Die profane Geburt: Kindheit, Hoffnung und uneingelöste Erlösung

Philippe Forests Roman Et personne ne sait (Gallimard, 2025) erzählt von einem jungen, gescheiterten Maler im winterlichen New York, der an einem Weihnachtsabend einem rätselhaften, alleinstehenden Mädchen begegnet, dessen Herkunft, Status und Wirklichkeit ungewiss bleiben. Diese Begegnung wird zum Ausgangspunkt eines poetischen Nachdenkens über Kunst, Erinnerung und Verlust, das sich zwischen Roman, Filmvorlage und persönlicher Erfahrung des Erzählers entfaltet. Während der Maler versucht, das Kind – später die Frau – in einem Bild festzuhalten, reflektiert der Text zugleich die Bedingungen des Darstellens selbst: das Scheitern von Sinn, die Wiederholung von Motiven und die Unmöglichkeit, Leben oder Tod durch Kunst zu bewahren. So entwickelt sich eine melancholische Erzählung über das Vergehen der Zeit, die Fragilität von Hoffnung und die Rolle der Kunst als einziger, stets unzureichender Ort, an dem das Verlorene noch einmal erscheinen kann. Der Roman entwirft eine Schwebe, in der Realität, Erinnerung und Imagination unaufhörlich ineinander übergehen, ohne je stabil unterscheidbar zu werden. In der Figur des Malers und in der Erscheinung des Kindes verdichtet sich eine ästhetische Existenzform, die aus Verlust, Wiederholung und der Erfahrung eines radikal entleerten Sinnhorizonts hervorgeht. Weihnachten, Winter und Kindheit verheißen hier nicht Erlösung, sondern die fragile Möglichkeit von Bedeutung im Moment des Erzählens selbst. Kunst entsteht nicht als Offenbarung, sondern als vorsichtiger Versuch, dem Unverfügbaren für einen Augenblick Gestalt zu verleihen.

Die Weihnachtsszene wirkt im Gesamtroman nicht primär als religiöses Motiv, sondern als kulturell tief codierter Ausnahmezustand: Weihnachten markiert einen Moment, in dem soziale Regeln nicht nur gelten, sondern in besonderer Weise aktiviert werden. Die emphatische Behauptung einer „universellen Regel“, wonach ein Kind in dieser Nacht nicht allein gelassen werden dürfe, hebt das Fest aus dem bloß Kalenderhaften heraus und macht es zum moralischen Prüfstein der Welt. Weihnachten steht hier für ein Versprechen kollektiver Verantwortung, für eine fragile Übereinkunft, dass Schutz, Fürsorge und Solidarität zumindest einmal im Jahr unverhandelbar seien. Indem der Text diese Regel so kategorisch formuliert, legt er zugleich ihre Gefährdung offen: Das Pathos der Weihnacht ist notwendig, weil das Selbstverständliche im Alltag eben nicht mehr selbstverständlich ist.

Mais un enfant seul dans la nuit – et surtout si cette nuit est celle de Noël –, on ne le laisse pas sans compagnie. Il appartient au premier venu de se soucier de lui. C’est une règle universelle et à laquelle nul ne saurait se soustraire. Le monde confie aux grands le salut de tous les petits. Parce que les seconds ne survivraient pas sans les soins que leur prodiguent les premiers. On dirait cette enfant née de nulle part en cette nuit de Noël. Conçue par l’opération du Saint-Esprit, déposée sur terre par quelques anges descendus du ciel. Afin d’y porter la possible bonne nouvelle qu’expèrent les hommes. La petite fille joue à la marelle. Sur l’échelle qu’à la craie, en écartant la neige, elle a tracée à même le trottoir et où elle jette le gros caillou qu’elle a ramassé sous un arbre. En prenant garde à ne surtout pas mordre sur les lignes qui séparent les cases, elle saute à cloche-pied. Montant de la Terre au Ciel. Elle accompagne sa routine d’une petite chanson étrange dont chaque syllabe sonne à chacun de ses pas qui se pose sur l’une des cases de la marelle et qui résonne sur le pavé.

Aber ein Kind allein in der Nacht – und erst recht, wenn diese Nacht die des Weihnachtsfestes ist –, lässt man nicht ohne Begleitung. Es ist Sache des Erstbesten, sich seiner anzunehmen. Das ist eine universelle Regel, der sich niemand entziehen kann. Die Welt legt das Heil aller Kleinen in die Hände der Großen. Denn die einen würden ohne die Fürsorge der anderen nicht überleben. Man könnte meinen, dieses Kind sei in jener Weihnachtsnacht aus dem Nichts geboren. Empfangen durch das Wirken des Heiligen Geistes, von ein paar Engeln, die vom Himmel herabstiegen, auf die Erde gesetzt. Um hier die mögliche gute Nachricht zu tragen, auf die die Menschen hoffen. Das kleine Mädchen spielt Himmel und Hölle. Auf der Leiter, die sie mit Kreide, den Schnee beiseiteschiebend, direkt auf den Gehweg gezeichnet hat und auf die sie den großen Stein wirft, den sie unter einem Baum aufgelesen hat. Sorgfältig darauf bedacht, die Linien zwischen den Feldern ja nicht zu berühren, hüpft sie auf einem Bein. Von der Erde zum Himmel hinauf. Ihre Bewegungen begleitet sie mit einem seltsamen kleinen Lied, dessen Silben je mit einem ihrer Schritte erklingt, der in eines der Felder setzt und auf dem Pflaster widerhallt.

Die subtile Anspielung auf die Geburt Christi – das „aus dem Nichts geborene“ Kind, die Engel, die „mögliche gute Nachricht“ – wird dabei bewusst entmythologisiert und in eine weltliche, prekäre Gegenwart überführt. Das spielende Mädchen wird nicht zur Erlöserfigur, sondern zur Chiffre einer Hoffnung, die sich nur im Spiel, in der Bewegung zwischen Erde und Himmel, artikulieren kann. Das Himmel-und-Hölle-Spiel übersetzt die christliche Heilserzählung in ein kindliches Ritual, das weder Erlösung garantiert noch Transzendenz erreicht, sondern lediglich deren Möglichkeit imaginiert. Weihnachten erscheint so als poetischer Schwebezustand: zwischen Glauben und Zweifel, Sinnstiftung und Leere, zwischen dem Wunsch nach einer „guten Nachricht“ und dem Wissen, dass ihr Eintreten allein von den „Großen“ abhängt, die Verantwortung übernehmen – oder versagen.

Die Weihnachtsbegegnung mit dem geheimnisvollen Mädchen Jennie im Central Park hat für den Maler Eben Adams sowohl existenzielle als auch künstlerische Folgen, die sein Leben grundlegend transformieren: Vor der Begegnung befand sich Adams in einer tiefen Krise; er zweifelte an seinem Talent, und seine Pinselstriche waren zur bloßen Routine erstarrt. Die Begegnung gibt ihm ein neues, obsessives Ziel: das Porträt von Jennie zu malen. Diese Arbeit wird zum Dreh- und Angelpunkt seines Schaffens, wobei jedes andere Bild, das er malt, nur noch als Vorstudie für dieses eine „wahre“ Porträt erscheint. Unmittelbar nach dem Zusammentreffen wendet sich Adams‘ Glück. Obwohl sich sein Stil nicht offensichtlich ändert, finden seine Bilder – selbst die leeren Landschaften – plötzlich Anklang und Käufer. Er erhält Vorschüsse und Aufträge, was ihn aus seiner prekären Lage rettet, in der er kurz davor stand, seine Wohnung zu verlieren und zum Obdachlosen zu werden.

Der Erzähler beschreibt, dass Jennie Adams im eigentlichen Sinne „rettet“. Sie befreit ihn aus dem „Winter des Geistes“ und gibt ihm den Geschmack am Malen und am Leben zurück. Er wandelt sich von einem einsamen, fiebrigen Mann am Rande der Verzweiflung zu einem euphorischen Künstler, der mit neuer Energie arbeitet. Die Begegnung führt letztlich zur Vollendung des Porträts La Jeune Fille en robe noire. Dieses Werk wird im Kontext des Romans als „Meisterwerk“ gefeiert, das schließlich seinen Platz in der permanenten Sammlung des Metropolitan Museum of Art in New York findet und dort als eines der populärsten Stücke gilt.

Eine metaphysische Folge ist, dass Adams durch Jennie in eine Welt eintritt, in der die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen. Die Begegnung ermöglicht ihm eine Form von Liebe und Verbundenheit, die über den Tod und die normale Zeitrechnung hinausgeht, da Jennie bei jedem Treffen auf unerklärliche Weise altert, bis sie eine junge Frau wird. Die Weihnachtsbegegnung hat Adams aus seiner Erstarrung gerissen.

Der Roman endet ohne Auflösung im klassischen Sinn: Die Begegnung mit dem Kind bleibt schwebend, ihr Status zwischen Vision, Erinnerung und Fiktion unentscheidbar, und das Bild, das daraus hervorgeht, ersetzt kein verlorenes Leben, sondern markiert dessen Abwesenheit. Damit bestätigt das Ende, dass Erlösung nicht eintritt, sondern nur als Möglichkeit imaginiert wird, die an die fragile Geste der Kunst gebunden ist. Weihnachten erscheint rückblickend als der Zeitpunkt, an dem diese Illusion erlaubt ist: ein kurzer, kulturell legitimierter Moment, in dem Hoffnung gedacht werden darf, selbst wenn sie sich nicht erfüllt.


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