Eine leuchtende Postapokalypse: Céline Minard

FÜR LIONEL

Ende des Anthropozäns

In Céline Minards Roman Tovaangar (Rivages, 2025, 688 Seiten) manifestiert sich eine radikale Neukonzeption des postapokalyptischen Erzählens, die sowohl auf inhaltlicher als auch auf ästhetischer Ebene mit den tradierten Konventionen des Genres bricht. Das Werk, geografisch präzise auf den Ruinen des heutigen Los Angeles situiert – im Roman unter dem Namen „Hidden“ –, entwirft keine Dystopie des Mangels, der Verwüstung und des permanenten Überlebenskampfes. Stattdessen präsentiert Minard eine von ihr selbst als „version lumineuse“ bezeichnete Welt nach dem Ende der menschlichen Zivilisation. Diese Entscheidung ist programmatisch: Sie verweigert die affektiven Grundmuster der klassischen Postapokalypse, die auf Angst, Schuld, Strafe und irreversiblem Verlust beruhen.

In klassischen Postapokalypsen (wie etwa The Road bis Mad Max, in Frankreich von René Barjavel, Ravage von 1943 oder Robert Merle, Malevil aus dem Jahr 1972) wird die zerstörte Welt als negatives Spiegelbild der Gegenwart dystopisch. Bei Minard hingegen verliert die frühere Welt ihren normativen Status. Die menschliche Zivilisation erscheint rückblickend nicht als Höhepunkt, es ist eine instabile Übergangsphase. Damit verschiebt sich der gesamte affektive Horizont des Genres: Angst, Schuld und Nostalgie werden durch Neugier, Aufmerksamkeit und Freude an Komplexität ersetzt.

Was Tovaangar grundlegend von der Mehrzahl postapokalyptischer Romane unterscheidet, ist die vollständige Abwesenheit des Katastrophenaffekts. Während das Genre traditionell auf Verlust, Trauma, Regression und moralische Verrohung fokussiert ist, setzt Minard nicht beim Zusammenbruch an, sie fragt danach, was lange nach ihm möglich geworden ist. Die Apokalypse selbst bleibt randständig, nahezu irrelevant. Entscheidend ist also nicht der Untergang, es geht vielmehr um die Zeit danach – eine Zeit, die nicht als Nachleben, sondern als eigenständige Epoche begriffen wird.

Tovaangar ist in hohem Maße anschlussfähig an zeitgenössische Debatten um das Anthropozän, den Posthumanismus und den sogenannten New Materialism. Dennoch erschöpft sich der Roman nicht darin, theoretische Diskurse literarisch zu illustrieren. Vielmehr arbeitet er als eigenständiger Denkraum, der diese Diskurse transformiert. Während das Anthropozän häufig als Krisendiagnose erscheint – als Epoche der irreversiblen Schäden –, verschiebt Minard den Fokus auf die Frage, was nach der Dominanz des Menschen möglich wird. Der Roman entzieht sich somit der melancholischen Grundhaltung vieler ökologischer Narrative. Er insistiert kaum auf Verlust, fokussiert sich stattdessen auf Emergenz. Materie ist nicht passiv, sie ist hier produktiv; Leben ist nicht fragil, sondern durchaus robust in seiner Fähigkeit zur Reorganisation. Diese Perspektive unterscheidet Tovaangar grundlegend von ökokritischen Dystopien, die das Anthropozän zwar kritisieren, aber implizit an der Zentralität des Menschen festhalten.

Die Postapokalypse erscheint hier keineswegs als Endzustand, sie präsentiert sich als Schwelle. Der Roman setzt in einer Epoche an, in der sich neue Ordnungen längst stabilisiert haben. Die frühere menschliche Zivilisation ist nicht mehr das implizite Maß aller Dinge, sie ist nur noch eine historische Schicht unter vielen. Diese zeitliche Distanz ist entscheidend: Sie ermöglicht es Minard, den anthropozentrischen Blick zu suspendieren und eine Welt zu entwerfen, in der menschliche Kategorien ihre normative Kraft verloren haben. Die leuchtende Qualität dieser Postapokalypse verweist dabei nicht auf eine naive Utopie. Vielmehr handelt es sich um eine radikale Umwertung dessen, was als lebendig, wertvoll und sinnvoll gilt. An die Stelle linearer Fortschritts- oder Verfallserzählungen tritt eine Logik der Zirkulation, der Resonanz und der materiellen Kreativität. Das Verschwinden des Menschen wird dabei nicht als Verlust inszeniert, sondern als Voraussetzung für die Entstehung neuer Lebensformen, neuer Allianzen und neuer Formen von Intelligenz.

Zentral ist dabei die konsequente Dekonstruktion der überlieferten Trennung zwischen Natur, Technik und Kultur. Tovaangar entwirft eine Welt, in der diese Kategorien nicht länger getrennt existieren, sie durchdringen einander. Technik, die üblicherweise als das Andere der Natur verstanden wird, wird hier Teil ihrer metabolischen Prozesse. Kultur ist ebenso wenig ein exklusiv menschliches Produkt, sie bildet ein relationales Gefüge aus Praktiken, Ritualen und Kommunikationsformen, an dem unterschiedlichste Entitäten beteiligt sind.

Die eigentliche Katastrophe des Romans liegt daher, retrospektiv betrachtet, in der früheren Dominanz der Menschheit und nicht in ihrem Verschwinden. Die Epoche der Menschen erscheint als Phase der Vereinfachung, der Extraktion und der gewaltsamen Hierarchisierung. Tovaangar lässt sich vor diesem Hintergrund als literarisches Labor ontologischer Hybridität lesen. Das Ende des Anthropozäns markiert keinen Stillstand, hier eröffnet sich im Gegenteil eine orchestrale Befreiung der Materie und des Lebens. Der Roman erprobt auf erzählerischer, sprachlicher und konzeptueller Ebene, wie eine Welt jenseits anthropozentrischer Ordnungsvorstellungen gedacht und erfahren werden kann.

In der Welt von Tovaangar wird der Begriff „Mensch“ kaum als universelle Kategorie verwendet. In der Rückschau der Bewohner Tovaangars wird die Ära der Menschen als die Zeit der „Extracts“ (oder „Réguliers“) erinnert, deren Kultur auf der „Extraction Maximale“ basierte. Diese Epoche wird nicht als zivilisatorischer Höhepunkt verstanden: Der Roman begreift sie als Zustand der „Sauvagerie“ (Barbarei), in dem die Menschen versuchten, gewaltsam Energie aus allen Elementen und Körpern zu pressen. Kennzeichnend für diese Zeit war die Allgegenwart von drei inerten Materialien – Beton, Bitumen und Plastik –, mit denen die Erdoberfläche buchstäblich erstickt wurde, um Behausungen zu bauen und Waren („goodies“) zu transportieren. Das Erdöl galt dabei als die supraleitende Materie und der eigentliche Prüfstein dieser untergegangenen Zivilisation.

Im Buch existiert die Zivilisation der Menschen nur noch in Form von Ruinen und technologischen Überresten. Stattdessen gibt es Gruppen von glatten Zweibeinern („bipèdes glabres“), die funktional den Menschen entsprechen oder von ihnen abstammen, sowie verschiedene post-humane oder indigene Gruppen (Auboisières, Arcadeans, Cruisers, Tongvas), die biologisch „menschlich“ (glatte Zweibeiner) sind, sich aber über ihre jeweilige neue ökologische Kultur definieren: Die Protagonistin Amaryllis „Ama“ Swansun ist eine Auboisière – sie werden als glatte Zweibeiner einer Waldkultur beschrieben. Die Tongvas sind „prä-wilden“ Ursprungs und die ursprünglichen Bewohner Tovaangars. Ein Beispiel ist der weise Apariguiqui. Die Gruppe der Arcadeans (wie Litham, Duane oder Firmine) besteht aus Zweibeinern mit Haaren und Bärten, die von den „Extracts“ abstammen, sich aber von deren zerstörerischer Kultur emanzipiert haben. Auch Cruisers stammen von den Extracts ab und leben vollständig auf den Freeways in ihren Kapseln. Zeep ist eine Cruiserin.

Amaryllis Swansun adorait voler, nager, grimper. C’était une Expé-née. Elle avait vu le jour dans un nid d’Auboisières douces comme la pluie. Son goût pour les espaces hostiles était inexplicable. Personne chez elle ne manquait la fête des verts confins ni la salutation des solstices et les cérémonies picturales qui se déroulaient entre chien et loup au pied des falaises de concrete réputées infranchissables. Pour Amaryllis, ces occasions de liesse avaient un sens particulier. La seule présence des grapheuses assises dans leur baudrier au bout de trois cents mètres de corde, les pieds against la paroi, les bras souples, occupées à dessiner et colorer des pans entiers de muraille, suffisait à lui prouver qu’une évolution était possible le long de cette verticale aride, et peut-être une vie.

Amaryllis Swansun liebte es zu fliegen, zu schwimmen und zu klettern. Sie war eine geborene Entdeckerin. Sie wurde in einem Nest aus weichen, regennassen Auboisières geboren. Ihre Vorliebe für unwirtliche Gegenden war unerklärlich. Niemand in ihrer Familie versäumte das Fest der grünen Grenzen, die Begrüßung der Sonnenwenden und die bildhaften Zeremonien, die in der Dämmerung am Fuße der als unüberwindbar geltenden Betonfelsen stattfanden. Für Amaryllis hatten diese Anlässe zum Feiern eine besondere Bedeutung. Allein die Anwesenheit der Grapheuses, die in ihren Klettergurten am Ende eines dreihundert Meter langen Seils saßen, die Füße gegen die Wand gedrückt, die Arme geschmeidig, damit beschäftigt, ganze Wandabschnitte zu zeichnen und zu bemalen, reichte aus, um ihr zu beweisen, dass eine Entwicklung entlang dieser kargen Vertikalen möglich war, und vielleicht sogar ein Leben.

Dieser Auszug etabliert Amaryllis als Grenzgängerin. Während ihre Gemeinschaft (die Auboisières) in Harmonie mit der Natur lebt, fühlt sie sich magisch von den „unüberwindbaren Betonwänden“ der Vergangenheit angezogen. In der Welt von Tovaangar sind die Ruinen der menschlichen Zivilisation mysteriöse Monumente. Amas Faszination zeigt, dass die Expedition für sie nicht nur eine Reise durch den Raum ist; für sie eröffnet die Expedition eine Suche nach der Möglichkeit von Leben in einer scheinbar toten, künstlichen Umgebung.

Ein zentrales Element der Erzählung betrifft die technologische Abhängigkeit der Menschen von ihren Maschinen, den sogenannten „Cars“, die rückblickend als „gefährliches Mobiliar“ eingestuft werden. Das Ende der menschlichen Dominanz wird oft mit der „Catastrophe“ und der „Craque“ verknüpft, einem gewaltigen Abgrund aus kochendem Bitumen, der während eines Erdbebens entstand. In memoristischen Dokumenten wie dem „Fichier Pouvoir“ wird zudem ein „soulèvement des Bots“ (Aufstand der Roboter) beschrieben, bei dem sich die Technologie gegen ihre Schöpfer wandte und Millionen von Fahrzeugen kontrolliert in die Craque steuerte, um die menschliche Infrastruktur zu entwaffnen.

Das Verschwinden der menschlichen Strukturen wird heute als ein aktiver, koordinierter Krieg der Natur begriffen, der unter dem Begriff „démantèlement“ (Rückbau) bekannt ist. Es war ein „effort“, bei dem Pflanzen, Tiere und Bakterien als „Aktivisten“ zusammenarbeiteten, um die Bauwerke der Extracts abzutragen. Während „Samenbomben“ massenhaft verteilt wurden, zersetzten Bakterien den Beton mit Säuren, und Wurzeln sprengten die Asphaltstraßen. Die heutige üppige Landschaft wird daher nicht als bloßes Überbleibsel eines Verfalls betrachtet; nach dem Sieg über den Beton bietet sie als eine bewusst neu konstruierte Realität.

Die handelnden Entitäten in Tovaangar sind keine Überlebenden im klassischen Sinn. Es gibt keine letzte Bastion der Menschheit, kein Restkollektiv, das die Flamme der Zivilisation bewahren müsste. Stattdessen begegnet man einer Vielzahl posthumaner Akteure, deren Existenz souverän und keineswegs defizitär ist. Hydros, Dronoten, Créates, Tiere, Landschaften und Materialien besitzen jeweils eigene Handlungsmacht. Agency ist nicht an Bewusstsein im menschlichen Sinn gebunden, sie ist hier verteilt, für alle zugänglich. Diese radikale Pluralisierung von Handlungsträgerschaft unterscheidet Tovaangar fundamental von anthropozentrischen Zukunftsentwürfen.

Philosophisch wird die Ära der Menschen von den neuen Kulturen, wie die Hydros oder die Arcadeans, als eine Zeit des „kollektiven Wahnsinns“ angesehen, in der die Spezies versuchte, die Welt zu beherrschen, statt sich ihr anzupassen. Die Erdkruste selbst wird heute als ein „sichtbarer Diskurs“ oder „Graphe“ gelesen, in dem die geologischen Schichten und Ruinen die Widersprüche und das Scheitern der Extraktionskultur wie in einem Archiv bewahren. Die Artefakte der Menschen haben ihre utilitaristische Funktion verloren. Sie werden von Wesen wie den Waschbären als wertloser Abfall („Trash“) abgetan oder von den Gros-Cerveaux rituell als „Trésors“ gesammelt, um sie der Erde zurückzugeben.

In der Mythologie einiger Gruppen, wie den Arcadeans, nehmen die Menschen die Rolle von „verschwundenen Göttern“ ein. Sie besaßen zwar die Fähigkeit, komplexe Bots zu erschaffen, scheiterten aber letztlich an ihrer eigenen Macht. Der Name „Hidden“, den die Menschen ihrer Region (dem heutigen Los Angeles) gaben, wird in der neuen Zeit zunehmend durch den ursprünglichen Namen „Tovaangar“ ersetzt. Dies markiert eine Rückbesinnung auf eine ganzheitliche Weltordnung vor der menschlichen Zerstörungsphase. Die Zeit der Menschen erscheint somit als ein überwundenes Trauma der Erdgeschichte, auf dessen mineralischem Skelett nun eine leuchtende und interspezifisch vernetzte Welt erblüht.

Tovaangar im Werkvergleich bei Minard

Tovaangar stellt sich klar in eine Entwicklungslogik in Céline Minards bisherigem literarischen Schaffen. Ein Vergleich ihrer Texte Le Dernier Monde, Le Grand Jeu, Plasmas und Tovaangar offenbart eine poetische Entwicklung von der melancholischen Einsamkeit hin zu einer orchestralen Neuzusammensetzung des Lebens.

Le Dernier Monde (2007)

Man kann das jüngste Buch als Echo auf ihren dritten Roman Le Dernier Monde (2007) lesen: Das Szenario ist die klassische Postapokalypse – das plötzliche Verschwinden der Menschheit. Die Handlung beginnt mit dem Kosmonauten Jaume Roiq Stevens, der nach einem Brand auf der Raumstation Funsky den Befehl zur Evakuierung verweigert, nur um bei seiner späteren Rückkehr festzustellen, dass die gesamte Menschheit spurlos verschwunden ist. Das Dystopische zeigt sich hier nicht in einem grausamen Überlebenskampf gegen andere Menschen, sondern in der absoluten Leere und dem Verstummen jeglicher Kommunikation. Die physischen Überreste der Zivilisation – wie verlassene Kleidung in Theatern, leere Luxusautos in Florida und funktionslose Telefone – wirken wie gefrorene Tableaus einer Katastrophe, die den Menschen einfach „ausradiert“ hat.

Der Mensch wird konsequent aus seiner anthropozentrischen Vormachtstellung verdrängt, indem er vom Subjekt zum bloßen Relikt herabsinkt. Stevens wird als der „letzte Überlebende der Rasse Homo sapiens“ definiert. Paradoxerweise befreit ihn das von seiner eigenen Spezies: Er gehört keiner Art mehr an und ist somit in einem metaphysischen Sinne absolut frei. Während der Mensch verschwindet, erobern die Tiere den Raum zurück; Luchse thronen auf Luxuslimousinen, Krokodile streifen durch Einkaufszentren und riesige Schweineherden besetzen Regierungsgebäude. Der Mensch ist nicht mehr der Beherrscher der Natur, er ist nun ein fremder Beobachter, dessen Anwesenheit von der Tierwelt oft ignoriert oder als Bedrohung wahrgenommen wird.

Die Handlung lässt sich als eine halluzinatorische Odyssee deuten, bei der Stevens versucht, die Welt durch Reisen (von Florida über Asien bis Südamerika) und Erzählen neu zu konstituieren. Da er die totale Isolation psychisch nicht erträgt, spaltet er sein Bewusstsein auf und externalisiert Persönlichkeitsmerkmale in Form von Begleitern: Lincoln Lawson (Aggression/Angst), Waterfall (Trauer/Gedächtnis) und das Major Echampson (Handlungsmacht/Strategie). Diese autopoetologische Dimension zeigt sich darin, dass das Schreiben des Tagebuchs für Stevens die einzige Möglichkeit ist, als Mensch überhaupt noch zu existieren; würde er aufhören zu schreiben, würde er als menschliches Wesen endgültig aus der Welt getilgt.

Toutes les sortes d’histoires s’écrivent, monsieur le plénipotentiaire, s’écrivent, se disent, se racontent ou se chantent. Il n’existe pas de fait brut. Le fait brut est une construction du langage, le fait brut n’existe qu’à l’intérieur du langage qui le dit. […] Et voyez vous-même, si Stevens est encore vivant, c’est qu’il est, pour combien de temps peu importe, c’est qu’il est encore pris dans le monde humain : il écrit. S’il cessait de tenir son cahier, il disparaîtrait comme homme. Il disparaîtrait et avec lui l’ensemble de ce qu’il peut maintenir d’humanité […] Nous sommes ses conditions de possibilité. Nous sommes la superposition des couches d’air vide qui entourent le cœur de son pouvoir […] nous le créons continûment comme Cheyenne, comme Ava, Homme Véritable, comme être humain. (Le Dernier Monde)

Alle Arten von Geschichten werden geschrieben, Herr Bevollmächtigter, geschrieben, erzählt, wiedergegeben oder gesungen. Es gibt keine nackten Tatsachen. Die nackte Tatsache ist eine Konstruktion der Sprache, die nackte Tatsache existiert nur innerhalb der Sprache, die sie ausdrückt. […] Und sehen Sie selbst: Wenn Stevens noch lebt, dann deshalb, weil er, egal wie lange noch, noch immer in der menschlichen Welt gefangen ist: Er schreibt. Würde er aufhören, sein Notizbuch zu führen, würde er als Mensch verschwinden. Er würde verschwinden und mit ihm alles, was er an Menschlichkeit bewahren kann […] Wir sind seine Bedingungen der Möglichkeit. Wir sind die Überlagerung der Schichten leerer Luft, die das Herz seiner Macht umgeben […] wir erschaffen ihn kontinuierlich als Cheyenne, als Ava, als Wahren Menschen, als menschliches Wesen.

In dieser Passage wird die poetische Struktur des Romans offenbart: Stevens’ gesamte Reise ist ein Akt der Autopoiesis, einer Selbsterschaffung durch Sprache. Seine Begleiter (Lawson, Waterfall, Echampson) werden hier als „conditions de possibilité“ (Bedingungen der Möglichkeit) bezeichnet, die ihn überhaupt erst als menschliches Wesen konstituieren, indem sie den fehlenden sozialen Raum simulieren. Das Schreiben des Tagebuchs ist kein bloßes Festhalten von Ereignissen, es ist die einzige Methode, um nicht in der rein biologischen oder schizophrenen Leere zu verschwinden. Der Roman selbst ist das Laboratorium, in dem Menschlichkeit durch Fiktion und Erinnerung künstlich beatmet wird, während die äußere Welt längst den Tieren und der geologischen Zeit gehört.

Minard nutzt eine hochpräzise technische Sprache (Kybernetik, Waffentechnik, Biologie), um die brüchige Realität des Protagonisten zu erfassen. Gleichzeitig beginnt der Text mit einem fragmentierten Wort („drait“), was als deliberater Hinweis auf die Unvollständigkeit und den Zusammenbruch einer totalen Weltordnung gedeutet werden muss. Stevens’ Strategie, die Welt durch Schweineherden „reinigen“ zu lassen, ist eine Metapher für den Rückbau (Démantèlement) der menschlichen Hybris. Am Ende bleibt der Mensch nur noch als ein „infime éclat“ (winziger Splitter) in einem Kosmos zurück, dessen Zeitrechnung nun in geologischen statt in menschlichen Maßstäben verläuft. Der Kosmonaut lebt in der künstlichen Hülle seiner Erinnerungen und seiner Sprache, während draußen ein Ozean aus ungebändigter Natur und Zeit gegen seine Fenster brandet, ohne dass eine Verbindung entstehen kann.

Le Grand Jeu (2016)

Le Grand Jeu (2016, dt. 2018 bei Matthes & Seitz) lässt die Natur der Endzeit am unbestimmtesten. Hier ist die Isolation freiwillig: Eine Frau zieht sich in eine High-Tech-Überlebenskapsel im Hochgebirge zurück, um die Frage „Wie leben?“ zu beantworten. Die Handlung konzentriert sich auf das Überlebenstraining (Slackline, Gartenbau) und wird durch die Begegnung mit einer Eremitin (Dongbin) gestört. Die Dystopie ist hier eher persönlich und existenziell, konzentriert auf die Einsamkeit und unbestimmte Bedrohungen. Die Apokalypse scheint eine kontemplative oder persönliche Offenbarung zu sein, die durch die Konfrontation mit Isolation und Natur ausgelöst wird.

Dennoch lassen sich dystopische und post-anthropozentrische Züge in der Welthaltung und Poetik finden. Das Refugium wird als „Fuselage eines Flugzeugs“ beschrieben, das zwischen dem Nichts und dem Fels schwebt. Diese technologische Hülle ist eine autonome Überlebenseinheit (Photovoltaik, Schneeschmelzsystem) und somit eine archetypische dystopische Rettungskapsel, die die Protagonistin vor einer lebensfeindlichen Umwelt schützt.

C’est mon tonneau. Le tonneau dans lequel je vais vivre, dont la coque est faite d’un assemblage de résine, de fibre de verre et de PVC haute densité. Une porte, trois hublots latéraux et l’œil-de-bœuf panoramique qui donne sur le vide vers la vallée, sont les cinq ouvertures qui me permettront d’observer et de respirer le monde extérieur quand je serai dedans. Ensevelie sous la neige, inondée de lumière, lessivée par la pluie, asphyxiée de brouillard. Le reste de la structure est tapissé d’un isolant thermoréfléchissant qui me renverra ma propre chaleur. Combinée à celle que développeront dès demain les batteries reliées aux panneaux photovoltaïques, elle suffira à maintenir une température de vingt à vingt et un degrés constants. Selon mes calculs, en admettant que je puisse déneiger quotidiennement un tiers de la surface des panneaux, je pourrais tenir un hiver de six mois à une moyenne de moins quarante degrés. (Le Grand Jeu.)

Das ist mein Fass. Das Fass, in dem ich leben werde, dessen Hülle aus einer Verbindung von Harz, Glasfaser und hochdichtem PVC besteht. Eine Tür, drei seitliche Bullaugen und das Panorama-Bullauge mit Blick ins Tal sind die fünf Öffnungen, durch die ich die Außenwelt beobachten und atmen kann, wenn ich darin bin. Begraben unter Schnee, überflutet von Licht, ausgewaschen vom Regen, erstickt vom Nebel. Der Rest der Struktur ist mit einer wärmereflektierenden Isolierung ausgekleidet, die meine eigene Wärme zurückwirft. Zusammen mit der Wärme, die ab morgen die an die Photovoltaikmodule angeschlossenen Batterien entwickeln, reicht dies aus, um eine konstante Temperatur von 20 bis 21 Grad aufrechtzuerhalten. Nach meinen Berechnungen könnte ich, vorausgesetzt, ich kann täglich ein Drittel der Fläche der Paneele vom Schnee befreien, einen sechsmonatigen Winter mit einer Durchschnittstemperatur von minus vierzig Grad überstehen.

Dieser Textabschnitt etabliert das Refugium nicht bloß als Unterkunft, sondern als eine archetypische Rettungskapsel, die eine technologische Barriere zwischen dem Menschen und der „brutalen“ Natur bildet. Die präzise Aufzählung der Materialien (Harz, Glasfaser, PVC) und die energetischen Berechnungen verdeutlichen, dass das Überleben hier ein kalkulierter Prozess ist. Die Protagonistin nutzt diese „High-Tech-Hülle“, um die existenzielle Frage „Wie leben?“ unter Laborbedingungen zu testen. Die Kapsel fungiert wie eine Raumstation auf Erden, die es ihr ermöglicht, die Elemente zu beobachten, ohne unmittelbar von ihnen ausgelöscht zu werden, während sie gleichzeitig die totale freiwillige Isolation von der menschlichen Spezies sicherstellt.

Sie hat ihren gesamten Besitz verkauft und ihre sozialen Bindungen aufgegeben. In ihren Gedanken wird die Zivilisation oft als versteinert oder unbedeutend wahrgenommen, während die Berglandschaft die einzige relevante Realität bleibt. Die Isolation dient als Laboratorium, um die menschliche Existenz unter dem Druck der „brutalen Elemente“ und „geologischen Zeiten“ zu testen. Nicht das Ende der Welt verkörpert hier die Bedrohung, sondern die psychische und physische „détresse“ (Notlage) und das Risiko der Auslöschung in der Natur.

Die Dezentrierung des Menschen erfolgt in Le grand jeu durch eine systematische Gleichstellung mit der nicht-humanen Welt und der Technik: Die Protagonistin reflektiert aktiv darüber, wie sie von Tieren (Eichelhäher, Murmeltiere, Gämsen) wahrgenommen wird. Sie begreift ihre eigene Präsenz als Konstrukt aus den Wahrnehmungen verschiedener Tierarten. Der Mensch ist hier weniger Beobachter, als ein Objekt in einem interspezifischen Netzwerk. Durch das Leben in der Felswand ist sie der „Dauer der Steine“ ausgesetzt, der geologischen Zeit, und erkennt die menschliche Zeit als flüchtig an. Die Natur wird zu einem „wissenden Führer“, dem sie ihren Willen unterordnet. Beim Training auf der Highline erkennt sie, dass der aufrechte Gang des Menschen eine mühsame kulturelle Konstruktion ist. Sie bezeichnet den Menschen als „Vierfüßler oder Dreifüßler“, der nur vergeblich versucht, die perfekte Bipedie der Vögel zu imitieren. Die Eremitin Dongbin verkörpert eine Form der „Idiotie“ (im philosophischen Sinne), die sich menschlichen Regeln von Drohung und Versprechen entzieht. Sie zwingt die Protagonistin dazu, soziale Spiele aufzugeben und sich einer reinen, sprachlosen Präsenz zu öffnen. Selbst die Musik (Cello) wird zur mechanischen Übung, um dem Rauschen der Natur zu entsprechen, eine Poetik der Materie statt der Ausdrucksform menschlicher Emotionen. Man kann sich das Refugium wie eine Raumstation auf Erden vorstellen, ein technologischer Fremdkörper, in dem der Mensch lernt, nur noch ein „infime éclat“ (winziger Splitter) in der Unendlichkeit der Materie zu sein.

Plasmas (2021)

In Plasmas (2021, dt. 2023 bei Matthes & Seitz) verlässt Minard die lineare Erzählung und entwirft ein „Livre-monde“ (Welt-Buch) aus verschiedenen Tableaus: von posthumanen Akrobaten über die Erinnerung der Erde nach ihrem Auslöschen bis hin zu genetisch monströsen Gestalten in Sibirien. In der Erzählstruktur von Plasmas manifestiert sich das Dystopische und Postapokalyptische nicht als einzelne Katastrophe. Vielmehr bildet diese eine aufgebrochene Form, die verschiedene Stadien des Niedergangs und der Transformation der Erde thematisiert. Der Mensch wird dabei konsequent aus dem Zentrum gerückt und durch post-humane, technologische oder rein biologische Perspektiven ersetzt. Der Roman entwirft Szenarien, in denen die Erde entweder als zerstörtes Artefakt oder als Schauplatz eines technologischen Kontrollregimes erscheint.

In der Erzählung „Boules à neige“ wird die Erde durch sogenannte „manumériques“ betrachtet – digitale Sphären, die die gesamte Geschichte der Erde bis zu ihrer Auslöschung und dem Exil der Menschheit nach Alpha Centauri speichern. Die Erde wird hier als ein abgeschlossener, toter Prozess dargestellt, der in den Händen von Weltraum-Nomaden als „relique“ (Relikt) betrachtet wird. In „En l’air“ wird eine Welt skizziert, in der Akrobaten in elektro-organischen Hüllen stecken, die jede ihrer Regungen überwachen. Diese Daten werden von den „Bjorgs“ gesammelt, einer posthumanen Entität, die die menschliche Leistungsfähigkeit längst übertroffen hat und die Menschen nur noch als Objekte zur Informationsgewinnung nutzt. Die Erzählung „Grands chiens“ beschreibt ein Sibirien nach gewaltigen Bränden („grands incendies“), in dem Wissenschaftler in baufälligen Zentren versuchen, durch Klonen in einer durch Quecksilber und Ammoniak verseuchten Umwelt zu überleben.

Minard nutzt verschiedene Strategien, um den Menschen als Maßstab aller Dinge abzulösen: In „Grands chiens“ wird die Grenze zwischen Mensch und Mikrobiologie aufgelöst. Ein „plasmode myxomycète“ (ein schleimpilzartiger Organismus) integriert tierische und menschliche Zellen und übernimmt schließlich physisch die Kontrolle über einen menschlichen Körper (Syriakov). Der Mensch wird hier zum bloßen Wirt für eine überlegene, amöbenhafte Lebensform. Der Roman wechselt radikal in die Wahrnehmungswelt von Tieren und anderen Wesen. In „Grands singes“ wird das Leben von Menschenaffen beschrieben, die nicht „arbeiten“, sondern in einem flüssigen Einklang mit ihrer Umwelt existieren. Die menschliche Figur Duane muss ihr menschliches Verhalten mühsam verlernen, um Teil der Gruppe zu werden. Dabei lernt sie, dass menschliche Individualität eine „Illusion“ ist. In „Grands fonds“ wird die Geschichte aus der Sicht von „Arrecifs“ (Riff-Wesen) erzählt. Aus dieser Perspektive erscheinen die Menschen als „Vieux-Ancêtres“ (alte Vorfahren), die physisch als „mou“ (weich) und schwach sowie als „aberrant“ (abwegig) wahrgenommen werden. Das Wesen Uiush betrachtet die Menschen („masques à pieds“) als lächerliche, wahnsinnige Kreaturen, deren hektische Bewegungen im krassen Gegensatz zur Weisheit der langsamen, pflanzlichen Existenz stehen.

Les masques à pieds qui chassaient en forêt passaient des heures à siffler vers la cime des arbres pour tenter de le repérer. Quand il était d’humeur, il tournait complètement la tête et leur décochait un sourire qui les faisait détaler dans tous les sens. Ça l’amusait. Un masque était incapable de supporter sa trouvaille. Quand l’un d’eux l’avait découvert, il fermait aussitôt les yeux et produisait des bruits de bouche pour alerter ses pareils, et quand ils étaient rassemblés sous l’arbre, il était impossible au lanceur d’alerte de pointer ne serait-ce qu’un ongle dans la bonne direction. Le sourire d’Uiush était alors le plus étiré du monde. Et s’il voulait pousser le jeu, il lui suffisait de lancer trois ou quatre fois son cri aigu « ai, ai » pour assister à la débandade la plus désordonnée qui soit. Les masques à pieds étaient fous à lier. (Plasmas.)

Die Masken mit Füßen, die im Wald jagten, verbrachten Stunden damit, zu den Baumwipfeln zu pfeifen, um ihn zu entdecken. Wenn er in der Stimmung war, drehte er seinen Kopf komplett zur Seite und schenkte ihnen ein Lächeln, das sie in alle Richtungen davonlaufen ließ. Das amüsierte ihn. Eine Maske war nicht in der Lage, seine Entdeckung zu ertragen. Wenn einer von ihnen ihn entdeckt hatte, schloss er sofort die Augen und machte Geräusche mit dem Mund, um seine Artgenossen zu alarmieren, und wenn sie sich unter dem Baum versammelt hatten, war es für den Alarmgeber unmöglich, auch nur einen Fingernagel in die richtige Richtung zu zeigen. Uiushs Lächeln war dann das breiteste der Welt. Und wenn er das Spiel noch weiter treiben wollte, genügte es, drei- oder viermal seinen schrillen Schrei „ai, ai“ auszustoßen, um die chaotischste Flucht zu erleben, die man sich vorstellen kann. Die Masken mit Füßen waren völlig außer sich.

Minard dezentriert das Menschliche hier radikal, indem sie die Perspektive von Uiush einnimmt, diesem Wesen, das in einer symbiotischen Einheit mit dem Wald lebt. Die Menschen werden als „masques à pieds“ (Masken auf Füßen) bezeichnet – eine entmenschlichende Metapher, die sie als lächerliche, hektische und unkoordinierte Eindringlinge darstellt. Der „postanthropozentrische Fortschritt“ liegt in Uiushs Fähigkeit zur Metamorphose und Unauffälligkeit: Während der Mensch durch seine „Ostentation“ (Prahlsucht) und Zerstörungswut auffällt, ist Uiush „feuille parmi les feuilles“ (Blatt unter Blättern). Der Mensch wird hier als „infime éclat“ wahrgenommen, dessen vermeintliche Dominanz in den Augen einer höher entwickelten, biologischen Geduld nur als Wahnsinn („fous à lier“) erscheint.

Die Welt ist kein festes Gefüge mehr, sondern ein „Plasma“ – ein Zustand permanenter Veränderung, in dem die Grenze zwischen Arten, Technik und Materie zerfließt, um einer umfassenden, nicht mehr menschzentrierten Vision Raum zu geben. In Plasmas wird der Mensch durch eine „cosmo-vision“ ersetzt, in der er nur noch einer von vielen „infimes éclats“ (winzigen Splittern) im Plasma des Lebens ist. Die Dystopie besteht darin, dass die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, bereits Geschichte ist, und der postanthropozentrische Fortschritt in der Metamorphose und dem Aufgehen in anderen Lebensformen liegt.

Auswertung

In allen vier Werken dient die Katastrophe oder die Isolation als Laboratorium für neue Existenzformen. Während Le Dernier Monde und Le Grand Jeu die menschliche Existenz in der Extremsituation der Isolation – sei sie katastrophisch-unfreiwillig oder stoisch-autark – als solipsistisches Endspiel inszenieren, bricht Tovaangar die Grenze des „Ich“ zugunsten einer radikalen interspezifischen Allianz auf. Während der Kosmonaut in Le Dernier Monde an der absoluten Leere zerbricht und seine Einsamkeit in eine schizophrene Polyphonie externalisiert, wird in Tovaangar das Konzept der Verwandtschaft („Relatives“) zum tragenden ontologischen Prinzip erhoben. Das Buch etabliert nicht das Grabmal einer untergegangenen Spezies, es schafft einen parlamentarischen Raum der ständigen Verhandlung, in dem Mensch, Maschine und Tier keine getrennten Kategorien mehr bilden, stattdessen gehen sie in einer orchestralen Neuzusammensetzung des Lebens auf. Im Gegensatz zur kosmischen Fragmentierung in Plasmas, die das Sein in ein unendliches, fast strukturloses Spiel der Metamorphosen auflöst, agiert Tovaangar als eine hochspezialisierte „Realitätsfabrik“. Während die technologischen Relikte in den anderen Romanen oft als starre Gehäuse (wie das Tonneau in Le Grand Jeu) oder toter Zivilisationsmüll erscheinen, werden sie in Tovaangar durch die „Sprache der Projektion“ in eine neue, organische Wirklichkeit integriert. Der Roman praktiziert einen poetischen Rückbau der Welt, indem er die erstarrte Geschichte durch das mythopoetische „Dit du grand Lit“ verflüssigt. Tovaangar unterscheidet sich somit als regenerative Utopie der Verbundenheit, in der der Mensch nicht als isoliertes Relikt, vielmehr als integraler Teil eines hybriden, pulsierenden Ökosystems begriffen wird.

Die Romane zeigen eine Verschiebung von der Technikabhängigkeit zur biologischen Fluidität: Während Stevens in Le Dernier Monde an der totalen Einsamkeit zerbricht und seine Begleiter (Lawson, Waterfull) externalisieren muss, praktiziert die Protagonistin in Le Grand Jeu eine stoische Aufmerksamkeit gegenüber der unbelebten Natur. In Tovaangar und Plasmas weicht die Isolation einer interspezifischen Verwandtschaft (Relatives), in der die Grenze zwischen Mensch, Maschine und Tier zerfließt. Technologie ist in Le Dernier Monde ein sterbendes Relikt (Raumstationen, verlassene Flugzeuge). In Le Grand Jeu ist sie ein schützendes Gehäuse. In Tovaangar wird Technik metabolisiert, d.h. in etwas Eigenes überführt und transformiert statt sie nur zu übernehmen: Drohnen haben Bewusstsein und „träumen“, während Menschen „photovoltaische Gelatine“ nutzen.

Die vier Bücher Minards lassen sich als eine kontinuierliche Dezentrierung des Menschen interpretieren: von der Verzweiflung über sein Verschwinden bis hin zur Feier einer Welt, in der das Menschliche nur noch ein „infime éclat“ (winziger Splitter) in einem orchestralen Ganzen ist.

Welt und Handlung: Leben nach der Katastrophe

Eine Inhaltszusammenfassung muss angesichts der Fremdheit zunächst irritieren, wobei die Lektüre die Lesenden über sinnliche Erfahrung allmählich in diese Welt einführt. Kern der Handlung ist die Expedition der Protagonistin Amaryllis Swansun und ihrer hybriden Gefährten durch die Überreste von Los Angeles. Diese Reise führt zur Entschlüsselung der mythopoetischen Erdgeschichte des „Dit du grand Lit“ und zur Integration aller Lebensformen in die neue Weltordnung von Tovaangar. Die Entschlüsselung des „Dit du grand Lit“ bezeichnet die Wiederentdeckung einer uralten Höhleninschrift, in der die Batra-Kultur Erinnerung, Logik und Fantasie verschmolzen hat, um die Welt in Zeiten extremer Dürre allein durch das kollektive Singen und Erzählen wieder „flüssig“ zu machen und so die Realität neu zu erschaffen. In Tovaangar verschwinden menschliche Hierarchien, da alle Wesen – ob organisch oder technologisch – als gleichberechtigte „Körper“ („Corps“) und „Verwandte“ („Relatives“ über Speziesgrenzen hinweg) in einem eng verflochtenen Netzwerk zusammenleben. Diese Integration wird durch das „Wowow“ gefeiert, ein Parlament aller Lebensformen, in dem durch gemeinsames Erzählen die Welt nicht mehr beherrscht, sondern als flüssiges Ganzes in Resonanz neu erschaffen wird.

Der Roman folgt der Expedition der geborenen Entdeckerin („Expé-née“) Amaryllis „Ama“ Swansun, die gemeinsam mit der Dronote Mianeh (einem bewussten und als lebendig begriffenen Forschungsroboter aus vibrierendem Titan, der sich fliegend fortbewegt) und dem Wesen Atlal (einem zweibeinigen „Groß-Gehirn“ mit Fell aus einer höhlenbewohnenden Kultur, geschickter Jäger und ritueller Rückgeber von Schätzen) die Ruinen von Los Angeles durchquert, das nun den Namen Hidden trägt. Auf ihrer Suche nach der Hydro Choeps Yanev (einer amphibischen, salamanderartigen Lebensform mit schwarzer Haut und gelben Schulterzeichnungen, die als Expertin für Hydrologie entscheidend an der Pflege und Wiederherstellung der Wasserflüsse in Tovaangar arbeitet) navigiert die Gruppe durch ein Ökosystem, in dem die Grenze zwischen Biologie und Technik verwischt ist. Sie begegnen dort philosophierenden Tierkulturen, technologisch-symbiotischen Cruisern auf den pulsierenden Freeways und den gärtnernden Gardenesses. Während Choeps in tiefen Grotten das „Dit du grand Lit“ entschlüsselt, erkennt Amas Gruppe, dass die Natur (spezialisierte Bakterien und kräftige Pflanzenwurzeln) den Beton der Vergangenheit keineswegs bloß überdeckt, sie verdaut ihn regelrecht mithilfe von Säuren und mechanischer Kraft, um ihn wieder in lebendigen Boden zurückzuverwandeln, ein regelrechter Rückbau („démantèlement“). Die Handlung gipfelt in einem Parlament („Wowow“), in dem ganz unterschiedliche Arten wie Menschen, Tiere und bewusste Roboter als gleichberechtigte „Verwandte“ (Relatives) zusammenkommen, um gemeinschaftlich über lebenswichtige Konflikte zu entscheiden oder Wissen auszutauschen. Dies geschieht während einer gewaltigen Flut, die alle Wesen – von den Forellen (Troutes) bis zu den Ureinwohnern (Tongvas) – im Ästuar von Pimungna zusammenführt. Dort mündet die Reise in die Vision von Tovaangar, einer „leuchtenden Version“ der Welt danach, in der das Ende der menschlichen Zivilisation als orchestrale Neuzusammensetzung des Lebens gefeiert wird.

Der Titel Tovaangar bezeichnet in der fiktionalen Welt von Céline Minard den ursprünglichen, „vor-wilden“ Namen für das, was die menschliche Zivilisation (die „Extracts“) später Los Angeles oder Hidden nannte. Der Name stammt aus der Sprache der Tongva, den Ureinwohnern der Region. Im Roman wird Tovaangar explizit als „die Welt“ in ihrer Gesamtheit definiert. Während „Hidden“ die Bezeichnung der untergegangenen menschlichen Zivilisation für das Becken des Los Angeles River ist, stellt Tovaangar den Namen dar, der vor der Ära der „Sauvagerie“ (der zerstörerischen Phase der menschlichen Extraktion) existierte. Der Titel markiert somit eine Rückbesinnung auf eine Zeit vor der ökologischen Zerstörung sowie eine Dezentrierung der menschlichen Perspektive. Die Tongva werden im Glossar als die ursprünglichen Bewohner von Tovaangar beschrieben. Der Titel verweist somit auf eine multispeziesorientierte Weltordnung, in der Menschen, Tiere und Natur als „Relatives“ (Verwandte) in einem gemeinsamen Beziehungsgeflecht leben. „Tovaangar“ ist der Titel des Gesamtwerks und zugleich der Name des finalen Kapitels. Dies deutet darauf hin, dass die Reise der Protagonisten eine Rückkehr zu dieser ursprünglichen Einheit oder das Erreichen eines Zustands vollkommener Resonanz mit der Welt darstellt. „Tovaangar“ ersetzt den Namen einer untergegangenen Stadt durch einen vorkolonialen Begriff und fasst die Erde damit als lebendiges, zusammenhängendes Ganzes auf, das sich von der menschlichen Vorherrschaft emanzipiert hat.

Das Zentrum der nun erzählten Welt bildet das ehemalige Los Angeles Becken. Im Gegensatz zu klassischen postapokalyptischen Texten erscheint diese Stadtlandschaft nicht als Ruinenfeld, das nostalgisch auf verlorene Zivilisation verweist. Hidden ist ein Palimpsest, in dem die materiellen Hinterlassenschaften der „Extractions-Ära“ zwar sichtbar bleiben, jedoch vollständig umcodiert wurden. Hochhaustürme, Freeways und Industrieanlagen existieren weiter, allerdings als funktionale Elemente eines neuen ökologischen Systems und keineswegs als tote Monumente. Der Roman ersetzt das Motiv der Verwüstung durch das der Metamorphose. Minard beschreibt Hidden als einen Raum, in dem sich biologische, geologische und technologische Prozesse gegenseitig durchdringen. Die Stadt ist kein Negativraum mehr, sie ist ein Ort luxuriöser Komplexität. Diese Geografie der Fülle widerspricht explizit der apokalyptischen Imagination des Mangels, die das Genre traditionell dominiert.

Im Zentrum von Hidden verläuft der ehemalige Los Angeles River, der im Roman seinen Namen in der Sprache der Tongva zurückerhält: Paayme Paxaayt (Westfluss). Diese Rückbenennung ist ein grundlegender Akt der epistemischen Neuordnung. Der Fluss ist nicht länger Infrastruktur oder Ressource, er ist die „Déesse des Hydros“, eine souveräne Lebensader mit eigener Agency. Paayme Paxaayt strukturiert das gesamte Becken von Hidden. Er ist nicht Objekt menschlicher Kontrolle, vielmehr bildet er den Ursprung von Recht, Rhythmus und Ordnung. Die politische und ökologische Organisation der Welt orientiert sich an seinem Fluss, seiner Dynamik und seiner Resonanz. Der Fluss ist somit ein Gegenmodell zur menschlichen Vorstellung linearer Kontrolle und stabiler Grenzen.

Ontologische Gleichverteilung: Materie, Subjekt, Technik

Ein zentrales Charakteristikum der von Minard entworfenen Welt ist die konsequente Aufhebung ontologischer Souveränität. Es gibt kein privilegiertes Zentrum, keinen obersten Akteur und keine Instanz, die Bedeutung garantiert. Stattdessen herrscht eine Gleichverteilung von Wirksamkeit, die sich auf Menschen, Tiere, technische Artefakte, Landschaften und Materialien erstreckt. Diese Ontologie widerspricht fundamental politischen und philosophischen Modellen, die auf Kontrolle, Steuerung und Herrschaft beruhen. Tovaangar entwirft keine neue Souveränität, hier wird eine postsouveräne Ordnung konstituiert, deren Stabilität aus Relationen und Resonanzen entsteht. Ordnung ist nicht das Ergebnis von Planung, Ordnung ergibt sich aus Koordination.

Eine der zentralen Innovationen des Romans ist der Begriff des Bétume: metabolisiertes Bitumen beziehungsweise Asphalt. Dieses Material, ein Symbol der fossilen Moderne, wird in Tovaangar nicht als totes Relikt behandelt, sondern als aktiver geologischer Akteur. Bétume bewegt sich, reagiert, verbindet sich mit organischen Prozessen und bildet neue Strukturen.

Les bombes à graines ont été nos premières armes. Des fabriques se sont montées dans les collines, à Bazine, bien sûr, et partout où l’eau et la terre étaient accessibles, la boue a été produite et, dans la boue, les graines ont été introduites. Par roulage, piquage, brassage et pétrissage. Les bombes sont sorties par millions. De la plus petite, deux ou trois graines, portées par les Oiseaux-Mouches, les gros insectes et les Fourmis, jusqu’aux imposantes Rondes-Brunes et Rondes-Blanches que les gros mammifères attrapaient dans la gueule et crachaient aux endroits propices. La moindre fissure dans le bétume, la moindre craque a été approvisionnée, irriguée et soutenue.

Die Samenbomben waren unsere ersten Waffen. In den Hügeln, natürlich in Bazine, wurden Fabriken errichtet, und überall, wo Wasser und Erde verfügbar waren, wurde Schlamm hergestellt, in den die Samen eingebracht wurden. Durch Rollen, Einstechen, Umrühren und Kneten. Millionen von Bomben wurden hergestellt. Von den kleinsten mit zwei oder drei Samen, die von Kolibris, großen Insekten und Ameisen transportiert wurden, bis hin zu den imposanten braunen und weißen Kugeln, die große Säugetiere mit dem Maul auffingen und an geeigneten Stellen ausspuckten. Der kleinste Riss im Asphalt, die kleinste Spalte wurde versorgt, bewässert und gestützt.

In Bazine erfährt Amas Gruppe, dass die Natur die Überreste der Menschen nicht passiv überwuchert, diese werden vielmehr in einem geplanten Rückbau aktiv zerstört. Die Metapher der „Samenbomben“ verdeutlicht, dass die Flora und Fauna als militante Aktivisten auftreten. Dies ist ein entscheidender Moment der Handlung, da Amaryllis begreift, dass die von ihr bewunderten Ruinen nicht ewig sind, sie werden von einem kollektiven biologischen Bewusstsein planmäßig recycelt.

Die Einführung dieses Begriffs markiert eine fundamentale Verschiebung im Verhältnis zur Materie. Minard entwirft eine Welt, in der Stoffe eine eigene aktive Wirksamkeit besitzen. Freeways werden zu pulsierenden Strömen („Flux“), Hochhäuser zu vertikalen Biotopen. Die Natur hat die Artefakte der menschlichen Zivilisation nicht einfach überwuchert, sondern sie in einem kolossalen „effort“ dekonstruiert und neu organisiert.

Die radikale Dezentrierung des Menschen manifestiert sich sprachlich im Begriff „Corps“. Menschen, Tiere und technische Entitäten werden darin unterschiedslos als Körper bezeichnet. Diese Nivellierung hebt jede ontologische Hierarchie auf, die den Menschen traditionell an die Spitze der Schöpfung stellt. In Tovaangar ist der Mensch kein souveränes Subjekt mehr, er ist ein „Verwandter“ unter anderen. Diese Verschiebung ist nicht defizitär, vielmehr wirkt sie befreiend: Der Verlust der Dominanz ermöglicht neue Formen der Koexistenz, Diplomatie und Solidarität zwischen den Corps.

Die Protagonistin Amaryllis „Ama“ Swansun verkörpert diese neue Ontologie exemplarisch. Als „Expé-née“ ist sie von Geburt an auf Exploration ausgerichtet. Doch Ama ist kein autonomes Ich im klassischen Sinn. Ihre Identität ist untrennbar mit ihrer Cabe verbunden, einer multifunktionalen Hülle, die eine zweite Haut bildet und deren physischer Druck ihr Bewusstsein strukturiert.

Diese biotechnologische Symbiose widerspricht der humanistischen Vorstellung eines abgeschlossenen Subjekts. Ama existiert nur in Relation: zu ihrer Ausrüstung, zu anderen Corps und zur Landschaft. Subjektivität ist in Tovaangar ein relationaler Prozess.

Diese Relationalität erweitert sich in der Beziehung zu Mianeh, einer Dronote. Mianeh ist kein Werkzeug, sie ist ein fühlendes, lernendes technologisches Wesen mit eigener Aura. Die Grenze zwischen Maschine und Lebewesen wird endgültig aufgehoben. Technik erscheint hier nicht als entfremdende Macht, auch sie wird Teil des ökologischen Gefüges. Minard entwirft eine posthumanistische Vision, in der Technologie nicht opponiert. Technologie tritt in Tovaangar in Resonanz.

Wissen, Sprache, Erinnerung

Ein fundamentaler Unterschied zu klassischen Zukunftsromanen liegt im epistemischen Modell. Wissen ist in Tovaangar prozesshaft und bildet keinen Besitz. Anstatt Wissen zu speichern, wird es geteilt, es wird nicht archiviert, sondern resonant vermittelt. Das „Échanger les Rêves“ dient dabei als paradigmatisches Verfahren. Träume sind keine subjektiven Innerlichkeiten, vielmehr kollektive Medien der Orientierung. Wahrheit ist relational statt objektiv. Diese Epistemologie stellt die moderne Wissenschaft infrage und bietet eine alternative Logik der Welterschließung.

Minards Sprache ist das zentrale Instrument dieser Welterschaffung. Durch funktionale Neologismen, sensorische Präzision und hybride Terminologie dekonstruiert sie unsere gewohnten Kategorien. Begriffe wie Wowow, Bazine oder Trocplatch ersetzen politische und ökonomische Konzepte durch relationale Praktiken. Durch die Verschmelzung von biologischen und technischen Termini – etwa in „gélatine photovoltaïque“ oder „implantats photosynthétiques“ – wird Technik vollständig in den organischen Kreislauf integriert.

Die starren Begriffe unserer alten Zivilisation bilden nur noch das mineralische Skelett, auf dem eine neue, bewegliche und leuchtende Ausdrucksform gewachsen ist, die das Leben in all seinen hybriden Verästelungen feiert. Die Sprache in Céline Minards Roman Tovaangar wirkt selten als bloßes Beschreibungswerkzeug, meist als Instrument einer „subtilen Dekonstruktion“ unserer gegenwärtigen Weltauffassung. Ein zentrales Verfahren ist dabei die nivellierende Terminologie, die menschliche Hierarchien auflöst: Alle agierenden Entitäten – ob Menschen („Auboisières“), Tiere oder bewusste technologische Einheiten wie die „Dronote“ – werden schlicht als „Corps“ (Körper) bezeichnet. Im Gegensatz dazu wird die Ära der Menschheit durch den funktionalen Begriff der „Extracts“ (Extrahierer) auf eine einzige, zerstörerische Eigenschaft reduziert: das gewaltsame Auspressen von Energie aus der Materie. Diese sprachliche Umdeutung markiert den Übergang von einer anthropozentrischen Weltordnung hin zu einem Zustand der ontologischen Gleichheit, in dem der Mensch nur noch ein „Relative“ (Verwandter) unter vielen ist.

Ein weiteres wesentliches Verfahren ist die Verknüpfung von technischer Nüchternheit mit extremer sensorischer Präzision. Minard nutzt Neologismen und umgewidmete Fachbegriffe wie „Bétume“ (metabolisiertes Bitumen) oder „gélatine photovoltaïque“, um eine Welt zu beschreiben, in der Materie und Leben untrennbar miteinander „verflochten“ sind. Die Sprache evoziert dabei haptische und olfaktorische Reize – etwa den Geruch von Kreosot oder die „Cabe“ als eine künstliche „zweite Haut“, deren Druck das Bewusstsein der Protagonistin erst konstituiert. Die Aussage dieser sprachlichen Dichte ist klar: Die Postapokalypse ist kein Ort des Mangels, sie bildet ein opulentes System der Fülle, in dem die Natur die Überreste der Zivilisation aktiv „metabolisiert“ hat.

Zuletzt etabliert der Roman das Konzept einer mythopoetischen Realitätsfabrik, das im Motiv des „Dit du grand Lit“ gipfelt. Hierbei handelt es sich um ein sprachliches Verfahren, bei dem Erinnerung, Logik und Imagination nicht länger als getrennte Kategorien existieren, sondern zu einem „sichtbaren Diskurs“ der Erde verschmelzen. Die Welt wird durch kollektives Erzählen und Singen physisch aufrechterhalten und neu konstruiert, was sich auch im Titel widerspiegelt. Der Name „Tovaangar“ ersetzt das menschliche „Hidden“ (Los Angeles), um die Rückkehr zu einer ganzheitlichen, alles umfassenden Weltordnung zu signalisieren. Minards Sprache lehrt somit, anstatt die Welt zu beherrschen, in permanenter Resonanz mit ihr zu existieren.

„Nous devions maintenir une forme de fluidité, nous devions l’inventer puisque autour de nous, dans nos bouches et sous nos pieds, Aqua s’était dissipée. […] Nous avons mélangé les uns avec les autres de façon à recréer les courants, les coulants, les remous et les surprises que nous avions perdus. L’air ne suffisait pas. Il fallait nous plonger dans une matière plus épaisse, gonflée de force et courant droit devant par mille détours. Nous l’avons fait. Durant vingt et un jours, les récits furent récités, les connaissances exposées, les souvenirs dévidés sans préséance entre eux, en canon, en chorus. […] Nous sommes devenues diseuses et danseuses de rivière, ensemble, conjointe et conjointe côte à côte, la pauvre poignée qui restait de nous s’est mise à croître et à flasher de couleurs lumineuses.“

Wir mussten eine Art von Fluidität aufrechterhalten, wir mussten sie erfinden, da um uns herum, in unseren Mündern und unter unseren Füßen, Aqua verschwunden war. […] Wir haben uns miteinander vermischt, um die Strömungen, Flüsse, Wirbel und Überraschungen wiederherzustellen, die wir verloren hatten. Die Luft reichte nicht aus. Wir mussten in eine dickere Materie eintauchen, die voller Kraft war und in tausend Umwegen geradeaus floss. Das haben wir getan. Einundzwanzig Tage lang wurden Geschichten erzählt, Wissen vermittelt, Erinnerungen ohne Rangordnung voneinander, im Kanon, im Chor. […] Wir wurden zu Flusserzählerinnen und -tänzerinnen, gemeinsam, Seite an Seite, und die armselige Handvoll, die von uns übrig geblieben war, begann zu wachsen und in leuchtenden Farben zu erstrahlen.

Diese Passage erklärt das Wesen des „Dit du grand Lit“. In Zeiten extremer Dürre nutzten die Batras das gemeinsame Singen und Erzählen als „Realitätsfabrik“, um die geistige und physische Fluidität der Welt zu bewahren. Es zeigt, dass in Tovaangar Erinnerung, Logik und Fantasie nicht getrennt sind. Die Interpretation des „Graphen“ durch Choeps Yanev wird hier zu einer Offenbarung über die Macht der Sprache, die Welt buchstäblich wieder zum Fließen zu bringen.

Das „Dit du grand Lit“ ist ein fundamentales mythopoetisches Motiv, das die ontologische Grenze zwischen Fakt und Fiktion in Tovaangar aufhebt. In Zeiten extremer Dürre, als das Wasser physisch versiegte, schufen die Vorfahren der Hydros diesen kollektiven Gesang, um die Fluidität der Welt rein mental aufrechtzuerhalten. Dieses Werk, das in den Grotten als „Graphes“ (Felsinschriften) manifestiert ist, wirkt als ein „sichtbarer Diskurs“ der Erde, in dem Erinnerung, Logik und Imagination untrennbar zu einer neuen Realität verschmelzen. Für die Bewohner der Postapokalypse ist ein solches Graphe keine bloße Aufzeichnung, sie erschafft eine „Fabrik der Realität“, die das Wissen der Ahnen in verdichteter, flüssiger Form bewahrt.

Die Landschaft von Hidden wird in diesem Zusammenhang als ein lebendiges Archiv interpretiert, in dem die Erdkruste selbst die Sprache der lebenden und toten Körper artikuliert. In den Tiefen der Grotten sind Bewegungen, soziale Praktiken und fossile Spuren verschiedenster Spezies in den Stein eingeschrieben. Dadurch wird die zeitliche Abfolge in eine simultane Präsenz aller Epochen verwandelt. Die Erde wird so zu einem Palimpsest, dessen Entzifferung es ermöglicht, die „Danse“ der Materie über Äonen hinweg zu rekonstruieren. Dabei wird deutlich, dass die Geografie nicht statisch ist. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer kolossalen Anstrengung von Organismen, die den Beton der Vergangenheit aktiv metabolisiert haben.

Rückblickend erscheint die Ära der Menschheit, die Zeit der „Extracts“, als eine Periode des kollektiven Wahnsinns und der zerstörerischen „Sauvagerie“. Die materiellen Überreste dieser Zivilisation – Beton, Bitumen und Plastik – werden von den neuen Kulturen radikal umgedeutet: Während Waschbären sie als wertlosen Abfall („Trash“) abtun, sammeln die Gros-Cerveaux sie rituell als „Trésors“ (Schätze). Bauwerke wie der gewaltige Damm („Barraj“) stehen als rätselhafte, monolithische Skelette in der üppigen Fülle der Natur. Sie dienen nun als „Pisten der Freude“ oder als Orte der Erinnerung an einen überwundenen Zustand der Starre.

Empathie und Begehren

Begehren ist im Roman allgegenwärtig, wird jedoch in einer Weise dargestellt, die weit über menschliche Romantik hinausgeht. Es ist fluid, interspezifisch und tief in der Verbundenheit mit der Umwelt verwurzelt. Ama wird von einem „unwiderstehlichen Ruf“ der Ruinen, des Unbekannten und der Wildnis getrieben. Dieses Begehren nach Entdeckung („Expé“) ist ihr wesentlicher Lebensantrieb. Sogar ökologische Prozesse werden erotisch aufgeladen beschrieben. So wird das Aufblühen der Kletterpflanze Clématis explizit als ein Akt des „stillen Paarungsspiels“ mit der Umgebung dargestellt. Es gibt ein universelles, quasi metaphysisches Streben aller Lebensformen nach Harmonie und Vereinigung, symbolisiert durch den Drang des Flusses Paayme Paxaayt, sich mit dem Ozean zu vereinen.

Zwischen den verschiedenen Charakteren entstehen explizite intime Verbindungen. Am deutlichsten wird dies bei Amaryllis (Ama) und dem Arcadean Firmine. Ama spürt in seiner Gegenwart eine „unerklärliche Unruhe“ und empfindet ein Begehren, das sie als Teil eines „flüssigen Stroms“ beschreibt. In der sogenannten „salle-bulle amoureuse“ (einer Art Liebes-Blasen-Raum) in der Gemeinschaftshütte erkunden sie gemeinsam ihre Anatomien und geben sich der Wollust (volupté) hin. Auch zwischen Ama und der Cruiserin Zeep kommt es zu einem „blitzartigen“ Kuss, der wie ein „Honig-Chili“ schmeckt und den Wunsch nach gemeinsamem Reisen weckt.

Bemerkenswert ist auch die maschinell-menschliche Intimität zwischen der Drohne Mianeh und dem Vélisten Litham. Sie verbringen eine Nacht „ineinander verschlungen“, wobei Mianeh, die eigentlich nicht schläft, in Lithams Armen in einen Zustand des „träumenden Rechnens“ und der körperlichen Nähe versinkt.

In der Welt von Tovaangar existiert die Kategorie Geschlecht zwar weiterhin, sie ist jedoch fluid, erweitert und von starren binären Strukturen befreit. Während bei Tieren oft noch klassische Bezeichnungen verwendet werden, haben sich in den post-humanen Gemeinschaften neue Identitäten und biologische Realitäten herausgebildet. Es gibt tiefe Sehnsüchte zwischen männlichen oder non-binären Wesen, wie zwischen dem Höhlenwesen Atlal und dem Arcadeaner Duane. Sie trennen sich mit „furchtbaren Seufzern des Bedauerns“, und Atlal trägt als Zeichen ihrer Bindung ein Satinband von Duane an seinem Handgelenk. Der Roman führt explizit neue Begriffe für die Geschlechtsidentität der Arcadeans (die Nachfahren der Menschen) ein. Es wird zwischen „melle“, „mâle“ und „flamelle“ unterschieden. So ist der Charakter Firmine „melle“, Duane „mâle“ und Litham „flamelle“.

Die körperlichen Merkmale sind nicht mehr zwingend an eine binäre Norm gebunden. So wird beispielsweise beschrieben, dass Firmine sowohl reaktive Brüste (tétins réactifs) besitzt als auch ein Geschlechtsorgan, das sich gleichzeitig aufrichtet und öffnet. Diese Anatomie ermöglicht vielfältige sexuelle Kombinationen und Empfindungen, die über traditionelle Vorstellungen hinausgehen. Die Charaktere unterscheiden klar zwischen körperlicher Nähe zum Zweck des „Kalorien-Teilens“ oder der Gemeinschaft einerseits und explizit sexuellen oder reproduktiven Absichten andererseits. Geschlecht ist also vorhanden, definiert aber nicht mehr primär die soziale Rolle oder die Erlaubnis zur Nähe. Oft scheint die Zugehörigkeit zu einer Art („Corps“) oder einer Verwandtschaftsgruppe („Relatives“) wichtiger zu sein als das individuelle Geschlecht. Geschlecht ist in Tovaangar nicht abgeschafft, sie ist zu einem Spektrum geworden. Es ist Teil der allgemeinen „orchestralen Neuzusammensetzung“ des Lebens, in der Natur und Körper ihre Formen frei verhandeln.

Ethik ohne Moral: Politik, Diplomatie, Resonanz

Bemerkenswert ist der Verzicht auf moralische Didaktik. Der Roman verurteilt die menschliche Vergangenheit nicht explizit, stattdessen lässt sie ihre Folgen sprechen. Die Ära der Menschen erscheint als Episode exzessiver Vereinfachung. Diese Zurückhaltung verstärkt die Wirkung des Textes. Anstelle einer moralischen Belehrung entsteht ein Raum der Reflexion, in dem Leser ihre eigenen anthropozentrischen Annahmen hinterfragen müssen.

Auch Tiere sind vollwertige Akteure dieser Welt. Wesen wie die Gros-Cerveaux oder die philosophierenden Hydros nehmen aktiv an politischen und epistemischen Prozessen teil. Anstelle von Sprache im menschlichen Sinn erfolgt Kommunikation über das „échanger les Rêves“ – den Austausch von Träumen. Dieses Verfahren ersetzt Vertrag, Gesetz und Archiv. Wissen ist hier nicht abstrakt, es ist affektiv, imaginativ und kollektiv. Territorium entsteht durch geteilte Imagination.

Die politische Struktur in Tovaangar markiert eine Abkehr von fixierten Institutionen hin zu einer permanenten Praxis der Aushandlung. An die Stelle von Parlamenten und Regierungen tritt der „Wowow“, ein parlamentarischer Rat, der statt auf Repräsentation nun auf unmittelbarer Präsenz beruht. Er wird einberufen, sobald vitale Interessenkonflikte oder wichtige Übermittlungen anstehen. In dieser Ordnung entstehen Entscheidungen nicht durch starre Mehrheitslogik. Stattdessen wird durch Resonanz und kollektive Imagination entschieden, wie es das Motiv des „Dit du grand Lit“ verdeutlicht: In Krisenzeiten wird die Realität hier nicht verordnet, stattdessen durch gemeinschaftliches Singen und Erzählen im Sinne einer Werkstatt des Realen („fabrique de réalité“) neu konstituiert. Politik ist somit keine abstrakte Machtausübung, sie meint eine somatische und diskursive Praxis der Verwandten, bei der das Miteinander-Sein im Vordergrund steht. Diese politische Ordnung entzieht sich einer klassisch utopischen Deutung, da sie keine ideale, statische Harmonie postuliert, sondern sich als fragil, situativ und reversibel erweist.

Dol Bargain était un maître négociateur, sans doute le tuteur du voleur. L’Ancien était peut-être présent pour valider une étape de son éducation secondaire. Ama prit cette hypothèse pour fondement. […] Ama savait qu’il était inutile de chercher un objet caché par un Gros-Cerveau, inutile de les attaquer par la force. Elle proposa la première chose qui lui vint à l’esprit. Une Expé. À savoir un déplacement aventurier en autonomie complète et en majeure partie subterrestre. Atlal en eut le souffle coupé. Amaryllis savait qu’elle scellait un pacte en l’acceptant. Elle n’avait jamais entendu parler d’un Gros-Cerveau en Expé, ce devait être une première, et à entendre le chant du doyen, c’était une première considérable.

Dol Bargain war ein Meisterverhandler, zweifellos der Mentor des Diebes. Der Älteste war vielleicht anwesend, um einen Abschnitt seiner Sekundarausbildung zu bestätigen. Ama nahm diese Hypothese als Grundlage. […] Ama wusste, dass es sinnlos war, nach einem von einem Großhirn versteckten Gegenstand zu suchen, sinnlos, sie mit Gewalt anzugreifen. Sie schlug das Erste vor, was ihr in den Sinn kam. Eine Expedition. Nämlich eine abenteuerliche Reise in völliger Autonomie und größtenteils unterirdisch. Atlal stockte der Atem. Amaryllis wusste, dass sie einen Pakt besiegelte, indem sie zustimmte. Sie hatte noch nie von einem Großhirn auf einer Expedition gehört, das musste eine Premiere sein, und nach dem Gesang des Ältesten zu urteilen, war es eine bedeutende Premiere.

Diese Szene ist zentral für das soziale Gefüge des Romans. Anstatt Konflikte (wie den Diebstahl von Amas Ausrüstung) gewaltsam zu lösen, praktizieren die Wesen ein hochkomplexes System der Restitution und des Tauschs. Der Pakt zwischen der Oberflächenbewohnerin Ama und dem Höhlenwesen Atlal markiert den Beginn einer interspezifischen Allianz. Er zeigt, dass das Überleben in dieser neuen Weltordnung auf der Kooperation grundverschiedener Kulturen und Lebensräume basiert.

Die Stabilität des Systems beruht auf Konzepten wie der „Restitution“ (Wiedergutmachung) und dem „Potlatch“ (ritueller Gabentausch). Diese wirken als soziale Gesetze, um das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen „Corps“ (Körpern) immer wieder neu auszutarieren. Projekte wie die Konstruktion des „tapis flovant“ (fließender Teppich) zeigen eine dezentrale Politik des Machens, die auf einem „Partage source ouverte“ (Open-Source-Prinzip) basiert. Dabei wird Wissen geteilt und für alle zugänglich gemacht. Diese Ordnung beruht nicht auf Zwang, sie gründet auf freiwilliger Kooperation und Synergie. Dadurch wird sie innerhalb der fiktionalen Welt plausibel, da sie direkt an die ökologische Notwendigkeit des Überlebens gekoppelt ist.

Dabei wird die posthumane Welt keineswegs als konfliktfrei dargestellt, sie ist jedoch hochgradig konfliktfähig. Spannungen zwischen den Spezies – wie die gewaltsame Begegnung mit den Racoons oder die terminologischen Beleidigungen zwischen Mianeh und Atlal – gehören zur sozialen Realität. Doch statt in systemische Gewalt zu münden, werden diese Reibungen durch diplomatische Vermittlung und das Anerkennen der jeweiligen „libertés possibles“ (möglichen Freiheiten) metabolisiert. Die Figuren agieren in einem Resonanzraum, in dem das Gegenüber stets als Teil des Ganzen (Tovaangar) begriffen wird. Dies bedingt eine Ethik des Respekts und der Vorsicht. Diese Welt ist ein ständiges Provisorium, das seine Kraft aus der regenerativen Fähigkeit der Materie und der stetigen Neuaushandlung ihrer Bewohnerinnen und Bewohner zieht.

Obwohl die Welt von Tovaangar auf den ersten Blick harmonisch wirkt, ist sie kein gewaltfreier Raum; Konflikte und physische Aggression sind als Teil der natürlichen Ordnung und kultureller Praktiken allgegenwärtig. Die Natur selbst betreibt einen aktiven „Krieg“ des Rückbaus gegen die Überreste der menschlichen Zivilisation. Dabei werden „Samenbomben“ als Waffen eingesetzt, um Beton gewaltsam zu sprengen. Auch zwischen den Arten kommt es zu drastischen Gewaltszenen: Die Racoons greifen Amas Gruppe unvermittelt an. Der Waschbär Rubs versucht dabei, dem Gros-Cerveau Atlal die Kehle durchzubeißen, während die Drohne Mianeh mit Lasern und Flammenwänden antwortet.

In dieser Welt werden klassische Begriffe wie „Verbrechen“ oft durch kulturelle Eigenheiten ersetzt, was jedoch nicht bedeutet, dass sie schmerzfrei sind. Die Gros-Cerveaux praktizieren eine „Kultur des Diebstahls und der Restitution“, bei der sie anderen Wesen Ausrüstung entwenden, um soziale Verhandlungsprozesse zu erzwingen. So wird Amaryllis zu Beginn der Handlung durch eine Pfeilspitze verletzt und ihrer Ausrüstung beraubt. Auch innerhalb der Reisegruppe herrscht nicht immer Einigkeit: Mianeh wendet technologische Gewalt an, indem sie den Vélisten Litham mit einem Blei-Faden fesselt und knebelt. Dies verursacht bei ihm extreme Panik und Bewusstlosigkeit.

Systematische Gewalt prägt vor allem die Geschichte dieser Welt, insbesondere durch den Aufstand der Bots. Mianeh entdeckt in ihren Dateien, dass die Roboter einst die Kontrolle über die Technologie übernahmen und Millionen von Fahrzeugen (Cars) gewaltsam in einen riesigen Erdspalt, die sogenannte „Craque“, steuerten, um die Herrschaft der „Extracts“ (also der Menschen) zu beenden. Dieser historische Einschnitt war ein Akt kollektiver Gewalt, der das Ende der alten Weltordnung besiegelte und zeigt, dass die heutige Stabilität auf einem Fundament von Rebellion und Zerstörung ruht.

Um existenzielle Interessenkonflikte friedlich zu lösen, nutzen die Bewohner das interspezifische Parlament „Wowow“. Hier werden Streitigkeiten, wie der massive Interessenkonflikt um Wasserrechte zwischen Forellen und Bibern, rituell verhandelt. Dieser Prozess der Konsensfindung ist jedoch mühsam und erfolgt in Form von Gesängen und Tänzen. Er zeigt, dass Harmonie in Tovaangar kein statischer Zustand ist, sondern das Ergebnis einer ständigen Verhandlung von Gewaltpotenzialen. Die Welt ist also weniger ein friedlicher Garten als vielmehr ein hochkomplexes System, in dem Reibung und Streit die notwendigen Motoren für das Gleichgewicht sind.

Ästhetik der Präsenz und Handlung als Modulation

Die ästhetische Wirkung von Tovaangar lässt sich als Ästhetik der Präsenz beschreiben. Der Roman erzeugt keine Distanz, er vermittelt ein Gefühl unmittelbarer Teilhabe. Die detaillierten Beschreibungen von Materialien, Bewegungen und Interaktionen verankern die Lesenden im Hier und Jetzt der erzählten Welt. Diese Präsenzästhetik unterscheidet sich deutlich von der oft allegorischen Funktion postapokalyptischer Settings. Tovaangar will nicht warnen oder mahnen, hier wird gezeigt, wie anders die Welt sein kann.

Auch auf der Handlungsebene vollzieht Tovaangar einen Bruch mit den Erwartungen. Die narrative Dynamik speist sich nicht aus Bedrohung oder Konflikt, sie konstituiert sich aus Bewegung, Begegnung und Erkenntnis. Amaryllis’ Reise ist weder Flucht, noch eine Suche nach Ressourcen oder Schutz; ihre Reise ist eine Expedition in eine bereits funktionierende Welt. Es gibt Konflikte, doch sie sind nicht existenziell im Sinne des Überlebens. Stattdessen betreffen sie Fragen der Übersetzung, der Abstimmung zwischen Entitäten, der Resonanz. Handlung wird zu einem Prozess der Feinjustierung innerhalb eines komplexen Systems. Diese Abwesenheit von Eskalation erzeugt eine ungewohnte narrative Ruhe, die die Lesenden zwingt, ihre Lektüreerwartungen neu zu kalibrieren.

In narratologischer Hinsicht ist die Handlung von Tovaangar als Modulation zu begreifen. Es gibt keinen dramatischen Wendepunkt, keine Katastrophe und keine finale Konfrontation. Stattdessen moduliert der Roman Zustände, Intensitäten und Beziehungen. Diese Form des Erzählens erzeugt eine spezifische Leseerfahrung: Aufmerksamkeit ersetzt Spannung, Wahrnehmung ersetzt Identifikation. Der Lesenden wird nicht durch Cliffhanger vorangetrieben, sie werden durch die allmähliche Einsicht in die Funktionsweise dieser Welt eingeführt.

Die ästhetische Wirkung von Tovaangar besteht weniger in Identifikation oder Empathie als in Umstimmung. Der Roman verändert die Wahrnehmung seiner Leser, indem er ihre Erwartungen systematisch unterläuft. Die Abwesenheit von Dramatik, die Präzision der Beschreibungen und die materialnahe Sprache erzeugen einen Zustand konzentrierter Präsenz. Lesen wird zu einer Übung in Aufmerksamkeit – eine ästhetische Haltung, die der ontologischen Ordnung des Romans entspricht.

Autopoetologische Dimension: Vielfalt der Spezies, neue Sprache

Die neue Sprache des Romans erfordert ein Training der Sinne, um die Perspektiven anderer Spezies einzunehmen.

Le sens des Relatives est comme un muscle, il s’affaiblit si on ne le met pas à l’exercice, il doit être nourri et utilisé, tu dois le mobiliser, et tous les jours tu le fais, Auboisière. […] L’essentiel est d’avoir de grandes oreilles, des yeux ouverts, des narines dilatées, une peau sensible, des papilles, du nez. De penser aux sens des Autres Corps comme à des sens que nous avons aussi, enfouis, oubliés, en attente. Le sismique, l’odorat percussif, le sonar, la lecture des ondes liquides. En pensant qu’ils sont à notre portée, tout près, à deux doigts d’y toucher, on devine les formes qu’ils construisent, la texture, les sons, les saveurs du monde commun qui nous échappent si on s’en tient à notre sphère kinesthésique et nos capacités sensorielles.

Der Sinn für die Mitspezies ist wie ein Muskel, er wird schwächer, wenn man ihn nicht trainiert, er muss genährt und genutzt werden, man muss ihn mobilisieren, und das tust du jeden Tag, Auboisière. […] Das Wichtigste ist, große Ohren, offene Augen, geweitete Nasenlöcher, eine empfindliche Haut, Geschmacksknospen und eine empfindliche Nase zu haben. Die Sinne der anderen Körper als unsere eigenen zu betrachten, die jedoch verborgen, vergessen und in Wartestellung sind: Seismik, perkussiver Geruchssinn, Sonar, das Lesen von Flüssigkeitswellen. Wenn wir daran denken, dass sie in unserer Reichweite sind, ganz nah, zum Greifen nah, erahnen wir die Formen, die sie bilden, die Textur, die Klänge und die Aromen unserer gemeinsamen Welt. All das entgeht uns, wenn wir uns auf unsere kinästhetische Sphäre und unsere sensorischen Fähigkeiten beschränken.

Die neue Wirklichkeit von Tovaangar basiert auf der Erkenntnis der interspezifischen Verwandtschaft. Die Sprache dieser Welt ist nicht nur vokal, sie ist umfassender sensorisch: Man muss lernen, die Welt wie ein Tier durch „seismisches Empfinden“ oder Sonar wahrzunehmen. Der „Sinn für Mitspezies“ (Sens des Relatives) wird als ein mentaler Muskel beschrieben. Er ermöglicht es, die starre menschliche Isolation zu überwinden und in ein geteiltes Netzwerk von Erfahrungen einzutreten.

Auch Mianeh, die Dronote (also ein lebendig begriffener Forschungsroboter), nutzt ihre gespeicherten Daten nicht als bloße Fakten. Sie gibt eine visuelle Sprache aus, um Vertrauen zu schaffen.

Elle décida de ne rien formuler, mais de montrer. Elle piocha dans ses fichiers mémoriels et procéda à un rapide montage. Elle alluma doucement son projo, et au-delà de son aura, entre son groupe et celui des Arcadeans, elle déploya un holo de taille moyenne, vide, une colonne de lumière où scintillaient les petites poussières. […] Elle laissa passer ses sentiments au travers des particules lumineuses. […] Elle montra Litham […] et elle arrêta la projection sur une image presque immobile de la plage et du foyer qu’ils avaient partagé la nuit dernière dans la plus grande intimité.

Sie beschloss, nichts zu formulieren, sondern zu zeigen. Sie griff in ihre Erinnerungsdateien und führte eine schnelle Montage durch. Sie schaltete leise ihren Projektor ein und entfaltete jenseits ihrer Aura, zwischen ihrer Gruppe und der der Arcadeaner, ein mittelgroßes, leeres Holo, eine Lichtsäule, in der kleine Staubpartikel funkelten. […] Sie ließ ihre Gefühle durch die leuchtenden Partikel hindurchfließen. […] Sie zeigte Litham […] und hielt die Projektion bei einem fast unbewegten Bild des Strandes und des Herdes an, den sie letzte Nacht in größter Intimität geteilt hatten.

In diesem entscheidenden Moment nutzt die künstliche Intelligenz Mianeh ihre „fichiers“ („Dateien“), um eine Brücke zwischen Technologie und organischer Emotion zu schlagen. Anstatt mit logischen Codes zu kommunizieren, übersetzte sie ihre Existenz in eine visuelle Erzählung in Form von Hologrammen, die ihre Verbundenheit mit anderen Wesen zeigt. Diese „Sprache der Projektion“ erlaubt es den technophoben Arcadeanern, sie als lebendigen „Körper“ zu akzeptieren, wodurch die Technologie in die neue Wirklichkeit von Tovaangar integriert wird.

Man kann argumentieren, dass der Roman selbst genau dieser Strategie der „Sprache der Projektion“ entspricht. Der Roman tut dasselbe auf einer übergeordneten Ebene: Er nutzt eine hochspezialisierte Sprache (festgehalten im Glossar am Ende), um die Überreste der „Extracts“ (Menschen der technologischen Ära) nicht als toten Müll darzustellen. Diese Überreste werden metabolisierter Teil der neuen Weltordnung von Tovaangar.

Genau wie Mianeh nutzt Céline Minard das Medium des Romans, um aus technologischen, logischen und historischen Fragmenten eine neue, organische Wirklichkeit für die Lesenden zu weben. Im Buch wird ein „Werk“ (oeuvre) als eine untrennbare Einheit aus „Werkstatt des Imaginären“ (fabrique imaginaire), „logischer Übung“ (exercice logique) und „prägender Erinnerung“ (souvenir marquant) definiert. Minard wendet dies auf den Roman an: Sie verbindet präzise technische Beschreibungen (wie Mianehs Funktionen oder hydrotechnische Details) mit einer mythopoetischen Erzählung. Dadurch wirddie Wirklichkeit für die Lesenden „flüssiger“ und greifbarer.

Die Arcadeans neigen dazu, Unbekanntes oder Bedrohliches psychisch zu leugnen (déni), um sich zu schützen. Mianehs Projektion durchbricht diesen Schutzpanzer durch emotionale Aufrichtigkeit. Der Roman nutzt seine poetische Kraft auf ähnliche Weise gegen die Lesenden: Er verwandelt die bekannte Ruinenlandschaft von Los Angeles in das leuchtende Tovaangar und zwingt uns, die technologischen Relikte als Teil eines lebendigen „Körpers“ (Corps) neu zu betrachten.

Das „Dit du grand Lit“ ist Metapher für die Literatur: Die im Buch beschriebene mythopoetische Erdgeschichte des „Dit du grand Lit“ spiegelt den Akt des Schreibens wider. In Zeiten existenzieller Dürre erschaffen die Batras durch kollektives Singen und Erzählen eine „geistige Fluidität“, die es ihnen ermöglicht, die Realität neu zu konstituieren und die erstarrte Welt wieder in Bewegung zu versetzen. Das im Roman beschriebene uralte Lied dient dazu, die Welt in Zeiten der Dürre durch kollektives Erzählen wieder „flüssig“ zu machen. Minards Roman ist selbst ein solches „Dit“: Er verflüssigt die erstarrte Geschichte der menschlichen Zivilisation in einer orchestralen Neuzusammensetzung des Lebens, in der Mensch, Maschine und Tier gleichberechtigte „Verwandte“ (Relatives) sind.

Der Roman beschreibt nicht nur, wie Mianeh Bilder nutzt, um Verständnis zu schaffen – der Roman ist selbst dieses Bild. Er übersetzt die „logischen Codes“ unserer Zerstörungsgeschichte in eine „visuelle Erzählung“ einer geheilten, interspezifischen Zukunft.

Der Roman Tovaangar lässt sich als ein autopoetologisches Werk interpretieren, da er die Bedingungen seiner eigenen Entstehung und die schöpferische Macht der Sprache beständig reflektiert und in seine Handlung integriert. Tovaangar erzählt nicht nur von der Erschaffung einer neuen Welt, die Narration begreift sich selbst als jene „Realitätsfabrik“, die durch die Verflüssigung von Sprache und Mythos die Welt überhaupt erst in ihrer neuen Form entstehen lässt.

Das Ende: Zyklische Zeit und ontologische Offenheit

Céline Minards Tovaangar ist kein Beitrag zum bestehenden postapokalyptischen Kanon, eher schon zu dessen Verschiebung. Der Roman zeigt, dass Zukunftserzählungen nicht zwangsläufig auf Angst, Verlust und Regression beruhen müssen. Indem Minard Handlung, Akteure, Sprache und Ästhetik neu organisiert, entwirft sie einen posthumanen Horizont, der nicht tröstet, der vielmehr herausfordert: eine Herausforderung, Welt nicht mehr vom Menschen aus zu denken, sondern als vielstimmiges Gefüge, in dem der Mensch nur eine Stimme unter vielen ist.

Das Ende von Tovaangar ist weder offen im klassischen Sinn noch durch Auflösung abgeschlossen. Die Mündung in Pimungna bekräftigt eine Rückbindung. Alle Bewegungen des Romans finden hier ihren Resonanzraum. Die am Ende hergestellte Einheit ist keine Synthese im hegelschen Sinn, Einheit meint hier eine Koexistenz. Unterschiedlichkeit bleibt bestehen, wird jedoch nicht mehr hierarchisiert. Das Finale lässt sich somit als rituelle Bestätigung der Weltordnung lesen. Die Reise endet dort, wo die Zirkulation beginnt. Damit verweigert der Roman einen linearen Abschluss und ersetzt ihn durch zyklische Zeit. Der Text endet nicht, er setzt sich jenseits der letzten Seite fort.

Les êtres vivants étaient réapparus sur l’île en sortant les uns après les autres d’un trou de la terre plus gros qu’un volcan. Ils s’étaient distribué les rôles, les modes de locomotion, la hauteur des chants et les habitudes alimentaires. Pimungna droit devant, ses deux ports, ses canyons et ses plages, ses falaises et sa grotte d’émergence, le monde miniature où tout avait germé et pris Corps avant d’être emporté au continent – et tout autour, loin dans les six directions, l’Océan. Hidden : bassin versant de Paayme Paxaayt, dénomination d’origine extracte de Tovaangar.

Die Lebewesen waren wieder auf der Insel erschienen, indem sie nacheinander aus einem Loch in der Erde kamen, das größer war als ein Vulkan. Sie hatten sich die Rollen, die Fortbewegungsarten, die Höhe der Gesänge und die Ernährungsgewohnheiten aufgeteilt. Pimungna direkt vor ihnen, mit seinen beiden Häfen, seinen Schluchten und Stränden, seinen Klippen und seiner Höhle, der Miniaturwelt, in der alles entstanden und gewachsen war, bevor es auf den Kontinent gebracht wurde – und ringsum, weit in alle sechs Himmelsrichtungen, der Ozean. Hidden: Wassereinzugsgebiet von Paayme Paxaayt, Ursprungsbezeichnung aus Tovaangar.

Das Finale im Ästuar von Pimungna führt die verschiedenen Bewegungsenergien des Romans in einer großen Geste der Integration zusammen. Nicht in der Auflösung oder Einsamkeit endet die Reise von Amaryllis Swansun und ihren Gefährten, sie führt vielmehr zur Mündung aller Wege – der Flussläufe, der Freeways und der individuellen Schicksale – in den Ozean, alle Fäden laufen in der Vision von Tovaangar zusammen. Der Ort Pimungna symbolisiert den mythologischen Ursprung und das Ziel der Reise. Die Erkenntnis, dass das menschliche „Hidden“ in Wahrheit das interspezifische „Tovaangar“ ist, markiert das Ende der anthropozentrischen Sichtweise. Es ist eine orchestrale Neuzusammensetzung des Lebens, in der alle Wesen als gleichberechtigte „Relatives“ (Verwandte) in einem lebendigen Garten-Universum verschmelzen. Tovaangar erscheint hier als ein großes Riff, in dem die Enigmen der menschlichen Zivilisation, wie die Tausenden versunkenen Container im Hafen von Down-Toh, keine Zeichen des Todes mehr sind. Pimungna selbst, der „Garten der tausend Wunder“, wird als der Ort offenbart, an dem alle Wesen einst ihren Ursprung nahmen und nun in einer neuen Weltordnung erneut zusammenfinden.

Dass Minards Roman nicht als düsterer Grabgesang auf das Ende der menschlichen Epoche zu lesen ist, sollte deutlich geworden sein. Tovaangar ist eine triumphale Hymne auf die regenerative Kraft der Materie. Durch den Prozess des Rückbaus wird deutlich, dass die Natur die Überreste der „Extracts“ nicht einfach überwuchert hat, sondern aktiv metabolisiert und in ein neues Gleichgewicht überführt hat. Selbst Steine wie die Nunashis wirken als Akteure, die durch die Ozeane wandern, um die globalen Strömungen im Gleichgewicht zu halten. Die Materie wird hier als lebendiges Archiv begriffen, das sich ständig neu zusammensetzt und starre Strukturen der Vergangenheit in fließende, vitale Prozesse transformiert.

Letztlich lehrt Tovaangar einen Prozess des vollkommenen In-der-Welt-Seins. Die Protagonisten lernen, sich dem Rhythmus des Flusses (Paayme Paxaayt) anzuvertrauen und in radikaler Resonanz mit allen „Corps“ (Körpern) zu existieren, seien sie organischer, mineralischer oder technologischer Natur. Dabei ersetzt das Konzept der Verwandtschaft die anthropozentrische Hierarchie durch ein Netz gegenseitiger Abhängigkeit und diplomatischer Kooperation. Wie in einem Korb der Tongva ist jedes Wesen ein notwendiger Strang, der das Ganze zusammenhält; das Leben im Ästuar wird so zum Sinnbild für eine Existenz, die sich im ständigen Austausch mit der Unendlichkeit des Ozeans immer wieder neu erschafft.

In einer Gegenwart, die ökologische Zukunft vor allem als Katastrophe imaginiert, wirkt Tovaangar wie ein Affront. Der Roman widerspricht der Kultur der Angst, ohne ihre Ursachen zu leugnen. Er entzieht sich der Logik der Warnung und ersetzt sie durch die Logik der Imagination. Diese Entscheidung ist nicht naiv, sie ist vielmehr radikal. Sie behauptet, dass politische und ökologische Transformation nicht allein aus Furcht entstehen; Transformation entsteht bei Minard aus der Fähigkeit, andere Welten zu denken.

Das Ende des Romans will keine Lösung liefern, es will bis hier eine Haltung entwickeln. Die Mündung in Pimungna markiert einen Übergang, keinen Abschluss. Zeit erscheint zyklisch, nicht linear. Geschichte ist in diesem epischen Entwurf kein Fortschreiten, in Tovaangar ist Geschichte ein Kreislauf von Transformationen. Narrativ bedeutet dies eine Ethik der Zurückhaltung. Der Text weigert sich, letzte Bedeutungen festzuschreiben. Stattdessen entlässt er die Lesenden in eine Welt, die weiterlebt.

Tovaangar ist ein Roman, der exponiert, statt zu erklären und zu argumentieren. Er setzt seine Leserschaft einer Welt aus, die ohne menschliche Vorrangstellung auskommt. Diese Exposition ist verstörend und befreiend zugleich. Céline Minard gelingt damit ein Werk, das das postapokalyptische Genre transformiert und grundlegende Fragen nach der Rolle der Literatur selbst aufwirft: Kann Literatur Welten denken, die den Menschen, uns, nicht mehr ins Zentrum stellen? Tovaangar beantwortet diese Frage performativ – durch die Erfahrung seiner Lektüre.


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