Europa als Schicksalsgemeinschaft? Zur Anthologie von Olivier Guez

Quand nous étions jeunes, nous regardions souvent au-delà des jetées en essayant de nous représenter ces pays qui nous étaient aussi inaccessibles que l’Atlantide. Nous étions exclus de force d’un monde dont nous faisions partie, dont nous avions toujours voulu faire partie.

Tomas Venclova, Un conte de trois villes

Als wir jung waren, blickten wir oft über die Molen hinaus und versuchten, uns diese Länder vorzustellen, die für uns so unerreichbar waren wie Atlantis. Wir waren zwangsweise von einer Welt ausgeschlossen, von der wir ein Teil waren, von der wir immer ein Teil sein wollten.

Litauen wurde 1940 von der Sowjetunion überfallen, ein Jahr später von den deutschen Nazis, 1944 kam Stalin mit seinem Regime. Die historische Erfahrung spiegelt sich im europäischen Zugehörigkeitsgefühl der Balten zu Europa, so getrennt sie davon bleiben mussten. Die von Venclova erzählte Reihe der drei ‚Hauptstädte‘ des Landes (das internationale Vilnius, die provisorische Hauptstadt Kaunas und das maritime Klaipéda) bildet im Kleinen die Vielfalt Europas ab, die literarisch darzustellen sich die von Olivier Guez besorgte Anthologie Le Grand Tour: autoportrait de l’Europe par ses écrivains vorgenommen hat, ihrerseits ein Nebenprodukt der französischen Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2022 – man lese dazu auch Präsident Macrons Rede als politisch-strategischen Rahmen. 1 Venclova bedenkt die Möglichkeit eines freien Zusammenhalts Europas gegenüber einer totalitär erzwungenen Einheit:

Et pourtant, depuis mon enfance, comme chacun d’entre nous, je comprenais que nous n’étions pas l’Union soviétique, mais quelque chose d’autre. En réfléchissant sur l’essence de cette différence, j’ai compris peu à peu qu’elle consistait en une diversité particulière qui demeure et ne cesse de renaître, quels que soient les efforts déployés par les pouvoirs transitoires pour l’effacer et l’anéantir. Ce qui fait l’unité de l’Europe, c’est qu’elle est un alliage composite de principes culturels qui ne se ressemblent pas, des principes séparés existant dans des espaces différents, dans des temps différents, dans des langues différentes, mais qui ont un dénominateur commun. Le monde totalitaire est le royaume de l’unisson qui dissimule une cacophonie. Les pays de l’Europe ne sont jamais à l’unisson mais, dans l’ensemble, ils sont en harmonie les uns avec les autres. La Lituanie était en quelque sorte une Europe en miniature : elle était elle-même constituée d’éléments dissemblables, mais ces éléments s’agrégeaient en formant une seule entité vivante qui, sans oublier ses contradictions, savait les aimer et même les admirer.

Tomas Venclova, Un conte de trois villes

Und doch war mir seit meiner Kindheit wie jedem von uns klar, dass wir nicht die Sowjetunion waren, sondern etwas anderes. Als ich über das Wesen dieses Andersseins nachdachte, wurde mir allmählich klar, dass es in einer besonderen Vielfalt bestand, die bestehen bleibt und immer wieder neu entsteht, egal, wie sehr sich die Übergangsmächte bemühen, sie auszulöschen und zu vernichten. Was die Einheit Europas ausmacht, ist, dass es eine zusammengesetzte Verbindung aus kulturellen Prinzipien ist, die sich nicht ähneln – getrennte Prinzipien, die in verschiedenen Räumen, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Sprachen existieren, aber einen gemeinsamen Nenner haben. Die totalitäre Welt ist das Reich des Unisonos, hinter dem sich eine Kakophonie verbirgt. Die Länder Europas sind nie unisono, aber im Großen und Ganzen harmonieren sie miteinander. Litauen war so etwas wie ein Europa im Kleinen: Es bestand selbst aus ungleichen Elementen, aber diese Elemente fügten sich zu einer einzigen lebendigen Einheit zusammen, die, ohne ihre Widersprüche zu vergessen, sie zu lieben und sogar zu bewundern wusste.

Die Reise durch Europa ist durchweg auch politische Betrachtung der historischen Prozesse und Erfahrungen, die ihre Identität ausmachen. Beispielsweise bezieht sich Rosella Postorinos Fous mélancoliques auf das „Manifest von Ventotene“, im Original „Für ein freies und vereintes Europa: Entwurf eines Manifests“, das in ihrer Verbannung auf der Insel 1941 von Ernesto Rossi (Mitglied der in Paris gegründeten antifaschistischen Exilbewegung Giustizia e Libertà) und Altiero Spinelli verfasst und 1944 veröffentlicht wurde. Daniel Kehlmann wählte mit Hohenschönhausen einen unheimlichen Ort, der stellvertretend für die deutsche Geschichte steht, seine Erzählung handelt vom eigenen Besuch des Gefängnisses, heute einer Gedenkstätte:

La prison de Hohenschönhausen n’a rien d’un musée en soi – parce que le rayonnement radioactif qui émane de cet endroit souffle jusque dans la ville alentour, parce que les bourreaux comme les victimes sont encore dans les environs, parce qu’on peut s’imaginer enfermé la nuit dans ses couloirs à l’odeur de plastique, entendant encore surgir des salles les voix posées des experts ès interrogatoires excellemment formés, ainsi que le léger ronronnement des magnétophones surveillant les agents. Ce bruit nocturne et fantomatique que personne n’entend, c’est la véritable bande-son de l’histoire allemande.

Daniel Kehlmann, Hohenschönhausen : la prison qui n’existait pas

Das Gefängnis Hohenschönhausen ist an sich kein Museum – weil die radioaktive Strahlung, die von diesem Ort ausgeht, bis in die umliegende Stadt weht, weil Henker und Opfer noch immer in der Nähe sind, weil man sich vorstellen kann, nachts in den nach Plastik riechenden Korridoren eingesperrt zu sein und noch immer die ruhigen Stimmen der hervorragend ausgebildeten Verhörexperten und das leise Surren der Tonbandgeräte, die die Beamten überwachen, aus den Räumen kommen zu hören. Dieses nächtliche, gespenstische Geräusch, das niemand hört, ist der wahre Soundtrack der deutschen Geschichte.

(Rückübersetzung aus dem Französischen)

Das titelgebende Bild der großen europäischen Cavaliersreise wird vom Herausgeber selbst mit seiner Hommage an das Album von Kraftwerk aus den 70er Jahren in einen eher Zukunft verheißenden Rhythmus überführt: „… Rendez-vous on Champs-Élysées Leave Paris in the morning on the T.E.E. Trans-Europe Express… In Vienna we sit in a late-night café Staight connexion, T.E.E Trans-Europe Express… From station to station Back to Düsseldorf City…“

Kraftwerk: Trans-Europe Express (1977)

Im Vorwort nennt Olivier Guez, der als Journalist und Schriftsteller heute in Rom lebt, diesen Trans-Europe Express – der mit seiner Ersten Klasse, den mythischen Namen wie Merkur oder Bacchus zwischen den 50er und 80er Jahren Europa durchquerte – eine utopische Reise durch die europäische Vorstellungswelt, er wolle zwar das heutige Europa untersuchen, aber für den alten Kontinent habe man auch in die Geschichte zu gehen. Das Vorhaben war ursprünglich relativ frei auf je eine Autorin oder einen Autor eines der Mitgliedsländer ausgerichtet, die jeder einen für Europa bedeutsamen Ort ihres Landes herausgreifen sollten:

Je leur ai demandé de relater un lieu qui évoquerait un lien de leur pays avec la culture et l’histoire européennes. C’était leur seul cahier des charges. Pour le reste, ils étaient libres, sur le fond comme sur la forme, carte blanche.

Ils ont fait du Grand Tour un forum, une piazza de la littérature européenne. Un espace de liberté et de création, un site de rencontres. Dans les récits et les nouvelles inédits qui composent le recueil, les mémoires, les regards et les climats d’une Europe de chair et de sang s’entrecroisent.

Olivier Guez, préface au Grand Tour

Ich bat sie, über einen Ort zu berichten, der eine Verbindung ihres Landes zur europäischen Kultur und Geschichte herstellen würde. Das war ihre einzige Vorgabe. Ansonsten waren sie frei, sowohl inhaltlich als auch formal, carte blanche.

Sie machten die Grand Tour zu einem Forum, einer Piazza der europäischen Literatur. Ein Raum der Freiheit und der Kreativität, ein Ort der Begegnungen. In den unveröffentlichten Erzählungen und Kurzgeschichten, aus denen sich die Sammlung zusammensetzt, kreuzen sich die Erinnerungen, die Blicke und die Klimazonen eines Europas aus Fleisch und Blut.

Hier wird der bekannte Gegensatz aufgemacht, der die Gründung der Europäischen Union seit Beginn begleitet, die pragmatische Zähmung nationaler Interessen in der Montanunion war in nichts auf Bekenntnisse zur gemeinsamen europäischen Geschichte oder Identität angelegt, und wirtschaftliche oder heute wieder militärische Überlegungen lassen Konstruktionen einer gemeinsamen europäischen Identität, die über so etwas wie das „Nie wieder Krieg!“ negativer Erinnerung hinausgehen, immer neu verblassen:

De tout cela, il n’est pas question dans le préambule du traité constitutionnel qui régit nos vies depuis une quinzaine d’années. Les chefs d’État se sont chamaillés pendant des mois pour aboutir à un lâche compromis : nul héritage ne sera mentionné, comme si les Européens venaient d’une planète inconnue. Comme si nous étions des hommes sans passé, comme si nommer les fragments de notre identité mosaïque était une offense aux populations récemment immigrées, aux autres civilisations et aux autres continents. C’est dangereux. On laisse aux droites extrêmes le loisir de cantonner notre identité depuis des décennies. C’est un terrible gâchis. L’aventure européenne ne peut se borner à un projet algorithmique de prolifération piloté par une technobureaucratie contrôlée par une superstructure intergouvernementale et parlementaire.

Olivier Guez, préface au Grand Tour

Von all dem ist in der Präambel des Verfassungsvertrags, der seit rund 15 Jahren unser Leben bestimmt, nicht die Rede. Die Staatschefs haben sich monatelang gezankt, um einen faulen Kompromiss zu finden: Kein Erbe wird erwähnt, als ob die Europäer von einem unbekannten Planeten kämen. Als ob wir Menschen ohne Vergangenheit wären, als ob die Benennung der Fragmente unserer mosaikartigen Identität eine Beleidigung für neu eingewanderte Bevölkerungsgruppen, andere Zivilisationen und andere Kontinente wäre. Das ist gefährlich. Man überlässt es den extremen Rechten, unsere Identität seit Jahrzehnten in Schubladen zu stecken. Das ist eine schreckliche Verschwendung. Das europäische Abenteuer darf sich nicht auf ein algorithmisches Proliferationsprojekt beschränken, das von einer Technobürokratie gesteuert wird, die von einem intergouvernementalen und parlamentarischen Überbau kontrolliert wird.

Selbst die Wahl eines Ortes relativiert sich in den Beiträgen, wenn etwa Fernando Aramburu in Le Pain de l’Europe gleich die fünf Städte Lissabon, Segovia, Paris, Hannover und Klagenfurt in einer autobiografischen Reise kombiniert, um unsere Leben über die Grenzen hinweg anschaulich zu machen: Europa ist unser Zuhause.

Wie unbefriedigend unsere Antworten auf der kulturwissenschaftlichen Suche nach einer europäischen Identität bleiben müssen, beklagte vor 15 Jahren Thomas Macho, es bleibt ein zirkuläres Unterfangen, das eigentlich voraussetze, was es aufbauen wolle: „Reisen, Lernen, Erinnern, so lauten die kulturellen Strategien, die sich mit diesen Antworten verbinden; Ethnologie, Pädagogik und Geschichtswissenschaft fungieren als akademische Referenzdisziplinen. Doch wie soll die Zukunft Europas mit diesen Strategien und Disziplinen bewältigt werden? Eine Antwort auf die Frage nach der europäischen Identität wird ja bereits vorausgesetzt, sobald über Zugehörigkeit oder geteilte Chronologien entschieden wird; und die Berufung auf Gedächtnisorte, Denkmäler oder Kulturhauptstädte zehrt ausgerechnet von jener Ideengeschichte Europas, die durch diese Einrichtungen und Initiativen erweckt werden soll. Europa, so heißt die Antwort, die jeder Frage nach ihr vorauszulaufen pflegt.“ 2 Und so ist Guez’ Anthologie erzählerisch vielleicht überzeugender als konzeptionell-theoretisch. Im Moment sieht es so aus, dass dieses Vorhaben allein auf Französisch übersetzt vorliegt, dass eine rein frankophone Europa-Anthologie eine contradictio in adiecto ist, liegt ja auf der Hand, sagt aber auch etwas über das französische Kulturverständnis aus.

Guez bezieht sich auf Klassiker wie die europäischen Essays von Stefan Zweig, die dieser zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg schrieb, u.a. Der Turm zu Babel (1916), Die moralische Entgiftung Europas (1932), Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung (1932), Die Geschichtsschreibung von morgen und Die Geschichte als Dichterin (beide 1939). Vergessen wir hierbei nicht, dass Zweigs Abschiedsbrief im südamerikanischen Exil 1942 sich auf die Zerstörung seiner geistigen Heimat Europa berief (ähnlich Paul Celan in der rumänischen Geschichte von Norman Manea), der habsburgische Vielvölkerstaat vor dem Ersten Weltkrieg entspricht in vielem den heutigen vielstimmigen Realitäten mehr als ein preußischer Ordnungswille. Im Beitrag von Eva Menasse Interdiction aux drones de survoler („Überflugverbot für Dronen“) wird der jüdische Stefan Samuel Zweig nochmal erscheinen, wenn sie die Rolle der osteuropäischen Juden und ihrer säkularisierten Rolle in Mitteleuropa bedenkt:

Pour les Juifs, l’Autriche-Hongrie, cette monarchie démesurée, était une patrie quasi parfaite. Ils étaient eux aussi multilingues, ils devaient l’être, et maîtriser cinq ou sept langues n’était pas rare pour des Juifs cultivés. S’ils voulaient vivre selon la tradition et la religion, ils restaient dans les shtetls de l’est, lorsqu’ils se sécularisaient et devenaient libéraux, ils s’installaient dans les grandes villes, Prague, Budapest et Vienne. Une fois qu’ils y avaient réussi – comme médecins, juristes et journalistes, écrivains, acteurs, compositeurs et metteurs en scène – ils venaient passer l’été dans le Salzkammergut. On les y trouvait tous, les représentants de la bonne société juive, Theodor Herzl et Sigmund Freud, Hugo von Hofmannsthal, Jakob Wassermann, Karl Kraus et Stefan Zweig, Gustav Mahler, Arnold Schönberg et Max Reinhardt, Leo Perutz, Franz Werfel, Arthur Schnitzler. Quand en 1938 commença la chasse sans merci, de nombreuses villes d’eaux leur interdirent, alors qu’ils y étaient peu de temps auparavant des hôtes courtisés, de porter le costume traditionnel, la culotte de cuir ou le dirndl. Mais cela, c’était plus tard.

Eva Menasse, Interdiction aux drones de survoler

Für die Juden war Österreich-Ungarn, diese maßlose Monarchie, ein nahezu perfektes Heimatland. Auch sie waren mehrsprachig, sie mussten es sein, und fünf oder sieben Sprachen zu beherrschen, war für gebildete Juden nicht ungewöhnlich. Wenn sie nach Tradition und Religion leben wollten, blieben sie in den östlichen Schtetln, wenn sie sich säkularisierten und liberal wurden, ließen sie sich in den großen Städten Prag, Budapest und Wien nieder. Sobald sie dort erfolgreich waren – als Ärzte, Juristen und Journalisten, Schriftsteller, Schauspieler, Komponisten und Regisseure – kamen sie ins Salzkammergut, um den Sommer zu verbringen. Sie waren alle da, die Vertreter der guten jüdischen Gesellschaft, Theodor Herzl und Sigmund Freud, Hugo von Hofmannsthal, Jakob Wassermann, Karl Kraus und Stefan Zweig, Gustav Mahler, Arnold Schönberg und Max Reinhardt, Leo Perutz, Franz Werfel und Arthur Schnitzler. Als 1938 die gnadenlose Jagd begann, verboten ihnen viele Kurstädte, obwohl sie dort kurz zuvor noch umworbene Gäste gewesen waren, Tracht zu tragen, Lederhose oder Dirndl. Aber das war später.

(Rückübersetzung aus dem Französischen)

Aus dieser Passage mag ersichtlich werden, warum die jüdisch-österreichische Schriftstellerin aus Wien, die in Berlin lebt, selbst den kitschgefährdeten Heimat-Begriff nicht als realen Ort, sondern als „Utopie des Positiven“ beschreibt; auch Diaspora ist für sie jenseits des Religiösen als Zugehörigkeit denkbar. 3 Im fiktiven österreichischen Ort Dunkelblum lässt Menasse im gleichnamigen Roman von 2021 ein Massaker an 180 jüdischen Zwangsarbeitern im Jahr 1945 stattfinden (nach dem Vorbild von Rechnitz im Burgenland), der Text steht gleichzeitig in der Tradition des österreichischen Anti-Heimat-Romans, nach 1989 lässt sich das Verdrängte nicht weiter unter Verschluss halten. Das Salzkammergut, das Eva Menasse für Guez’ Anthologie wählt, ist der Ort, wo Kaiser Franz Joseph den Ersten Weltkrieg auslöste und wo asiatische Urlauber in eine verkitschte Vergangenheit reisen:

Nous sommes incapables de décrire correctement l’époque à laquelle nous vivons, c’était déjà le cas de nos ancêtres. Les évocations romanesques les plus réussies de cette obscurité qui a peu à peu rongé de l’intérieur la monarchie austro-hongroise, avant même que François-Joseph ne signe à Bad Ischl ce document fatal, ne furent écrites que des années plus tard, par Joseph Roth et Heimito von Doderer. Nous qui plongeons nos pieds dans le fleuve de notre temps, nous sommes au mieux capables d’observer des anachronismes, des recouvrements atmosphériques, des interférences étincelantes avec ce temps d’alors, tentatives qui à défaut de la distance nécessaire à l’auteur tendent souvent vers une légère satire.

Eva Menasse, Interdiction aux drones de survoler

Wir sind nicht in der Lage, die Zeit, in der wir leben, richtig zu beschreiben, das war schon bei unseren Vorfahren so. Die erfolgreichsten romanhaften Beschwörungen dieser Dunkelheit, die die österreichisch-ungarische Monarchie nach und nach von innen heraus zerfraß, noch bevor Franz Joseph in Bad Ischl das verhängnisvolle Dokument unterzeichnete, wurden erst Jahre später von Joseph Roth und Heimito von Doderer geschrieben. Wir, die wir unsere Füße in den Fluss unserer Zeit tauchen, sind bestenfalls in der Lage, Anachronismen, atmosphärische Überlappungen und funkelnde Interferenzen mit dieser damaligen Zeit zu beobachten, Versuche, die mangels der für den Autor notwendigen Distanz oft zu einer leichten Satire tendieren.

Im Interview zum Buchprojekt verknüpfte auch der Herausgeber das Vorhaben mit einem Krieg und sieht eine Wende in dem, was Europa jetzt bedeutet. Vom Rand her lässt die ukrainische Bevölkerung ein Europa entstehen, in das sie nun wie Georgien und Moldawien aufgenommen werden will. Die Bedrohung von außen wäre freilich eine andere Begründung als der Versuch, kulturelle Traditionen, historische Erfahrungen oder andere identitäre Zusammenhänge zu bemühen:

Le Grand Tour paraît alors que l’Ukraine vient d’être envahie par la Russie. Cet événement donne-t-il une portée supplémentaire à cet autoportrait littéraire de l’Europe ?

O.G. Quelque chose de fondamental est en train de se produire : les Européens ont, je crois, pour la première fois la sensation de former une communauté de destin. Nous prenons conscience qu’un modèle politique, économique et culturel est menacé, et qu’il va falloir le défendre très sérieusement. Ce sont les Ukrainiens qui permettent ce réveil de la conscience européenne.

Olivier Guez im Interview mit Youness Bousenna 4

Die Grand Tour erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem die Ukraine gerade von Russland überfallen wurde. Verleiht dieses Ereignis diesem literarischen Selbstporträt Europas eine zusätzliche Tragweite?

O.G. Etwas Grundlegendes geschieht gerade: Die Europäer haben, so glaube ich, zum ersten Mal das Gefühl, eine Schicksalsgemeinschaft zu bilden. Wir werden uns bewusst, dass ein politisches, wirtschaftliches und kulturelles Modell bedroht ist und dass wir es sehr ernsthaft verteidigen müssen. Es sind die Ukrainer, die dieses Erwachen des europäischen Bewusstseins ermöglichen.

Gruppenbild im Hôtel de la Marine. Claire Chazal, Clément Beaune (Secrétaire d’État chargé des Affaires européennes) und Olivier Guez (journaliste-écrivain) nahmen an einem Runden Tisch über die Europa-Texte der 27 europäischen Schriftsteller teil. Anwesende Autoren: Olivier Guez, Stavos Christodoulou (Chypre), Jen Christian Grondahl (Danemark), Rosella Postorino (Italie), Jean Portante (Luxembourg), Jan Brokken (Pays Bas), Agata Tuszynska (Pologne), Michal Hvorecky (Slovaquie), Immanuel Mifsud (Malte), Brina Spit (Belgique), Tiit Aleksejev (Estonie), lidia Jorge (Portugal), Janis Jonevs (Lettonie), Maylis de Kerangal (France). Paris, 2. März 2022. Quelle: Paris Match.

Die Sammlung Le grand tour ist im März 2022 bei Erscheinen selbst schon historisch geworden angesichts einer für viele überraschenden Zeitenwende Europas wie in den 90er Jahren, als Robert Picht Denkmuster Europas unter den Bedingungen einer neuen deutschen Identität nach der Wiedervereinigung überdachte: „‚Europa‘ − das gab der Westintegration historische Weihe weit über die restaurativen Träume vom christlichen Abendland hinaus. Europa verhieß Liberalität, bürgerliche Demokratie und Weltoffenheit. Europäer sein, damit erträumten sich viele Deutsche eine neue Identität jenseits der bedrohlichen Enge des Nationalen. Europa befreite vom Trauma der deutschen Geschichte.“ 5

Bedarf Europa gegenwärtig einer neuen Debatte um eine gemeinsame Identität, in der Sorge um einen Krieg zwischen Nato-Ländern und Putins Russland? Für die Ukraine, Georgien und Moldawien bleibt vielleicht die Europäische Union vorerst unerreichbar wie im Eingangszitat für das damalige Litauen. Die sieben Kapitelüberschriften für Guez’ thematische Zusammenstellung der Beiträge europäischer Autorinnen und Autoren sind assoziationsreich: Narben, Irrfahrten, Geister, Fleisch, Urlaub, Verletzungen, Sehnsucht rufen Narrationen europäischer Identität(en) auf, die sich rechten Instrumentalisierungen verweigern. Felix Heidenreich hat vor ein paar Jahren argumentiert, dass der identitäre Diskurs in Frankreich aus einem Mangel heraus gedacht wird und so herhalten muss für die nationalen Dekadenzdiskurse: „Wie grotesk diese Vorstellung ist, lässt sich sehr gut am identitären Diskurs in Frankreich beobachten. Autoren wie Alain Finkielkraut führen die Krise Frankreichs beständig auf einen Mangel an Identität zurück. Die Krisendiagnose lautet in etwa: Wenn wir mehr Klarheit darüber hätten, was das Wesen Frankreichs ausmacht, dann wüssten wir, was zu tun ist! Die unglückliche Identität (identité malheureuse) soll für den Mangel an Wirtschaftswachstum, die scheiternde Integration, die Krise der Schule und den Niedergang der Kultur verantwortlich sein.“ 6

Die aus der Normandie stammende Autorin Maylis de Kerangal stand also vor einer besonderen Aufgabe, über europäische Identität aus Sicht Frankreichs zu erzählen. Sie wählt einen Strand, aber nicht wie in ihrem Buch À ce stade de la nuit über die Flüchtlingskrise der italienischen Insel Lampedusa, auch nicht übrigens wählt sie zur Veranschaulichung Europas die Situation der russischen Militärsoldaten, die unfreiwillig nach Europa in den Krieg geschickt werden, man lese dazu ihr Buch Tangente vers l’est. Es ist vielmehr die Küste des Ärmelkanals, dort, wo am 6. Juni 1944 die amerikanischen Truppen in der Normandie landeten, um die von den Nationalsozialisten besetzten Teile Europas zu befreien. Ein starker Text, persönlich, historisch bedeutsam, mit feiner Naturbeobachtung von der Frühzeit des Menschen bis zum Klimawandel, die Schriftstellerin wandelt auf einer Nekropole menschlicher Körper, der Strand vermischt Sand und menschliche Asche zu einer ganz besonderen Farbe, wie sie ihren Text begonnen hatte. Damit beschließt Kerangal ihr persönliches autoportrait de l’Europe:

Le jour tombe, la mer est violette à cette heure, presque noire, elle se rapproche, j’entends les vagues qui clapotent à quelques mètres. Devant moi, la courbe du littoral inscrit sa ligne claire dans l’obscurité, l’air se charge d’embruns, et soudain j’ai le sentiment de me trouver sur la marge d’un territoire, en lisière de continent, très exactement sur l’une de ses extrémités et comme au bord du monde – ce sentiment géographique. Le paysage change peu à peu d’échelle, il tremble, se brouille et se reconfigure, et bientôt il ne s’agit plus ici de la plage de l’enfance, ni même d’une plage normande, et encore moins d’une plage française, il s’agit d’un rivage européen, c’est là que je suis.

Maylis de Kerangal, Un sablier

Es wird langsam dunkel, das Meer ist zu dieser Tageszeit violett, fast schwarz, es kommt näher, ich höre die Wellen nur wenige Meter entfernt plätschern. Vor mir schreibt die Küstenlinie ihre klare Linie in die Dunkelheit, die Luft ist voller Gischt und plötzlich habe ich das Gefühl, mich am Rand eines Gebiets zu befinden, am Rande eines Kontinents, ganz genau an einem seiner Enden und wie am Rand der Welt – dieses geografische Gefühl. Die Landschaft ändert allmählich ihren Maßstab, sie zittert, verschwimmt und konfiguriert sich neu, und bald handelt es sich hier nicht mehr um den Strand der Kindheit, nicht einmal um einen normannischen Strand, und schon gar nicht um einen französischen Strand, es handelt sich um ein europäisches Ufer, dort bin ich.

Kai Nonnenmacher

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Anmerkungen
  1. Discours du Président de la République à la conférence de presse du 9 décembre 2021 sur la Présidence française du Conseil de l’Union européenne, https://presidence-francaise.consilium.europa.eu/fr/actualites/discours-du-president-de-la-republique-a-la-conference-de-presse-du-9-decembre-2021/ – deutsche Fassung: https://presidence-francaise.consilium.europa.eu/de/aktuelles/rede-von-prasident-emmanuel-macron-zur-franzosischen-eu-ratsprasidentschaft/.>>>
  2. Thomas Macho, „Europas Zukunft: Erinnerung an eine exzentrische Identität“, Merkur 701 (Oktober 2007): 948–55.>>>
  3. Eugen El, „Eva Menasse im Gespräch“, Jüdische Allgemeine, 11. März 2021.>>>
  4. Youness Bousenna, „L’Europe vue par les écrivains : Les gens ont oublié à quel point ce continent est un espace de liberté“, Télérama, 2. März 2022.>>>
  5. Robert Picht, „Europa – aber was versteht man darunter? Aufforderung zur Überprüfung der Denkmuster“, Merkur 546/547 (September 1994): 850–66.>>>
  6. Felix Heidenreich, „Die EU braucht keine Identität“, Merkur 820 (September 2017): 80–84.>>>