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Années noires
Pierre Drieu la Rochelle ist eine zutiefst widersprüchliche Figur der Literaturgeschichte, dessen Werk oft ideologisch blockiert rezipiert wurde. Er war ein produktiver Autor von Theaterstücken, Novellen, Gedichten, Romanen, Essays und journalistischen Beiträgen. Biografisch ist festzuhalten, dass Drieu einerseits ab den 1930er Jahren zu einem einflussreichen Fürsprecher des französischen Faschismus sowie einem Protagonisten der intellektuellen Kollaboration wurde. Andererseits heiratete er in erster Ehe eine jüdische Frau, liebäugelte nie aufhörend mit dem Kommunismus und nutzte seine Verbindungen zur Deutschen Botschaft, um nahestehende Freunde wie Jean Paulhan vor Verfolgung zu schützen. Seine ästhetische Qualität ist unumstritten, wobei die Beurteilung seines Schaffens stets eng mit seiner politischen und moralischen Kompromittierung verbunden ist. In Drieus Werk zeigt sich eine tiefe Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit, die von alternierendem Selbst- und Fremdhass sowie Kriegsphantasien geprägt ist.
Andreas Geislers wissenschaftliches Vorhaben, festgehalten in der Monographie L’écrivain à cheval: das Erzählwerk Pierre Drieu la Rochelles zwischen Moderne, Antimoderne und Postmoderne (Brill Fink, 2024), zielt auf eine umfassende Neulektüre von Pierre Drieu la Rochelles Prosa. Das Kernanliegen der Arbeit ist es, das Werk und den Menschen Drieu la Rochelle in ein sorgfältig abgewogenes Verhältnis zu bringen und so diejenigen Schichten sichtbar zu machen, die bisher hinter der Dominanz der biografischen und politischen Verortung des Autors verborgen blieben. Geislers Arbeit wurde an der Universität Bonn angefertigt. Der Anstoß für die Arbeit entstand in einem Seminar an der Universität Heidelberg, wo Catherine Péant Geislers Interesse für die widersprüchliche Literaturproduktion der années noires weckte. Paul Geyer, der Betreuer der Arbeit in Bonn, stellte auch den Kontakt zu Jean-François Louette an der Sorbonne her.
Geisler entwickelt eine literaturgeschichtliche Entwicklungslinie, die Drieus Prosa nicht nur in ihren historischen Wurzeln (wie Barrès oder den dandysme) verankert, sondern vor allem deren Repräsentativität für die entre-deux-guerres-Zeit herausarbeitet und diese bis in die Gegenwart verlängert. Das Buch geht davon aus, dass Drieus literarisches Schaffen eine beunruhigende Aktualität besitzt und Erkenntnisse für das bessere Verständnis unserer eigenen Zeit liefern kann. Als Schlüsselkonzept für diese Analyse dient die Indifferenz, die als neu facettierter Begriff herangezogen wird, um eine Entwicklung in der Literatur vom Beginn bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fassbar zu machen. Diese Entwicklung kulminiert in drei analysierten Stufen in seinem narrativen Korpus: Erosion („La Valise vide“), Emulsion (L’Homme à cheval) und Explosion (Les Chiens de paille). Daraus ergeben sich die zentralen Leitfragen: Inwiefern besitzt Drieus Schaffen trotz seiner antimodernen Reflexe eine beunruhigende Aktualität und liefert Erkenntnisse für das Verständnis unserer eigenen Gegenwart? Und wie bildet die aufgezeigte Postmodernisierung im Werk die Kapitulation des Subjekts vor der nicht mehr beherrschbaren Komplexität der modernen Welt ab?
Entstehung der Indifferenz
Die zentrale Fragestellung kreist um die Aufhebung des dialektischen Denkens und die Entstehung der Indifferenz. Geisler nutzt hierfür primär die Theorien von Peter Bürger und Peter Zima und setzt diese erstmals in einen Dialog. Der Begriff „dunkler Surrealismus“ stammt von Peter Bürger, der ihn in seiner Analyse des Ursprungs des postmodernen Denkens verwendet. Dieser „dunkle Surrealismus“ bildet sich unter dem Eindruck der „dunklen Seite“ einer geistigen Strömung heraus, die um den Begriff des Todes kreist. Bürgers Konzept wurzelt in der Krise der Herr-Knecht-Dialektik, ausgelöst durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Die traumatische Kriegserfahrung führte demnach zur Sinnlosigkeit des vermittelnden Daseins voller Arbeit, was bei einigen Menschen einen Rückfall in die Unmittelbarkeit und eine unmittelbare Konfrontation mit dem Tod zur Folge hatte. Peter Bürger erachtet das literarische Werk Drieu la Rochelles explizit als ein Produkt dieses „dunklen Surrealismus“. Bürger, der selbst Marxist ist, räumt Drieus Texten eine Sonderstellung ein und nimmt dessen intellektuellen Anspruch ernst. Drieus Werk lässt sich demnach als ein Produkt jener intellektuellen Strömung lesen, die nach dem Ersten Weltkrieg die Aufhebung des dialektischen Denkens und die Entstehung der Indifferenz thematisiert. Das Scheitern dialektischer Vermittlung, das Drieu in seinem Werk inszeniert – etwa in der „sournoise indifférence“ des Erzählers in L’Homme à cheval oder der nihilistischen Explosion in Les Chiens de paille – steht somit in Verbindung mit dem Todesdenken, welches Bürger als Kern des dunklen Surrealismus identifiziert. Drieus Werk wird dadurch als ein Zeugnis der existentiellen Verzweiflung positioniert.
Ziel von Geislers Einleitung ist es, ein theoretisches Instrumentarium bereitzustellen, um Drieus Werke in einer aufsteigenden, wenn auch nicht völlig geradlinigen Entwicklung hin zur Dominanz undialektischer, indifferenter Textmerkmale zu verorten. Dabei wird auch Friedrich Nietzsche als wichtiger Vordenker für die methodische Unterwanderung dialektischer Prozesse und die Auflösung von Gegensätzen identifiziert. Die Arbeit strebt an, die Prosa Drieus nicht primär rückwärtsgewandt an Traditionen (wie Barrès) zu binden, sondern ihre mögliche Verlängerung bis in die Gegenwart aufzuzeigen.
Die Schlussfolgerung bescheinigt Drieus Werk, ein „exemplarisches Werk einer neuen Sattelzeit“ zu sein. Der Autor habe mit einem Bein in der klassischen Moderne gestanden, mit dem anderen bereits in die Postmoderne hineingeragt, wo die Probleme der Moderne nur noch ironisch verhandelt werden. Solche Schlüsse zeigen auf, dass Drieus Protagonisten aus der Überforderung mit den modernen Verhältnissen Indifferenz als Lösungsansatz wählen, welche jedoch selbst zum Problem wird, da sie nicht nur das Bedrohliche, sondern auch das Rettende abwertet. Im finalen Roman Les Chiens de paille wird die Verzweiflung Constants zur vollständigen, wenn auch unbeabsichtigten Zerstörung geführt.
Der Vergleich zeigt, dass die Einleitung die theoretischen Fundamente legt und den methodologischen Mut beweist, Drieu trotz seiner historischen Belastung für die Analyse heranzuziehen, um dessen Aktualität zu beleuchten. Der Schlussteil bestätigt die anfängliche These der „sournoise indifférence“ als Kernproblem und führt die dargelegte Entwicklung stringent zum nihilistischen Kulminationspunkt.
Erosion: „La Valise vide“
Die Analyse in Kapitel 2 konzentriert sich auf die Novelle „La Valise vide“ aus dem Jahr 1924, welche das früheste Stück des Korpus darstellt und dem sogenannten Rigaut-Zyklus zugeordnet wird. Diese Novelle wird als Scharnierwerk interpretiert, das Drieu im Spannungsfeld zwischen der Moderne, der Antimoderne und der Postmoderne verortet. Thematisch steht die Erosion der Substantialität zwischenmenschlicher Beziehungen sowie die Stabilität des Subjekts im Fokus. Der Protagonist, Gonzague, verkörpert dabei eine ausgeprägte charakterliche Leere. Geisler versteht den Text als ein „Hauptstück moderner Moralistik“, das die frühe Zerrissenheit Drieus zwischen der Anziehung der künstlerischen Avantgarde und seinem antimodernen Reflex, welcher das Neue als Verfall wertet, abbildet. Der Erzähler, der oft als kaum verschleiertes Alter Ego Drieus gelesen wird, projiziert seine eigenen Unsicherheiten auf Gonzague, wodurch die „Valise vide“ zu einem Vexierbild wird, in dem sich Fremd- und Selbstportrait überlagern. Die auftretende Indifferenz wird in diesem Frühwerk noch als strategische Pose (désinvolture) interpretiert, mit der Gonzague versucht, seine Verletzlichkeit zu kaschieren. Die Novelle wird ferner als Vorspiel zu Lipovetskys „Ära der Leere“ (L’Ère du vide) aufgefasst.
Emulsion: L’Homme à cheval
Kapitel 3 untersucht den exotischen Historienroman L’Homme à cheval aus dem Jahr 1943. Die Handlung ist bewusst im politisch turbulenten Südamerika des späten 19. Jahrhunderts angesiedelt, einem gewählten Chronotopos der Heroenzeit (Hegel). Der Roman inszeniert eine postromantische Suche nach der verloren gegangenen Einheit in einer Welt, die Drieu als in Scherben liegend wahrnimmt. Die titelgebende Metapher Emulsion verweist auf ein instabiles Gemisch konkurrierender Kräfte. Die zentrale These besagt, dass der Roman als „Antithesen-Roman“ die angestrebte dialektische Vermittlung zwischen zentralen Gegensatzpaaren, wie der vita activa und der vita contemplativa (verkörpert durch Jaime Torrijos und Felipe), scheitern lässt. Jaime, der chef, wird als zerrissene Figur dargestellt, dessen anfängliche Verklärung als homme à cheval in der Einsicht endet: „L’homme à cheval était à pied“. Der Erzähler Felipe dient als spiritus rector hinter Jaime, wobei er keinen Idealismus, sondern „Frivolité“ als eigentlichen Antrieb für seine politischen und amourösen Machenschaften zugibt. Felipe betreibt die Synthese nicht aus Überzeugung, sondern aus Eitelkeit und Geltungsdrang, um eigene Unzulänglichkeiten (wie unerfülltes sexuelles Verlangen) zu kompensieren. Der Roman demonstriert, dass die Einheit lediglich als Idee vollkommen existiert und jede Bindung zeitlich und zweckmäßig ausgerichtet ist. Das Kapitel entlarvt Felipes scheinheilige Sinnsuche als eine „sournoise indifférence“, die geschickt unter dem Deckmantel von Mystik und überbordender Bildlichkeit verborgen wird.
Explosion: Les Chiens de paille
Das letzte abgeschlossene Romanprojekt Drieus, Les Chiens de paille (1944), wird in Kapitel 4 untersucht. Die Handlung ist im besetzten Frankreich angesiedelt, hauptsächlich in einer Sumpflandschaft nahe der normannischen Küste. Der Roman markiert den Endpunkt des Zerfallsprozesses, symbolisiert durch die Metapher der Explosion, wobei die Möglichkeit einer gelingenden Synthese nicht einmal mehr erwogen wird. Die Hauptfigur, Constant Trubert, verkörpert die gescheiterte Verbindung von vita activa und vita contemplativa in einer Person, der seine Lebenserfahrung um den Preis körperlicher Versehrtheit (Zähne) und einer totalen Reizübersättigung erkauft hat. Constants nihilistische Perspektive nivelliert die politischen Ideologien (Gaullismus, Kommunismus, Faschismus). Alle Fraktionen werden als austauschbar und in ihrer Abhängigkeit von ausländischen Mächten als „negativ“ und „steril“ entlarvt. Constant Trubert wird als Vollstrecker eines „faschistischen Surrealismus“ interpretiert. Er stilisiert sich selbst als Judas und Hohepriester, der durch den Akt des Verrats und des Menschenopfers (réalisation) die Stagnation des Systems durch schöpferische Zerstörung überwinden will. Der wesentliche Ertrag liegt in der Erkenntnis, dass Constants geplante Selbsttötung als Akt höchster Selbstbestimmung in den letzten Zeilen des Romans ad absurdum geführt wird. Denn die von ihm beabsichtigte rituelle Explosion wird stattdessen durch die unpersönliche, zufällige Bombe eines britischen Flugzeugs ausgelöst, welche alle Akteure unterschiedslos vernichtet. Damit triumphiert die totale Indifferenz des Schicksals über die eitlen Pläne des Subjekts.
Gesamtwürdigung und Anschlussfragen
Geislers Buch leistet einen wichtigen Beitrag zur Neulektüre von Pierre Drieu la Rochelle, indem es die Drieu-Forschung aus ihrer traditionellen Fixierung auf biografische und ideologische Schuldfragen löst. Die Studie schlägt eine genealogische Perspektive vor, die Drieu als tiefgründigen Diagnostiker des existentiellen und ideologischen Zusammenbruchs der Moderne positioniert. Durch die konsequente Anwendung des theoretischen Rahmens der Dialektik-Krise und Indifferenz (unter Rückgriff auf Bürger und Zima) wird Drieus Werk nicht mit Fokus auf faschistische Propaganda, sondern als literarisches Zeugnis einer intellektuellen Verzweiflung lesbar. Das Buch zeigt auf, dass Drieus vermeintlich rückwärtsgewandte Ästhetik und sein politischer Zynismus Vorboten postmoderner Denkfiguren (wie Beliebigkeit, Individualismus, Hybridität) waren und die literarische Darstellung der existentiellen Leere vorwegnahmen. Insbesondere die Analyse der Enden von L’Homme à cheval und Les Chiens de paille entlarvt Drieus angebliches Streben nach Einheit als ein spielerisches, egozentrisches Projekt, dessen Scheitern der Autor in seinen Texten selbst vorführt.
Die Verknüpfung der Indifferenz-Theorie Zimas mit Bürgers Krisendiagnose der Dialektik ermöglicht eine neue und unvoreingenommene ästhetische Bewertung von Texten, die bisher (aus verständlichen Gründen) ideologisch blockiert waren. Die gewählte Trias Erosion, Emulsion, Explosion bietet einen klaren und anschaulichen Rahmen, um die Verschärfung der Indifferenz im Spätwerk Drieus darzustellen. Besonders hervorzuheben ist die minutiöse Dekonstruktion der Schein-Dialektik in L’Homme à cheval, die Felipes idealistisches Streben als „Frivolité“ enttarnt, und die tiefgehende Interpretation des Schlusses der Chiens de paille als Triumph der Kontingenz über den nihilistischen Planungswahn.
Die Untersuchung stützt sich stellenweise stark auf die biografische Ebene und Drieus nicht-fiktionales Werk (Essays, Tagebücher, Korrespondenz), um die psychologischen und ideologischen Voraussetzungen für die erzählerische Gestaltung herzustellen. Dies ist zwar notwendig für die Analyse des l’homme et l’œuvre-Komplexes, birgt aber das Risiko, den Texten eine allzu kohärente psychologische Erklärung überzustülpen. Zudem räumt die Arbeit selbst ein, dass Zimas Drei-Stufen-Modell (Ambiguität, Ambivalenz, Indifferenz) in der Anwendung auf konkrete Texte kategoriale Unschärfen aufweist.
Der unvollendete letzte Roman scheint eine Abkehr von der nihilistischen Explosion des Vorgängerwerks anzudeuten, indem er zu romantisch-wertstiftenden Motiven (Kunst, Innerlichkeit) zurückkehrt. Es stellt sich die Frage, ob dieser späte Regress als endgültiger Rückzug Drieus vor der von ihm selbst beschriebenen nihilistischen Grenze zu werten ist, oder ob auch diese „Rückbesinnung“ nur eine weitere Form der Ironisierung oder ein Akt der Verzweiflung darstellt. Angesichts der herausgearbeiteten Antimoderne und arrière-garde Drieus sowie der Affinität zu Zynismus und moralischer Entgrenzung, wie sie in Les Chiens de paille inszeniert wird, scheint mir eine tiefere Untersuchung der ästhetischen Parallelen zwischen Drieus Spätwerk und den Techniken und Themen der französischen Nachkriegsliteratur (wie z. B. Alain Robbe-Grillet) erforderlich.