrender Motive wie Rauch, Wasser, Tiere oder Blut, um emotionale Zustände auszudrücken. Der Rauch steht hier für die Vernichtung und zugleich für einen Akt der Mitteilung, der ins Leere läuft. In mehreren Szenen wird das Empfinden des Begehrens über Sinneseindrücke beschrieben. Die Wahrnehmung des anderen Körpers, die Enge von Umkleideräumen, die stumme Nähe – all dies wird nicht benannt, sondern in Bildsprache übersetzt. Dabei verweigert der Text eindeutige Deutungen. Affektive Regungen wie Angst, Sehnsucht, Ekel oder Erregung werden in einer Sprache dargestellt, die auf Distanzierung ebenso wie auf Nähe zielt. Zärtlichkeit kippt in Unsicherheit, Nähe geht mit der Gefahr von Bloßstellung einher. Diese Ambivalenz spiegelt sich auch in der Bildgestaltung wider und verweist auf eine literarische Poetik, die Widersprüchlichkeit nicht auflöst, sondern produktiv macht.
Das Schreiben selbst wird im Text thematisiert. Der Ich-Erzähler berichtet den Moment, in dem der Vater seine Tagebücher entdeckt und verbrennt: „L’autodafé de mon secret, on devait voir la fumée noire…“ Dieser Akt der Zerstörung ist nicht nur Ausdruck familialer Kontrolle, sondern zugleich ein symbolischer Angriff auf das Recht, über sich selbst zu sprechen. Dennoch wird das Schreiben nicht aufgegeben. Es erscheint vielmehr als Form der Gegenwehr, verweist auf ein Schreiben, das nicht geplant, sondern als Notwendigkeit erfahren wird. Es ist Ausdruck einer existenziellen Dringlichkeit. Die literarische Autorschaft wird hier nicht als souveräne Geste verstanden, sondern als gefährdete Praxis. Der Text legt keinen abschließenden Sinn fest, sondern eröffnet einen Raum für das Uneindeutige. Comment sortir du monde ist ein dichter literarischer Text, der persönliche Erfahrungen in eine Sprache überführt, die Distanz und Nähe zugleich erzeugt. In seiner Darstellung von Fremdheit, kultureller Uneindeutigkeit, körperlichem Empfinden und sprachlicher Unsicherheit entwirft er ein poetisches Selbstbild, das sich nicht auf feste Kategorien festlegen lässt. Die Stärke dieses Textes liegt in seiner Ambivalenz. Er will weder bekennen noch erklären, sondern zeigen, wie Literatur zu einem Ort werden kann, an dem sich Erfahrungen artikulieren, die anderswo keinen Ausdruck finden. In diesem Sinne ist Bakhtis Werk ein relevantes Beispiel dafür, wie Literatur im 21. Jahrhundert gesellschaftliche Wirklichkeiten sichtbar macht, ohne sie zu vereinfachen.
Bruch und Reinigungsprozesse
Das zweite Kapitel markiert einen Wendepunkt in der Erzählung: den Moment der Trennung vom Elternhaus und die radikale Reaktion des Vaters auf die Enthüllung der sexuellen Identität des Erzählers. Nachdem dieser das Elternhaus verlassen hat, erfährt er von der Mutter, dass der Vater in einem Anfall von Zorn und Kontrollverlust seine Tagebücher und Zeichnungen verbrannt hat – in einem symbolischen „autodafé“. Diese Akte der Vernichtung gelten Skizzen, Sehnsüchten, Selbstbefragungen und homoerotischen Erinnerungen: den Aufzeichnungen des Begehrens, den Zeichnungen männlicher Körper, dem sexuellen Erwachen. Das Kapitel thematisiert in dichten Bildern die Brutalität der elterlichen Reaktion und die Sprachlosigkeit, die sie erzeugt. Der Erzähler ringt mit widersprüchlichen Gefühlen: Schock, Scham und Zorn – aber schließlich auch ein befreiendes, fast manisches Lachen. Die Gewalt des Vaters erscheint als letzter Versuch, eine Ordnung aufrechtzuerhalten, in der das Schweigen als Mittel der Kontrolle herrschte. Die verbrannten Hefte repräsentieren das geheime Selbst des Erzählers – ihre Vernichtung ist ein Akt der symbolischen Tötung dieses Selbst. Was folgt, ist keine unmittelbare Konfrontation, sondern eine körperliche und emotionale Erstarrung beim Erzähler: Er lacht – ein Lachen, das nicht erlöst, sondern maskiert. Der Schock, das Trauma der Entblößung und Auslöschung, manifestiert sich in psychosomatischen Symptomen, in Verwirrung, Wut und Flucht in die Einsamkeit. Paris wird nun zum neuen Schauplatz: Der Erzähler lebt in prekären Bedingungen, studiert, versucht, sich zu stabilisieren, doch der Verlust der Tagebücher wirkt nach. Er beschreibt Zustände tiefer Verwirrung, Gedächtnisverlust, Konzentrationsschwierigkeiten – eine posttraumatische Reaktion auf das Zerreißen der Verbindung zur Vergangenheit. Die Erinnerung beginnt zu flackern, es entsteht ein innerer Nebel, der die Gedanken verlangsamt, den Körper lähmt. Dabei beginnt sich auch das Verhältnis zur eigenen Familie zu verändern: Die Mutter bleibt ambivalent – mitleidend, aber machtlos. Der Vater, der sich in seiner Verzweiflung zwischen Religion und Alkohol verliert, erscheint als gebrochene Figur. Doch der Sohn kann ihm nicht vergeben. Stattdessen beginnt er, das Schreiben neu zu begreifen: nicht mehr als Heimlichkeit, sondern als Akt der Konfrontation. Die Sprache wird zur Rettung, aber auch zur Rebellion.
Im dritten Kapitel verdichtet sich der psychische Zustand des Erzählers zu einem poetischen Bild: ein „brouillard“, der sein Denken, Fühlen und Wahrnehmen lähmt. Der Nebel steht für ein diffuses Leiden, für eine posttraumatische Amnesie, aber auch für die Orientierungslosigkeit des Erwachsenen. Er lebt in einem Studio in Paris, geht kaum unter Leute, erlebt Panikattacken, hat Gedächtnislücken. Selbst sein Körper wird fremd: zu dünn, zu weich, zu präsent und gleichzeitig durchsichtig. Die Beziehung zur Außenwelt ist gestört. In der Stadt sucht er Halt in Bewegung – langes Gehen, Fitnessstudios, sexuelle Begegnungen. Doch alles bleibt oberflächlich. Die Panikattacken kehren zurück – alte Gefühle aus der Kindheit: Enge, Zittern, Sauerstoffmangel, der Wunsch, sich zu schlagen, um den Kopf zu ordnen. Erinnerungen an Kindheitsängste – etwa die Furcht vor der Schule, die Einsamkeit in der Dorfnatur – mischen sich mit gegenwärtigen Versagensängsten. Das Ich lebt in einem ständigen Zustand der Alarmbereitschaft. Er erzählt von seiner Beziehung zum eigenen Körper, der nicht „ancré“ ist – zu dünn, zu fragil, zu wenig viril. In den Fitnessstudios der Stadt beobachtet er andere Körper und vergleicht sich mit ihnen, wünscht sich „des épaules rondes“, muskulöse Beine, einen perfekten Teint. Das Streben nach Präsentabilität wird zum sozialen Zwang, zur inneren Diktatur: Man muss „articuler“, „propre“ und „discret“ sein. Der Text entwickelt sich zu einem Stream of Consciousness, einer Selbstbeobachtung im Modus der Desintegration. Es geht um sexuelle Begegnungen mit Fremden, um eine Sexualität, die weniger aus Lust als aus der Notwendigkeit zur Bestätigung praktiziert wird. Die Körper anderer dienen als Spiegel, als Moment der Auflösung und Wiederherstellung. Die Stadt erscheint als zugleich realer und symbolischer Raum des Übergangs: Bars, Gehwege, Métro-Stationen, Bildschirme mit Fußballübertragungen – alles wird zur Projektionsfläche für die Einsamkeit und den Wunsch nach Zugehörigkeit. Gleichzeitig wächst das Bedürfnis, sich zu entziehen, „un trou“ oder „une grotte“ zu finden – einen Ort jenseits aller Zuschreibungen.
Visages de mes amants dans ce brouillard, ils émergent uniquement dans mes rêves, de temps en temps lorsque j’entends le nom d’une rue, je me dis : je suis allé dans la chambre d’un inconnu ici. La ville ouvre sa bouche béante, je n’ai qu’à m’y lover.
Ça me donne envie de dégueuler quand ils me l’écrivent: « Je cherche jeune rebeu. »
Ceux qui s’en empêchent, ils finissent par me demander mon prénom, ils ne le connaissent pas toujours. Et j’avoue qu’il m’arrive d’inventer. Quelquefois je dis: « Paul.» Ou alors je dis: « Clément.» Je vois dans leurs yeux un voile, un trouble. Moi aussi, de cette façon, je cherche ce que l’on attend de moi. Je formule des hypothèses sur ce qu’ils veulent que je leur donne dans la nuit, au creux de leur cou.
C’est bien souvent une sauvagerie. C’est bien l’Arabe qu’ils chérissent.
Mon corps prend l’habitude. Il se refuse à gérer la peur et la honte autrement que comme ça, avec l’aide de l’intimité des autres. Je reste le plus souvent possible dans toutes leurs cavités, où il est si facile de s’oublier.
Ça permet de trouver le sommeil, au lieu d’errer dans la ville et de rester allongé sur le parquet, des grésillements dans le cerveau.
Ça me permet de calmer mon coeur qui bat sans s’arrêter toujours plus fort dans un rythme qui fait mal, au lieu de traîner seul et de tourner en rond.
Les quelques garçons qui m’aiment, je ne les considère pas vraiment. À peine si je leur laisse une place hebdomadaire. Certains essaient de m’inviter à dîner, d’autres veulent se promener avec leur main dans la mienne, je joue le jeu. Je me dis : je fais ce qu’il faut. Il m’arrive d’en tirer une légère satisfaction, les regards sur nos corps tout proches dans le métro ou dans la rue me rendent presque jovial. Je me dis : ça va, je suis sympa. Mais vite, j’invente des raisons pour disparaître. Je hausse les sourcils, surpris soudain par leur attachement. J’assure ne pas m’en être douté une seule seconde, de ces sentiments naissants en face de moi.
Ce n’est que maintenant, que je découvre leur malheur.
Marouane Bakhti, Comment sortir du monde, Les Nouvelles Éditions du Réveil, 2023, 58f.
In diesem Nebel die Gesichter meiner Liebhaber. Nur in meinem Träumen erscheinen sie mir. Manchmal, wenn ich einen Straßennamen höre, denke ich: Hier war ich im Schlafzimmer eines Unbekannten. Die Stadt öffnet ihren weiten Schlund und ich muss mich nur hineinkuscheln,
Ich könnte kotzen, wenn sie mir schreiben: „Ich suche einen jungen Araber.“
Diejenigen, die sich beherrschen können, fragen schließlich nach meinem Namen, sie kennen ihn nicht immer. Ich gebe zu, ich denke mir manchmal einen aus. Einige Male sage ich: „Paul“ oder „Clément“, Ich sehe, wie sich ihr Blick verschleiert, eine Unruhe flackert in ihren Augen auf. Auch ich suche in ihrem Blick, was von mir erwartet wird. Ich stelle Hypothesen auf, was sie wohl von mir haben wollen in der Nacht, in ihrer Halsbeuge.
Häufig ist es brutal. Es ist der Araber in mir, den sie begehren.
Mein Körper gewöhnt sich daran. Nur durch die Intimität mit anderen erträgt er die Angst und die Scham. So oft wie möglich verweile ich in all ihren Hohlräumen, wo es so leicht ist, sich zu vergessen.
Es hilft mir, in den Schlaf zu finden, anstatt durch die Stadt zu irren oder mit Rauschen im Kopf auf dem Parkett liegenzubleiben.
Anstatt allein durch die Gegend zu streifen und im Kreis zu laufen, ermöglicht es mir, mein Herz zu beruhigen, das unentwegt und in einem schmerzhaften Tempo, heftiger und heftiger klopft.
Die paar Jungen, die mich mögen, interessieren mich nicht wirklich. Ich raume ihnen kaum einen wöchentlichen Platz in meinem Leben ein. Der ein oder andere versucht, mich zum Abendessen einzuladen, andere wollen Hand in Hand mit mir spazieren gehen, ich spiele das Spiel mit. Ich denke: Ich tue, was ich tun muss. Manchmal ziehe ich so was wie eine leichte Befriedigung daraus. Die Blicke auf unsere Körper, die ganz nah nebeneinander in der U-Bahn sind, erheitern mich fast. Ich denke: Alles ist in Ordnung, ich bin ein netter Typ. Doch recht schnell denke ich mir Gründe aus, um abzutauchen. Ich ziehe ungläubig die Brauen hoch und bin plotzlich überrascht von ihrer Anhänglichkeit. Ich versichere, dass ich nicht die leiseste Ahnung von diesen Gefühlen hatte, die sich vor mir entfaltet haben.
Erst jetzt erkenne ich ihr Unglück.
Marouane Bakhti, Wie man aus der Welt verschwindet, aus dem Französischen von Arabel Summent, März-Verlag, 2025, 64f.
Der Tod des Großvaters (jeddi) wird als kollektives Ereignis geschildert, in dem sich Generationen, Sprachen, Rituale und Erinnerungen überlagern. Die Familie reist zusammen, man versammelt sich, schweigt, betet. Der Erzähler, selbst von Angst und Ablehnung gegenüber dem familiären Kodex geprägt, erlebt die Sterbebegleitung des Großvaters als eine Initiation. Er nimmt seine Hand, beobachtet das Sterberöcheln, riecht den Tod. Dabei durchlebt er nicht nur den Abschied von einer geliebten Figur – der jeddi war einer der wenigen Männer, die zärtlich sein konnten –, sondern auch eine Revision seiner Familiengeschichte. Er erfährt, dass sein Großvater einst aus seiner eigenen Berbergemeinschaft ausgeschlossen wurde – ebenfalls wegen „Abweichung“. So entsteht eine stille Allianz: zwei Ausgeschlossene, zwei verletzte Männer, getrennt durch Generationen, verbunden im Leid. Der Tod wird zum Übergangsritual – nicht nur für den Großvater, sondern für den Erzähler selbst. Er wird Zeuge des Vergehens eines Körpers, der zugleich auch Träger von Wissen, Sprache und Tradition war. Und er erkennt, dass Heilung nur möglich ist, wenn man auch das Leiden derer versteht, von denen man verletzt wurde.
Zurück in Paris beginnt der Erzähler sich langsam neu zu orientieren. Die Schwere der vergangenen Monate weicht einer vorsichtigen Offenheit. Die Trauer wirkt wie ein Reinigungsprozess. Er beginnt zu beten – nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus Bedürfnis. Seine Spiritualität ist nicht normativ, sondern individuell: eine Form der Sammlung, der Selbstzuwendung. Er erlebt Paris anders – heller, weniger bedrohlich. Der Körper gewinnt wieder an Bedeutung, aber diesmal in sanfterer Form: Spaziergänge, Beobachtungen, kleine Freuden. Auch das Begehren kehrt zurück, aber weniger gehetzt, weniger selbstverachtend. Das Kapitel ist poetisch durchzogen vom Bild des reifenden, geöffneten Früchtes – „un fruit ouvert“. Es steht für Verletzlichkeit, aber auch für Lebenskraft, für die Fähigkeit, im Schmerz Schönheit zu erkennen. Die neue Offenheit zeigt sich auch in der Sprache: Der Erzähler beginnt, seine Vergangenheit zu benennen, ohne in ihr zu versinken. Er sucht nicht mehr das absolute Anderswo, sondern beginnt, sich im Hier zu verankern – mit Wurzeln, die er nicht mehr leugnet, aber neu denkt.
Il y avait des accalmies et des refuges.
La maison de Mémé, elle sentait une épice ou une fleur que j’ai oubliée, que nous avons tous laissée mourir dans nos mémoires.
La table que je n’ai jamais vue, toujours sous une nappe épaisse et molle. Je pose ma tête dessus, j’ai des miettes collées au visage quand je sors de mon sommeil. Pour ça, ce fût longtemps un lieu de réparation. Un endroit pour se requinquer, pour cicatriser.
Avant sa mort bien sûr. Ça me revient toujours comme ça, je vois son corps tout dur et ratatiné dans le lit, je sens sa peau de petite femme plus vivante du tout sous mes lèvres d’adulte.
Chaque fois je pleure, des grosses larmes de grande personne pour cette minuscule femme bossue.
Mémé, elle, était une vraie paysanne. Ses mains, bien qu’élargies par le travail, étaient douces. Elle avait deux beaux paniers en osier avec lesquels elle ramassait les fruits de son jardin. Je revois la feuille de papier journal dans le fond. Ma mère me disait: « Les femmes des marais tressaient ces paniers et les vendaient au marché du village. »
Une vie incompréhensible pour moi. Une vie de brutalité, de travail et de pensées suspendues. Une existence de levers aux aurores et de lapins dans un clapier.
Je ne sais plus si elle avait vu ma différence. Elle fut toujours douce, sans jamais me toucher entre les embrassades de l’arrivée et celles du départ.
Elle avait des tableaux et des tapisseries qui montraient des chiens, des épagneuls elle insistait, qui ramenaient à leurs maîtres chasseurs des oiseaux sauvages. Elle avait des vases étranges et un dauphin qui changeait de couleur en fonction de l’humidité et des conditions météorologiques qui nous étaient données ce jour de visite.
Elle avait des myosotis violets partout devant sa porte et un immense verger.
Dans la grange, ça sentait encore le bétail, celui qu’elle a vendu il y a bien longtemps. Dans le champ, les frelons et les guêpes, rendus fous par tant de fruits pourris et fermentés, nous faisaient très très peur.
Plein d’effroi, mon frère et moi courions tête baissée entre les arbres pour atteindre la porte d’entrée et éviter les vespidés trop nombreux, attirés par cette nourriture dingue que Mémé n’avait plus la force de ramasser…
D’ailleurs que mange-t-on?
Des soupes, des huîtres à Noël, le lait qui chauffe et déborde partout en une mousse odorante. Le tout petit salon où personne n’allait jamais, et sa chambre, où j’ai bien dû mettre un pied un jour pour avoir cette image en tête: un lit en bois de noyer, une armoire en chêne, des draps fleuris.
Mémé a vu la guerre, les deux, mais je ne sais pas vraiment ce qu’elle faisait. Dans cette région recouverte par les eaux, ici, elle ne devait pas particulièrement avoir peur.
Je n’ai jamais connu les peurs de Mémé.
Marouane Bakhti, Comment sortir du monde, Les Nouvelles Éditions du Réveil, 2023, 22ff.
Es gab auch ruhige Zeiten und Zufluchtsorte.
Uromas Haus duftete nach einem Gewürz oder einer Blume, die ich vergessen habe, die wir alle in unseren Erinnerungen haben sterben lassen.
Der Tisch, den ich nie zu Gesicht bekommen habe, da er immer unter einer schweren, weichen Decke versteckt war. Ich lege meinen Kopf darauf, und als ich aus meinem Schlaf erwache, kleben mir Krümel im Gesicht. Es war daher lange Zeit ein Ort der Heilung. Ein Ort, um sich zu erholen, um die Wunden vernarben zu lassen.
Vor ihrem Tod natürlich. Das fällt mir immer wieder auf die gleiche Weise ein: Ich sehe ihren starren runzligen Körper auf dem Bett, spüre ihre leblose Haut mit meinen Erwachsenenlippen.
Jedes Mal, wenn ich weine, weine ich die großen Tränen eines Erwachsenen für diese winzige bucklige Frau.
Uroma war eine echte Bäuerin. Ihre Hande waren von der Arbeit breit geworden, aber sie waren weich. Sie hatte zwei schöne Weidenkörbe, mit denen sie die Früchte in ihrem Garten erntete. Ich sehe noch das Zeitungspapier auf dem Korbboden. Meine Mutter erzählte mir: „Die Frauen aus dem Sumpf haben diese Körbe geflochten und auf dem Dorfmarkt verkauft.“
Ein Leben, das mir unverständlich blieb. Ein brutales, von Arbeit und aufgeschobenen Gedanken geprägtes Leben. Ein Dasein, das im Morgengrauen beginnt, mit Kaninchen im Stall.
Ich weiß nicht mehr, ob sie bemerkt hat, dass ich anders bin. Sie war stets sanft, ohne mich zwischen der Umarmung bei der Ankunft und der bei der Abfahrt jemals zu berühren.
An der Wand hingen Gemälde und Wandteppiche mit Hunden – Spaniels, beharrte sie -, die ihren jagenden Herrchen wilde Vögel brachten. Sie hatte seltsam geformte Vasen und einen Delfin, der je nach Feuchtigkeit und meteorologischen Bedingungen am Tag des Besuchs seine Farbe veränderte.
Überall vor ihrem Haus wuchsen violette Vergissmeinnicht und ihr Obstgarten war riesig.
Die Scheune roch immer noch nach Vieh, obwohl sie es vor langer Zeit verkauft hatte. Die Wespen und Hornissen auf dem Feld, die von dem ganzen faulen und vergorenen Obst wahnsinnig wurden, jagten uns eine Riesenangst ein.
Entsetzt rannten mein Bruder und ich mit gesenktem Kopf zwischen den Bäumen hindurch, um zur Haustür zu gelan- gen und dem großen Schwarm der Vespidae zu entwischen, der von diesem verflixten Obst angelockt worden war, das Uroma nicht mehr die Kraft hatte aufzusammeln …
Was essen wir eigentlich?
Suppen, zu Weihnachten Austern und heiße Milch, die in einen duftenden Schaum überfließt. Das winzige Wohnzimmer, in dem sich nie jemand aufhielt, und Uromas Zimmer, in das ich wohl mal einen Fuß hineingesetzt haben muss, da ich dieses Bild im Kopf habe: ein Bett aus Nussholz, ein Kleiderschrank aus Eichenholz, geblümte Bettwäsche.
Uroma hat den Krieg erlebt, beide Kriege, aber ich weiß nicht genau, was sie gemacht hat. Sie musste sich in dieser wasserbedeckten Region hier, nicht besonders fürchten.
Ich habe nie erfahren, wovor Uroma Angst hatte.
Marouane Bakhti, Wie man aus der Welt verschwindet, aus dem Französischen von Arabel Summent, März-Verlag, 2025, 23ff.
Der Kindheitsort „chez Mémé“, der Urgroßmutter, bildet eingangs in Marouane Bakhtis Comment sortir du monde eine Heterotopie im foucaultschen Sinn – einen wirklichen Ort, der jedoch außerhalb aller dominanten gesellschaftlichen Ordnungen liegt und alternative Strukturen entwirft. Als contre-espace stellt Mémés Haus eine zärtliche, archaische, nicht autoritäre Welt dar, in der das Kind sich anders erinnert, anders empfindet, anders lebt. Die Sprache dieser Passage ist weich, tastend, geprägt von olfaktorischer Erinnerung und lyrischer Verflüchtigung. Diese Unschärfe ist wesentlich – sie stellt die poetische Wahrheit über die faktische. Die Erinnerungen sind vage, aber intensiv; sie sind nicht objektiv rekonstruierbar, sondern emotional sedimentiert. Die Struktur des Hauses ist dabei selbst eine Metapher: unter niedrigen Decken, in der Nähe des Bodens, entsteht eine Welt ohne Machtarchitektur. Die Dinge sind bedeckt, verborgen, das Unsichtbare wird nicht als Mangel, sondern als Schutzraum erlebt. Nach Foucaults Typologie lässt sich Mémés Haus als Heterotopie identifizieren durch die Kompensation eines Mangels, denn es ersetzt das gewaltsame, konfliktreiche Familiensystem durch eine matrilineare, stille Ordnung. Es ist der Ort einer spezifischen, zyklisch-langsamen Zeitlichkeit. Die Lebensrhythmen bei Mémé stehen außerhalb des hektischen Fortschrittsglaubens der Moderne. Während die übrige Familie binäre Geschlechterrollen reproduziert, ist hier ein Raum, in dem Kleidung, Verhalten, Sprache nicht sanktioniert werden – „chez Mémé“ gibt es kein Urteil, keine Sanktion, keine Strafe. Die Kindheit bei Bakhti ist geprägt von Brüchen, Spannungen, Gewalt und Sprachlosigkeit. Mémés Haus ist der einzige erzählte Raum, in dem diese strukturelle Gewalt aussetzt. Es wird dadurch zum epistemischen Modell der poetischen Kindheit: eine Kindheit, die nicht durch Disziplin, sondern durch „odeur, texture, silence“ strukturiert ist. Das Haus wird zum Ort des Zuhörens, der weiblichen Genealogie, der stillen Wiederkehr. In dieser Rückzugszone konstituiert sich eine Kindheit, die nicht abgefragt, sondern angenommen wird – als Fragilität, als Beobachtung, als poetische Dichte.
Doch ist Mémé längst gestorben. Die Erinnerung ist brüchig. Der Duft ist vergessen. Die Heterotopie ist nicht mehr betretbar. Damit wird sie im Rückblick zum melancholischen Idealraum, der die Utopie einer sanften Kindheit imaginiert – und zugleich deren strukturelle Undenkbarkeit im Leben der Gegenwart enthüllt. „Chez Mémé“ ist die stille Antithese zur Welt des Vaters und der harten Binaritäten. Es ist eine Heterotopie der Kindheit, in der Zärtlichkeit, Zeitlosigkeit und das Unausgesprochene regieren – ein poetischer Zufluchtsort, der im Gedächtnis des Erzählers weiterlebt, aber in der Realität nicht mehr existiert. Der Tod der Großmutter bringt am Ende des Buchs die Familie erneut zusammen. Der Erzähler schildert die letzten Stunden, die religiösen Rituale, das letzte Streicheln der Stirn. Er möchte ihr näher sein, sie beim rituellen Waschen begleiten, aber die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen bleibt. Dennoch ist das Kapitel geprägt von einer wachsenden Zärtlichkeit. Die Erinnerung an die Gesten der Großmutter, ihre Sanftheit, ihre entschlossene Stille, strukturieren das Erinnern neu. Am Grab bricht der Vater zusammen – ein Mann, der sich sonst nichts erlaubt. Es kommt zu einem Moment stummer Versöhnung: Der Sohn legt den Arm um den Vater. Zum ersten Mal stehen sie sich nahe – nicht durch Worte, sondern durch einen gemeinsamen Verlust. Mit dem Ende dieses Kapitels ist ein Bogen gespannt: vom stummen, leidvollen Kind in „Sous les saules“ zum sensiblen, sich öffnenden Erwachsenen, der gelernt hat, dass es keine Flucht gibt, nur eine Arbeit am Erinnern. Das Ende ist still, aber hoffnungsvoll: Der Nebel weicht, nicht weil alles gut wird, sondern weil das Schweigen langsam zu Sprache wird.
Der Text inszeniert weniger eine objektive Kindheitsgeschichte als vielmehr das gegenwärtige Erleiden der Kindheit in der Sprache. Traumatische Szenen kehren wieder, zeitliche Sprünge und Wiederholungen erzeugen eine Rhetorik der Überdeterminiertheit. Die zentrale narrative Figur ist die Rückkehr: zu Orten, Körpern, Bildern, Worten. Der Text arbeitet mit wiederholt Motive, um traumatische Erfahrungen zu reinszenieren: Die Szenen der Tieropferung, der Sportumkleiden, der Sprachverweigerung kehren in variierter Form zurück. Diese Refrainstruktur erzeugt eine lyrische Komposition, in der Erinnerungen nicht linear fortschreiten, sondern kreisen. So entsteht eine fließende, offene Form, in der das Ich sich nicht stabilisiert, sondern in Affekten und Bildern zerstreut. Bakhtis Poetik ist geprägt von einer intensiven Emotionalität, einer dichten Bildsprache und einer bewussten Ästhetik der Wiederholung. Die Sprache ist nicht instrumentell, sondern sinnlich, performativ und widerständig. Emotionen sind nicht psychologische Zustände, sondern strukturelle Prinzipien der Textorganisation. Die Affekte – vor allem Scham, Begehren, Ekel, Angst und Zärtlichkeit – sind die eigentlichen Handlungsträger. Mit Comment sortir du monde legt Marouane Bakhti ein formal innovatives und emotional aufgeladenes Werk vor, das Kindheit nicht retrospektiv verklärt, sondern als konflikthaften Ort literarischer Weltaneignung beschreibt. Es ist eine Literatur, die nicht ankommt, sondern kreist. Bakhti entwirft Kindheit als poetischen Widerstand gegen die Welt. Die Textstruktur, die poetische Bildlichkeit, die Affektlogik und die geschlechterkritische Perspektive verbinden sich zu einer neuen Literatur der Herkunft.