Ab sofort … unverzüglich
Christine de Mazières’ Roman Trois jours à Berlin (Wespieser, 2019, ich fand etwas ungläubig keine deutsche Übersetzung) entfaltet eine poetisch dichte, multiperspektivische Rekonstruktion des Augenblicks, in dem die Geschichte kippte: des 9. November 1989. Die Autorin, selbst franco-allemande, verwebt kollektive Erinnerung, persönliche Suche und historische Reflexion zu einem polyphonen Text, der Berlin zugleich als Ort der Teilung und als Raum der inneren Versöhnung imaginiert. Das Geschehen wird in kurze, wechselnde Kapitel aufgelöst, die mit den Namen der Figuren überschrieben sind – Anna, Micha, Lorenz, Cassiel, Becker –, und so entsteht eine kaleidoskopische Wahrnehmung des Umbruchs, die der Vielstimmigkeit der Stadt entspricht.
Bereits der Prolog verankert das Geschehen in einer poetischen, fast mythischen Tiefenschicht. Der Text setzt nicht mit der Öffnung der Grenze ein, sondern mit einer topographischen Meditation: „Vor dem Ereignis, vor dem kolossalen Versäumnis, durch das sich alles gewendet hat, vor dem Wendepunkt der Geschichte, an dem eine Welt unterging, lange zuvor, gab es die Stadt.“ 1 Die „pliure de l’histoire“ bezeichnet das Biegen der Zeit, den Moment, in dem Geschichte sich selbst überfaltet. Diese Faltung strukturiert die gesamte Erzählung: Berlin erscheint als Schichtung von Vergangenheiten, über die sich das Ereignis der Maueröffnung legt, ohne das Alte zu tilgen. Die Poetik des Romans gründet in dieser Überlagerung von Zeiten und Stimmen.
Die ersten Seiten lassen bereits erkennen, dass de Mazières’ Erzählweise eine Form historischer Poesie ist. Sie zeigt die Geschichte nicht als linearen Ablauf, sondern als ein Netz von Wahrnehmungen. Wenn Cassiel, der Engel aus Wim Wenders’ Der Himmel über Berlin (Les Ailes du désir), gleich zu Beginn in die Handlung eintritt, wird die Stadt aus einer übermenschlichen Perspektive betrachtet. Cassiel ist Beobachter, Zeuge und Vermittler – eine immaterielle Instanz, die den Übergang vom Symbolischen ins Reale, von der Fiktion in die Geschichte trägt. Er beschreibt den Moment, in dem Günther Schabowski zufällig den Satz ausspricht: „ab sofort… unverzüglich“. In der nüchternen Szene der Pressekonferenz erkennt Cassiel das Missverständnis, das Geschichte macht.
Diese poetische Inszenierung einer administrativen Panne steht am Ursprung des Erzähluniversums. Die „douceur que les hommes cachent au fond de leur cœur“ tritt hervor, während Holger und Karin, ein ostdeutsches Paar, zögernd ihre Wohnung verlassen. Die Erzählung gleitet in eine sanfte, fast märchenhafte Stimmung: „Wie Kinder, die Angst haben, etwas Dummes zu tun, reichen sie sich die Hände.“ 2 Der Pathos des historischen Moments wird gebrochen durch die Intimität kleiner Gesten. Der Roman arbeitet konsequent mit diesem Kontrast: das Große, Weltgeschichtliche erscheint durch die Brille des Alltäglichen, das Epische durch das Fragile.
Die Stille hat mich geweckt
Mit dem Auftreten von Micha wird die Geschichte subjektiviert. Sein Kapitel beginnt mit einem Satz, der den Ton des gesamten Romans bestimmt: „Die Stille hat mich geweckt.“ 3 Dieser Satz ist doppeldeutig – er bezeichnet das Aufwachen in einem historischen und in einem inneren Sinn. Der lange Monolog, der folgt, ist geprägt von Wahrnehmungsfeinheit und Beklemmung.
Le silence m’a éveillé. Ou plutôt la transformation du silence. Les longs mois d’enfermement m’ont appris à distinguer toutes sortes de silences. Tantôt vibration muette dans une chambre sans échos, tantôt scintillement d’étoiles mortes dans le puits sans fond du ciel. Ce matin, il ressemble à la lumière noire des abysses de l’océan.
Le seul moment où je me sens libre est quand je rêve. Mais, à l’instant, je rêvais que je ne parvenais pas à parler, les mots tombaient morts de ma bouche. À demi enfoui dans des lambeaux de rêves qui s’enfuient, j’écoute le silence. Un picotement sous la peau, une sensation que je n’ai plus éprouvée depuis longtemps : être vivant. À tâtons, je saisis le carnet à côté du matelas posé à même le sol et commence à griffonner quelques phrases de la nuit. Premiers bruits. Le charme est rompu.
Die Stille hat mich geweckt. Oder besser gesagt, die Verwandlung der Stille. Die langen Monate der Isolation haben mich gelehrt, alle Arten von Stille zu unterscheiden. Mal ist es ein stummes Vibrieren in einem Raum ohne Echo, mal das Funkeln toter Sterne im bodenlosen Brunnen des Himmels. Heute Morgen gleicht sie dem schwarzen Licht der Tiefsee.
Der einzige Moment, in dem ich mich frei fühle, ist, wenn ich träume. Aber gerade habe ich geträumt, dass ich nicht sprechen könne, dass die Worte tot aus meinem Mund fielen. Halb versunken in Trümmern flüchtiger Träume, lausche ich der Stille. Ein Kribbeln unter der Haut, ein Gefühl, das ich schon lange nicht mehr gespürt habe: lebendig zu sein. Tastend greife ich nach dem Notizbuch neben der Matratze, die direkt auf dem Boden liegt, und beginne, ein paar Sätze aus der Nacht zu kritzeln. Erste Geräusche. Der Zauber ist gebrochen.
Micha, Sohn eines Parteifunktionärs, lebt in einer von der Stasi überwachten Wohnung; das „vrombir“ der Rohre ersetzt das Flüstern menschlicher Stimmen. Das Motiv des Lauschen-Müssens, der feindlichen Kommunikation, zieht sich durch das Buch. „Man muss das Radio einschalten, um zu telefonieren, ohne gehört zu werden“ 4 – dieser Satz formuliert eine Poetik der Umkehr: In der DDR wird das Sprechen zum Verbergen, das Schweigen zur eigentlichen Mitteilung.
In dieser Welt aus überwachten Geräuschen entfaltet sich die Begegnung mit Anna. Ihre gemeinsame Geschichte – eine Nacht auf der Alexanderplatz – wird rückblickend erzählt, wie ein Traum, den man kaum glauben kann. Die Szene ist von lyrischer Intensität: zwei Fremde, ein Deutscher und eine Französin, rezitieren abwechselnd Rilke und Puschkin, Rimbaud und Verlaine, in einer Stadt, die die Sprachen trennt. Anna rezitiert aus Bateau ivre, Micha, der die französische Sprache nicht versteht, beschreibt seine emotionale Reaktion: „Eine zarte und subtile Musik streichelt mein Ohr. Ich verstehe kein Wort Französisch und doch ergreift mich die Emotion angesichts dieses unbekannten Mädchens, das in ihrer Sprache ein Gedicht rezitiert.“ So antwortet er mit russischen Versen. Der Roman gestaltet hier die Poesie als Gegenwelt zur Ideologie. „Die Nacht, die Poesie, das Anderswo haben für einen Moment die Tür einen Spalt breit geöffnet, die sie verbarrikadiert hält.“ 5 Der poetische Augenblick wird zum Moment der Freiheit, zum Durchbruch durch den Beton der Geschichte.
Die Poesie ist im Roman Trois jours à Berlin nicht bloß Thema, sondern Strukturprinzip: Sie bildet die Sprache, durch die Geschichte erfahrbar wird. In einer Welt, die von Ideologie, Misstrauen und administrativer Sprache beherrscht ist, eröffnet die poetische Rede einen Raum der Freiheit. Wenn Anna und Micha für einander Gedichte rezitieren, verwandelt sich das erstarrte Berlin in einen flüchtigen Ort der Lebendigkeit. Poesie ist das, was Mauern durchlässig macht. Sie überbrückt, was Politik und Geschichte trennen, und ermöglicht eine Form der Kommunikation, die nicht überwacht werden kann.
Zugleich ist die Poesie ein Gegenmittel zur toten Sprache der Macht. Der Roman stellt lyrische, bildhafte Passagen den kalten Protokollen der Stasi gegenüber, wodurch Sprache selbst zum Schauplatz der Teilung wird. Die lyrischen Fragmente – Cassiels Beobachtungen, Annas innere Stimmen, Michas Notizheft – sind die Reste eines Menschlichen, das im bürokratischen Sprechen keinen Ort hat. Wo der Bericht zählt, antwortet der Vers; wo Kontrolle herrscht, entsteht Metapher. So wird die Poesie zur subversiven Kraft: Sie verwandelt die Geschichte des Zusammenbruchs in eine Erzählung des Erwachens, sie schreibt gegen das Verstummen an.
Schließlich erscheint die Poesie als Form der Versöhnung. Die zitierten Verse von Hölderlin und Rilke rahmen den Roman:
Geschieht doch alles aus Lust, und endet doch alles mit Frieden. Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit, und alles Getrennte findet sich wieder.
„Toute chose en fin de compte advient par désir, et toute chose s’achève dans la paix“, so, heißt es bei Hölderlin – dieser Gedanke zieht sich leitmotivisch durch das Buch. Die Poesie verleiht der politischen Geschichte eine anthropologische Dimension: Sie erinnert daran, dass das Trennende selbst schon den Wunsch nach Verbindung enthält. Am Ende ist sie die Sprache der Engel, aber auch der Menschen, die endlich wieder sprechen, jenseits von Grenzen und Systemen – die einzige Sprache, die den Fall der Mauer wirklich versteht.
Hyperion schildert in seinem Brief an Bellarmin seine innere Zerrissenheit: Er möchte Deutschland verlassen, weil er von Menschen verletzt und enttäuscht wurde, doch die Schönheit des Frühlings hält ihn zurück. Die Natur wird für ihn zum Trostspender und zur einzigen Quelle von Freude und Liebe, die sein Herz noch erfüllen kann. In den blühenden Bäumen, den klaren Bächen, den Bergen und Tälern erlebt er eine Nähe zu einer höheren, göttlichen Ordnung, die ihn den menschlichen Schmerz vergessen lässt. Er beschreibt die tiefe Versöhnung, die in der Natur und im Aushalten des Kummers liegt: Das Leben offenbare sich in voller Schönheit erst durch Leid, ähnlich wie Nachtigallengesang erst in der Dunkelheit erklingt. Hyperion erlebt ekstatische Momente der Einheit mit der Welt, fühlt sich von den Elementen, Licht, Luft, Wasser und Tieren umfangen, und sehnt sich nach der Unschuld und Reinheit eines Kindes, um dieser Harmonie noch näher zu kommen. Selbst angesichts der Abwesenheit seiner Geliebten Diotima empfindet er die Verbindung zur Natur als lebendige Liebesgemeinschaft, die Tod und menschliches Leid überdauert. Die Passage gipfelt in einer Art mystischer Einsicht: Alles Getrennte findet wieder zueinander, der Zwist der Welt ähnelt dem der Liebenden, und in dieser Versöhnung und dem Einklang mit der Natur offenbart sich ein ewiges, glühendes Leben, das alle menschlichen Sorgen übersteigt. Hyperion erkennt, dass wahre Seligkeit aus der Einheit mit der Natur und aus dem Aushalten von Schmerz entsteht, und dass diese Erfahrung alles menschliche Streben und Wissen übertrifft.
De Mazières’ Roman beruht auf einer Poetik der Durchlässigkeit. Zwischen Ost und West, Leben und Sprache, Gegenwart und Erinnerung entstehen Poren, durch die das Andere hindurchtritt. Das gilt auch für Anna, die aus Paris nach Berlin reist: Ihr Blick ist zugleich neugierig und befangen, geprägt von jener französischen Mischung aus Faszination und Unbehagen gegenüber Deutschland. Ihre Ankunft in Tegel beschreibt sie in einer Ordnung des Inselhaften. Der metaphorische Gegensatz zwischen Insel und Land, Wasser und Erde, bildet ein Leitmotiv. Berlin erscheint als Insel der Geschichte, umgeben vom „Niemandsland“, von der weißen Zone, in der sich die Grenze materialisiert.
Anna, die als Lektorin in Berlin Autoren sucht, sieht in der Stadt ein Archiv der europäischen Zerrissenheit. Sie erkennt, dass der Blick des Westens auf das andere Deutschland von Projektionen überlagert ist: „Ein Hauch von Schwefel, eine geheimnisvolle Aura, eine Prise Tragik – Berlin ist auf dem Markt der Fantasie ein Renner.“ 6 Der Satz entlarvt den westlichen Diskurs über Berlin als eine Form des ästhetischen Exotismus. Anna möchte diesen Schleier durchdringen – aber ihre Suche nach dem „réel“ führt sie in eine Welt der Schatten.
Das Wiedersehen mit Micha vollzieht sich in einer Atmosphäre der Kontrolle. Das Restaurant „La Habana“ verweigert ihnen, gemeinsam zu essen: eine groteske Metonymie der Trennung, ein Miniaturbild der politischen Ordnung. Kommunikation wird institutionell unterbrochen, Dialog verunmöglicht. Der Spaziergang zum Dorotheenstädtischen Friedhof, den Micha vorschlägt, verwandelt die Szene in eine Initiation: Der Ort der Toten wird zum Ort des wahren Gesprächs. Hier kulminiert das Motiv des Friedhofs, das in der deutschen Kultur häufig mit Erinnerung und Erlösung verbunden ist. Micha führt Anna an die Gräber von Brecht, Hegel, Seghers, Heinrich Mann – eine Abfolge der Kultur, die zugleich ein Friedhof des Denkens ist. Die poetische Sprache des Romans erzeugt hier eine melancholische Klarheit: der Geist der Aufklärung ruht unter den Steinen des Sozialismus. Als Anna den Namen eines vierzehnjährigen Widerstandskämpfers liest, Heinz Thilo, verknüpft sich die politische mit der moralischen Geschichte: das Land, das sich einst mit der Ideologie der Reinheit schmückte, wird hier als Topographie des Opfers erinnert.
Doch kaum ist diese zarte Nähe entstanden, dringt der Blick der Stasi ein. Das nächste Kapitel trägt den Titel „IM Fink“ und zeigt, dass das Gespräch zwischen Anna und Micha sofort protokolliert wurde. Die Form des Berichts, in dem der Inoffizielle Mitarbeiter die Begegnung notiert, bringt eine zweite, entgegengesetzte Poetik ins Spiel: die kalte Syntax der Bürokratie. „Anna D. äußert sich in langatmigen, unklaren Ausführungen typischer bürgerlich-intellektueller Prägung.“ 7 Die Ironie dieser Formulierung zerstört den poetischen Sinn des Vorangegangenen. Der Wechsel der Schreibformen – lyrische Innenrede, amtlicher Bericht, ironischer Kommentar – ist das zentrale ästhetische Verfahren des Romans. De Mazières erzeugt Bedeutung nicht durch einheitliche Stimme, sondern durch Reibung.
Der französische Blick auf Deutschland wird durch Anna verkörpert, aber vermittelt sich auch über die narrative Struktur selbst. Die französische Sprache, in der der Roman geschrieben ist, trifft ständig auf deutsche Zitate, Ortsnamen, auf die Syntax des Fremden. Diese Interferenz ist poetisch produktiv: sie lässt die deutsche Wirklichkeit als sprachlich Unverfügbares erscheinen. Anna sagt im Stasi-Protokoll: „Als ich vor vier Jahren hierherkam, in dieses ummauerte Zentrum Berlins, hatte ich das Gefühl, meinen fehlenden Teil wiederzufinden.“ 8 Die „part manquante“ ist sowohl der fehlende Osten Europas als auch der eigene unbewusste Anteil – Deutschland als Schatten des französischen Selbstbilds.
Die Stasi-Sprache kommentiert diese Offenbarung mit spöttischer Kälte: „Eine für Kapitalisten eher ungewöhnliche Neugier, von altmodischer Romantik …“ 9 Hier entlarvt der Roman den hermetischen Diskurs beider Seiten: die östliche Ideologie kann den emotionalen, ästhetischen Zugang Annas nicht verstehen, während der Westen geneigt ist, das Unverständliche zu romantisieren. Zwischen beiden Lagern eröffnet sich ein dritter Raum, der Raum der Literatur.
Dieser Raum ist vielstimmig. De Mazières lässt zahlreiche Nebenfiguren sprechen: Lorenz, Sohn einer Geflüchteten aus der RDA, erzählt von seiner Kindheit in Berlin-West; Josiah Brown, ein afroamerikanischer Musiker, schildert seine touristische Begegnung mit der Ost-Wirklichkeit; selbst der Stasi-Offizier Becker erhält später eine Stimme. Diese polyphone Konstruktion verweigert jedem Monopol auf Wahrheit. Der Roman bildet so eine kommunikative Topographie, in der jedes Ich zugleich Beobachter und Objekt der Beobachtung ist.
Lorenz’ Rückblick auf seine Schulzeit in West-Berlin illustriert den Gegensatz beider Systeme nicht als politische, sondern als Differenz von Geisteshaltungen. Der Westen erscheint als Raum der Bewegung, der Spontaneität, der Diskussion; der Osten als Welt der Disziplin. Doch der Text unterläuft diese Polarität, indem er die sentimentale Naivität Annas und die intellektuelle Selbstgewissheit des Westens mit feiner Ironie zeigt. Lorenz’ Mutter sagt über den Vater, den Stasi-Schriftsteller Karl Welt: „Er muss immer noch über den realen Sozialismus diskutieren und davon träumen, Vorsitzender des Schriftstellerverbandes der DDR zu werden.“ 10 Der Name „Welt“ ist hier emblematisch: er steht für das System, das die Welt einschließen wollte, und sie dadurch verlor.
Der Roman ist von wiederkehrenden Kommunikationsstörungen durchzogen. Telefonate, Briefe, abgehörte Gespräche, verhinderte Begegnungen bilden die Struktur einer zersplitterten Sprache. Die Figuren sind durch Kanäle verbunden, die zugleich trennen. Selbst Annas Brief, der Micha erreicht, ist verdächtig: „Warum haben sie ihn durchgelassen?“ 11 fragt er. Kommunikation wird zum Abenteuer, Wahrheit zum Zufall. Diese thematische Linie verbindet die politischen Grenzen mit den existentiellen: der Mensch spricht, aber niemand hört richtig zu.
Formal spiegelt der Text diese Fragilität in einer poetischen Syntax, die zwischen lyrischer Dichte und dokumentarischem Ton wechselt. Die Einschübe der amtlichen Berichte, die Wiederholungen von Daten, Uhrzeiten, Kürzeln (HM, KJ, 005-36-48D) wirken wie Fremdkörper in der organischen Prosa. Doch gerade durch diese Fremdheit entsteht Sinn: der poetische Text verschluckt den administrativen und verwandelt ihn in Literatur. De Mazières lässt die Sprache der Macht gegen sich selbst arbeiten.
Berlin wird dabei zum eigentlichen Subjekt des Romans. Im Prolog heißt es: „Eine riesige Ebene, ein Migrationskorridor, Schauplatz unzähliger Schlachten … und auf den Ruinen, im Herzen der Menschen, Mauern errichtet.“ 12 Die Stadt ist ein Organismus aus Wunden und Schichten. Anna erlebt sie als Spiegel der europäischen Geschichte, Micha als Gefängnis, Cassiel als Sphäre des Überirdischen. Diese drei Blickachsen – menschlich, politisch, engelhaft – bilden die poetische Dreieinigkeit des Textes.
Immer wieder taucht das Motiv des Sehens auf: Fenster, Spiegel, Mauern, Bildschirme. Die Geschichte beginnt mit einer Fernsehszene und endet mit einer Bilderflut. Die Figuren sind Gefangene der Sichtbarkeit. Als Anna im Kino Der Himmel über Berlin = Les Ailes du désir sieht, bevor sie in die Nacht hinausgeht, verwischt sich die Grenze zwischen Film und Realität: „Während die ersten Bürger aus dem Osten bereits den Checkpoint passiert haben, läuft Anna durch die Nacht mit dem Gefühl, dass der Film weitergeht.“ 13 Dieser Satz beschreibt das poetische Verfahren des Romans selbst: er lässt Geschichte als Fortsetzung des Films erscheinen, als Übergang vom Bild zum Leben. Das Verhältnis von Literatur und Realität wird hier neu definiert. Der Roman beansprucht nicht, den Fall der Mauer zu erzählen, sondern den Moment, in dem Menschen glauben, dass das, was sie sehen, ein Film sein könnte. Geschichte ist nicht das, was geschieht, sondern das, was man für möglich hält.
In der Figurenkonstellation spiegelt sich die Dialektik von Nähe und Distanz. Anna und Micha sind ein Paar, das sich nie wirklich findet; Lorenz ist der Vermittler, der Sohn des Ostens im Westen; Cassiel, der Engel, ist allgegenwärtiger Beobachter, aber ohne Körper; der Stasi-Offizier Becker ist der Schatten dieser Transzendenz. Jeder von ihnen verkörpert eine Form des Sehens, eine Ethik der Wahrnehmung. Cassiel fliegt über die Stadt, Becker sieht durch die Linse der Macht, Anna sucht mit dem Blick der Liebe.
Ein wiederkehrendes Leitmotiv ist das der Handschrift, des Manuskripts, der „pages arrachées d’un cahier“. Micha schreibt Notizen, Anna findet sie, liest sie, verliert sie wieder. Schrift ist hier Spur und Verrat zugleich. Sie ersetzt die Stimme, aber sie überlebt sie auch. Die abgerissenen Seiten sind das Gegenteil des Archivs der Stasi: kein totaler Speicher, sondern eine zufällige Sammlung von Fragmenten.
Die poetische Struktur des Romans folgt einem musikalischen Prinzip: Motive kehren wieder, leicht variiert, in anderer Tonart. Wörter wie „silence“, „île“, „mur“, „ange“, „voix“ bilden ein inneres Vokabular, das die Szenen verbindet. Diese Wiederkehr gibt der Erzählung den Charakter einer elegischen Partitur. Der Roman ist weniger episch als symphonisch.
Die Beziehung zwischen Anna und Micha bleibt das emotionale Zentrum. Sie beruht auf der paradoxen Erfahrung von Fremdheit und Wiedererkennen. Als sie sich nach vier Jahren erneut gegenüberstehen, herrscht das Unausgesprochene. Die poetische Energie liegt in der Spannung zwischen den Blicken. Beide sind Figuren der Sehnsucht, deren Begegnung vom Zufall abhängt. „Ich frage mich, welchem Mann ich gerade folge“ 14, denkt Anna. Die Frage enthält schon die Antwort: Der andere ist nicht ein Ziel, sondern ein Spiegel.
Meinen fehlenden Teil wiederfinden
Das Ende des Romans verdichtet alle Fäden zu einer polyphonen Bewegung der Befreiung. Während Cassiel noch einmal über Berlin fliegt, beginnen die Menschen, die Mauer zu überqueren. Die poetische Sprache wechselt in einen Zustand der Schwebe, als wäre die Realität selbst ein Traum. Das Ereignis wird nicht heroisch, sondern zärtlich erzählt: „All diese Sanftheit, die Menschen tief in ihrem Herzen verbergen.“ 15 Diese „douceur“ ist das letzte Wort der Geschichte – sie ersetzt den Triumph durch Mitgefühl.
Micha, der innerlich Zerrissene, bewegt sich in Richtung Westen, nicht aus politischer Überzeugung, sondern aus einer existentiellen Müdigkeit. Anna, die ihn sucht, verkörpert das Bedürfnis, die getrennten Teile Europas zu verbinden. Der Roman lässt offen, ob sie sich am Ende finden. Die Auflösung ist bewusst ambivalent. Cassiel kommentiert nur, dass die Stadt „respire“, dass etwas Unerhörtes geschieht. Diese Offenheit ist nicht Schwäche, sondern das poetische Programm. Das Ende verzichtet auf die Illusion der Einheit. Es zeigt die Wiedervereinigung als Prozess des Erwachens, nicht als Abschluss. Der Engel, der über die Mauer blickt, erkennt die Menschlichkeit derer, die unten stehen. „Ich bin kurz durch das Fenster bei den Brandts eingestiegen …“ 16 – der Blick durch das Fenster, der Beginn des Romans, kehrt zurück. Anfang und Ende verschränken sich, wie die Faltung der Geschichte im Prolog angekündigt hatte.
Die Bedeutung des Buches liegt in dieser zyklischen Struktur. Trois jours à Berlin ist kein realistischer Roman, sondern ein Werk über die Wahrnehmung von Geschichte. Die Poetik erzeugt eine Zwischenwelt zwischen Dokument und Vision. Indem de Mazières die Sprache der Macht, der Erinnerung und der Poesie ineinander überführt, schafft sie eine literarische Form der Versöhnung.
Das Verhältnis Frankreich–Deutschland wird nicht auf politischer Ebene verhandelt, sondern als Beziehung zweier Wahrnehmungsweisen. Anna bringt den westlichen Rationalismus, Micha den östlichen Fatalismus; ihre Begegnung schafft einen dritten Ort, den der Empathie. Wenn Anna im Stasi-Protokoll sagt, sie wolle „meinen fehlenden Teil wiederfinden“ 17, benennt sie den Kern des europäischen Projekts: die Anerkennung des anderen als Teil des eigenen.
Die Stadt Berlin steht als poetischer Körper für diese Idee ein. Ihre Landschaft aus Seen, Sand und Ruinen – „Moränenboden, dessen Sandgruben mehr Blei, Stahl und gebleichte Knochen bergen“ 18 – ist das Material der Erinnerung. Jeder Stein spricht, jede Straße erinnert. Die Stadt ist das Gedächtnis Europas, in dem Hölderlin und Rilke, Honecker und Brecht, Engel und Menschen koexistieren.
Am Ende bleibt Cassiel, der über die Menschen schwebt, als Symbol der poetischen Instanz. Er steht für das, was zwischen den Stimmen bleibt – die unsichtbare Verbindung. Die Literatur selbst ist dieser Engel: sie beobachtet, sie trauert, sie begleitet.
Das Romanende, in dem die Grenze sich öffnet, ist zugleich ein Beginn. Die „versöhnte“ Welt bleibt brüchig, aber die Sprache hat eine neue Möglichkeit gewonnen. „Réconciliation habite la dispute, et tout ce qui a été séparé se rassemble.“ – „Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit, und alles Getrennte findet sich wieder.“ Dieses Zitat aus Hölderlin, das de Mazières ihrem Buch voranstellt, findet hier seine erzählerische Erfüllung. Die Dissonanzen der Welt, sagt Hölderlin, sind wie die Querelen der Liebenden. Der Roman verwandelt die politische Katastrophe in eine Liebesgeschichte der Kulturen – eine Geschichte, die in der Poesie ihren Ort findet.
Trois jours à Berlin ist ein poetischer Roman über die Macht der sanften Geste im Angesicht der Geschichte. De Mazières zeigt, dass der Fall der Mauer nicht nur ein politisches, sondern ein ästhetisches Ereignis war – die Wiederkehr des Empfindens in einer versteinerten Welt. Berlin, Stadt der Mauern, wird zum Ort der Transparenz; der Engel zum Bild der Literatur; und der Roman selbst zur sanften Revolution des Blicks.
Anmerkungen- „Avant l’événement, avant le colossal acte manqué où tout a basculé, la pliure de l’histoire dans laquelle un monde a disparu, bien avant, il y a la ville.“>>>
- „Comme des enfants ayant peur de commettre une bêtise, ils se donnent la main.“>>>
- „Le silence m’a éveillé.“>>>
- „Il faut allumer la radio pour téléphoner sans être entendu.“>>>
- „La nuit, la poésie, l’ailleurs ont entrouvert un instant la porte qu’elle tient barricadée.“>>>
- „Un parfum de soufre, une aura de mystère, une once de tragédie, Berlin fait recette sur le marché de l’imaginaire.“>>>
- „Anna D. se lance dans de longues considérations fumeuses d’intellectuelle bourgeoise.“>>>
- „Quand je suis venue ici, il y a quatre ans, dans ce centre de Berlin emmuré, j’ai eu le sentiment de retrouver ma part manquante.“>>>
- „Curiosité assez inhabituelle chez les sujets capitalistes, d’un romantisme désuet…“>>>
- „Il doit toujours être en train de discuter du socialisme réel en rêvant de devenir président de l’association des écrivains de RDA.“>>>
- „Pourquoi l’ont-ils laissée passer ?“>>>
- „Plaine immense, couloir de migrations, champ d’innombrables batailles… et sur les ruines, au cœur des hommes, construit des murs.“>>>
- „… tandis que les premiers citoyens de l’Est ont déjà franchi le checkpoint, Anna marche dans la nuit avec le sentiment que le film se poursuit.“>>>
- „Je me demande quel homme je suis en train de suivre“>>>
- „Toute cette douceur que les hommes cachent au fond de leur cœur.“>>>
- „Je suis entré un instant par la fenêtre chez les Brandt…“>>>
- „retrouver ma part manquante“>>>
- „terre de moraines, dont les sablières recèlent plus de plomb, d’acier et d’ossements blanchis“>>>