Inhalt
- Tressaillir als Erkenntnismodus
- Wasser, Haut, Sprache: der durchlässige Körper als Text
- Topographie der Angst: Räume als seelische Landschaften
- Geschlechterverhältnisse: Zwischen Fürsorge und Kontrolle
- Sirius: Gegenmetapher zum Erzittern und relationale Symbolik des Fixsterns
- Sprechen gegen das Verstummen
- Analytische Präzision und eruptive Emotionalität
- Die organische Metapher der Erde
- Das Erzittern als Lebensform
Tressaillir als Erkenntnismodus
Tressaillir, c’est encore répondre.
Zu erzittern heißt immer noch zu antworten.
Michelle Darras, Erzählerin und Ich-Protagonistin, ist eine Frau in den Vierzigern, Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Nachdem ihre Beziehung zu Sirius kollabiert – ein Vorfall eskaliert, schließlich wirft Sirius eine Pflanze vom Balkon, die Beziehung zerbricht – verlässt Michelle die gemeinsame Wohnung und zieht temporär ins Hotel. Sie ringt mit der Entscheidung, mit ihrer Mutter- und Autorinnenrolle, mit Hautkrankheiten (Ekzemen), existenzieller Angst und Traumata aus der Kindheit (u. a. der Sturmkatastrophe von 1984 in den Vogesen und dem lokalen kollektiven Trauma um den Fall „Grégory“). Parallel erscheint Ariel Zaccaria, Psychiater/Therapeut, an mehreren Stellen als berufliche und ethische Gegenfigur: Sitzungen, Gespräche, Gegenübertragungen prägen den narrativen Apparat. Die Erzählung pendelt zwischen Alltagsprosa (ein Balkon, Pflanzen, der Bürokratismus des Teilens einer Wohnung), biographischer Rückblende (Kindheit in den Vogesen) und der Arbeit an und mit dem Selbst (Therapie, Selbstbeobachtung).
„Tressaillir“ bedeutet im Französischen: erzittern, zusammenzucken, sich erschrecken, aber auch: lebendig reagieren. Maria Pourchets gleichnamiger Roman ist in seiner ganzen Struktur ein literarisches Organ dieses Reflexes – ein Text, der selbst bebt. Das Erzittern ist hier nicht nur Thema, es prägt das Verfahren, in einer Poetik der Unruhe. Die Sprache des Romans zittert, weil sie den Menschen als verletzbares, durchlässiges, reagierendes Wesen begreift. Pourchets Prosa tastet die Grenzschichten zwischen Körper, Bewusstsein und Sprache ab und macht aus dieser Suche eine Form der Erkenntnis.
Maria Pourchet entwirft eine Ästhetik des Porösen. Der Körper der Erzählerin reagiert auf seine Umgebung wie eine Membran: Er saugt auf, sondert ab, entzündet sich, heilt, zerfällt. Haut und Natur sind zwei Varianten derselben Oberfläche. „Nicht die Krankheit juckt, sondern die Angst“, schreibt sie („Ce n’est pas la maladie qui démange, c’est la peur“). Diese Linie zieht sich durch alle Naturbilder: Das Lebendige ist verletzlich, das Verletzte ist lebendig. In der organischen Metaphorik liegt eine Form des Wissens, das rationaler Sprache entgeht. Der Körper und die Natur sind keine Gegensätze, sondern zwei Ausdrucksformen derselben Realität: des unsteten, sich wandelnden, atmenden Seins.
Den Roman durchzieht eine Meteorologie der Psyche: Regen, Sturm, Hitze, Trockenheit sind nicht meteorologische Fakten, sondern psychische Zustände. Der Sturm von 1984, der Michelles Kindheit erschüttert, ist ihr Urschock, die erste Erfahrung des „Tressaillir“ – der Natur als Bedrohung. Später kehrt er als innere Landschaft wieder: Jeder Regenguss, jeder feuchte Geruch erinnert an die Körperangst des Kindes. Diese meteorologische Dimension ersetzt die klassische Psychologie. Wo andere Romane erklären, lässt Pourchet die Atmosphäre sprechen. Wetter wird zu Grammatik, Klima zu Syntax. Es zeigt, wie tief Außen und Innen ineinander verschränkt sind – ein Regen, der die Fenster trifft, ist nie nur Wetter, sondern ein Satz über die Angst.
Le laurier et le gros olivier, trois bouteilles, les deux hortensias, une et demie, et pour le citronnier, le maximum. De l’eau dans une bouteille en plastique, plus ou moins une par pot, j’arrose à la simple flotte municipale faute d’avoir trouvé l’additif à diluer. C’est bleu, en poudre, dans le placard, dans une verrine, m’a écrit Sirius au téléphone. J’ai pensé un produit chimique avec le sucre et les nouilles, bienvenue chez les demeurés et l’ai cherché en vain. La lavande, une bouteille, l’agapanthe et l’autre olivier, une pour deux tant pis. Restent tous les petits machins à salades en rang sur la balustrade, jeunes pousses luttant dans leurs récipients nains, absolument sous-taillées à filtrer le gaz carbonique d’un boulevard à double circulation. Devant telle faiblesse, ma bouteille hésite. Fines herbes en barquettes hors-sol à Paris, il s’agit du vivant dans sa fondamentale précarité et moi j’ai la main nucléaire. En matière de jardin, je te soigne, tu crèves.
Der Lorbeer und der große Olivenbaum, drei Flaschen, die beiden Hortensien, eineinhalb, und für den Zitronenbaum das Maximum. Wasser in einer Plastikflasche, etwa eine pro Topf, ich gieße mit einfachem Leitungswasser, da ich keinen Zusatz zum Verdünnen gefunden habe. Es ist blau, pulverförmig, im Schrank, in einem Glas, schrieb mir Sirius auf dem Telefon. Ich dachte an ein chemisches Produkt mit Zucker und Nudeln, willkommen bei den Vollidioten, und suchte vergeblich danach. Die Lavendelpflanze, eine Flasche, die Agapanthus und der andere Olivenbaum, eine Flasche für die beiden, egal. Bleiben noch all die kleinen Salatdinger, am Balkon aufgereiht, junge Triebe, die in ihren winzigen Behältern kämpfen, völlig unterdimensioniert, um das Kohlendioxid eines Boulevard mit starkem Verkehr zu filtern. Angesichts dieser Schwäche zögert meine Flasche. Feine Kräuter in erdlosen Pfanzschalen in Paris, es geht um das Leben in seiner grundlegenden Verletzlichkeit, und ich habe die alles vernichtende Hand. Was den Garten angeht, ich sorge für dich, und du krepierst.
Dieser Passus ist programmatisch für Pourchets Poetik: das minutiöse Aufzählen der Pflanzen, Mengen, Materialien übersetzt emotionale Unsicherheit in eine Syntax der Kontrolle. Die Sprache selbst ist rhythmisch, fast mathematisch; das Messbare ersetzt das Fühlbare. Doch am Ende kehrt sich die Ordnung in Zerstörung: „Ich sorge für dich, und du krepierst.“ („je te soigne, tu crèves.“) Hier kippt Fürsorge in Aggression, Rationalität in Ironie. Das „Erzittern“ liegt nicht nur im Thema, sondern in der Bewegung des Satzes: von Präzision zu Katastrophe. Der Akt des Gießens, scheinbar banal, wird zum Symbol für eine Existenz, die zugleich behüten und vernichten will.
Im Mittelpunkt steht Michelle Darras, Schriftstellerin für Jugendbücher, die nach dem Scheitern ihrer Beziehung zu Sirius ihr Leben neu zusammensetzt. Der Roman beginnt im Mikrokosmos des Banalen – einer Szene des Blumengießens auf dem Balkon –, doch von dort aus öffnet sich ein weites Netz aus Erinnerungen, Reflexionen, Körperzuständen und Dialogen, in denen das Private zur Metapher für ein allgemeineres Erzittern wird: das des Subjekts in einer Welt, die zu schnell, zu laut und zu fordernd geworden ist. „Dans l’ensemble, je promets beaucoup de choses à beaucoup de monde“ („Im Großen und Ganzen verspreche ich vielen Leuten vieles“), heißt es einmal lapidar. Dieser Satz – trocken, fast beiläufig – fasst die gesamte existenzielle Erschöpfung zusammen, die Pourchet beschreibt: ein Leben, das von Pflicht, Bindung und Selbstüberwachung zersetzt ist.
Wasser, Haut, Sprache: der durchlässige Körper als Text
Michelle Darras ist eine Figur, deren Körper die Sprache übernimmt. Ihr Ekzem, ihre juckende, schälende Haut wird zum sprechenden Organ: ein Text, der die unbewussten Brüche ihrer Biographie niederschreibt. „Je gratte pour voir jusqu’où je peux me sentir“ („Ich kratze, um zu sehen, bis wohin ich mich noch spüren kann“), gesteht sie. Diese Bewegung – das Kratzen als Akt der Selbstwahrnehmung – ist symptomatisch für Pourchets Poetik: Jede Verletzung ist zugleich Erkenntnis.
In Tressaillir sind Haut, Wasser, Atem, Schweiß, Schleim und Regen die Vokabeln einer organischen Sprache. Der Körper spricht, wo das Subjekt schweigt. Er ersetzt Argument durch Reaktion, Diskurs durch Reflex. Die Hautkrankheit ist eine Allegorie der Durchlässigkeit: Was das Bewusstsein nicht verarbeiten kann, tritt als physische Spur hervor. So wird Krankheit zur Metapher des Sprechens – ein gefährliches, aber ehrliches Sprechen, das sich nicht hinter Grammatik verstecken kann.
Der Körper ist dabei nicht passiv: Er reagiert auf die Umwelt, auf Partner, Tochter, Räume. Er ist in jeder Hinsicht ein Resonanzkörper der Gesellschaft. Wenn Michelle ihre Haut mit Salben behandelt, beschreibt sie dies in einer klinischen Genauigkeit, die zugleich Intimität und Entfremdung verrät: „Je mets la crème, je compte les secondes, je n’attends rien, c’est déjà ça. “ („Ich trage die Creme auf, zähle die Sekunden, erwarte nichts – immerhin etwas.“) Diese präzise, rhythmische Prosa übersetzt körperliche Routine in poetische Struktur.
Das Wasser ist in Tressaillir mehr als ein Motiv – es ist eine Substanz der Erinnerung. Von der ersten Szene an, in der Michelle die Pflanzen ihres abwesenden Partners gießt („De l’eau dans une bouteille en plastique, plus ou moins une par pot…“), bis zu den Stürmen ihrer Kindheit, zieht sich das Element als ununterbrochene Strömung durch den Text. Wasser steht für das Unbewusste, das durchsickert, für das Vergangene, das sich seinen Weg zurückbahnt. Es ist Medium und Bedrohung zugleich.
In Pourchets poetischer Logik wird das Nasse zur Ethik: Nur wer durchlässig ist, wer Flüssigkeit zulässt, kann spüren, leben, lieben. Das Gegenteil von Lebendigkeit ist Trockenheit – jene abgestorbene Haut, die keine Poren mehr hat, kein Gefühl, keine Reaktion. Die Autorin inszeniert eine Welt, in der der Versuch, sich zu schützen, das eigentliche Risiko ist. Der Mensch, der nicht mehr erzittert, ist tot.
Doch Wasser ist nie rein. Es trägt Schmutz, Rückstände, Risse, es ruiniert Wände und Beziehungen. „Car ultime visée de ma vespérale tannée, épargner les vitres du troisième étage…“ – das Ziel des abendlichen Gießrituals sei es, die Fenster der Nachbarin nicht zu bespritzen, schreibt Michelle. Was wie eine ironische Miniatur wirkt, ist zugleich eine Parabel: Jeder Versuch, sich sauber zu halten, führt zu einer neuen Form von Verschmutzung. Das Wasser reinigt und beschmutzt, es lebt von Ambivalenz – genau wie die Sprache.
Je gratte pour voir jusqu’où je peux me sentir. Je me gratte au sang, non pas pour la douleur, pour l’assurance qu’il y a encore un dedans. Ce n’est pas la maladie qui démange, c’est la peur. Elle fait ses bulles, ses cloques, ses floraisons, et je les regarde éclore comme des pensées sur ma peau. On dit que l’eczéma est un trouble de l’adaptation. Si c’est vrai, alors je suis parfaitement adaptée à la peur.
Ich kratze, um zu sehen, wie weit ich mich noch spüren kann. Ich kratze mich blutig, nicht aus Schmerz, sondern um sicher zu sein, dass es noch ein Innen gibt. Nicht die Krankheit juckt, sondern die Angst. Sie macht ihre Blasen, Blasen, Blüten, und ich sehe ihnen zu, wie sie auf meiner Haut aufgehen. Man sagt, Ekzem sei eine Anpassungsstörung. Wenn das stimmt, bin ich perfekt an die Angst angepasst.
Hier verschränkt Pourchet Biologie und Poetik auf schockierende Weise. Die Haut ist ein Text, die Krankheit ein Alphabet. Das Kratzen wird zum Akt der Erkenntnis – eine Bewegung zwischen Selbstzerstörung und Selbstversicherung. Der Körper reagiert auf das Unaussprechliche; Angst wird sichtbar, tastbar, konkret. Durch die dichte Metaphorik („bulles“, „floraisons“) gewinnt das Pathologische Schönheit, aber keine Romantik. Diese Passage zeigt Pourchets Ethik: Schmerz ist kein Zeichen des Versagens, sondern der Lebendigkeit. Das Erzittern – tressaillir – geschieht buchstäblich unter der Haut.
Topographie der Angst: Räume als seelische Landschaften
Pourchets Räume sind immer auch Zustände. Die Wohnung mit ihrem Balkon ist Bühne der Gewohnheit, Schauplatz der Wiederholung, ein Symbol der kleinbürgerlichen Mechanik, in der alles geregelt ist, sogar das Gießen. Als Michelle sie verlässt, zieht sie in ein Hotelzimmer – ein Ort, der in seiner Leere die psychische Entblößung spiegelt. Hier gibt es keinen Besitz, keine Wurzeln, keine Identität – nur Übergang.
Die Sturmkatastrophe vom Juli 1984 in den Vogesen und das lokale kollektive Trauma um den Fall „Grégory“ im Oktober desselben Jahres dienen als elementarer Ursprung und Rechtfertigung für die tief verwurzelte Angst und die Überlebensstrategie der Protagonistin Michelle. Die Sturmkatastrophe, ein Tornado, den Michelle im Alter von vier Jahren erlebte, markiert den Beginn ihrer körperlichen Erfahrung der elementaren (Ur-)Angst. Das Grollen des Tornados, der Häuser und Bäume wegschleuderte und bei dem die Welt unterzugehen schien, führte zur ersten Lähmung ihrer Glieder, wodurch sie nicht schreien konnte. Diese Erfahrung der Angst wurde von ihrem Vater nur insofern gemildert, als er versuchte, den Schrecken in ein „reines Spektakel“ der Schönheit umzuwandeln („Es ist schön“). Obwohl Michelle später die Information über das einzige Todesopfer (einen Nachbarn) manipuliert hatte, um die Realität zu verändern, setzte dieses Ereignis den Anfang der monströsen Wahrheit in Gang, dass die Welt jederzeit kollabieren kann.
Das kollektive Trauma um den Fall Grégory, der nur drei Monate später im Oktober 1984 stattfand, erfüllt die Funktion, die vage existenzielle Angst der Kinder zu konkretisieren und Michelles rationale Überlebensstrategie zu begründen,. Der Mord an Grégory (geboren im selben Jahr wie Michelle) bestätigte die „monströse Wahrheit“, dass Kinder „in den Röcken ihrer Mütter sterben“ und der Fluss – die Vologne, – schwarz wird und den Tod symbolisiert. Entscheidend ist die Schlussfolgerung, die Michelle aus dem Fund zieht: Da in Grégorys Blut kein Adrenalin gefunden wurde, schloss man, dass er keine Angst empfunden hatte. Michelle entwickelte daraus die Hypothese: „Also hatte Grégory keine Angst und hat deshalb nicht überlebt“. Dies führt zu ihrem lebenslangen Vorsatz, sich „mit der Angst zu verbünden, um sich vor allem zu schützen“, und treibt sie aus der Heimat in die Städte.
Narrativ und therapeutisch dienen die Ereignisse von 1984 als die „Sperrzone“, die Michelle in ihrer Erinnerung umschließt und deren Konfrontation das Ziel ihrer psychologischen Reise ist. Michelle interpretiert ihre gesamte Flucht aus den Vogesen, als eine rationale Reaktion und einen lebenswichtigen Ruck gegen die monströse Todesgefahr. Das erneute Auftauchen der Angst am Ufer der Vologne, als ihre eigene Tochter Lou in der Nähe von Grégorys Fundort gesucht werden muss, zwingt sie, sich der „imaginären Fesseln“ ihrer Kindheitsangst zu stellen. Die Erkenntnis, dass ihre chaotische Flucht auf dem Ur-Instinkt beruhte, dem Tod zu entkommen, ist der therapeutische Durchbruch, der es ihr ermöglicht, die „imaginären Fesseln“ zu lösen und ihre Erzählung neu zu bewerten.
Die Rückkehr in die Vogesen, an den Fluss La Vologne, erweitert die Topographie ins Mythische. Hier treffen privates und kollektives Trauma aufeinander. Pourchet lässt den Mord am „petit Grégory“ von 1984 – ein unaufgeklärtes nationales Trauma – als Echo durch den Text hallen. Diese Kindheitslandschaft ist nicht idyllisch, sondern infiziert. Der Fluss, der das Kind verschlang, wird zum Symbol des verschluckten Gedächtnisses. Wenn Michelle dort wieder steht, erkennt sie, dass das Zittern nicht nur individuell ist, sondern genealogisch. Angst ist vererbbar.
Der Wald, der Regen, das Hotel, das Bad – alle Räume sind psychische Areale. Sie verweisen nicht auf äußere Geographie, sondern auf innere Kartographie. Der Balkon etwa ist die Schwelle zwischen Innen und Außen, Intimität und Öffentlichkeit, Selbst- und Fremdbild. Wenn Sirius dort abends „enfonce dans chaque pot un doigt thermomètre“ („in jeden Topf einen Thermometerfinger steckt“), wird der Balkon zur grotesken Bühne männlicher Kontrolle. Die Geste, die an sich harmlos ist, kippt ins Unheimliche: Der Text nennt sie „inspection secrète des couches terrestres“, eine geheime Inspektion der Erdschichten. In dieser Metapher verschmelzen Macht und Intimität, Besitz und Penetration.
Geschlechterverhältnisse: Zwischen Fürsorge und Kontrolle
Tressaillir ist ein Roman über Angst, aber auch über Macht. Die Beziehung zwischen Michelle und Sirius ist ein Modell für die ambivalente Dynamik zwischen Fürsorge und Herrschaft. Ihr Verhältnis ist durchzogen von kleinen Gesten der Kontrolle: Wer gießt wann, wer hat das letzte Wort beim Abendessen, wer vergisst das Brot. Die Aggressionen sind banal, die Gewalt leise.
Pourchet zeichnet kein Schwarz-Weiß-Bild von Täter und Opfer. Sie interessiert sich für das, was sie selbst einmal „les zones grises du sentiment“ genannt hat – die Grauzonen des Gefühls. Michelle ist weder bloß passiv noch eindeutig frei. Ihre Autonomie ist zerrissen zwischen ökonomischer Abhängigkeit, moralischem Verantwortungsgefühl und körperlicher Angst. In einem Moment bemerkt sie: „Ist es Wahnsinn, einen Mann zu verlassen, der einen nicht schlägt?“ („Quitter un type qui ne vous tape pas dessus relève-t-il ou non de la démence ?“) In dieser Frage verdichtet sich die ganze gesellschaftliche Logik der Normalisierung weiblicher Unterwerfung.
Sur le balcon Sirius déambule, feignant de ne penser à rien mais bricolant quelque chose. Je le vois d’ici. Il enfonce dans chaque pot un doigt thermomètre, inspection secrète des couches terrestres effectuée chaque soir depuis disons trois semaines. Je ne suis pas encore tout à fait exercée à ne rien remarquer. Le geste, l’index et le majeur dans le substrat jamais assez humide, le geste me dégoûte à cause de l’analogie qui s’impose. Oui celle-ci. Il continue, fait escale devant chaque plante et petit mouvement d’épaule, hop, forage, trois phalanges, trois secondes.
Auf dem Balkon treibt sich Sirius herum, tut so, als würde er an nichts denken, bastelt aber an etwas herum. Ich kann ihn von hier aus sehen. Er steckt in jeden Topf ein Thermometer, eine heimliche Inspektion der Erdschichten, die er seit etwa drei Wochen jeden Abend durchführt. Ich bin noch nicht ganz geübt darin, nichts zu bemerken. Die Geste, der Zeige- und Mittelfinger im nie feuchten Substrat, die Geste ekelt mich an wegen der sich aufdrängenden Analogie. Ja, genau diese. Er macht weiter, bleibt vor jeder Pflanze stehen und mit einer kleinen Schulterbewegung, hopp, bohrt er, drei Fingerglieder, drei Sekunden.
Diese Passage ist eine starke körperliche Metapher. Die Geste des Mannes – rational, prüfend, scheinbar harmlos – kippt in sexuelle und symbolische Gewalt. Das „Forage“, das Bohren, wird zur Parodie männlicher Wissenschaft: Kontrolle über Erde, über Körper, über das Lebendige. Pourchet inszeniert diesen Moment als grotesken Mikromythos patriarchaler Ordnung. Michelle beobachtet ihn mit Ekel, aber auch mit Erkenntnis. Das Erzittern ist hier ein moralisches: das Unbehagen, das sich in Sprache verwandelt. Indem die Erzählerin die Geste benennt, entmachtet sie sie. Sprache ersetzt Ohnmacht durch Analyse, und genau in dieser Bewegung liegt Pourchets Poetik – das Zittern als Übergang von Schock zu Bewusstsein.
Sirius selbst bleibt eine blasse, aber symbolisch mächtige Figur – der Repräsentant eines männlichen Diskurses, der glaubt, das Leben sei kontrollierbar. Sein Name verweist auf den Stern, der Orientierung gibt, aber zugleich kalt und unerreichbar bleibt. Seine Welt ist die der Messung, der Ordnung, der Temperaturkontrolle. Michelles Welt dagegen die des Körpers, der Reaktion, des Unkalkulierbaren. Ihr Konflikt ist nicht einfach Liebesdrama, sondern epistemologische Differenz: Rationalität gegen Empfindsamkeit, Ordnung gegen Bewegung.
Sirius: Gegenmetapher zum Erzittern und relationale Symbolik des Fixsterns
Der Name Sirius ist in Tressaillir von Maria Pourchet mehr als bloß ein Eigenname; er trägt eine dichte Schicht an metaphorischen, mythologischen und semantischen Bedeutungen, die auf mehreren Ebenen mit der Poetik des Romans korrespondieren. Der Name funktioniert wie ein leuchtendes und zugleich kaltes Zentrum der Beziehung zwischen Michelle und ihrem Partner: eine Figur des Lichtes, der Orientierung, aber auch der Distanz, Kontrolle und Gefährdung.
Der reale Sirius ist der hellste Fixstern am Nachthimmel, Teil des Sternbilds Canis Major („Großer Hund“). Sein Licht ist blendend, doch er ist fern, unerreichbar, kalt. Genau diese Eigenschaften überträgt Pourchet auf den Mann Sirius, Michelles Partner. Er ist derjenige, der Struktur gibt, der kontrolliert, der misst – wie ein Fixpunkt, der Orientierung verspricht. Aber zugleich ist er zu hell, zu rational, zu weit entfernt, um Nähe zuzulassen.
In der Beziehung wirkt er als Symbol einer männlich konnotierten Rationalität, die Licht auf alles werfen will, auch auf das Unaussprechliche. Er steht damit für jene Form des Blicks, die entzaubert und zugleich entfremdet. Seine „Leuchtkraft“ ist also auch eine Form der Gewalt: Er macht sichtbar, wo Michelle Dunkelheit braucht – Ruhe, Schutz, Ambiguität. So wird Sirius zum Stern des Übermaßes: ein Mann, der alles zu wissen glaubt, der „Temperatur“ und „Feuchtigkeit“ prüft (siehe die Szene mit den Fingern in den Blumentöpfen), der aber das Lebendige in seiner Unkontrollierbarkeit nicht akzeptieren kann.
Der Name Sirius stammt aus dem Altgriechischen Seirios (σειριος) und bedeutet „glühend“, „brennend“. In der Antike war Sirius mit der „canicule“, der Hundszeit, verbunden – jener heißen, unbarmherzigen Periode des Sommers, die Dürre und Krankheit bringt. Pourchet spielt unterschwellig mit dieser Herkunft: In Tressaillir brennt Sirius nicht wärmend, sondern austrocknend. Seine Präsenz entzieht Feuchtigkeit, Empfindsamkeit, Emotionalität. Im Bildhaushalt des Romans, der von Wasser und Durchlässigkeit geprägt ist, verkörpert Sirius das Gegenteil: Trockenheit, Fixierung, Austrocknung des Lebendigen. Er ist also der „Brennende“, der Michelle „verdorren“ lässt. Seine übermäßige Rationalität ist Hitze ohne Leben. Wo er ist, trocknet das Wasser, wo er fehlt, kehrt die Bewegung zurück. Die Symbolik folgt einer physikalischen Dialektik: Michelle ist flüssig, Sirius ist feurig; die Beziehung zwischen beiden erzeugt das Dampfen, das Aufkochen – das „Tressaillir“.
Der Name Sirius ruft in der Alltagssemantik Bilder der Klarheit hervor – das „Licht“ der Vernunft, die „Transparenz“ der Wahrheit. Pourchet nutzt genau das ironisch. Denn das Licht, das Sirius ausstrahlt, erhellt nichts, es blendet. Er sieht, aber er versteht nicht.
In der Szene, in der Michelle seine Gesten beobachtet, heißt es: „Il enfonce dans chaque pot un doigt thermomètre, inspection secrète des couches terrestres…“ Diese „Inspektion“ ist Ausdruck einer pseudowissenschaftlichen Haltung: Sirius will messen, nicht fühlen. Sein Licht ist das Licht des Labors, nicht der Intuition. Damit wird der Name zu einer poetischen Antithese: Sirius, der Stern, der alles sichtbar macht, steht für die Blindheit gegenüber dem Inneren. Die Lichtmetapher kehrt sich um.
Im System der Figuren ist Sirius der Fixpunkt, Michelle der Körper in Bewegung. Er gibt vermeintlich Stabilität, sie reagiert, schwankt, „zittert“. Aber Pourchet kehrt diese Rollen allmählich um. Der Fixstern wird statisch, steril, während der zitternde Planet das eigentliche Leben repräsentiert. So liest sich die Beziehung als kosmologische Metapher für Geschlechterordnung: Der Mann als ruhender Pol, die Frau als umlaufender Körper – und der Roman als Prozess des Entkommens aus dieser Umlaufbahn. Wenn Michelle sich von Sirius löst, verliert sie zwar Orientierung, gewinnt aber Gravitation mit sich selbst. Der Name Sirius verweist also auf ein patriarchales Modell der Liebe – hell, autoritär, unbewegt –, das Pourchet unterwandert, indem sie das Zittern (Bewegung, Instabilität, Unsicherheit) als neue Form von Wissen setzt.
Schließlich spielt Pourchet auch mit der ironischen Diskrepanz zwischen Name und Alltag. Ein Mann, der Sirius heißt – Stern, Gott, Licht – steht in der Küche, streitet über Brot, prüft Blumentöpfe, wirft eine Pflanze vom Balkon. Die Erhabenheit des Namens kollidiert mit der Trivialität der Realität. In dieser Ironie liegt der poetische Kern der Beziehung: der Fall des Sterns in die Banalität. Das Alltägliche wird kosmisch aufgeladen und gleichzeitig entmystifiziert. Der Stern verliert seine Höhe, die Erde gewinnt Bedeutung. Die Poetik des Erzitterns zeigt sich hier als Entsakralisierung: Das Große, Glühende, Männliche wird heruntergebrochen auf den Tonfall einer Wohnungsszene – und genau darin wird Wahrheit erzeugt.
Sirius ist das Gegenteil des „tressaillir“, und darin liegt seine poetische Funktion. Er steht für Starrheit, Kontrolle, Licht ohne Wärme, Wissen ohne Spüren. Das Zittern, das der Titel benennt, ist Michelles Antwort auf ihn – ein anderes Prinzip des Lebens. Die Beziehung zwischen beiden ist also nicht nur emotional, sondern kosmologisch strukturiert: eine Auseinandersetzung zwischen zwei Energieformen – das fixe, blendende Licht und die flüssige, vibrierende Bewegung. Wenn Michelle schließlich geht, löscht sie den Stern nicht aus; sie tritt aus seiner Umlaufbahn. Das Erzittern wird zur Autonomie des Planeten, der sich nicht länger um den Stern dreht.
So steht der Name Sirius im Zentrum des metaphorischen Systems des Romans: Er ist der Brennpunkt, an dem Pourchets gesamte Poetik sichtbar wird – die Spannung zwischen Kontrolle und Chaos, Licht und Dunkel, Fixierung und Fließen. Das „tressaillir“ ist die Emanzipation aus der Gravitation dieses Sterns.
Sprechen gegen das Verstummen
Sirius est rentré plus tôt. Je n’ai pas eu son message. Cache ta joie. Il a récupéré Lou à la danse. Embrasse-moi quand même. Alors ce nouveau dermatologue. Lou, les chaussures, la douche. Le nouveau a une idée pour mes plaques, un laboratoire suisse. J’ai arrosé. Tu as vu le rosier, la taille des boutons. Je réchauffe les lasagnes ou tu. Non très bien. Lou, les mains, les chaussons et à table. Ne te gratte pas devant la petite, tous nos tics ils les adoptent. Tu l’auras quand la pommade suisse. Le four à cent quatre-vingts degrés. L’entrepreneur passe demain à 9 heures. Tapantes. Pourquoi n’y a-t-il jamais de pain dans cette maison. Tu exagères.
Sirius ist früher zurückgekommen. Ich hab seine Nachricht nicht bekommen. Verbirg Deine Freude. Er hat Lou vom Tanzen abgeholt. Küss mich trotzdem. Und – wie ist der neue Hautarzt? Lou, die Schuhe, die Dusche. Der neue hat eine Idee wegen meiner Flecken, ein Schweizer Labor. Ich habe gegossen. Hast du die Rose gesehen, wie groß die Knospen sind? Soll ich die Lasagne aufwärmen oder willst du. Nein, sehr gut. Lou, Hände waschen, Hausschuhe an und an den Tisch. Kratz dich nicht vor der Kleinen, alle unsere Ticks übernimmt sie. Wann bekommst du eigentlich die Schweizer Salbe? Der Ofen auf 180 Grad. Der Handwerker kommt morgen um neun. Pünktlich. Warum gibt es in diesem Haus nie Brot? Du übertreibst.
Dieser Dialog entfaltet das Erzittern auf der Ebene der Sprache selbst: kein Satz reagiert auf den vorigen, jede Stimme spricht in einem eigenen Rhythmus. Was als Familienkommunikation erscheint, ist in Wahrheit ein Chor der Entfremdung. Pourchet zerlegt die Paarbeziehung in Tonfragmente, die sich nicht verbinden lassen. Das „Erzittern“ ist hier syntaktisch: Die Sprache zittert, weil sie keinen Kontakt mehr herstellen kann. Der Alltag wird zum absurden Theater, in dem Kommunikation nicht Austausch, sondern Selbstbestätigung ist. Die Liebe lebt nur noch als Geräusch.
Der Roman ist voller Stimmen, aber kaum ein Wort trifft. Kommunikation ist hier ein endloses Missverständnis. Die Dialoge zwischen Michelle und Sirius wirken wie aus einer absurden Komödie. Hinter der Banalität dieser Sätze steht eine tiefe Spracherschöpfung. Die Figuren sprechen, um nicht zu schweigen, aber sie verstehen einander nicht. Sprache wird zum Geräusch, das das Schweigen füllt.
Im Gegensatz dazu stehen die Therapiegespräche mit Ariel Zaccaria. Hier wird das Sprechen zum Ritual der Deutung. Der Therapeut benennt: „Un trouble de l’adaptation au changement“ („Eine Anpassungsstörung an Veränderungen“). Doch auch hier bleibt das Verstehen brüchig. Michelle weiß, dass die Diagnose eine Beruhigungsformel ist, keine Lösung. Pourchet entlarvt die Psychoanalyse als modernes Narrativ der Sinnproduktion, das die Angst klassifiziert, statt sie zu teilen.
Gleichzeitig zeigt der Roman, dass Sprechen notwendig bleibt. Es ist das einzige Mittel gegen das Verstummen, auch wenn es scheitert. Die Poetik des Erzitterns ist in diesem Sinn eine Poetik des prekären Dialogs: Das Reden zittert, stottert, bricht ab – aber gerade dadurch entsteht Kontakt. Das Unsichere ist das Wahre.
Analytische Präzision und eruptive Emotionalität
Pourchets Sprache lebt aus der Reibung zwischen kalter Präzision und plötzlichem Überschwang. Sie kann in einem Absatz zwischen klinischer Beschreibung und poetischer Ekstase wechseln. „Soll ich die Lasagne aufwärmen oder willst du. Nein, sehr gut.“ Solche lakonischen Miniaturen stehen direkt neben Passagen, in denen das Unbewusste in wilder, fast biblischer Bildlichkeit hervorbricht. Dieser Kontrast erzeugt eine neue Form von Wahrhaftigkeit. Pourchet glaubt weder an die reine Emotion noch an die reine Analyse. Sie vertraut auf ihre Kollision. Die parataktische Satzstruktur, die Häufung einfacher Hauptsätze, rhythmisiert das Denken; die Wiederholungen wirken wie Atemzüge, die sich gegen die Erstickung stemmen. Das Erzittern wird so zu einem syntaktischen Phänomen.
In dieser Spannung zwischen Beobachtung und Ausbruch liegt der intellektuelle Reiz des Romans. Pourchets Stimme erinnert an Annie Ernaux in ihrer sachlichen Unerbittlichkeit, aber sie ist körperlicher, unruhiger, mehr Musik als Protokoll. Wenn Ernaux seziert, lässt Pourchet die Wunde bluten. Ihre Sprache ist ein Organismus, der sich selbst analysiert, während er fühlt.
Michelle ist nicht allein Subjekt, sie ist zugleich Objekt der Beobachtung. Sie spricht von sich in der ersten Person, aber mit einer Distanz, die ihr Ich spaltet. In der einen Sekunde kommentiert sie sich selbst („Ô ce n’est pas mon genre“ – „Oh, das ist nicht meine Art“), in der nächsten verschmilzt sie mit ihrer Wahrnehmung. Dieser Effekt, ein Wechsel zwischen Autonomie und Selbstobjektivierung, spiegelt die Struktur weiblicher Sozialisation: sich sehen, wie man gesehen wird. Pourchet benutzt das als narrative Strategie. Die Erzählerin ist ihre eigene Patientin, ihr eigener Therapeut, ihr eigenes Versuchsobjekt. So entsteht ein Text, der wie eine psychoanalytische Sitzung funktioniert: Sprache wird Instrument der Selbsterkundung, aber nie ganz verlässlich. Jede Erkenntnis bringt neue Unsicherheit hervor.
Der Wechsel zwischen innerem Monolog, Dialog und szenischer Darstellung schafft ein Gefühl der Instabilität. Was wirklich geschieht, ist oft unentscheidbar. Realität und Projektion überlagern sich. Diese Ambivalenz ist nicht Fehler, sondern Programm. Pourchet zeigt, dass Wahrheit kein stabiler Zustand ist, sondern eine Bewegung – ein Erzittern zwischen Perspektiven.
Die organische Metapher der Erde
Neben der Flüssigkeit des Wassers steht das schwere, erdige Prinzip. Erde, Staub, Wurzeln – all das durchzieht die Beschreibungen der Wohnung und der Landschaft. Wenn Sirius in die Erde sticht, „trois phalanges, trois secondes“, wirkt es wie ein absurder Ritus, ein Versuch, die Kontrolle über das Lebendige zu behalten. Doch Erde ist kein fester Grund, sie ist trügerisch. Sie speichert das Tote und lässt Neues wachsen.
Für Michelle ist der Kontakt mit Erde zugleich Ekel und Verlangen. Der Roman kehrt immer wieder zur Szene des Sturms von 1984 zurück, der die Vogesen überflutete. Damals war sie Kind; das Wasser stieg, der Boden schwankte. Diese Erinnerung ist Urform des Erzitterns: Natur als Instabilität. Im Rückblick erkennt Michelle, dass die Angst ihres Körpers eine archaische Antwort war, kein Fehler. Sie muss lernen, das Zittern zuzulassen, statt es zu bekämpfen.
Damit wird die organisch-naturmythische Metaphorik zu einer Ethik des Annehmens. Pourchet entwirft keine romantische Rückkehr zur Natur, sondern eine Konfrontation mit der Materie des Lebens – feucht, porös, unrein. Erde, Wasser, Haut: alles fließt, alles fault, alles regeneriert sich. Diese Vorstellung von Kreislauf ersetzt die lineare Logik der Heilung. Man wird nicht „besser“, man lernt, in Bewegung zu bleiben.
Das Erzittern als Lebensform
In einer Zeit, die nach Stabilität, Klarheit und Selbstoptimierung verlangt, stellt Tressaillir eine radikale Gegenpoetik auf. Das Erzittern ist hier Widerstand gegen Sinnproduktion. Es ist ein Bekenntnis zum Unfertigen, zum Unverfügbaren. Die Erzählerin will nichts endgültig verstehen, ihre Analyse bleibt offen. Pourchet entzieht sich damit den Erwartungen sowohl des psychologischen Realismus als auch des feministischen Befreiungsnarrativs. Ihr Schreiben ist nicht therapeutisch, sondern existentiell. Das Erzittern ersetzt das Happy End. Wo klassische Romane Ordnung wiederherstellen, lässt Tressaillir das Chaos bestehen – aber in einer Form, die Bewusstsein daraus gewinnt.
Die Poetik des Erzitterns ist deshalb auch eine Poetik der Verantwortung: Wer bebt, spürt, und wer spürt, ist gezwungen zu reagieren. Sie verweigert die moralische Kälte des modernen Lebens, in dem alles messbar, aber nichts mehr fühlbar ist.
Pourchets Roman ist nicht linear-chronologisch. Er arbeitet mit einer fragmentierten Zeitstruktur: Präsente Alltagsszenen sind eng an eine Ich-Perspektive geknüpft, die ständig durch Erinnerungen, Assoziationen und medizinische/psychologische Diagnosen unterbrochen wird. Dieses Arrangement erzeugt eine Wahrnehmungsökologie, in der Gegenwart und Vergangenheit simultan mitschwingen. Wenngleich die äußere Handlung (Trennung, Hotelaufenthalt, Behördengänge, Wohnungssuche) einer Reihenfolge folgt, so sind die zentralen emotionalen Linien retrospektiv und topografisch aufgeladen – und die Erinnerungen treten nicht als abgeschlossene Rückblenden, sondern als in die Gegenwart einbrechende Lebendbilder auf. Das Ergebnis ist temporale Dichte statt linearer Entwicklung. Das Erzittern manifestiert sich auch hier: Momente des Durchbruchs (etwa das Weggehen, das Zerbrechen einer Pflanze, der dramatische Wurf eines Tongefäßes vom Balkon) schneiden ins Gefüge ein wie Stöße, die die narrative Kontinuität unterbrechen. Die rhythmisierte Syntax – mit Wiederholungen, Parataxen, Ellipsen – gibt dem Zeitfluss die Form eines pulsierenden Nervensystems.
Je suis revenue au bord de la Vologne. Rien n’a changé sinon les arbres, plus gros, plus sombres, et moi, plus vieille. L’eau passe avec la même indifférence. Je pensais que ça m’apaiserait, de revoir le lieu, que la peur y serait restée, figée dans la vase, mais non : elle coule. L’eau n’a rien retenu. Elle m’a vue enfant, elle me revoit femme, elle ne me reconnaît pas. J’y ai mis la main, j’ai senti la température : c’est froid comme au premier jour.
Ich bin zum Ufer der Vologne zurückgekehrt. Nichts hat sich verändert, außer den Bäumen, die größer und dunkler geworden sind, und mir, die ich älter geworden bin. Das Wasser fließt mit derselben Gleichgültigkeit dahin. Ich dachte, es würde mich beruhigen, diesen Ort wiederzusehen, dass die Angst dort geblieben wäre, erstarrt im Schlamm, aber nein: Sie fließt dahin. Das Wasser hat nichts zurückgehalten. Es hat mich als Kind gesehen, es sieht mich jetzt als Frau, es erkennt mich nicht wieder. Ich habe meine Hand hineingehalten, ich habe die Temperatur gespürt: Es ist kalt wie am ersten Tag.
Der Roman kulminiert in diesem stillen, schlichten, erschütternden Moment. Die Rückkehr an den Fluss – Kindheitsort und Schauplatz kollektiver Tragödie – bringt keine Erlösung, sondern Erkenntnis. Das Wasser, Symbol des Gedächtnisses, verweigert Erinnerung. Es ist indifferent, aber genau in dieser Gleichgültigkeit liegt eine neue Freiheit. Michelle begreift, dass die Angst kein abgeschlossenes Objekt ist, sondern Bewegung: Sie „fließt“. Das Erzittern wird hier zu einer ontologischen Kategorie. Leben bedeutet, in dieser Strömung zu stehen, zu spüren, zu beben, ohne festzuhalten. Die kalte Berührung der Vologne ist kein Trost, sondern ein Wiederfinden des Körpers in der Zeit.
Am Ende des Romans gibt es keine Versöhnung, keine Rückkehr in Stabilität. Michelle bleibt in Bewegung. Sie hat Sirius verlassen, aber sie trägt seine Stimme noch in sich. Sie hat den Fluss gesehen, aber er fließt weiter. Die Welt bleibt dieselbe, nur ihre Art, in ihr zu leben, verändert sich.
Das letzte Kapitel zeigt sie in einer Mischung aus Müdigkeit und Klarheit. Sie erkennt, dass ihr Erzittern kein Defekt ist, sondern eine Art, lebendig zu bleiben. „Zu erzittern heißt immer noch zu antworten.“ („Tressaillir, c’est encore répondre.“) Dieser Satz, einer der letzten des Buches, fasst Pourchets Ethik zusammen. Angst und Bewegung sind Zeichen von Leben; das Erstarrte ist das Tote. Damit schließt der Roman nicht, sondern öffnet sich. Der Schluss verweigert Katharsis, aber schenkt Bewusstsein. Michelle begreift, dass das Erzittern – physisch, emotional, sprachlich – die einzige Form von Wahrheit ist, die sie besitzen kann.
Maria Pourchet hat mit Tressaillir einen Roman geschrieben, der den Körper denken lässt, bevor er spricht. Er ist eine poetische Anatomie der Angst und eine politische Kritik an der Gesellschaft, die Angst pathologisiert. Seine Sprache ist nervös, präzise, flüssig, widerständig. Das titelgebende Erzittern ist keine Schwäche, sondern eine Form des Wissens. Es ist das Schreiben einer Frau, die den Schock in Rhythmus verwandelt, die Angst in Grammatik – und das Zittern in Bedeutung. Pourchet zeigt, dass Wahrheit nicht im Festen liegt, sondern im Schwankenden. Poetik des Erzitterns heißt insofern, zu leben, ohne zu versteinern. Pourchet hat so einen Roman geschaffen, der nicht nur erzählt, sondern spürt – und der den Leser selbst zur Resonanz bringt.