Nouvelle Vague als Roman: Patrick Roegiers

Ein Roman wie eine Kamera

Patrick Roegiers’ Nouvelle Vague, roman ist nicht als traditioneller historischer Roman oder als konventionelle Biografie über die Protagonisten der Nouvelle Vague zu verstehen, sondern als ein virtuoser cinéroman, dessen zentrale ästhetische Leistung in der Transformation filmischer Verfahren in literarische Prosa liegt. Der Text verwischt die Grenzen zwischen Faktizität und Imagination, zwischen dem Schreiben und der Leinwand, und nutzt dabei Prinzipien der Nouvelle Vague als strukturelles Fundament seiner eigenen literarischen Poetik. Roegiers‘ Nouvelle Vague, roman ist ein Werk, das seine eigene Gattung neu definiert. Es ist weder ein roman à clef über die Heroen der Filmgeschichte noch ein reines Erinnerungsbuch, weder Biografie noch Metafiktion, weder Filmanalyse noch nostalgische Cinephilie. Vielmehr verschränkt Roegiers die Verfahren all dieser Formen zu einer Prosa, die sich wie eine Kamera verhält: Sie beobachtet, führt den Blick, erzeugt Bewegungen, wechselt Perspektiven, setzt Schnitte, zoomt heran und entfernt sich wieder. Diese Kamera, die er literarisch simuliert, ist rastlos, aufmerksam, wählerisch, aber nie distanziert. Der Text ist weniger erzählt als komponiert, eher montiert als ausgearbeitet, er zeigt, anstatt zu argumentieren. Hier entsteht ein literarischer Raum, in dem die Nouvelle Vague nicht rekonstruiert, sondern gewissermaßen neu gedreht wird:

Der Roman beginnt programmatisch mit einer Szene in den Räumen der Cahiers du cinéma, diesem mythischen Geburtsort der Bewegung. Indem Roegiers den präzisen Ort – „installés, en 1954, tout en haut, à droite…“ – beschreibt, lässt er den Leser unmittelbar in jene räumliche Konstellation eintreten, in der das neue Kino Frankreichs seinen Ausgang nimmt. Das Büro wird zum ersten Schauplatz des Romans und zugleich zur ersten Einstellung eines imaginären Films in Prosa. Der Blick aus dem Fenster über die Champs-Élysées, die Nennung der dort aufgehängten Fotos von Rita Hayworth und Jayne Mansfield, die Präsenz der amerikanischen Stars im Raum, all das erzeugt eine Atmosphäre, in der sich Theorie und Faszination überlagern. Die Nouvelle Vague erscheint hier nicht als Ergebnis politischer oder ästhetischer Programme, sondern als energetische Choreographie von Blicken, Obsessionen, Liebeserklärungen und Ablehnungen. Roegiers macht aus diesem Ort keinen mythischen Tempel, sondern ein Atelier voller Stimmen, voller widersprüchlicher Energien, voller Unruhe.

Die ästhetischen Thesen der Nouvelle Vague-Protagonisten werden bei Roegiers zur eigentlichen Handlung des Romans, denn jeder von ihnen verkörpert weniger eine historische Person als eine Haltung, eine Bewegung, eine Theorie in Aktion. Wenn Godard als „intellektueller Rebell“ erscheint, der mit seinem Diktum „Je ne fais pas de films, je fais du cinéma“ die Dominanz des Bildes über die Geschichte proklamiert und dessen radikale Cut-Montage aus chronischem Low-Budget ebenso wie aus ästhetischer Konsequenz entsteht, dann ist das keine biografische Beschreibung, sondern die literarische Übersetzung eines Gestus, der das Denken in Bildern zum Motor des Romans macht. In derselben Logik verwandelt Roegiers die prägenden Figuren der Bewegung in Musketiere – Truffaut als Athos, Chabrol als Porthos, Rohmer als Aramis, Godard als d’Artagnan und Agnès Varda als eine ironisch leuchtende Milady – und etabliert damit nicht ein spielerisches Etikett, sondern die zentrale poetische Strategie seines Buches: Die Regisseure erscheinen weniger als Menschen aus Fleisch und Blut, denn als Figuren eines literarischen Modus, der ihre ästhetischen Entscheidungen sichtbarer macht, als es eine rein biografische Erzählung vermöchte.

Truffaut wird in dieser Konstellation zum empfindsamen Strategen, dessen Blick auf Kinder, Außenseiter und flüchtige Emotionen eine moralische Eleganz erzeugt, die im Roman nahezu körperlich spürbar wird; zugleich bleibt er der „leidenschaftliche Autodidakt“, dessen Filme das zutiefst Autobiografische durchscheinen lassen. Chabrol erscheint als der „Bourgeois anti-bourgeois“, ein robuster Ästhet des Bürgerlichen, der seine Umgebung mit akribisch geplanten Filmen seziert und doch lachend behauptet, es gebe gar keine Nouvelle Vague, „il n’y a que la mer“. Godard bleibt der radikale Vagant der Ideen, der das Kino mit stets neuen Gedankenattacken überzieht, während Rohmer – asketisch, konservativ, analytisch – als Dialektiker des Alltäglichen hervortritt, dessen „Moralische Erzählungen“ die Sprache selbst zur Handlung machen („L’action, c’est le verbe“). Und Varda, deren Rolle in der Geschichtsschreibung oft in einen Sonderstatus verschoben wird, tritt bei Roegiers in die Mitte des Geschehens: als diejenige, die Dokument und Fiktion, Körper und Zeit, Straße und Innenraum, politische Aktualität und poetische Aufmerksamkeit miteinander verschränkt und der Bewegung jene Erdung verleiht, die weder den heroischen noch den intellektuellen Ton der männlichen Kollegen reproduziert. Roegiers fasst die Nouvelle Vague damit nicht als Pantheon, sondern als Ensemble von Energien, Stilen und Blicken, die er in eine literarische Choreografie überführt, in der Theorie und Szene untrennbar ineinander greifen.

Der Roman arbeitet unentwegt mit einer Poetik der Szene, die sich von narrativen KoNouvelle Vagueentionen löst. Charaktere werden nicht psychologisch ausgeleuchtet, sondern durch Handlung sichtbar gemacht. Roegiers bevorzugt die literarische Entsprechung der filmischen Einstellung. Wenn Truffaut mit einem Zigarette in der Hand über ein Drehbuch gebeugt steht oder Godard wortlos eine Kamera in die Hand nimmt, entsteht eine Form von Erzählung, die aus Bewegungen besteht, nicht aus Worten. Die Prosa organisiert sich als Bilderfolge, in der Figuren und Orte in kontinuierlicher Geste miteinander verbunden werden. Diese Schreibweise ist weit entfernt von der analytischen Distanz klassischer Filmgeschichten und ebenso weit entfernt von den fiktionalen Ausschmückungen eines historischen Romans.

Es ist kein Zufall, dass Roegiers die Entstehungsgeschichten der Filme nicht als isolierte Anekdoten präsentiert, sondern als Verkörperungen ästhetischer Prinzipien. Die berühmte Improvisationsstruktur von À bout de souffle, Godards Sprunghaftigkeit, seine „écriture au dernier moment“, die Jump Cuts, die aus pragmatischer Zeitnot entstanden und zum Markenzeichen einer Ära wurden, erscheinen im Roman nicht als Produktionsdetails, sondern als Manifestationen einer radikalen Arbeitsweise, die Filmgeschichte fortschrieb. Auch Malles Le Feu follet, jenes Werk, das Roegiers’ eigene cinephile Initiation prägte, wird im Roman nicht psychologisiert, sondern als ästhetische Verdichtung einer existenziellen Fragilität dargestellt, die sich in Ronets Körper einschreibt. Vardas Cléo de 5 à 7 erscheint als Paradebeispiel für die Verschränkung von dokumentarischer Aktualität und subjektiver Zeit, die Roegiers selbst formal nachbildet, indem er in seinem Roman Nachrichten, politische Ereignisse und Alltagsbeobachtungen wie Inserts in die literarische Struktur montiert.

Dieser Umgang mit dokumentarischem Material ist charakteristisch für die Arbeitsweise des Romans. Roegiers verwendet historische Fakten, Dialoge, Aussagen, Filmanekdoten, Zeitungsausschnitte nicht als Grundlage historischer Authentizität, sondern als ästhetische Bausteine. Er montiert sie wie found footage, integriert sie in seine Prosa, löst sie aus ihrem ursprünglichen Kontext und stellt sie in einen neuen, literarischen Zusammenhang, der die historische Schärfe mit poetischer Offenheit verbindet. Wie in Vardas Taxi-Szene, in der Cléo die Radiomeldungen hört, fungiert das Dokument im Roman als Gegenwartsschicht, die das Bild mit dem Realen konfrontiert, aber ohne es erklärend zu unterwerfen. Auf diese Weise wird die Zeit selbst zu einem eigenständigen Akteur: Sie drängt sich ein, stört, verändert die Wahrnehmung, verschiebt die Prioritäten. Die literarische Zeit ist keine lineare Abfolge, sondern ein Geflecht aus simultanen Strängen. Wie eingangs angedeutet, bewegt sich der Roman nicht entlang eines durchgehenden Plots, sondern folgt einer Art Montageprinzip, das durch rhythmische Wiederholungen, thematische Paarungen und disjunktive Übergänge charakterisiert ist. Diese Struktur erinnert an die Art, wie die Nouvelle Vague mit filmischer Zeit und Raum umging: Jede Szene ist eine Insel, aber alle Inseln gehören zu demselben archipelartigen Zusammenhang. Roegiers folgt keiner strengen Chronologie; statt einer linearen Erzähllogik entsteht ein Mosaik, das die Beweglichkeit der Erinnerung, die Fragmentiertheit historischer Überlieferung und die Energie ästhetischer Erneuerung zum Ausdruck bringt.

Die Poetik der Chronologie und die Cinécriture Agnès Vardas

Einen besonderen literarische Beitrag vollbringt Roegiers in der Darstellung der Filmemacherin Agnès Varda, die als „Mademoiselle Nouvelle Vague“ und Milady positioniert wird. Varda dient als Kontrastfolie zum cinephilen Zirkel, da sie „nicht zehn Filme gesehen hat“, bevor sie ihren eigenen Stil erfand. Ihre Kunst manifestiert sich als „écriture de cinéma“, eine Kinoschrift, die dem spontanen, intuitiven Blick entspringt. Roegiers illustriert ihre These „Mieux vaut désobéir. C’est la vie“ anhand der Entstehungsgeschichte ihres Films Cléo de 5 à 7, der die minutiöse Erfassung der Zeit zu seinem Thema macht. Der Roman bildet diese Struktur ab, indem er die Handlung in minutiösen Zeitangaben skandiert und den Tag der Protagonistin Cléo exakt nachzeichnet.

In der Szene im Taxi hört Cléo Radiomeldungen über De Gaulle, Jacqueline Kennedy und den Mont-Blanc-Tunnel. Diese realen, politischen und technischen Ereignisse dringen als dokumentarische Blöcke in die narrative Struktur ein, wodurch die subjektive Angst Cléos, die auf ihre Diagnose wartet, unmittelbar mit der historischen Gegenwart Frankreichs verbunden wird. Dieser narrative Umgang mit Zeit und Raum folgt dem Nouvelle Vague-Diktum: „Le temps, c’est l’espace; l’espace, c’est le temps“, wodurch die Chronologie in ein fluides, fragmentiertes Geflecht verwandelt wird.

Die Darstellung des Filmdrehs selbst wird zur literarischen Choreografie. In Vardas Anweisung, den Ton so zu mischen, dass die Stimmen der Darsteller auch aus der Ferne klar zu hören sind, widersetzt sich die Filmemacherin den gängigen Konventionen, und ihre Methode, Darsteller den Text „à plat“ sprechen zu lassen, zielt auf die rohe Faktizität der Rede, nicht auf dramatische Überhöhung. Roegiers überträgt dies in eine Prosa, die den Dialog oft knapp und unkommentiert nebeneinanderstellt, als literarisches Äquivalent zu Godards anti-theatralischer Dialogpraxis.

Die Inszenierung der ästhetischen Konzepte durch Szenen und Schauspieler

Der Roman überführt die ästhetischen Thesen der Nouvelle Vague in konkrete, fiktionalisierte, aber faktenbasierte Szenen. Die Entstehungsgeschichte von Godards À bout de souffle illustriert die Ästhetik des Bruchs und des Mangels: Godard arbeitete mit einem extrem knappen Budget, notierte Dialoge auf Zigarettenpäckchen, und nutzte Improvisation, wobei die revolutionären „Cut“-Montage (Jump Cuts) aus dem Zwang zur Zeitersparnis resultierten. Godard inszenierte sich selbst als „Denunziant“ in der Szene, in der Jean Seberg die Herald Tribune auf den Champs-Élysées verkauft, was die Verknüpfung von Nouvelle Vague-Theorie und -Praxis am Ursprungsort der Cahiers belegt.

Auch die Darsteller dienen als Träger der ästhetischen Philosophie. Jean-Paul Belmondo in À bout de souffle wird zum Prototyp des modernen, ungeschliffenen Helden, der Godards Credo verkörpert: „Jouer n’est pas faire semblant d’être, mais être vraiment un personnage“. Im Gegensatz dazu forderte Louis Malle, der die Suche nach psychologischer Authentizität verfolgte, von seinem Hauptdarsteller Maurice Ronet in Le Feu follet radikale physische Hingabe (zehn Kilo abzunehmen und wach zu bleiben), um den erschöpften Zustand Alain Leroys zu erreichen. Malle wählte – wie Varda in Cléo de 5 à 7 – Schwarz-Weiß, da Farbe „zu hübsch“, die Aufmerksamkeit abgelenkt hätte und zur Verstärkung der Gefühle diente.

Roegiers nutzt intertextuelle, anachronistische Begegnungen, um die meta-kinematografische Ebene zu vertiefen, indem er die Charaktere Simon (André Dussollier) und Nicolas (Jean-Pierre Bacri) aus Alain Resnais’ viel späterem Film On connaît la chanson (1997) immer wieder in den Nouvelle Vague-Schauplätzen der 1960er Jahre auftreten lässt und dadurch die Chronologie außer Kraft setzt. Der Roman, den Roegiers als „cinéroman“ inszeniert, verwischt die Grenzen zwischen Realität, Imagination und Leinwand, um die ästhetischen Konzeptionen der Filmemacher zu beleuchten. Ein zentraler Beleg für diesen anachronistischen Eingriff liegt in den wiederholten Versuchen von Simon und Nicolas, in Paris eine Wohnung zu finden, wobei sie zwangsläufig an Schauplätzen Halt machen, die tief in der Nouvelle Vague-Ära verwurzelt sind. So besuchen die beiden Charaktere, deren Ursprung im Jahr 1997 liegt, das ehemalige Apartment von François Truffaut (15 rue du Conseiller-Collignon), in dem dieser zu Beginn seiner Karriere wohnte, zur Zeit seiner Scheidung 1964, und wo er La Peau douce drehte. Nicolas kommentiert die Wohnung als ungemütlich („On dirait une boîte d’allumettes“) und entzieht sich der Chronologie durch den frustrierten Ausruf, er würde am liebsten aus dem Fenster springen. Diese Szene wird durch die Tatsache akzentuiert, dass Dussollier Truffaut als denjenigen identifiziert, der ihm zu seinem Filmdebüt verhalf, und dass der Ort die tief sitzende Philosophie Truffauts widerspiegelt, wie dessen Sammelleidenschaft für Eiffelturm-Modelle.

Darüber hinaus setzt Roegiers die Charaktere in direkte Verbindung zu ikonischen Filmen der Nouvelle Vague und ihren Protagonisten, wodurch die Zeit außer Kraft gesetzt wird. So besuchen Dussollier und Bacri ein Apartmentgebäude, das sowohl als Wohnort des Schauspielers Maurice Ronet (1 bis, avenue de Lowendal) als auch als Drehort für die berühmte Szene „Oui, monsieur“ aus Truffauts Baisers volés dient, die am 15 place Vauban gedreht wurde. Diese räumliche Identität bündelt unterschiedliche historische Momente der Ära der Nouvelle Vague. Ein weiteres Beispiel für anachronistische Intertextualität findet sich in der Hutmacherei „Francine“ (rue de Rivoli), einem Drehort aus Agnès Vardas Cléo de 5 à 7 (1961), wo Sabine Azéma (Odile) und Agnès Jaoui (Camille), die ebenfalls in On connaît la chanson mitspielten, Hüte anprobieren.

Die tiefgreifende meta-kinematografische Ebene dieser Begegnungen zeigt sich darin, dass die Charaktere die Filmemacher der Nouvelle Vague und deren Ästhetiken offen diskutieren und sogar deren Stile verkörpern. Als Bacri und Dussollier eine Wohnung besichtigen, die mit dem Regisseur Éric Rohmer assoziiert wird, kommentiert Bacri direkt: „On ne joue pas Resnais chez Rohmer“, womit er die unterschiedlichen, unvereinbaren stilistischen Universen der beiden Auteure benennt. Ein Höhepunkt der anachronistischen Verschränkung ist erreicht, wenn der Roman eine Einstellung aus On connaît la chanson beschreibt, in der Simon (Dussollier) als Berittener der Garde républicaine zu sehen ist, der einen Alain Bashung-Song singt. Diese Szene erschien bereits in den Filmen Cléo de 5 à 7 und À bout de souffle (als Eskorte für De Gaulle und Eisenhower). Durch diese Wiederverwendung und den neuen, musikalischen Kontext wird die chronologische Abfolge aufgehoben und die Filmgeschichte selbst reflektiert. Resnais’ Film fasst dieses Verfahren sogar im Roman zusammen, indem er als ein Werk beschrieben wird, das „alle Filme in einem enthält“ („Il contient tous les films en un“), was die literarische These Roegiers von der Nouvelle Vague als zeitloses, sich selbst zitierendes Konstrukt bestätigt. Der Autor zeigt, dass die Nouvelle Vague nicht nur eine Epoche, sondern eine ästhetische Haltung ist, die Zeiten und Medien durchdringt.

Literatur, Film und das Denken in der Prosa

Der Roman thematisiert das komplexe Verhältnis zwischen Kino und Literatur, das für die Nouvelle Vague konstitutiv war. Obwohl die Cahiers-Kritiker das traditionelle Kino als zu „literarisch“ ablehnten, bezeugen sie im Roman ihre tiefe Belesenheit. Roegiers beschreibt, wie Truffaut, selbst ein „écrivain raté“, „Filme machen [wollte], die wie Romane aussehen“, während Godard glaubte, der Film sei „ebenso reich wie die Literatur“. Godard konnte selbst „nie den ersten Satz überwinden“, was seine filmische Praxis als einen Ersatz für das gescheiterte Schreiben etabliert. Der Text „zeigt“ Charaktere durch ihre Gesten und Taten, statt sie psychologisch zu analysieren, was ein zentraler Transfer der Ästhetik der Nouvelle Vague ist. Roegiers’ Prosa ist durchdrungen von performativer Theorie; Sätze wie „Critiquer, c’est filmer“, oder „La vie imite le cinéma“, stehen als aphoristische Schnitte, die die Erzählung in den Modus der Metakino-Reflexion versetzen. Die Nouvelle Vague-Philosophie wird performativ ausgeführt, statt sie nur essayistisch darzulegen.

Der Roman Roegiers’ ist eine Poetik der Unschärfen und Doppelungen. Er nutzt minutiöse Akribie, um eine Erzählweise zu schaffen, die den „flibustiers du 7e Art“ und deren Kühnheit gerecht wird. Durch die literarische Montage, die fragmentierten Perspektiven, und die Auflösung der Chronologie reaktiviert Roegiers den Geist der Nouvelle Vague und beweist, dass diese ästhetische Sensibilität auch literarisch denkbar ist. Roegiers schafft einen Text, der Kino nicht nur beschreibt, sondern in Sprache neu erfindet.

Am Ende führt all dies zu einer Erkenntnis, die der Roman selbst nicht ausspricht, aber zeigt: Die Nouvelle Vague war nie ein geschlossenes Kapitel der Filmgeschichte. Sie war weniger ein stilistisches Programm als eine Weise, die Welt zu sehen. Roegiers’ Roman ist nicht deshalb ein Werk über die Nouvelle Vague, weil er ihre Figuren porträtiert oder ihre Filme analysiert, sondern weil seine Form selbst Nouvelle Vague ‚ist‘. Der Roman nimmt diese Bewegung wieder auf, setzt sie fort, lässt sie in einem anderen Medium neu entstehen. Er sieht, er tastet, er wandert, er bricht Konventionen auf, er verlangsamt, er beschleunigt, er zeigt, er verschweigt. Dadurch entsteht ein Text, der nicht im Schatten der Filmgeschichte steht, sondern an ihrer Seite. Die Nouvelle Vague wird nicht wiedergegeben, sondern reaktiviert.


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