Shoalzheimer: Raphaël Sigal

Raphaël Sigals Roman „Géographie de l’oubli“ (2025, Prix Méduse) kreist um das Schweigen und Vergessen der Großmutter, die zwischen Shoah-Trauma und Alzheimer-Erkrankung doppelt entzogen ist. Der Erzähler erbt nur Bruchstücke – Satzfetzen, Gesten, Objekte – und versucht daraus ein Buch zu machen, das die Leerstelle nicht verrät, sondern sichtbar macht. Statt dokumentarischer Recherche entscheidet er sich für ein poetisches Verfahren, das auf Fragmentierung, Wiederholung und Schweigen beruht. Der Neologismus „Shoalzheimer“ bündelt das aktive, überlebensnotwendige Vergessen der Shoah mit dem passiven, zerstörerischen Vergessen der Krankheit. Das Buch versteht sich als „Ricercar à x + 1 voix“: eine musikalische Suche nach den verlorenen Stimmen der Vorfahren (x) und der eigenen Stimme des Enkels (+1), deren Polyphonie sich zu einer brüchigen, fast unlesbaren Partitur verschränkt. So entsteht ein vielstimmiger, von Leere und Erinnerung durchdrungener Text, der die Grenzen von Zeugnis, Fiktion und literarischer Form neu auslotet.

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Die andere Seite, ohne Ressentiment: Paul Gasnier

Paul Gasniers „La collision“ (2025, Auswahllisten für den Prix Goncourt und den Prix Roman Fnac) verwandelt eine private Tragödie – den Tod der eigenen Mutter bei einem Straßenrennen in Lyon – in eine literarische Untersuchung, die Autofiktion, Reportage und Essay verbindet. Der Unfall erscheint nicht als isoliertes Unglück, sondern als emblematische Kollision zweier Frankreich: hier die weltoffene, intellektuelle, privilegierte Mutter, dort der jugendliche Täter Saïd, geprägt von Armut, Gruppendruck und der Gewaltkultur der „Pentes“. Gasnier spürt akribisch Gerichtsakten, Zeugenaussagen und Biografien nach und zeigt, wie tief sich gesellschaftliche Bruchlinien in den Stadtraum eingeschrieben haben. Das Buch rückt so die Kollision zweier Lebensentwürfe ins Zentrum – und damit die Frage, wie eine Gesellschaft ihre eigenen Spaltungen hervorbringt. Der Aufsatz hebt hervor, dass Gasnier sich weigert, seine Wut in Ressentiment zu übersetzen oder den Fall populistisch vereinnahmen zu lassen. Statt Schuldzuweisung setzt er auf Verstehen der Hintergründe, lässt Stimmen aus Saïds Umfeld zu Wort kommen und reflektiert zugleich über Medien, Justiz und die Versuchungen politischer Instrumentalisierung. Intertextuelle Bezüge – von Valéry über Despentes bis zu den Yoga-Schriften der Mutter – rahmen eine Haltung, die Trauer nicht in Rache, sondern in Erkenntnis verwandeln will. „La collision“ wird so zur literarischen Geste gegen Vereinfachung und Ressentiment – und zum Versuch, die Gewalt unserer Gegenwart in ihrer Komplexität zu sehen.

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Tod der Sonne: Nathan Devers

Nathan Devers’ Roman „Surchauffe“ (2025) entfaltet ein düsteres Panorama der Überlastung: Die Protagonistin Jade Elmire-Fasquin, eine Managerin am Rande des Burnouts, gerät zwischen korrupte Machtspiele, eine toxische Ehe und ihre eigene Sehnsucht nach einem „absoluten Anderswo“. Die Handlung zieht sich spiralförmig von privater Erschöpfung über globale Machtkonflikte bis zur kosmischen Dimension, in der die Überhitzung von Körper, Gesellschaft und Universum zusammenfällt. Metaphern wie Sonne, Feuer, Spirale und Insel verweben persönliche Zerrüttung mit ökologischer, politischer und kultureller Selbstzerstörung. Am Ende kulminiert Jades Versuch, der Spirale zu entkommen, im Völkermord an den Sentinelles – eine bittere Pointe, die zeigt, dass auch das „Andere“ nicht unberührt bleibt. Der Aufsatz betont eingangs, dass Devers den „Tod der Sonne“ als kosmische Gewissheit an den Anfang setzt, um die Fragilität jeder Moral zu entlarven. Die Überhitzungsmetaphorik verschränkt intime, soziale und planetarische Krisen zu einer Poetik der Apokalypse, in der Moral und Engagement als flüchtige, oft narzisstische Gesten entlarvt werden. Besonders hervorgehoben wird das Ende: Jade profitiert von ihrer tragischen Tat, die Gewalt wird ökonomisch verwertet, und die Insel verwandelt sich in ein „neues Babylon“. Die Rezension liest „Surchauffe“ als Diagnose einer Welt, die nicht mehr abkühlt, sondern sich in ihrer eigenen Spirale der Überhitzung verzehrt.

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Algerienkrieg, Orestie, Film noir: Serge Raffy

Serge Raffys „L’odeur de la sardine“ (Fayard, 2025) ist ein hybrides Werk, das sich an der Schnittstelle von Kriminalroman, historiographischer Fiktion und politischer Allegorie bewegt. Der rätselhafte Mord am ehemaligen Polizeichef Charles Bayard in Paris entpuppt sich als Katalysator für eine tiefgreifende Reise in die unheilbaren Wunden des Algerienkrieges. Raffy nutzt eine Poetik des „mentir vrai“, um die verdrängten Traumata und die „dunkle Seite des Gaullismus“ freizulegen. Der titelgebende „widerliche Geruch der Sardine“ wird dabei zum durchdringenden Symbol der unentrinnbaren Kriegsschuld und des Posttraumas, das Bayard und die ganze Nation zeitlebens verfolgt. Die Figurenkonstellation – von der wahrheitssuchenden Jeanne Obadia über den Journalisten mit Schreibblockade Rochas bis zum ambivalenten Ermittler Sarda – reflektiert unterschiedliche Positionen im Diskurs über Erinnerung und Schuld. Im Kern ist „L’odeur de la sardine“ ein moderner Algerienroman und kann als Nachspiel zur antiken „Orestie“ gelesen werden, in dem die Suche nach Gerechtigkeit und Sühne die „mauvaise conscience française“ offenbart. Raffy beleuchtet das transgenerationale Schweigen und die „leeren Gräber“ als Metaphern für eine systematisch verdrängte Vergangenheit. Raffy verzichtet auf eine einfache Auflösung des Kriminalfalls und der historischen Schuld. Stattdessen inszeniert er eine vielstimmige, filmisch geprägte Erzählung, die von Film-noir-Ästhetik und der Fragmentierung der Erinnerung geprägt ist. So bleibt der Algerienkrieg als „ungelöster Fall“ bestehen, dessen „Geruch“ in den Seelen und Köpfen über dem Mittelmeer schwebt und eine Versöhnung fordert, die noch aussteht.

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Die unauffindbare Medaille: Laurent Mauvignier

Laurent Mauvigniers monumentaler Roman „La maison vide“ (2025) ist seine Familiensaga und eine Archäologie des Schweigens. Ausgangspunkt ist eine Kommode voller Relikte – Fotos mit ausgeschnittenen Gesichtern, verschwundene Briefe, eine unauffindbare Medaille. Aus diesen Lücken rekonstruiert der Erzähler fünf Generationen seit napoleonischer Zeit, voller Kriege, Scham, Mythen und verschwiegener Traumata. Der Aufsatz zeigt, dass Mauvignier Erfindung nicht als Lüge, sondern als einzige poetologische Möglichkeit begreift, Vergangenheit vor dem Verschwinden zu retten. Familienmythen werden demontiert, verdrängte Geschichten – besonders die von Frauen wie Marguerite – wieder hörbar gemacht. „La maison vide“ erweist sich als Metaroman, der zugleich intime Familiengeschichte, kritische Reflexion über Erinnerungspolitik, poetologisches Manifest und Summa des eigenen Werks ist.

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Überwachen und Erschöpfen: Guillaume Poix nach Michel Foucault

Guillaume Poix‘ Roman „Perpétuité“ (2025, Auswahlliste für den Prix Goncourt) erweitert den Begriff der lebenslangen Haft über das Strafrecht hinaus zu einer existenziellen Dauer, die nicht nur Insassen, sondern auch das Gefängnispersonal erfasst, gefangen in einem System aus Routine, Traumata und unentrinnbarer Zeit. Der Aufseher Pierre hört das metallische „clac“ des Tors in Albträumen. Der alte Pförtner Abraham verbringt seine Nachtwachen gefangen in Erinnerungen an die Vergewaltigung seiner Tochter durch Ex-Häftlinge, wobei Vergangenheit und Gegenwart in einer quälenden Endlosschleife verschmelzen. Selbst Gefängnisleiterin Bianca Mariani, obwohl eine „Kriegerin“ gegen die Überbelegung, ist durch den Suizidversuch ihrer Tochter und die manipulative Konfrontation mit dem Serienmörder Duquesne zutiefst verletzlich. Das Gefängnis, das der Roman als ein überlastetes und dysfunktionales System zeigt, in dem Überwachung zu einem Kaleidoskop individueller Erschöpfung und institutionellen Zerfalls führt, wird in der Aufsatzargumentation als Gesellschaftsdiagnose gedeutet, die es als Brennspiegel einer überlasteten und strukturell ungerechten Spätmoderne darstellt. Dabei wird insbesondere herausgearbeitet, wie Poix Michel Foucaults Konzeption der Disziplinargesellschaft aktualisiert und überwindet, indem er Figuren wie die psychisch zerrütteten Aufseherinnen Houda und Maëva, oder die von Schuldgefühlen geplagte Stellvertreterin Émilie Lavorel in den Mittelpunkt rückt, die alle zeigen, wie das Personal selbst zu Objekten der Macht wird. Der Roman zeigt das Gefängnis somit nicht als Modell disziplinierender Macht, sondern als Symbol für gesellschaftlichen Zerfall, die Unfähigkeit zur Resozialisierung und die teilprivatisierte Verwaltung von Leid, welche alle Beteiligten in einer „Perpétuité“ gefangen hält.

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Invasive Pflanzen und drittes Geschlecht: Caroline Lamarche

Caroline Lamarches Roman „Le bel obscur“ (2025, Auswahlliste für den Prix Goncourt) ist eine Erkundung von Liebe, Erinnerung und Geschlechteridentitäten, in der eine Erzählerin nach dem Zerbrechen ihrer Ehe ihre eigene Identität und genealogische Vergangenheit ergründet. Der zentrale Titel „Le bel obscur“ ist eng mit dem verborgenen, queeren Leben ihres Vorfahren Edmond verbunden, dessen Auslöschung aus dem Stammbaum die Unterdrückung seiner irritierende Zwischenstellung repräsentiert. Der Roman dekonstruiert binäre Geschlechterordnungen, indem er Liebe als fluides, unsichtbares Band neu definiert, wobei die Erzählerin die Notwendigkeit des „Dritten“ gegenüber der exklusiven Zweierkonstellation auch für sich selbst als Ehefrau eines homosexuellen Mannes betont. In seiner hybriden Form aus Roman, Essay und Traumprosa transformiert „Le bel obscur“ persönliches Leid in eine universelle poetische Erfahrung, die die Fragilität menschlicher Beziehungen, die Unsichtbarkeit bestimmter Identitäten und die schöpferische Kraft des Erzählens bekräftigt.

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Stille nach dem Sturm: Cécile Guilbert

Cécile Guilbert hat sich in früheren Werken wie dem Roman „Les Républicains“ (2017) und der Chroniksammlung „Roue libre“ (2020) als scharfsinnige Diagnostikerin des politischen, intellektuellen und stilistischen Niedergangs Frankreichs und der Gesellschaft etabliert. Ihr jüngstes Buch „Feux sacrés“ (2025) stellt jedoch eine bemerkenswerte Verschiebung dar, indem es sich einer autobiografischen und spirituellen Selbstreflexion zuwendet, die durch persönliche Verluste und die Suche nach Sinn in indischer Philosophie ausgelöst wird. Dieser Aufsatz untersucht, wie diese Hinwendung zu einer „radikalen Innerlichkeit“ in „Feux sacrés“ nicht als Resignation, sondern als eine fortgesetzte, wenn auch andersartige Form des Widerstands gegen die diagnostizierten Dekadenzerscheinungen der modernen Welt verstanden werden kann.

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1968 – das Ende der Utopie und der Beginn des Selbst: Bernard Pellegrin und Maren Sell

Bernard Pellegrins Roman „Printemps fragile“ (2025) und Maren Sells memoirenartige Erzählung „Tout est là“ (2025) inszenieren je eine persönliche Geschichtsschreibung von 1968, die grundlegend unterschiedliche Interpretationen des „Mai 68“ zutage fördert: Pellegrins „Printemps fragile“ ist ein fiktionales Werk, das die Lebenswege mehrerer Charaktere über ein halbes Jahrhundert hinweg verfolgt und 1968 als einen kollektiven, aber schließlich desillusionierenden Aufbruch zeichnet. Demgegenüber interpretiert Maren Sell, deutsche Journalistin, Schriftstellerin und Verlegerin, die seit den 1960er Jahren in Paris lebt, die Zeit nach 1968 als eine persönliche Befreiung von der Last des deutschen Schweigens über den Holocaust und eine Abkehr von der „revolutionären Hysterie“ des Terrorismus.

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Hinter der Maske: David Thomas

David Thomas’ „Un frère“ (2025, Auswahlliste prix Goncourt) stellt sich einer doppelten Herausforderung: einerseits erzählt der Autor vom Leben und Sterben seines Bruders Édouard, der vier Jahrzehnte an Schizophrenie litt; andererseits reflektiert er zugleich die Schwierigkeit, über psychische Krankheit literarisch zu schreiben, ohne das Subjekt auf seine Diagnose zu reduzieren. Wie kann ein fiktionaler oder literarisch verarbeiteter Text der Erfahrung psychischer Krankheit gerecht werden? Wie lassen sich Leid, Fremdheit und die fragmentierte Wahrnehmung, die Schizophrenie mit sich bringt, in narrative Formen übersetzen, ohne voyeuristisch oder vereinfachend zu wirken?

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Brand, Meer, Sandkorn, Stein: Antoine Wauters

Antoine Wauters’ Roman „Haute-Folie“ (Gallimard, 2025) erzählt die Geschichte von Josef, der in eine bäuerliche Familie voller Brüche, Schweigen und Tragödien hineingeboren wird und sein Leben lang gegen die unsichtbaren Lasten seiner Herkunft kämpft. Ausgangspunkt ist ein verheerender Brand, der Hof und Tiere zerstört und eine Kette von Verlusten, Verrat und Tod auslöst, die schließlich in Gewalt, Selbstmord und Schuld mündet. Josef wächst im Schatten dieser Katastrophen auf, zwischen stummen Erwachsenen, zerstörerischen Wiederholungen und dem Zwang, die verdrängte Familiengeschichte mit sich zu tragen – womit sich die Frage verbindet, ob das Aufschreiben eine Form von Befreiung oder eine Wiederholung des Schmerzes darstellt. Wauters’ Prosa arbeitet dabei immer wieder mit lyrisch verdichteten Passagen, die Erinnerungen, Stimmen und Orte ineinanderfließen lassen und die Erfahrung von Verrücktheit (folie) als poetische wie existentielle Grenzerfahrung erfahrbar machen.

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Welt im Taumel: Emmanuel Carrère

Emmanuel Carrères „Kolkhoze“ (P.O.L., 2025) ist ein Familien- und Geschichtsepos, das sich über vier Generationen erstreckt. Es verbindet die russisch-georgischen Wurzeln des Autors mit seiner französischen Identität und stellt persönliche Schicksale in den Kontext großer politischer Umbrüche: von stalinistischer Gewalt und Kollaboration im Zweiten Weltkrieg bis zum Angriffskrieg gegen die Ukraine. Carrère verwebt autobiographische Reflexion, Genealogie, politische Philosophie und Geschichtsschreibung, wobei er die Spannung zwischen Erinnern und Verschweigen, Wahrheitssuche und Mythos, privater Intimität und historischer Katastrophe zum literarischen Verfahren erhebt. – Im Zentrum steht die Metapher der Kolchose – historisch Symbol für stalinistische Zwangskollektivierung, im Roman aber zugleich Bild für die Familie als Kollektiv, in dem Wahrheit, Identität und individuelle Freiheit unter kollektive Narrative von Herkunft und Geschichte gedrängt werden. So wird die Familiengeschichte, insbesondere das Schweigen um den kollaborierenden Großvater von Carrère, zum Spiegel für die Mechanismen von Verdrängung und Uchronie in totalitären Systemen. – Die Interpretation arbeitet heraus, wie Carrère die sowjetische Praxis der Geschichtsverfälschung und das Fortleben solcher Mechanismen in Putins Russland thematisiert. Der Roman bindet die Realität des Ukrainekriegs direkt ein und zeigt, dass die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit heute militärisch wie symbolisch fortgeführt wird. Carrère schildert Putins Regime als „gigantische Dystopie“, in der die Propaganda eine perverse Umkehrung der Realität betreibt. Damit verbindet sich auch ein Bruch mit der Nachsicht gegenüber seiner Mutter, Hélène Carrère d’Encausse, die lange glaubte, Putin sei brutal, aber rational: Der Roman insistiert auf einer klaren moralischen Position, die Aggression und Imperialismus als solche benennt. Schließlich betont der Aufsatz, dass „Kolkhoze“ über die Familienchronik hinaus ein Buch über die Fragilität europäischer Identität ist. Frankreich wird als Gegenpol eingeführt – Ort offizieller Ehrung und Integration –, während Georgien durch Carrères Cousine Salomé als Hoffnung auf Selbstbestimmung gegen imperiale Ansprüche erscheint. „Kolkhoze“ ist eine doppelte Erkundung: genealogisch und politisch, intim und historisch, ein Plädoyer für die Suche nach Wahrheit und moralischer Klarheit im Angesicht einer von Mythen und Gewalt geprägten Vergangenheit.

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Koloniale Schatten Indochinas und eine entzweite Familie: Adrien Genoudet

Adrien Genoudets Roman „Nancy-Saïgon“ (Seuil, 2025) beginnt mit der Entdeckung eines traditionellen indochinesischen Gewandes und eines Kartons voller Briefe, die nach der Einäscherung seiner Großmutter Simone Sanzach die Verbindung zwischen Nancy und Saïgon offenbaren. Der Erzähler taucht in die Korrespondenz seiner Großeltern, Simone und des Offiziers Paul Sanzach, ein, die ein „jeu de dupes“ voller Lügen und Ungesagtem enthüllt und durch die rätselhafte Figur Tilleul, dessen Rolle Verlangen und Verbrechen verknüpft, noch komplexer wird. Diese Suche deckt eine tief gespaltene Familiengeschichte auf, geprägt von Pauls moralischem Verfall und Simones zunehmender Einsamkeit, sowie der tragischen Marginalisierung ihrer Tochter Édithe, die als „la fille de trop“ missverstanden und abgelehnt wird. Hiermit entfaltet Genoudet eine vielschichtige Interpretation kolonialer Vergangenheit und persönlicher Traumata, im Verlauf dessen der Erzähler die verborgenen Wahrheiten seiner Familie entschlüsselt und das Gewicht des Schweigens und der Geschichte beleuchtet.

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Nachtgeschichten: Laurent Mauvignier

Laurent Mauvignier lässt viele seiner Bücher im fiktiven La Bassée spielen, so auch das für diesen Bücher-Herbst 2025 angekündigte und für die französischen Literaturpreise hoch gehandelte „La maison vide“ (2025). Zur Vorbereitung lesen wir seine Nachtgeschichten aus dem Jahr 2020, an dessen Tatort Mauvignier mit seinem neuen Buch zurückkehrt. Laurent Mauvigniers Roman „Histoires de la nuit“ (2020) entfaltet sich in dem isolierten Weiler „L’écart des Trois Filles Seules“, wo die Malerin Christine als Nachbarin des Bauern Patrice, seiner Frau Marion und ihrer Tochter Ida lebt, deren vermeintlich idyllisches Landleben durch die Vorbereitungen zu Marions 40. Geburtstag eine trügerische Fassade erhält. Diese Ruhe wird jäh zerstört, als Marions Ex-Partner Denis, frisch aus dem Gefängnis entlassen und von jahrelanger Rachsucht getrieben, mit seinen Brüdern Christophe und Bègue auftaucht, um Marion für ihren vermeintlichen Verrat und die vorenthaltene Tochter zu bestrafen, was in der brutalen Tötung von Christines Hund Radjah und der Geiselnahme der beiden Frauen gipfelt. Im Verlauf des Abends enthüllt sich Marions gewaltvolle Vergangenheit, während Patrice, der die Wahrheit über seine Frau lange verdrängt hat, zusammen mit Marion einen verzweifelten Kampf um das Überleben ihrer Familie und die Bewahrung ihrer Tochter in einer Nacht blutiger Konfrontationen führt, die tief sitzende Traumata und familiäre Abgründe offenbart.

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Silikonimplantat und Kriegsprothese: Arno Bertina

Arno Bertinas Roman „Des obus, des fesses et des prothèses“ („Granaten, Hintern und Prothesen“, éd. Verticales, 2025) entwirft ein ebenso groteskes wie aufschlussreiches Panorama menschlichen Leidens und Überlebens an einem unwahrscheinlichen Ort: einem luxuriösen Hotelpalast in Gammarth, unweit von Tunis, angesiedelt ein bis zwei Jahre nach dem Sturz Ben Alis und inmitten des libyschen Bürgerkriegs. Auf der einen Seite beherbergt das Hotel schwer verstümmelte Männer, Überlebende des brutalen Libyen-Krieges, deren Körper von Granaten und Kugeln gezeichnet sind. Auf der anderen Seite finden sich Frauen ein, die sich ästhetischen Operationen unterzogen haben und nun, von Verbänden und Hämatomen gezeichnet, ihre Genesung abwarten. Diese beiden Gruppen, deren Körper auf unterschiedliche Weisen „beschädigt“ oder „modifiziert“ wurden, begegnen sich am Rande eines stillgelegten Swimmingpools, was eine Atmosphäre des Unbehagens, der Absurdität und einer stillen Konfrontation schafft, die über die gesamte Erzählung hinweg schwebt.

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Semionaut des Untergangs: Mathieu Larnaudie

Mathieu Larnaudies „Trash Vortex“ (2024) erzählt in scharfer Satire vom Niedergang einer globalen Elite, die sich angesichts ökologischer und politischer Krisen in Bunkerträume, libertäre Fantasien und zynische Profitstrategien flüchtet. Im Zentrum steht Eugénie Valier (alias Liliane Bettencourt), Erbin eines Industrieimperiums, die ihr Erbe nicht an ihren Sohn weitergibt, sondern einer Stiftung zur Reinigung der ozeanischen Müllstrudel vermacht – ein Akt zwischen utopischem Gestus und familiärem Rachefeldzug. Der Roman entfaltet so ein Panorama von Macht, Gier und Verfall, in dem die Faszination für den eigenen Untergang das letzte verbindende Narrativ einer erschöpften Zivilisation bildet.

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Rimbaud-Fiktionen: Philippe Lemaire

Philippe Lemaires Roman „L’Arpenteur de rêves“ (2021) lässt sich nicht als bloße Biographie oder historischer Bericht über den Dichter Arthur Rimbaud lesen. Der Text präsentiert vielmehr eine poetische Konstruktion, die auf verschiedenen Ebenen mit der Figur spielt: Rimbaud wird zugleich erzählt, beschworen und neu erfunden. Schon der Titel verweist auf eine doppelte Bewegung: der „Vermesser der Träume“ ist jemand, der das Unmessbare kartographiert, der das Unmögliche in Sprache fasst und zugleich in der Schwebe belässt. Lemaire erzählt Rimbaud, indem er ihn fiktionalisiert, um sein Bild für den Leser neu sichtbar zu machen.

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Rimbaud-Fiktionen: Alain Blottière

Alain Blottières Roman „Azur noir“ (2020) lässt sich als „Rimbaud-Fiktion“ interpretieren, in der der Protagonist Léo eine obsessive und transformative Verbindung zum französischen Dichter Arthur Rimbaud eingeht. Rimbaud ist für Léo nicht bloß eine literarische Figur, sondern wird zu einem zentralen Element seiner persönlichen Erfahrung, seiner Wahrnehmung der Welt und seiner kreativen Entfaltung, insbesondere in einem apokalyptischen Szenario des „Endes der Welt“. Der Roman entfaltet eine reiche Intertextualität, die sich auf biographische Details, poetische Konzepte und thematische Parallelen erstreckt. Die Erzählung ist in einem Kontext eines Endes der Welt („fin du monde“) angesiedelt, geprägt von extremen Hitzewellen, Bränden, Überschwemmungen und Umweltkatastrophen. Léo empfindet diese Gegenwart als unerträglich, und die „Rimbaud-Fiktion“ wird zu seinem „ultime refuge“. Rimbauds Welt, so wie Léo sie in seinen Visionen wahrnimmt, ist ein „Paradies“ ohne die Schrecken der Gegenwart – ein Paris vor der Industrialisierung, voller Pferde, sauberer Luft und unberührter Natur.

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Rimbaud-Fiktionen: Philippe Besson

Philippe Bessons Roman „Les jours fragiles“ (Julliard, 2004) geht von den letzten Lebensjahren des Dichters Arthur Rimbaud aus und zeichnet ein intimes Porträt aus der Perspektive seiner Schwester Isabelle. Der Roman ist eine suggestive Rimbaud-Fiktion, die die komplexen Beziehungen innerhalb der Familie und Isabelles innere Welt beleuchtet, während sie sich dem Mythos ihres Bruders nähert.

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Rimbaud-Fiktionen: Jean-Michel Lecocq

„Le squelette de Rimbaud“ von Jean-Michel Lecocq ist eine Kriminalgeschichte, die sich um die rätselhafte Entdeckung von Arthur Rimbauds Grab dreht und dabei in die Legenden und das Erbe des Dichters eintaucht. Der Roman spielt in Charleville-Mézières, der Heimatstadt Rimbauds, die in einer Phase kultureller Trägheit und wirtschaftlicher Sparsamkeit verharrt. Diese Lethargie wird jäh unterbrochen, als Georges Hermelin, der kulturverantwortliche stellvertretende Bürgermeister, eine gewagte und provokante Idee vorschlägt: die Erweiterung des Rimbaud-Museums um eine spezielle Ausstellung, deren Herzstück Rimbauds Schenkelknochen sein soll. Der Schock ist jedoch unermesslich, als bei der Öffnung des Sarges festgestellt wird, dass das darin befindliche Skelett beide Beine intakt besitzt und somit nicht Rimbaud gehören kann.

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