Kunst als Arbeit: Dominique Auzel über Gustave Caillebotte

Im Buch Ouvriers, artisans du beau selon Caillebotte (2024) der Buchreihe „Le roman d’un chef d’oeuvre“ unternimmt Dominique Auzel den ebenso ambitionierten wie heiklen Versuch, kunsthistorische Analyse, historische Recherche und literarische Imagination ineinander zu verschränken. Ausgangspunkt ist ein einzelnes Gemälde, Gustave Caillebottes Raboteurs de parquet von 1875, doch rasch wird deutlich, dass dieses Bild weniger als isoliertes Meisterwerk denn als Kristallisationspunkt dient: für Fragen nach Moderne und Realismus, nach Arbeit und Körper, nach sozialer Sichtbarkeit und ästhetischer Würde, schließlich nach der inneren Biografie eines Künstlers, dessen Werk lange im Schatten seiner impressionistischen Weggefährten stand.

Caillebottes Malerei markiert innerhalb der Moderne eine eigentümliche Schwellenposition. Sie steht quer zu den etablierten Erzählungen des Impressionismus, weil sie weder vollständig im Auflösen der Form noch im reinen Primat des Atmosphärischen aufgeht. Vielmehr verbindet Caillebotte eine strenge, fast klassische Kompositionsdisziplin mit der radikalen Wahl moderner Sujets. Seine Stadtansichten, Interieurs und Arbeitsszenen sind durchzogen von klaren Linien, präzisen Perspektiven und ungewöhnlichen Blickwinkeln, die an fotografische oder architektonische Verfahren erinnern. Die Moderne zeigt sich hier weniger als Aufbruch in die formale Unbestimmtheit denn als neue Ordnung des Sehens: Der urbane Raum, der private Innenraum und der menschliche Körper werden als strukturierte, zugleich aber kontingente Erfahrungsfelder erfasst.

Le pont de l’Europe, 1876, Public Domain.

Charakteristisch für Caillebotte ist zudem sein Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit der Moderne. Anders als viele seiner impressionistischen Zeitgenossen vermeidet er sowohl das pittoreske Milieu als auch das explizit Politische. Die Figuren in seinen Bildern sind oft isoliert, in sich versunken, durch Architektur oder Perspektive voneinander getrennt. Diese visuelle Vereinzelung lässt sich als malerisches Äquivalent zur Erfahrung der modernen Großstadt lesen: Nähe ohne Gemeinschaft, Präsenz ohne Kommunikation. Caillebotte interessiert weniger das Spektakel der Moderne als ihr psychischer Effekt. Seine Bilder machen sichtbar, wie sehr moderne Lebensformen Wahrnehmung, Körperhaltung und Affektstruktur prägen, ohne dies narrativ auszuformulieren.

Schließlich ist Caillebottes Beitrag zur Moderne auch als Reflexion über das Medium der Malerei selbst zu verstehen. Seine Werke thematisieren immer wieder den Akt des Sehens: durch extreme Anschnitte, schräge Horizonte, Blickachsen aus Fenstern oder von Balkonen. Der Betrachter wird nicht in ein harmonisches Bildganze eingelassen, er wird in eine situierte Perspektive gezwungen. Damit antizipiert Caillebotte zentrale Anliegen der Moderne: die Relativierung des Standpunkts, die Auflösung des souveränen Überblicks und die Einsicht, dass Wirklichkeit stets perspektivisch konstruiert ist. Seine Malerei ist modern, weil sie nicht nur moderne Gegenstände zeigt und dabei moderne Wahrnehmungsbedingungen sichtbar macht.

Auzels Text bewegt sich bewusst jenseits einer klassischen Monografie. Er verzichtet auf eine streng systematische Argumentation zugunsten einer vielstimmigen Erzählform, die Briefe, innere Monologe, fiktionalisierte Zeugnisse und kunsthistorische Reflexionen miteinander kombiniert. Diese formale Entscheidung ist programmatisch: Sie spiegelt Caillebottes eigenes Wechseln zwischen akademischer Strenge und impressionistischer Offenheit, zwischen bürgerlicher Distanz und empathischer Nähe zum Gegenstand. Zugleich birgt sie ein Risiko, denn wo historische Stimmen rekonstruiert werden, ohne klar zwischen Fakt und Fiktion zu trennen, droht die Verwischung analytischer Schärfe. Auzel begegnet diesem Risiko jedoch mit bemerkenswerter Sensibilität. Die literarischen Passagen sind nicht bloße Ausschmückung, vielmehr wirken sie als heuristische Instrumente, die Wahrnehmungsweisen sichtbar machen, welche eine rein deskriptive Kunstgeschichte kaum erfassen könnte.

Im Zentrum steht immer wieder das Motiv des Handwerks. Die Raboteure erscheinen nicht als anonyme Vertreter einer sozialen Klasse, sie sind Träger eines spezifischen Wissens, einer körperlich eingeschriebenen Intelligenz. Auzel legt großen Wert auf die technische Präzision der dargestellten Arbeit: die unterschiedlichen Werkzeuge, die Abfolge der Gesten, die Materialität des Holzes, den Rhythmus des Rabotens und Raclierens. Diese Genauigkeit ist nicht bloß illustrativ, diese trägt eine ästhetische Pointe. Indem Caillebotte – und mit ihm Auzel – das Handwerk in seiner konkreten Ausführung ernst nimmt, wird es der abstrakten Kategorie der „Arbeit“ entzogen und als schöpferischer Prozess erfahrbar gemacht. Der Arbeiter erscheint hier nicht als Opfer industrieller Entfremdung, sondern als „artisan du beau“, als jemand, der Schönheit hervorbringt, ohne sich selbst als Künstler zu definieren.

Abb.: Les Raboteurs de parquet, 1875, Public Domain.

Gerade hierin liegt eine der interessanten Thesen des Buches: Les Raboteurs de parquet seien weniger ein sozialkritisches Bild im engeren Sinne als eine Reflexion über das Verhältnis von Kunst und Arbeit. Auzel zeigt überzeugend, dass Caillebotte die Arbeiter nicht moralisiert und nicht heroisiert, er setzt sie in eine stille Analogie zu sich selbst. Der Maler, der zeichnet, beobachtet und später im Atelier rekonstruiert, ist dem Raboteur verwandt, der mit wiederholten, präzisen Gesten eine Oberfläche bearbeitet, bis sie Licht reflektiert. Die berühmten glänzenden Stellen des Parketts werden so zu einem Scharnier zwischen Malerei und Handwerk: Sie sind zugleich Ergebnis körperlicher Anstrengung und Anlass malerischer Virtuosität.

Diese Parallelisierung gewinnt zusätzliche Tiefe durch die konsequente Einbettung des Bildes in die ästhetischen Debatten der Zeit. Auzel erinnert daran, dass der Skandal um die Zurückweisung des Gemäldes im Salon von 1875 weniger an der Darstellung nackter Männerkörper hing als an der Wahl des Sujets. Die bürgerliche Kritik empfand nicht die Nacktheit an sich als anstößig, vielmehr ihre Kontextualisierung: Der männliche Körper erscheint hier nicht als mythologisches Ideal oder akademische Studie, sondern als arbeitender, schwitzender, funktionaler Körper. Auzel liest diese Irritation als Symptom einer tieferliegenden Krise der Repräsentation. Die Moderne beginnt dort, wo das, was gesellschaftlich notwendig, aber ästhetisch unsichtbar war, plötzlich ins Zentrum der Leinwand rückt.

Besonders instruktiv ist Auzels Vergleich mit Millets Glaneuses. Ohne den oft bemühten Gegensatz von bäuerlicher Tradition und urbaner Moderne zu simplifizieren, arbeitet er strukturelle Parallelen heraus: die Nähe zum Boden, die repetitive Geste, die Dreifigurigkeit als Möglichkeit, Zeitlichkeit innerhalb eines statischen Bildraums darzustellen. Gleichzeitig macht er deutlich, dass Caillebotte einen entscheidenden Schritt weitergeht. Während Millet seine Figuren in eine symbolisch aufgeladene Landschaft einbettet, sperrt Caillebotte seine Arbeiter in einen bürgerlichen Innenraum. Die Leere des Zimmers, das Fehlen von Möbeln, die schräg gekippte Perspektive erzeugen eine eigentümliche Spannung: Der Raum gehört dem Bürgertum, aber er wird für einen Moment vollständig von den Arbeitern okkupiert. Auzel interpretiert diese temporäre Umkehr der Besitzverhältnisse als leise, aber nachhaltige Geste der Modernität.

Ein weiterer Schwerpunkt des Buches liegt auf der Frage der Körperlichkeit und der latenten Sinnlichkeit in Caillebottes Werk. Auzel scheut sich nicht, die auffällige Präsenz männlicher Körper, ihre Glätte, ihre Symmetrien und ihre Berührungen zu thematisieren. Dabei verfällt er weder biografischem Voyeurismus noch vorschnellen Zuschreibungen. Stattdessen entwickelt er die These einer „sensibilité masculine“, die sich weniger in expliziten Aussagen als in malerischen Entscheidungen manifestiert: in der Wahl der Blickwinkel, in der Betonung bestimmter Muskelpartien, in der sanften Modellierung der Haut durch das Licht. Die Raboteurs erscheinen so auch als ein Ort, an dem Begehren, Bewunderung und Identifikation ununterscheidbar werden.

Auzel arbeitet heraus, dass Caillebotte den männlichen Körper systematisch aus den tradierten Bedeutungszusammenhängen der akademischen Kunst löst und ihn in einen neuen, radikal modernen Kontext stellt: den der Arbeit, der Intimität des Alltäglichen und der stillen Selbstbeobachtung. Zunächst betont Auzel, dass die Nacktheit bei Caillebotte funktional und situativ ist. In den Raboteurs de parquet sind die torses nus keine heroischen Akte, es sind Arbeitskörper, entblößt aus praktischer Notwendigkeit. Gerade darin liegt jedoch ihre ästhetische Sprengkraft. Der männliche Körper erscheint nicht idealisiert im mythologischen oder historischen Rahmen, vielmehr im Moment der Anstrengung, des Schweißes, der Wiederholung. Auzel zeigt, dass diese Verlagerung den Blick des Betrachters irritiert: Was im akademischen Akt als legitim galt, wirkt im Kontext manueller Arbeit plötzlich „vulgär“. Die Skandalisierung des Bildes erklärt sich für Auzel weniger aus der Nacktheit selbst als aus ihrer sozialen Verortung.

Zugleich liest Auzel diese Körper als bewusst komponierte, hochgradig kontrollierte Bildformen. Die Muskeln, die glänzende Haut, die rhythmische Anordnung der Körper im Raum verweisen auf eine klassizistische Schulung, die Caillebotte nie abgelegt hat. Der nackte männliche Körper ist bei ihm keineswegs roh oder zufällig, sondern streng gebaut, fast skulptural. Auzel spricht implizit von einer Spannung zwischen akademischer Formdisziplin und modernem Sujet: Die Arbeiter werden mit der Würde antiker Figuren ausgestattet, ohne dass dies explizit behauptet würde. Gerade diese diskrete Noblesse unterscheidet Caillebotte von sozialrealistischen oder moralisch aufgeladenen Darstellungen der Arbeit.

Ein besonders sensibler Punkt in Auzels Interpretation betrifft die latente Sinnlichkeit dieser Körper. Er macht darauf aufmerksam, dass Caillebotte den männlichen Akt mit einer Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit behandelt, die über bloße Dokumentation hinausgeht. Das Licht, das über Rücken und Schultern gleitet, die Nähe der Körper zueinander, die harmonische Wiederholung ähnlicher Haltungen erzeugen eine subtile körperliche Intimität. Auzel vermeidet es bewusst, diese Sinnlichkeit biografisch vorschnell zu deuten. Stattdessen versteht er sie als ästhetische Haltung: Caillebotte blickt auf den männlichen Körper nicht distanziert-objektivierend, sein Blick ist empathisch, beinahe identifikatorisch.

In diesem Zusammenhang entwickelt Auzel eine der interessantesten Lesarten des Buches: der nackte männliche Körper als Ort der Selbstspiegelung des Künstlers. Caillebotte erkenne sich, so Auzel, im Arbeiterkörper wieder – nicht sozial, wohl aber gestisch und existenziell. Der Maler und der Raboteur teilen die Konzentration, die Einsamkeit der Tätigkeit, die Hingabe an das „bel ouvrage“. Der männliche Körper wird damit zum Medium einer stillen Selbstbefragung: weniger als erotisches Objekt denn als Projektionsfläche für Fragen nach Männlichkeit, Arbeitsethos und künstlerischer Identität.

Schließlich betont Auzel die Modernität dieser Körperdarstellung. Indem Caillebotte den männlichen Akt aus dem Bereich des Außeralltäglichen herauslöst, bereitet er eine Bildsprache vor, in der Körper nicht mehr Träger ewiger Ideale sind, Körper sind hier historische, soziale und zeitliche Wesen. Der nackte männliche Körper erscheint bei Caillebotte als verletzlich, vergänglich und zugleich von großer Würde. Auzel liest darin eine stille, aber nachhaltige Verschiebung der Bildtradition: Die Moderne beginnt dort, wo der Körper nicht mehr erhöht wird, wo er hingegen als solcher ernst genommen wird.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die wiederkehrende Idee, die drei Arbeiter könnten weniger drei Individuen als vielmehr drei zeitliche Phasen eines einzigen Körpers darstellen. Auzel greift diese im Text mehrfach variierte Hypothese nicht als kunsthistorische Tatsache auf, er behandelt sie als produktive Fiktion. Sie erlaubt es, das Bild als Verdichtung von Bewegung zu lesen, als visuelle Analyse eines Arbeitsprozesses. Zugleich öffnet sie einen Reflexionsraum über Identität und Repräsentation: Der Arbeiter ist austauschbar und singulär zugleich, anonym und konkret, Typus und Person. In dieser Ambivalenz erkennt Auzel einen Kern der modernen Subjektivität.

Der konkrete Mehrwert der fiktionalen Form liegt zunächst in einer Erweiterung kunsthistorischer Erkenntnisräume. Auzel nutzt die Fiktion nicht, um historische Unsicherheiten zu kaschieren, sie hilft, jene Erfahrungsdimensionen zu erschließen, die der klassischen Quellenlage entzogen bleiben: Wahrnehmung, Körperempfinden, Zeitgefühl, affektive Resonanz. Indem Arbeiter, Dienstboten, Künstler oder Angehörige imaginär zu Wort kommen, wird Caillebottes Malerei nicht nur beschrieben, sondern in ihren sozialen und sinnlichen Bedingungen verortet. Die Fiktion wirkt hier als hermeneutisches Instrument, das ermöglicht, das Bild als gelebte Situation zu denken und nicht bloß als abgeschlossenes Artefakt.

Darüber hinaus erlaubt die fiktionale Form eine konsequente Perspektivierung von unten und von der Seite. Auzel kann Stimmen ins Zentrum rücken, die in der traditionellen Kunstgeschichtsschreibung marginalisiert bleiben: die Handwerker, die Modelle, das Dienstpersonal. Diese Stimmen verändern den Blick auf das Werk, ohne den historischen Rahmen zu sprengen. Der Mehrwert liegt darin, dass soziale Asymmetrien, Abhängigkeiten und stille Formen von Anerkennung sichtbar werden, die im Gemälde selbst nur implizit angelegt sind. Die Fiktion macht somit lesbar, was im Bild zwar präsent, aber nicht explizit artikulierbar ist.

Schließlich schafft die fiktionale Anlage eine strukturelle Nähe zum Gegenstand selbst. Caillebottes Malerei operiert mit Verdichtung, Auslassung und Perspektivbindung; sie erzählt nicht, sie stellt Situationen her. Auzels Text übernimmt diese Logik, indem er keine lineare Argumentation erzwingt, sondern ein Geflecht von Blicken, Zeiten und Stimmen entwirft. Der Mehrwert besteht hier in einer formalen Angemessenheit: Die Schreibweise spiegelt die ästhetische Erfahrung der Bilder. Fiktion wird so nicht zum Gegensatz von Wissenschaft, Fiktion wird zu einer reflektierten Methode, die das Verstehen vertieft, wo reine Analyse an ihre Grenzen stößt.

Stilistisch überzeugt das Buch durch eine bemerkenswsondernerte Balance zwischen Anschaulichkeit und analytischer Dichte. Auzels Sprache ist präzise, oft sinnlich, ohne ins Pathetische zu kippen. Die fiktionalen Stimmen – der Arbeiter, die Dienstmagd, der befreundete Künstler – sind klar voneinander unterschieden und tragen jeweils eine spezifische Perspektive bei. Kritisch ließe sich anmerken, dass diese Polyphonie gelegentlich dazu führt, dass zentrale Argumente mehrfach variiert werden. Doch gerade diese Wiederholungen erzeugen einen rhythmischen Effekt, der dem Thema angemessen ist: Wie die Arbeit der Raboteure selbst entfaltet sich auch die Argumentation nicht linear, sie läuft in Schleifen, die Vertiefung statt bloßen Fortschritt ermöglichen.

Insgesamt ist Ouvriers, artisans du beau selon Caillebotte ein ebenso ungewöhnliches wie ertragreiches Buch. Es richtet sich nicht nur an kunsthistorisch Interessierte, vielmehr auch an alle, die sich für die kulturelle Semantik der Arbeit interessieren. Auzel gelingt es, ein kanonisches Gemälde aus der musealen Erstarrung zu lösen und es als lebendigen Denkraum zu öffnen. Seine Lektüre von Caillebotte ist weder apologetisch noch dekonstruktiv. Der Text ist getragen von einem ernsthaften Bemühen, dem Werk in seiner ästhetischen, sozialen und menschlichen Komplexität gerecht zu werden.


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