Patrick Chamoiseau in der neuen Weltordnung

Krisenherde weltweit und Aufgabe der Literatur

Nous sommes dans l’inconcevable […]

René Char, zit. als Motto bei Patrick Chamoiseau, Que peut Littérature quand elle ne peut, Seuil, 2025, 7.

Wir befinden uns im Unfassbaren […].

Zeitgenossenschaft meint: So wie geisteswissenschaftliche Fragestellungen durch einen historischen Moment nahegelegt werden, verlangen sie bei bestimmten disruptiven Ereignissen eine Revision. Das macht es besonders aufschlussreich, wenn Theoretiker und Autoren ihre Entwürfe als Zeitgenossen selbst neu sichten, kritisieren und überprüfen, adaptieren und umformulieren. Ein solcher Fall scheint mir mit Patrick Chamoiseaus neuem Buch vorzuliegen: Während er in seinem neuesten Buch Que peut Littérature quand elle ne peut (2025) sein Werk und seine Thesen einerseits bekräftigt, stellt er sie in einer Reflexion über die veränderten politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen der Gegenwart zugleich neu zur Debatte. Patrick Chamoiseau bleibt vielen seiner Grundüberzeugungen treu, doch die Art und Weise, wie er die Welt betrachtet und interpretiert, hat sich deutlich verändert. Während er früher vor allem postkoloniale Fragen der Identität, der Kreolisierung und der kulturellen Hybridität in den Mittelpunkt stellte, erweitert er nun seinen Blick auf globale Herausforderungen wie Digitalisierung, algorithmische Steuerung von Wissen, ökologische Krisen und die Bedrohung durch totalisierende politische Narrative. In vielerlei Hinsicht haben wir es hier mit einem anderen Chamoiseau zu tun. Der Autor analysiert die globalen Strömungen von Kapitalismus, Individualismus und Demokratieverlust. Seine Thesen sind eine Mischung aus analytischer Schärfe, poetischer Intuition und kultureller Kritik.

In seinem jüngsten Essay formuliert Patrick Chamoiseau seine Position gegenüber den Herausforderungen der neuen Weltordnung und ihren Auswirkungen auf Literatur und Gesellschaft. Er warnt vor dem Erstarken autoritärer Regime und populistischer Bewegungen weltweit und sieht in der Erosion der Demokratie eine Bedrohung für individuelle Freiheiten, kulturelle Vielfalt und den offenen Dialog, den er weiter als essenziell für die Créolité betrachtet. Die neuen geopolitischen Spannungen und wirtschaftlichen Disparitäten zementieren koloniale Machtstrukturen in veränderter Form. Er fordert eine Neubewertung dieser Beziehungen im Sinne einer selbstbestimmten, aber offenen Identitätsform. Chamoiseau thematisiert die Flüchtlingskrise als Symptom einer tiefen globalen Krise. Er lehnt xenophobe und nationalistische Reaktionen auf Migration ab und plädiert für eine visionäre Politik der Interdependenz, die über starre nationale Identitäten hinausgeht. Die ökologische Zerstörung betrachtet er als direkte Folge eines kapitalistischen Systems, das auf Profitmaximierung statt auf nachhaltige Beziehungen zur Natur setzt. Die Literatur soll nicht nur Zeugin der Krise sein, sondern alternative Denk- und Erzählweisen entwickeln, um neue Zukünfte zu imaginieren. In der neuen Weltordnung sieht Chamoiseau eine Verstärkung alter Machtasymmetrien, aber auch eine Chance für eine dynamische Weltverflechtung, die über nationale und kulturelle Grenzen hinausgeht. Die Literatur darf in dieser Zeit nicht nur dokumentieren, sondern muss aktiv neue Perspektiven aufzeigen.

Ni vérité, ni contre-vérité, ni mensonge, ni utilité, ni réalisme, ni responsabilité, ni psychologie, ni morale, ni sérieux, ni message, ni mission, ni décolonial, ni anti-quoi que ce soit, ni langue élue, ni continent noir, ni la joie du récit, ni l’ivresse des fictions, ni commencement ni fin, ni ordre ni désordre, ni réussite ni échec… — juste la plongée exploratoire, démesurée, dans l’impensable du réel pour le fameux « supplément d’âme », pour la plus haute intensité relationnelle du narratif.

Patrick Chamoiseau, Que peut Littérature quand elle ne peut, Seuil, 2025, 107.

Weder Wahrheit noch Gegen-Wahrheit, nicht Lüge, nicht Nützlichkeit, nicht Realismus, nicht Verantwortung, nicht Psychologie, nicht Moral, nicht Ernsthaftigkeit, nicht Botschaft, nicht Mission, nicht Dekolonialismus, nicht Anti-was-auch-immer, nicht auserwählte Sprache, nicht schwarzer Kontinent, weder Freude am Erzählen noch Rausch der Fiktionen, weder Anfang noch Ende, weder Ordnung noch Unordnung, weder Erfolg noch Misserfolg … – nur das maßlose, forschende Eintauchen in das Undenkbare des Realen für das berühmte „Mehr an Seele“, für die höchste Beziehungsintensität des Narrativen.

So formuliert Chamoiseau bspw. kritische Perspektiven auf die Identitätspolitik der Gegenwart: Er kritisiert starre Identitätspolitiken, die auf essenzialistischen Vorstellungen beruhen, und er bekräftigt neu die Notwendigkeit, Identität als ein dynamisches, relationales und historisch gewachsenes Konzept zu verstehen, das sich aus vielfältigen Einflüssen zusammensetzt. Chamoiseau warnt vor identitätspolitischen Bewegungen, die neue Formen der Abgrenzung und Ausschließung schaffen. Er kritisiert die Rückkehr zu nationalistischen Diskursen, insbesondere im Zusammenhang mit der Debatte über die nationale Identität, die unter der Sarkozy-Regierung 2007 aufkam. Er sieht dies als eine gefährliche Entwicklung, die die Vielfalt und Pluralität innerhalb der Gesellschaft nicht anerkennt. 1 Statt Identität als exklusives Kriterium zu betrachten, plädiert er auch angesichts solcher Tendenzen für eine offene, hybride und sich ständig erneuernde Vorstellung von Zugehörigkeit. Chamoiseau sieht die Créolité als Modell für eine Welt, in der Kulturen sich nicht isolieren, sondern sich wechselseitig beeinflussen und bereichern. Identitätspolitik, die nur auf Abgrenzung setzt, widerspricht seiner Vision einer offenen Weltgemeinschaft. Er kritisiert, dass viele postkoloniale Gesellschaften in eingefahrenen kolonialen Denkmustern verharren. Statt sich ausschließlich an den Kategorien der ehemaligen Kolonialherren zu orientieren, fordert er eine Neubewertung und Wertschätzung eigener historischer Erfahrungen und Narrative. Chamoiseau betont schließlich, dass Literatur nicht dazu da sei, ideologische Identitätskonzepte zu affirmieren, sondern um Komplexität und Ambivalenz sichtbar zu machen. Sie soll neue Perspektiven eröffnen und starre Denkmuster aufbrechen. Sein Ansatz widerspricht also explizit vereinfachenden Identitätspolitiken der Gegenwart, die kulturelle und soziale Kategorien als fixiert betrachten. Stattdessen schlägt er eine fluidere, offene und relationale Identitätsauffassung vor, die den Prozess der Kreolisierung als Schlüssel zur Weltverständigung begreift.

C’est quoi la mondialité ? C’est un autre monde que le monde que nousL a offert la globalisation économique, c’est le monde de la rencontre, c’est le monde de la mobilité, c’est le monde de l’hospitalité et c’est l’amplification de la vieille notion d’humanisme aujourd’hui que tous les gens comme Trump contestent aujourd’hui, un nouvel humanisme qui n’est pas un humanisme vertical, mais une horizontale plénitude de cet humanisme dans la biosphère du vivant.

Patrick Chamoiseau : « Nous sommes en face du surgissement de l’inconcevable », Mediapart, Youtube.com, Februar 2025.

Was ist die Globalität? Es ist eine andere Welt als die Welt, die uns die wirtschaftliche Globalisierung geboten hat, es ist die Welt der Begegnung, es ist die Welt der Mobilität, es ist die Welt der Gastfreundschaft und es ist die Verstärkung des alten Begriffs des Humanismus heute, den alle Leute wie Trump heute anfechten, ein neuer Humanismus, der kein vertikaler Humanismus ist, sondern eine horizontale Fülle dieses Humanismus in der Biosphäre des Lebendigen.

Patrick Chamoiseau : « Nous sommes en face du surgissement de l’inconcevable », Mediapart, Youtube.com, Februar 2025.

Vor zwei Jahren betonten 200 Persönlichkeiten aus den französischen Überseegebieten Guadeloupe, Guyane, Martinique, Mayotte und La Réunion in ihrer gemeinsamen, von Patrick Chamoiseau organisierten Erklärung die Notwendigkeit, diese Regionen als eigenständige „Nationen“ innerhalb Frankreichs anzuerkennen. 2 Sie fordern eine Neudefinition der Beziehungen zum französischen Staat, die ihre einzigartigen geografischen, kulturellen und sozialen Identitäten respektiert. Die Unterzeichner lehnen Begriffe wie „Überseegebiete“ oder „Peripherien“ ab und betonen, dass diese Regionen im Zentrum ihrer eigenen Weltanschauung stehen. Sie rufen dazu auf, die Verantwortung für ihre eigenen Angelegenheiten zu übernehmen und ihre Zukunft selbstbestimmt zu gestalten. ​Patrick Chamoiseau ergänzt hier seine Konzepte der Kreolisierung und Hybridisierung: Während die Kreolisierung die Vermischung und gegenseitige Beeinflussung verschiedener Kulturen hervorhebt, zielt Faire pays darauf ab, diese hybriden Identitäten zu festigen und ihnen eine aktive Rolle in der globalen Gemeinschaft zu verleihen, ohne darin freilich eine fixierte Identitätspolitik zu sehen. Chamoiseau fordert damit eine Anerkennung und Wertschätzung der einzigartigen kulturellen Identitäten, die durch Kreolisierung entstanden sind, und betont gleichzeitig die Bedeutung ihrer aktiven Teilnahme am weltweiten Diskurs. Faire pays soll die durch Hybridisierung entstandenen Identitäten stärken und ihre verantwortungsvolle Positionierung in der globalen Gemeinschaft sicherstellen.​

Die globale Weltordung ist in vielem radikal verändert gegenüber dem Ausgangspunkt von Patrick Chamoiseau Anfang um 1990: Sein Roman Texaco erhielt 1992 den Prix Goncourt, seine Stichworte bestimmten fortan eine ganze Generation der Romanistik und eine bestimmte Form von Kulturwissenschaft, und es stellt sich heute die Frage, wie es um das Fortbestehen dieser Stichworte in der neuen Weltordnung bestellt sein kann. Das Buch Texaco setzte sich inhaltlich wie formal mit der kolonialen Vergangenheit Martiniques auseinander, verhandelte zentrale Themen wie die Geschichte der Sklaverei, die sozialen und politischen Kämpfe der Schwarzen auf den Antillen sowie den Konflikt zwischen kolonialem Erbe und postkolonialer Selbstbehauptung. Chamoiseaus Sprache in Texaco war radikal in ihrer Hybridität, kombinierte Französisch mit Kreolisch, führte Wortneuschöpfungen ein und bediente sich der Struktur mündlicher Erzähltraditionen. Diese Poetik der Vielstimmigkeit dekonstruierte die Sprache der Kolonialmacht, indem er sie mit der musikalischen Rhythmik und dem spielerischen Ausdruck des Kreolischen anreicherte. Die Kritik an der „Frankolatrie“ der antillanischen Elite ist dabei zentral: Während die gebildeten Schichten der Insel weiterhin das Französisch der Metropole als Maßstab betrachten, plädiert Chamoiseau für eine literarische Praxis, die das Kreolische nicht nur integriert, sondern es als vollwertigen Ausdruck antillanischer Identität anerkennt. Texaco steht für den kontinuierlichen Kampf der Schwarzen gegen Verdrängung und Diskriminierung; diese Geschichte wird nicht linear erzählt, sondern in einer vielstimmigen Collage aus Erinnerungen, mündlichen Erzählungen und Fragmenten historischer Überlieferung zusammengefügt. Das Buch verortet sich literarisch in der Tradition der karibischen Dekolonisierungsliteratur, geht aber über die Konzepte der Négritude (Aimé Césaire) hinaus, indem es die Vielfalt und Hybridität der antillanischen Kultur betont. In der Konzeption der Créolité, wie sie Chamoiseau gemeinsam mit Raphaël Confiant und Jean Bernabé im Manifest Éloge de la Créolité (1989) formulierte, wird Identität nicht als Rückkehr zu einem „ursprünglichen“ Afrikanismus verstanden, sondern als dynamisches Geflecht von Einflüssen: afrikanischen, europäischen, indischen und indigenen Elementen. Diese Vielstimmigkeit prägt auch die narrative Struktur des Romans: Chamoiseau lässt die Figuren in einem polyphonen Chor sprechen, in dem Stimmen der Vergangenheit und Gegenwart ineinandergreifen. Texaco war nicht nur ein historischer Roman, sondern auch ein politisches Manifest für die Anerkennung der kreolischen Identität. 3

In Teilen löst sich Chamoiseau von einem konkret bestimmten Raum, wenn er in Que peut Littérature quand elle ne peut die Verantwortung gegenüber allen unterdrückten Gruppen betont:

Aujourd’hui, pour questionner les littératures dans leur rapport au monde, donc à chaque être vivant, il serait indécent de ne pas considérer toutes les oppressions : Palestiniens, Tibétains, Ouïghours, Rohingyas, Tutsis, Kurdes, Ukrainiens, Haïtiens, Syriens, peuples-nations effacés dans l’Outremer français… Je les vois et les nomme un à un au coeur en apparence bien impuissant de nos littératures !…

Patrick Chamoiseau, Que peut Littérature quand elle ne peut, Seuil, 2025, 9.

Um die Literaturen in ihrer Beziehung zur Welt, also zu jedem Lebewesen, zu hinterfragen, wäre es heute unanständig, nicht alle Unterdrückungen zu betrachten: Palästinenser, Tibeter, Uiguren, Rohingya, Tutsi, Kurden, Ukrainer, Haitianer, Syrer, Völker-Nationen, die in den französischen Überseegebieten ausgelöscht wurden … Ich sehe sie und nenne sie nacheinander im scheinbar so machtlosen Herzen unserer Literaturen! …

Patrick Chamoiseaus Text Que peut Littérature quand elle ne peut (2025) ist ein Manifest, das die Rolle der Literatur in einer Welt untersucht, die von Krisen, Gewalt und ideologischen Verhärtungen geprägt ist. Der erste Teil des Buchs, „Grand son“, ist eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie Literatur angesichts globaler Ungerechtigkeiten agieren kann. Chamoiseau verortet die Literatur explizit im politischen Raum und ruft dazu auf, das Schreiben als Akt der Zeugenschaft und des Widerstands zu begreifen. Bereits die Titel der Unterkapitel deuten an, dass es hier um die Grundelemente literarischen Schaffens geht: „L’écrire au monde, Les créatures, La photo, Le Grand récit, Le Poète primordial, La saisie, Les organismes narratifs.“ Durch eine Mischung aus essayistischen Reflexionen, poetischen Einschüben und philosophischen Exkursen erörtert Chamoiseau die Grenzen und Möglichkeiten der Literatur angesichts einer Welt, in der die großen Erklärungen versagen und die Komplexität des Wirklichen oft reduziert wird. Der zweite Teil, Mazonn: notes de sentimenthèque, ist introspektiver als der erste Teil und reflektiert die individuelle Seite des Schreibens. Hier spielt Chamoiseau mit der Idee einer „sentimenthèque“ – einer emotionalen Bibliothek, die von literarischen Erinnerungen, Empfindungen und poetischen Impulsen gespeist wird. Chamoiseau entwirft mit Que peut Littérature quand elle ne peut ein entschiedenes Plädoyer für eine Literatur, die sowohl politisch als auch poetisch ist. Während „Grand son“ die ethische Verantwortung der Literatur gegenüber der Welt betont, zeigt „Mazonn“ die tiefe persönliche Dimension des Schreibens als Reflexion und Selbstvergewisserung. Seine Sprache changiert dabei zwischen leidenschaftlicher Anklage, philosophischer Meditation und poetischer Verdichtung. Formal experimentell, inhaltlich grundlegend und sprachlich fein gearbeitet, fordert Chamoiseaus Werk eine aufmerksame, geduldige Lektüre. Es ist sowohl ein Aufruf zum Handeln als auch eine Feier der sprachlichen Schönheit – eine Erinnerung daran, dass Literatur in ihrer größten Not auch ihre größte Kraft entfalten kann:

Mais il serait inadmissible, sous cette arche offerte aux littératures, de ne pas se maintenir en présence des Tibétains et des Ouighours en Chine, des Rohingyas en Birmanie, des Tutsis au Burundi et au Rwanda, des Kurdes en Syrie, en Irak, en Turquie, des Peuples originels dans les Amériques et dans leurs archipels … tous ceux-là, en souffrance, en danger, et tant d’autres !

Haitiens abandonnés, Syriens oubliés, Libanais délaissés, musulmans stigmatisés, Africains exploités, Kanaks dépouillés, Mahorais emportés dans une dés-archipélisation morbide, Antillais et Guyanais noyés dans I’éouffoir d’un « outre-mer » français où les vestiges coloniaux insultent ce qui subsiste de la vieille République … Même les ultimes forces progressistes de l’Hexagone trouvent normal que la France possède encore des « outre-mers », admettant ainsi que des peuples-nations différents, surgis de la jonction des expériences humaines, soient niés dans leurs singularités propres, et réduits par là même à ne pas mobiliser, dans la matière du monde, leurs inédites ressources. Je les nomme un à un, les appelle tous, en ce qu’ils sont, ici, là même, avec moi, parmi nous !

Patrick Chamoiseau, Que peut Littérature quand elle ne peut, Seuil, 2025, 13.

Aber es wäre unter diesem der Literatur gebotenen Bogen unzulässig, sich nicht in der Gegenwart der Tibeter und der Uiguren in China, der Rohingya in Burma, der Tutsis in Burundi und Ruanda, der Kurden in Syrien, im Irak, in der Türkei, der Urvölker in Amerika und in ihren Archipelen zu halten … all jene, die leiden, in Gefahr sind, und so viele andere!

Verlassene Haitianer, vergessene Syrer, vernachlässigte Libanesen, stigmatisierte Muslime, ausgebeutete Afrikaner, beraubte Kanaken, in eine morbide Ent-Archipelisierung gerissene Mahorais, in der Hitze eines französischen „Überseegebiets“ ertrinkende Antillen- und Guyana-Bewohner , wo die kolonialen Überreste das beleidigen, was von der alten Republik übrig geblieben ist … Selbst die letzten fortschrittlichen Kräfte Frankreichs halten es für normal, dass Frankreich noch Überseegebiete besitzt, und geben damit zu, dass verschiedene Völker-Nationen, die aus der Verbindung menschlicher Erfahrungen hervorgegangen sind, in ihren eigenen Besonderheiten geleugnet und dadurch daran gehindert werden, ihre beispiellosen Ressourcen in der Welt zu mobilisieren. Ich nenne sie einzeln, rufe sie alle, in dem, was sie sind, hier, dort, mit mir, unter uns!

Überblick: Grand son und Mazonn

Chamoiseaus Que peut Littérature quand elle ne peut gliedert sich in zwei Hauptteile: Grand son: l’écrire au monde und Mazonn: notes de sentimenthèque, die jeweils unterschiedliche Perspektiven auf das literarische Schaffen und seine politische wie ästhetische Verantwortung bieten; beide Titel sind der Kultur der bèlè in der Karibik entnommen. Er beginnt mit einer Grundsatzreflexion über das Schreiben als weltzugewandte Praxis. Literatur darf sich demnach nicht in einer rein ästhetischen Sphäre isolieren, sondern muss aktiv auf gesellschaftliche Realitäten reagieren. Die Argumentation folgt keiner linearen Logik, sondern entwickelt sich spiralförmig, indem sie immer wieder neue Perspektiven auf den Kern der Frage wirft.

Les créatures. Chamoiseau argumentiert, dass literarische Charaktere nicht nur in fiktionalen Universen existieren, sondern als Spiegel gesellschaftlicher Mechanismen fungieren. Besonders betont er die Rolle marginalisierter Stimmen, deren Geschichten oft ignoriert oder vereinnahmt werden. Seine Sprache ist hier besonders bildhaft: Figuren erscheinen als Resonanzkörper gesellschaftlicher Unterdrückungsmechanismen, sie zittern unter der Last der Geschichte und werden durch das Schreiben ins Licht der Welt geboren.

La photo. Dieses Kapitel enthält eine persönliche Reflexion über das ikonische Bild des syrischen Jungen Aylan Kurdi, der 2015 tot an einem Strand aufgefunden wurde. Chamoiseau analysiert, wie Bilder und visuelle Medien das menschliche Bewusstsein beeinflussen und in Konkurrenz zur schriftlichen Narration treten. Dabei wird die Ambivalenz zwischen dokumentarischer Wahrheit und medialer Instrumentalisierung betont. Sein Schreibstil ist hier besonders rhythmisch, fast mantraartig wiederholt er bestimmte Wendungen und nutzt seine Fähigkeit, mit Sprachrhythmen zu spielen und emotionale Intensität zu erzeugen.

Le Grand récit. Hier kritisiert Chamoiseau die hegemonialen „großen Erzählungen“, die über Jahrhunderte hinweg Gesellschaften geformt haben. Diese Meta-Narrative, wie etwa der Fortschrittsgedanke oder der Kolonialdiskurs, haben laut Chamoiseau oft zur Unterdrückung von Minoritäten beigetragen. Er plädiert stattdessen für eine Vielzahl kleiner, relationaler Erzählungen, die die Komplexität der Welt besser abbilden können. Hier bedient er sich einer vielschichtigen, manchmal fast labyrinthartigen Metaphorik: Er spricht von Erzählströmen, die sich verzweigen, ineinander fließen oder von der Strömung der Macht aufgesogen werden. Die Vorstellung von Literatur als fluide, sich immer wandelnde Struktur steht im Zentrum seines Denkens.

Le Poète primordial. In diesem Abschnitt entwickelt Chamoiseau das Konzept dieser archetypischen Figur, die jenseits von nationalen oder sprachlichen Grenzen operiert. Er verweist auf eine ursprüngliche, fast mystische Verbindung zwischen Poesie und Weltwahrnehmung, die durch moderne gesellschaftliche Strukturen oft verloren geht. Sein Stil ist hier besonders impressionistisch: Der „Poète primordial“ erscheint als nomadische Gestalt, die durch das Zwielicht der Sprache wandert, stets auf der Suche nach dem „unerhörten Klang“ des Unaussprechlichen.

La saisie. Dieses Kapitel beschreibt die literarische „Erfassung“ der Realität. Chamoiseau hebt hervor, dass Literatur nicht nur die sichtbare Welt beschreibt, sondern auch das Unsichtbare, das Unaussprechliche, das durch herkömmliche Sprache nicht erfasst werden kann. Besonders auffällig ist seine Verwendung von synästhetischen Bildern. Er beschreibt „saisie“ als eine Art Erfassung oder Ergreifung des Moments in seiner Komplexität, die über einfache Erzählformen hinausgeht. Dieses Erfassen ist eine kreative Handlung, die nicht nur die Realität abbildet, sondern auch die Möglichkeiten des Lebens und die Impulse des Unbekannten erkundet.

Les organismes narratifs. Chamoiseau entwickelt hier die Idee, dass Narrationen als lebendige Organismen betrachtet werden können: Sie entstehen, mutieren und interagieren mit anderen Erzählstrukturen. Besonders betont er die Bedeutung der oral geprägten Erzählformen, die in postkolonialen Kontexten wie der Karibik eine zentrale Rolle spielen. Seine Sprache ist hier fast wissenschaftlich-präzise, er analysiert die Strukturen des Erzählens, ohne dabei den poetischen Fluss seines Stils zu verlieren.

Mazonn. Während „Grand son“ nach außen gerichtet ist und die Verantwortung der Literatur gegenüber der Welt betont, zieht sich Chamoiseau in „Mazonn“ in den Raum der Reflexion zurück. Hier beschäftigt er sich mit den inneren Mechanismen des Schreibens, der Introspektion und der Bedeutung der eigenen literarischen Prägung. Seine Sprache wird intimer, fragmentarischer, als würde er Notizen aus einem persönlichen Tagebuch mit uns teilen. Ein zentrales Thema dieses Teils ist die Intertextualität – Chamoiseau verweist auf eine Vielzahl literarischer Vorbilder, darunter Cervantes, Joyce, Faulkner und Glissant. Er zeigt, wie sein eigenes Schreiben in ein Netzwerk aus Referenzen eingebettet ist, das über Zeit und Raum hinweg besteht. Diese Verweise sind oft nicht direkt, sondern in Form von sprachlichen Anspielungen oder strukturellen Ähnlichkeiten eingewoben. In Mazonn wird Chamoiseaus Sprache noch bildhafter und musikalischer als im ersten Teil. Seine Metaphern sind auch hier oft synästhetisch. Der Rhythmus seiner Sätze schwankt zwischen kurzen, fast aphoristischen Reflexionen und ausladenden, assoziativen Passagen. Den Begriff „Sentimenthèque“ führte Chamoiseau in seinem 1997 erschienenen Werk Écrire en pays dominé ein, er verweist auf eine Art Archiv der Gefühle – eine Sammlung von Erfahrungen, die sich in die Sprache des Autors eingeschrieben haben. Chamoiseau erkundet, wie Erinnerungen in die literarische Arbeit einfließen und wie sich das Schreiben als ein Prozess des Wiederbelebens und Neuverwebens dieser Fragmente gestaltet. Diese Idee erinnert an Prousts Konzept der „mémoire involontaire“, jedoch mit einer stärkeren Betonung auf die fluiden, offenen Strukturen der kreolischen Literatur.

Triumph eines entmenschlichten Denkens

Hélas, cependant que l’horreur peut s’asseoir à la table – que l’indécence fleurit dans la vertu économique, que le besoin du symbolique, la vigueur spirituelle, le jeu de l’esprit créateur sont évincés par les fastes matériels, que le geste démocratique génère de folles aberrations, que des monstruosités fascistes et populistes devenues éligibles s’emparent des États, que les États eux-mêmes réduits au dogme marchand n’ont plus que le biais du racisme, de la xénophobie, des vieilles furies territoriales, nostalgies impériales, pour se donner l’illusion d’une vertu politique -, rien de notre actuelle capacité de conscience ne parvient à sérieuse- ment s’y opposer. Césaire nous l’avait rappelé : quand une civilisation dominante renonce à ses propres valeurs, qu’elle ruse avec ses avancées, quand elle justifie l’injustifiable, quand elle déserte ses propres élaborations de ce qui est humain, ou qu’elle accepte que des pays s’effondrent, que des valeurs périssent, que des lots d’êtres humains puissent mourir à ses portes, c’est qu’il y a une part de l’intelligible et du sensible, même un au-delà de l’intelligible et du sensible, qui s’est fermée à toute élévation.

Patrick Chamoiseau, Que peut Littérature quand elle ne peut, Seuil, 2025, 19.

Leider, während das Grauen sich mit an den Tisch setzen kann – während die Unanständigkeit in der wirtschaftlichen Tugend blüht, während das Bedürfnis nach Symbolik, spirituelle Kraft, das Spiel des schöpferischen Geistes durch materiellen Prunk verdrängt werden, während die Geste des Demokratischen verrückte Abarten erzeugt, während faschistische und populistische Monstrositäten, die wählbar geworden sind, die Staaten ergreifen, dass die Staaten selbst, die auf das Handelsdogma reduziert sind, nur noch über den Umweg von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und alten territorialen Wutausbrüchen sowie imperialen Sehnsüchten die Illusion einer politischen Tugend aufrechterhalten können – nichts von unserer derzeitigen Bewusstseinsfähigkeit kann dem ernsthaft entgegenwirken. Césaire hatte uns daran erinnert: Wenn eine dominierende Zivilisation auf ihre eigenen Werte verzichtet, mit ihren Fortschritten trickst, wenn sie das nicht zu Rechtfertigende rechtfertigt, wenn sie ihre eigenen Ausarbeitungen dessen, was menschlich ist, verlässt oder akzeptiert, dass Länder zusammenbrechen, Werte untergehen, dass ganze Ansammlungen von Menschen vor ihren Toren sterben können, dann ist da ein Teil des Intelligiblen und des Sinnlichen, ja sogar ein Jenseits des Intelligiblen und des Sinnlichen, das sich jeglicher Erhebung verschlossen hat.

Patrick Chamoiseau war lange Zeit ein Verfechter der Kreolisierung als dynamisches Konzept kultureller Durchmischung. In seinem neuen Buch jedoch zeigt er sich zunehmend skeptisch gegenüber der Art und Weise, wie Globalisierung und Digitalisierung die Vielfalt tatsächlich beeinflussen. Wo er einst kulturelle Vermischung als Bereicherung ansah, erkennt er nun neue Gefahren. Die Hoffnung auf eine Welt, die sich durch kulturellen Austausch bereichert, wird von der Einsicht überschattet, dass digitale Strukturen zunehmend vereinheitlichen, anstatt Vielfalt zu fördern, Plattformen (und ihre Unternehmer) wie Facebook, Twitter/X und TikTok zwingen Diskurse in simplifizierende Narrative und behindern das komplexe Denken.

Dans tous les milieux universitaires, tous ceux avec qui j’ai pu échanger, c’était véritablement l’incompréhension et la panique. On n’a pas compris. Et personne n’était en mesure de s’opposer à un tel phénomène qui était profond. Et Trump a réussi à toucher des gens de très très haut niveau, c’est-à-dire que ce n’est pas simplement les petits blancs des ruraux. Y compris le milieu oligarchique de la révolution digitale et numérique.

Patrick Chamoiseau : « Nous sommes en face du surgissement de l’inconcevable », Mediapart, Youtube.com, Februar 2025.

In allen akademischen Kreisen und bei allen, mit denen ich mich austauschen konnte, herrschte wirklich Unverständnis und Panik. Wir haben es nicht verstanden. Und niemand war in der Lage, sich einem solchen Phänomen, das tiefgreifend war, entgegenzustellen. Und Trump hat es geschafft, Menschen auf sehr, sehr hohem Niveau zu erreichen, d. h. es waren nicht einfach nur die kleinen weißen Leute auf dem Land. Dazu gehört auch das oligarchische Milieu der digitalen und numerischen Revolution.

Diese algorithmisch gesteuerten Mechanismen haben tiefgreifende Folgen für das literarische Schaffen. Hier betont die Notwendigkeit einer Literatur, die sich gegen die Verarmung der Sprache stellt. Chamoiseau betrachtet die aktuellen globalen Krisen als Ausdruck eines tiefergehenden Verlustes von Verbindung und Sinn. Seine Antwort darauf ist keine politische Theorie im klassischen Sinne, sondern eine poetische Haltung, die das Denken, Fühlen und Wahrnehmen verändert. Für ihn kann Literatur nicht direkt Lösungen bieten, aber sie kann Räume des Widerstands schaffen, in denen neue Formen des Seins und Zusammenlebens erprobt werden.

Nous l’avons intériorisé au point de consentir à ses horreurs et à leurs ondes de choc. Sous sa régie, la Terre réifiée, le vivant abîmé accusent des délitements écosystémiques qui feront dérailler nos conforts habituels. Un inconnu s’impose dans une lente catastrophe et esquisse une probable disparition de notre espèce. De l’intime à l’entour, nous acceptons l’inacceptable jusqu’à l’inscrire dans nos banalités. Pourtant, ce ne sont pas les expertises qui manquent. Discours savants, envolées rationnelles, exposés chiffrés, prédictions scientifiques, démonstrations historiques et horlogeries sociologiques sont légion. Mais, de fait, cette abondance n’affecte pas l’inhumain, qui sans mollir s’en accommode et se creuse pour durer. L’Europe peine à conserver ses vieilles démocraties. La Méditerranée, l’Atlantique sont des gouffres symboliques qui ouvrent la voie aux proliférations inépuisables des crimes. Gaza est désormais un gouffre dans la conscience occidentale. L’Ukraine en est potentiellement un autre. L’arme nucléaire voit son option réactivée au-dessus d’un abîme offert à nos folies. Les équilibres du vivant s’effondrent en un trou noir de convergences morbides. Netanyahu, Trump, Poutine, Orbán, Erdoğan, Meloni, Le Pen, Bardella, Milei, Modi, Bolsonaro… prospèrent dans ces décombres… créatures consternantes… surgies d’un obscurantisme planétaire… incapables de penser un autre possible du monde. Leurs défroques ramenées du passé insultent nos devenirs.

Notre conscience, maintenant individuée, nous rend tous responsables. Nous savons. Nous voyons. Nous entendons. Nous lisons. Nous constatons. Nous sommes comptables de nos actions et de nos inactions. Chaque geste compte, chaque absence pèse, chaque défaillance menace l’équilibre salvateur : c’est la grandeur, la misère et le défi de la démocratie maintenant en péril. Nous ne pouvons plus rien déléguer d’essentiel : la responsabilité est diffuse, dans chaque instant, dans chaque seconde. Chacun se retrouve garant du niveau d’exigence de la seconde qui passe. Pourtant, cette charge n’est pas inatteignable : dans les villes, les déserts, les mers et les montagnes, dans les aubes et les neiges, sur les rives en Méditerranée, à Gaza, en Ukraine, en Russie, en Haïti, en Afrique, en Chine, en Inde, aux Amériques ou dans la Caraïbe, dans la France se consumant au feu de l’extrême droite, dans les dominations, les guerres ou les effondrements, il y a des gens, pas des héros de foire, créatures à médias ou philosophes utiles à nos consommations, mais des gens de l’ordinaire, des organismes, des associations, des grappes d’hommes et de femmes dont les seuls moyens relèvent de la ferveur, qui agissent, qui contredisent les lois, qui bravent les léthargies, les tribunaux serviles et les barreaux de prison.

Qui refusent.

Patrick Chamoiseau, Que peut Littérature quand elle ne peut, Seuil, 2025, 16-18.

Wir haben es so sehr verinnerlicht, dass wir uns mit seinen Schrecken und ihren Schockwellen abfinden. Unter seiner Herrschaft zeigen die verdinglichte Erde und das geschädigte Leben Ökosystemstörungen, die unseren gewohnten Komfort zum Entgleisen bringen werden. Eine unbekannte Macht drängt sich in eine langsame Katastrophe und deutet auf ein wahrscheinliches Verschwinden unserer Spezies hin. Ob im Privaten oder im Allgemeinen, wir akzeptieren das Inakzeptable, bis es in unsere Banalitäten Eingang findet. Und doch mangelt es nicht an Gutachten. Gelehrte Reden, rationale Höhenflüge, zahlenbasierte Darstellungen, wissenschaftliche Vorhersagen, historische Demonstrationen und soziologische Uhrmachereien sind Legion. Aber tatsächlich beeinträchtigt diese Fülle nicht das Unmenschliche, das sich ohne zu wanken damit abfindet und sich vergräbt, um zu überdauern. Europa hat Mühe, seine alten Demokratien zu erhalten. Der Mittelmeerraum und der Atlantik sind symbolische Abgründe, die der unerschöpflichen Verbreitung von Verbrechen den Weg ebnen. Gaza ist heute ein Abgrund im westlichen Bewusstsein. Die Ukraine ist potenziell ein weiterer Abgrund. Die Atomwaffe wird über einem Abgrund, der unserem Wahnsinn offensteht, wieder aktiviert. Die Gleichgewichte des Lebendigen zerfallen zu einem schwarzen Loch morbider Konvergenzen. Netanjahu, Trump, Putin, Orbán, Erdoğan, Meloni, Le Pen, Bardella, Milei, Modi, Bolsonaro … gedeihen in diesen Trümmern … bestürzende Kreaturen … entstanden aus einem globalen Obskurantismus … unfähig, sich ein anderes mögliches Weltbild vorzustellen. Ihre aus der Vergangenheit mitgebrachten Lumpen beleidigen unser Werden.

Unser Bewusstsein, jetzt individualisiert, macht uns alle verantwortlich. Wir wissen. Wir sehen. Wir hören. Wir lesen. Wir stellen fest. Wir sind für unsere Handlungen und unser Nichthandeln verantwortlich. Jede Geste zählt, jede Abwesenheit wiegt, jeder Fehler bedroht das rettende Gleichgewicht: Das ist die Größe, das Elend und die Herausforderung der Demokratie, die jetzt in Gefahr ist. Wir können nichts Wesentliches mehr delegieren: Die Verantwortung ist diffus, in jedem Augenblick, in jeder Sekunde. Jeder ist für das Anspruchsniveau der vergehenden Sekunde verantwortlich. Doch diese Last ist nicht unerreichbar: In den Städten, in den Wüsten, auf den Meeren und in den Bergen, in der Morgendämmerung und im Schnee, an den Ufern des Mittelmeers, in Gaza, in der Ukraine, in Russland, in Haiti, in Afrika, in China, in Indien, in Amerika oder in der Karibik, in Frankreich, das im Feuer der extremen Rechten verbrennt, in den Herrschaften, Kriegen oder Zusammenbrüchen gibt es Menschen, keine Jahrmarktheldentypen, keine Medienkreaturen oder Philosophen, die unserem Konsum dienen, sondern ganz normale Menschen, Organisationen, Vereine, Gruppen von Männern und Frauen, deren einziges Mittel die Leidenschaft ist, die handeln, die den Gesetzen widersprechen, die sich der Lethargie, den unterwürfigen Gerichten und Gefängnismauern widersetzen.

Die sich weigern.

Chamoiseau beschreibt die heutige Welt als eine, in der das Unfassbare allgegenwärtig ist. Inspiriert von Glissants Poétique de la Relation und Morins Konzept der Komplexität, argumentiert er, dass der moderne Mensch von dominanten Narrativen eingekapselt ist, die der Welt ihre Vielfalt nehmen. Er kontrastiert diesen Zustand mit der Notwendigkeit einer Literatur, die nicht erklärt, sondern erfahrbar macht, mit dem Motto von René Chars Dichtung aus dunkler Zeit: „Wir befinden uns im Unfassbaren, aber mit blendenden Anhaltspunkten“. („Nous sommes dans l’inconcevable, mais avec des repères éblouissants.“) Hier tritt die Poesie als subversive Kraft in Erscheinung, die uns die Welt anders sehen lässt.

L’humain est une vigilance. Il s’invente tous les jours, se vit à la question, se fonde en responsabilité humble vis-à-vis du vivant. Alors, voici l’imploration : que les littératures redeviennent capables (tels les anciens porteurs du feu) d’éclairer les gouffres obscurs en nous, autour de nous, de tout renouveler au vif de l’impensable ! Que l’immense gerbe narrative des littératures du monde renouvelle les bases de notre esprit, conjure les entropies de la conscience, poursuive notre interrogation sur ce que peut l’humain confronté à l’effondrement de la biodiversité, aux phénomènes urbains, aux accélérations techno-scientifiques, aux virtualisations du numérique, aux intelligences artificielles, aux énigmes décisives du cosmos… Par elles, nous pouvons imaginer des devenirs réenchantés du monde, interroger nos organisations, cartographier nos responsabilités, nos irresponsabilités, nos manques et nos ressources, l’ampleur des dépassements qu’il nous faudra oser pour vraiment considérer la vie.

Patrick Chamoiseau, Que peut Littérature quand elle ne peut, Seuil, 2025, 56.

Der Mensch ist eine Wachsamkeit. Er erfindet sich jeden Tag neu, lebt in der Frage, gründet sich in demütiger Verantwortung gegenüber dem Lebendigen. Daher die Bitte: Mögen die Literaturen wieder fähig werden (wie die alten Feuerträger), die dunklen Abgründe in uns und um uns zu erhellen, alles im Herzen des Undenkbaren zu erneuern! Möge die immense Erzählung der Literaturen der Welt die Grundlagen unseres Geistes erneuern, die Entropien des Bewusstseins bannen, unsere Frage nach dem, was der Mensch angesichts des Zusammenbruchs der Biodiversität, der urbanen Phänomene, der techno-wissenschaftlichen Beschleunigungen, der Virtualisierungen des Digitalen, der künstlichen Intelligenzen, der entscheidenden Rätsel des Kosmos kann, fortsetzen … Durch sie können wir uns wieder verzauberte Entwicklungen der Welt vorstellen, unsere Organisationen hinterfragen, unsere Verantwortlichkeiten, unsere Verantwortungslosigkeit, unsere Mängel und unsere Ressourcen kartieren, das Ausmaß der Überwindungen, die wir wagen müssen, um das Leben wirklich zu betrachten.

Ein zentrales Motiv in Chamoiseaus früherem Werk war die Dekonstruktion kolonialer Erzählungen, sagte ich. Während er sich jedoch primär auf historische Dimensionen konzentriert hatte, richtet er seinen Blick nun verstärkt auf aktuelle Konflikte, insbesondere auf den Ukraine-Krieg und den Nahostkonflikt. Er sieht in diesen Kriegen nicht nur geopolitische Auseinandersetzungen, sondern symptomatische Beispiele für die zerstörerische Kraft großer Narrative: „Russland greift Armenien im Namen einer großen Erzählung über die Sehnsucht nach einem Imperium an. Die Hamas und die israelische extreme Rechte umgeben ihre Verbrechen mit großen, religiös motivierten Erzählungen.“ („La Russie attaque l’Arménie au nom d’un grand récit sur la nostalgie d’un empire. La Hamas et l’extrême droite israélienne entourent leurs crimes de grands récits à caractère religieux.“ Zit. 34.) Hier wird deutlich, dass Chamoiseau den Missbrauch von Geschichte und kollektiven Identitäten als eine der größten Gefahren der Gegenwart sieht. Wo er einst vor allem koloniale Mythen entlarvte, weitet er nun seine Kritik auf jede Form totalisierender Ideologien aus – unabhängig davon, ob sie sich aus religiösen, nationalistischen oder wirtschaftlichen Quellen speisen. Ein zentrales Thema in Chamoiseaus Text ist der globale Aufstieg nationalistischer und populistischer Bewegungen, insbesondere in den USA und Europa. Er sieht darin eine Reaktion auf die zunehmende Komplexität der Welt und die Unsicherheit, die sie mit sich bringt. Die neuen Ängste produzieren vereinfachende Narrative, Identitätsmythen, die das Bewusstsein binden. Chamoiseau analysiert diese Entwicklungen als eine Flucht in Vereinfachungen, die das Gefühl von Zugehörigkeit stärken sollen, jedoch letztlich Exklusion und Gewalt fördern. Er setzt dem unbeirrt seine Idee der „Relation“ entgegen – eine Poetik des Verbindens, die Differenzen nicht als Bedrohung, sondern als kreative Möglichkeit begreift.

Chamoiseau setzt sich weiterhin intensiv mit der Frage auseinander, wie sich postkoloniale Gesellschaften in einer globalisierten Welt neu definieren können. Er kritisiert die anhaltenden kolonialen Strukturen, die sich in wirtschaftlichen und kulturellen Abhängigkeiten manifestieren. Die Unabhängigkeit war eine Illusion. Dabei plädiert er für eine Kreolisierung der Welt – eine Offenheit gegenüber hybriden Identitäten und kulturellen Mischungen, die nicht durch nationale oder ethnische Grenzen beschränkt sind. Chamoiseau betont die Relevanz seiner Poetik der Relation angesichts der gegenwärtigen Migrationsthematik und der politischen Polarisierung. Er argumentiert, dass sein Konzept der „Relation“ über die kreolische Welt hinaus Gültigkeit besitzt und eine Antwort auf das zunehmende Bedürfnis nach Identitätsbildung in einer globalisierten Welt bieten kann. Während früher die Relation primär als eine literarische und kulturelle Praxis gedacht war, sei sie heute auch ein notwendiges politisches Instrument gegen Nationalismus und Ausgrenzung. Chamoiseau äußert sich in mehreren Passagen seines Werks kritisch über das französische Überseesystem und sieht darin eine Fortsetzung kolonialer Abhängigkeitsstrukturen.

Ein zentraler Punkt in Chamoiseaus Denken ist die Kritik an den großen Erzählungen, die historische Narrative vereindeutigen und für ideologische Zwecke instrumentalisieren. Ob Kolonialismus, Nationalismus oder religiöser Fundamentalismus – all diese Strömungen operieren mit vereinfachenden, totalisierenden Geschichten. Dem stellt Chamoiseau die kleinen Erzählungen entgegen, die Vielfalt und Differenz zulassen. Ein weiteres zentrales Thema ist die Veränderung der Sprache durch digitale Technologien. Chamoiseau warnt vor der Reduktion des Denkens auf algorithmische Logiken und Clickbait-Diskurse. Für ihn bedeutet diese Entwicklung nicht nur einen kulturellen Verlust, sondern auch eine Verarmung der Vorstellungskraft. Die Poesie sieht er als ein Gegengewicht zu dieser Entwicklung – eine Praxis, die Räume für Reflexion und Komplexität schafft. Chamoiseau plädiert für eine radikale Ästhetisierung des Denkens und der Gesellschaft. In einer Welt, die von Hässlichkeit und Vulgarität geprägt ist, seien Kunst, Musik, Literatur und Poesie notwendige Mittel des Widerstands. Die Vorstellung der „Besichtigung der Schönheit“ (visitation de la beauté) beschreibt diesen Prozess als kollektive Erfahrung, in der Menschen durch künstlerische Praktiken neu aufeinander bezogen werden:

Hélas encore, nos littératures deviennent étrangement anodines. On les célèbre inoffensives et silencieuses dans des prix articles émissions salons et festivals ineptes. Partout, la puissance de l’Art s’en remet au Marché, partout la menace est totale, et partout ce qui sauve n’a pas l’air de croître en face de ce péril… Rien, désormais, ne s’oppose à la nuit, aurait gémi Bashung.

Patrick Chamoiseau, Que peut Littérature quand elle ne peut, Seuil, 2025, 25.

Leider werden unsere Literaturen immer seltsamerweise belanglos. Sie werden in unsinnigen Preisen, Artikeln, Sendungen, Messen und Festivals als harmlos und still gefeiert. Überall überlässt die Macht der Kunst sich dem Markt, überall ist die Bedrohung total, und überall scheint das, was rettet, angesichts dieser Gefahr nicht zu wachsen … Nichts steht der Nacht mehr entgegen, hätte Bashung gejammert.

Am Ende seines Essays entwickelt Chamoiseau die Vision eines neuen Humanismus. Dieser müsse sich von den alten universalistischen Konzepten lösen und stattdessen auf Relationalität, Offenheit und Kreativität basieren. Er sieht darin die einzige Möglichkeit, dem Aufstieg des Suprematismus, der kapitalistischen Entfremdung und der politischen Regression zu begegnen. Patrick Chamoiseaus Reflexionen sind ein eindringlicher Appell an die Kraft der Literatur und Kunst, sich dem „Unfassbaren“ zu stellen. Indem er die Verbindung zwischen Kapitalismus, Individualismus und der Verarmung des Vorstellungsvermögens analysiert, entwirft er eine Gegenutopie, die sich auf das Poetische, das Kreative und das Relationale stützt. Seine Botschaft ist klar: Die Welt ist offen, komplex und vielfältig – und nur eine Kunst, die diese Offenheit bewahrt, kann ihr gerecht werden.

Trump und Chamoiseau

On a beaucoup d’extrêmes aux États-Unis, c’est l’extrême Occident, c’est toute l’intention occidentale qui s’est cristallisée dans le phénomène américain. On a, je dirais, la quintessence du capitalisme, une sorte d’aboutissement là où le capitalisme est le plus florissant, avec toutes ses dimensions néolibérales et financières. Et on a aussi un niveau de développement technologique absolument impressionnant. Et malgré tout, il y a une sorte d’involution profonde de la société, une évolution qui n’est pas propre aux États-Unis, mais qu’on retrouve pratiquement dans tous les pays du monde.

Patrick Chamoiseau : « Nous sommes en face du surgissement de l’inconcevable », Mediapart, Youtube.com, Februar 2025.

Wir haben viele Extreme in den Vereinigten Staaten, es ist der extreme Westen, es ist die gesamte westliche Absicht, die sich in dem amerikanischen Phänomen kristallisiert hat. Wir haben, würde ich sagen, die Quintessenz des Kapitalismus, eine Art Endpunkt dort, wo der Kapitalismus am besten gedeiht, mit all seinen neoliberalen und finanziellen Dimensionen. Und wir haben auch ein absolut beeindruckendes Niveau der technologischen Entwicklung. Und trotz allem gibt es eine Art tiefgreifender Involution der Gesellschaft, eine Entwicklung, die nicht nur in den Vereinigten Staaten stattfindet, sondern praktisch in jedem Land der Welt zu finden ist.

Chamoiseau reflektiert, wie er während eines Aufenthalts in den USA den Wahlsieg Donald Trumps erlebte. Die Vereinigten Staaten, die er als eine extreme Form des Westens und als Verkörperung des Kapitalismus betrachtet, stehen für eine paradoxe Gleichzeitigkeit von technologischer Exzellenz und gesellschaftlicher Rückentwicklung. Die zunehmende Dummheit, die er im Sinne von Gilles Deleuze konstatiert, stellt nicht nur eine Gefahr für das Denken, sondern fundamentaler für die Menschlichkeit dar. Sie ist mit Chamoiseau keine bloße Unwissenheit, sondern eine systemische Verkrustung der Vorstellungskraft. Er bezeichnet Trumps Aufstieg als unfassbar und sieht in ihm eine Verkörperung eines größeren gesellschaftlichen Wandels in den USA und weltweit. Besonders hebt er hervor, dass die Wahl Trumps für ihn schockierend war, da sie sich in einem Land vollzog, das er gleichzeitig als intellektuell und technologisch fortgeschritten wahrgenommen hatte. Er analysiert Trump als Symptom einer tiefergehenden gesellschaftlichen „Involution“, die er mit einem neuen Obskurantismus vergleicht.

[…] c’est ça, c’est les Amériques, c’est-à-dire que les Amériques, ce n’est pas les États-Unis, c’est toutes les Amériques des peuples premiers, c’est l’Euro-América des colonialistes, ce que Glissant appelait les migrants armés, les États-Unis, le Canada, etc. Mais c’est aussi la Néo-América, c’est-à-dire toute l’Amérique de déplantations, pratiquement tous les pays de la Côte-Caraïbe et l’archipel de la Caraïbe. Et là, c’est une Amérique qui est très intéressante parce que c’est le moment où toutes les civilisations, toutes les cultures se rencontrent. À un moment, toutes les cultures et les civilisations ont toujours été des lieux de rencontre. Mais ce qui va se passer dans les Amériques, c’est que ce choc brutal massif de cultures et de civilisations va se faire à l’orée. d’une bascule absolument incroyable à l’orée de la globalisation planétaire. À partir de là, le monde va faire Tout-Monde.

Patrick Chamoiseau : « Nous sommes en face du surgissement de l’inconcevable », Mediapart, Youtube.com, Februar 2025.

[…] das ist es, das sind die Amerikas, das heißt, die Amerikas, das sind nicht die Vereinigten Staaten, das sind alle Amerikas der Urvölker, das ist das Euro-Amerika der Kolonialisten, das, was Glissant die bewaffneten Migranten nannte, die Vereinigten Staaten, Kanada, usw. Das sind die Amerikas, die nicht die Vereinigten Staaten sind, sondern alle Amerikas der Urvölker. Aber es ist auch Neo-Amerika, d.h. das ganze Amerika der Umsiedlungen, praktisch alle Länder der Karibikküste und der karibische Archipel. Und das ist ein Amerika, das sehr interessant ist, weil es der Moment ist, in dem alle Zivilisationen, alle Kulturen aufeinandertreffen. An einem bestimmten Punkt waren alle Kulturen und Zivilisationen immer Orte der Begegnung. Aber was auf dem amerikanischen Kontinent passieren wird, ist, dass dieser massive Zusammenstoß von Kulturen und Zivilisationen an der Schwelle zu einem absolut unglaublichen Wendepunkt an der Schwelle zur weltweiten Globalisierung stattfindet. Von da an wird die Welt Tout-Monde (All-Welt) realisieren.

Donald Trump wird im Gespräch mit Chamoiseau als Figur beschrieben, die in einem Kontext von Rassismus, Suprematismus und Dominanz steht. Trump versuche, den Begriff „Amerika“ zu monopolisieren und propagiere damit eine einseitige Sichtweise, während es tatsächlich viele „Amerikas“ gebe, die pluralistisch und vielfältig seien, erinnert sei hier an die Stellen in Éloge de la Créolité, in denen der Begriff Américanité in ähnlicher Weise pluralisiert wird. Zugleich stehe Trump für einen global sich entwickelnden Obskurantismus, was bedeutet, dass viele Menschen von der Realität und von einer kritischen Reflexion abgekoppelt sind. Trump wird als ein Symbol für diese gefährliche Entwicklung gesehen, die mit einem Rückschritt der Demokratie und einem Anstieg von Rassismus und Nationalismus einhergeht. Trump und ähnliche Figuren reüssieren in einem Umfeld, das von einer tiefen Unzufriedenheit und einer Abkehr von humanistischen Werten geprägt ist. Diese Figuren sind symptomatisch für eine breitere gesellschaftliche Regression, die auch in anderen Ländern zu beobachten ist. Chamoiseau sieht in Trump nicht nur eine politische Figur, sondern ein Zeichen für eine globale Krise der Imagination, des Denkens und der Solidarität.

Jamais la connaissance scientifique n’a été aussi accessible ; jamais l’information ne s’est vue aussi éclatée, distillée par chacun dans ses bulles numériques. Et pourtant, jamais les effondrements moraux, éthiques, spirituels, culturels, existentiels, n’ont atteint le vif d’une telle intensité. Dans le vote pour Trump, les simplifications du passé, l’insulte, la brutalité, la violence et la force ouvrent des fascinations. La race, la classe sociale, le genre ne sont plus des repères. Les fondamentalismes religieux y fréquentent sans sourciller l’enfer. Les anciens immigrés rejettent les immigrants et s’arrangent avec l’idée d’un nettoyage ethnique qui rassure les nantis. Riches ou pauvres, des Noirs, des Latinos, des femmes votent contre leur condition. Des milliardaires fantasques distribuent des millions par-dessus, et autant par en-dessous. Dans les Etats imprévisibles, les opinions sont menaçantes et menacées, et la peur s’invite… Des démocrates désertent leur camp pour le profit capitaliste, tout comme les Bourses et autres niches financières qui s’emballent d’enthousiasme.

Patrick Chamoiseau, „Contre Trump : de la culture ! de la culture !“, Nouvel Observateur, 10. Dezember 2024.

Noch nie war wissenschaftliches Wissen so leicht zugänglich; noch nie war Information so zersplittert, von jedem in seine digitalen Blasen destilliert. Und doch haben moralische, ethische, spirituelle, kulturelle und existenzielle Zusammenbrüche noch nie eine Schärfe solcher Intensität erreicht. In der Wahl für Trump eröffnen die Vereinfachungen der Vergangenheit, die Beleidigung, die Brutalität, die Gewalt und die Stärke Faszinationen. Rasse, Klasse und Geschlecht sind keine Orientierungspunkte mehr. Religiöse Fundamentalismen frequentieren hier ohne mit der Wimper zu zucken die Hölle. Ehemalige Einwanderer lehnen Einwanderer ab und arrangieren sich mit der Vorstellung einer ethnischen Säuberung, die die Wohlhabenden beruhigt. Ob reich oder arm, Schwarze, Latinos und Frauen wählen gegen ihre Lebensumstände. Launische Milliardäre verteilen Millionen von oben nach unten und ebenso viele von unten nach oben. In unberechenbaren Staaten sind die Meinungen bedrohlich und bedroht, und Angst macht sich breit … Demokraten desertieren aus ihrem Lager für den kapitalistischen Profit, ebenso wie die Börsen und andere Finanznischen, die vor Begeisterung ausrasten.

Chamoiseau argumentiert, dass die weltweite Dominanz des Kapitalismus nicht nur wirtschaftliche, sondern auch kulturelle Auswirkungen hat. Die Fixierung auf Konsum, Individualismus und Kaufkraft führe zu einer Reduktion des Menschlichen auf das Prosaische, während das Poetische verdrängt werde. Der Kapitalismus habe es geschafft, Kultur in ein Konsumgut zu verwandeln und die ästhetische Sensibilität zu untergraben. Gegen diese Tendenzen setzt Chamoiseau die Kraft der Kunst und Literatur. Er sieht auch heute in der Kreolisierung und in Glissants Konzept der Relation eine Antwort auf die Abschottungsideologien der Gegenwart. In seinen früheren Werken hatte Chamoiseau den Kapitalismus bereits kritisch betrachtet, doch seine aktuelle Analyse geht weiter. Während er früher auf kulturelle Widerstände setzte, spricht er nun von einer nahezu totalitären Vereinnahmung des Lebens durch ökonomische Mechanismen, „délitements écosystémiques“. Hier zeigt sich ein ökologisch-philosophischer Chamoiseau, der nicht nur auf wirtschaftliche Ausbeutung eingeht, sondern auch auf die Entfremdung des Menschen von der Natur. Die digitale Welt verstärkt diesen Prozess, indem sie Menschen in eine algorithmische Realität zwingt, in der Datenströme wichtiger sind als das sinnliche Erleben. – Ein bemerkenswerter Punkt in Chamoiseaus Werk ist seine kritische Analyse der Vereinigten Staaten als Symbol einer radikalisierten Form der Moderne. In einem Artikel im Nouvel Observateur wird hervorgehoben, dass Chamoiseau die USA nicht nur als wirtschaftliche und militärische Supermacht betrachtet, sondern als ein kulturelles Laboratorium für Extreme. Seine frühere Faszination für die Globalisierung als eine potenziell kreolisierende Kraft hat sich gewandelt: Heute sieht er in der digitalen Kultur der USA eine Vereinheitlichung der Imagination, die individuelle und kulturelle Differenzen unterdrückt. Chamoiseau fordert nicht mehr nur eine poetische Öffnung hin zur Welt, sondern eine aktive politische Haltung, die sich gegen Vereinfachung, Populismus und ökologische Zerstörung richtet. Die „Relation“ soll nicht nur die Vielfalt der Kulturen umfassen, sondern auch die Verbindung des Menschen mit der Natur, mit der Technologie und mit alternativen Lebensweisen.

Toute littérature est consubstantielle au grand souci narratif qui s’est emparé de Sapiens quand il a entrepris d’habiter les cathédrales mythologiques, magiques, symboliques, spirituelles, organisationnelles, techniques, ou démentielles, de son imaginaire ; quand il s’est créé une bulle mentale, de raison et de démence, pour maîtriser puis sublimer un réel impensable et dangereux. Tous les arts proviennent de cette sublimation toujours inachevée — les musiques encore plus.

Patrick Chamoiseau, Que peut Littérature quand elle ne peut, Seuil, 2025, 65.

Alle Literatur ist konstitutiv für die große erzählerische Sorge, die die Menschheit ergriff, als sie sich daran machte, die mythologischen, magischen, symbolischen, spirituellen, organisatorischen, technischen oder verrückten Kathedralen ihrer Vorstellungskraft zu bewohnen; als sie sich eine geistige Blase aus Vernunft und Wahnsinn schuf, um eine undenkbare und gefährliche Realität zu beherrschen und dann zu sublimieren. Alle Künste entspringen dieser stets unvollendeten Sublimierung – die Musik noch mehr.

In früheren Werken feierte Chamoiseau die Literatur als Medium der Narration, das alternative Geschichten ermöglicht. Heute sieht er die größte Herausforderung jedoch nicht nur in der Schaffung neuer Erzählungen, sondern in der Vermeidung der herrschenden totalisierenden Deutungsmuster. Jede totalisierende Fiktion schließt die Vorstellungskraft aus, mit einer vereinfachenden Wirklichkeitsblase. Diese Haltung zeigt einen gereiften Chamoiseau, der die Aufgabe der Literatur nicht nur in der vielstimmigen Erzählung, sondern im Aufbrechen festgefahrener Bedeutungsrahmen sieht. Er befürchtet, dass Narrative zunehmend als Waffe genutzt werden, um Feindbilder zu zementieren, anstatt neue Möglichkeitsräume zu eröffnen.

Eine weitere Anpassung seines Denkens zeigt sich in der Diagnose eines neuen weltweiten Obskurantismus. Während er früher postkoloniale Identitäten als Quelle der Widerstandsfähigkeit betrachtete, sieht er nun in der Radikalisierung von Identitätsdiskursen eine Gefahr: „Jedes Mal, wenn wir davon ausgehen, dass meine Sprache, meine Haut, mein Territorium, mein Phänotyp, meine Kaufkraft – dass all das meine Menschlichkeit definiert -, haben wir es mit Obskurantismus zu tun.“ („Chaque fois qu’on considère que ma langue, ma peau, mon territoire, mon phénotype, mon pouvoir d’achat, tout cela définit mon humanité, nous sommes face à l’obscurantisme.“) 4 Er argumentiert, dass Populismus, Nationalismus und Kapitalismus heute das Denken in Vielfalt verhindern. Die Vereinfachung komplexer Zusammenhänge durch Schlagworte und Feindbilder schafft eine kognitive Erstarrung, die der Kern vieler gegenwärtiger Krisen ist.

Patrick Chamoiseau verteidigt weiterhin die Relation, er setzt sich für kulturelle Offenheit ein, und er kritisiert hegemoniale Strukturen. Doch seine Perspektive hat sich erweitert und verschärft. Während er früher eher optimistisch auf die Prozesse der Globalisierung blickte, erkennt er nun deren destruktive Tendenzen. Während er früher postkoloniale Diskurse bestimmte, ist er nun ein Kritiker jeder Form der ideologischen Vereinnahmung. Das neue Buch markiert somit nicht nur eine Fortführung seiner bisherigen Theorien, sondern eine tiefgehende Reflexion über die veränderte Weltordnung. Wir haben es mit einem Zeitgenossen Chamoiseau zu tun – einem Autor, der die radikalen Umwälzungen des 21. Jahrhunderts nicht nur beschreibt, sondern auch aufzeigt, wie Literatur dagegen Widerstand leisten kann.

Chamoiseau bleibt der Idee treu, dass Literatur eine essenzielle Funktion in der modernen Welt hat, allerdings verlagert sich sein Fokus. Früher betonte er die Erschaffung von Literatur, heute hebt er die Notwendigkeit hervor, sich hierbei von großen Erklärungen zu lösen. Damit verbindet er seine älteren Ideen zur Poetik der Relation mit einer neuen Skepsis gegenüber allzu klar strukturierten Diskursen – sei es in der Politik oder in der Literatur. Chamoiseau warnt davor, dass derartige große Erzählungen zur Rechtfertigung von Gewalt und Unterdrückung genutzt werden. Seine Alternative bleibt die kleine Erzählung, die Komplexität zulässt und sich der totalitären Vereinfachung entzieht.

Ein entscheidender Punkt in Chamoiseaus aktueller Reflexion ist die Klimakrise, die er nicht nur als physische Bedrohung, sondern als existenzielle Krise des menschlichen Denkens beschreibt. Während er früher von der Kreolisierung als dynamischer Anpassung sprach, stellt er heute fest, dass der Mensch verlernt hat, mit der Natur in Resonanz zu treten. Der Planet wird ausgebeutet, nicht verstanden. Hier erkennt er eine Parallele zur Literatur: Wie die Umweltkrise auf die Zerstörung von Vielfalt hinausläuft, droht der Literatur dasselbe, wenn sie sich kapitalistischen und digitalen Mechanismen unterwirft. Chamoiseau betrachtet den Klimawandel nicht nur als physikalische oder politische Krise, sondern als eine Krise der Vorstellungskraft. Er argumentiert, dass sich die Menschen eine Welt jenseits der kapitalistischen Wachstumslogik nicht mehr vorstellen können und dass Literatur eine zentrale Rolle dabei spielen muss, neue Möglichkeiten des Zusammenlebens zu imaginieren.

Trotz dieser pessimistischen Einschätzungen bleibt Chamoiseau seinem Kerngedanken treu: der Notwendigkeit der Relation. Doch im Unterschied zu seinen früheren Werken betont er nun die existenzielle Dringlichkeit dieses Konzepts. Dies bedeutet, dass das Prinzip der Relation nicht nur in der Literatur oder in kulturellen Debatten relevant ist, sondern als tiefgreifende politische und ökologische Praxis verstanden werden muss. In einem ausführlichen Interview mit Le Point äußert Chamoiseau: „Wenn das Denken mit etwas Undenkbarem konfrontiert wird, gewinnt es seine Energie zurück. Mit diesem praktisch unaufhaltsamen Aufstieg des Faschismus und Neofaschismus, dem ökologischen Kollaps, dem Einbruch einer digitalen Welt, die von einer künstlichen Intelligenz beherrscht wird, die vom kapitalistischen Dogma regiert werden wird, sind wir dabei, in eine Welt mit vielen Unbekannten und Bedrohungen für die menschliche Spezies umzukippen. Ich sage mir: Achtung, es besteht Gefahr. Die wichtigste Stimulation ist hier, außerhalb des Schnurrens des literarischen Lebens […]“ („Quand la pensée est confrontée à un impensable, elle retrouve son énergie. Avec cette montée pratiquement inarrêtable du fascisme et du néofascisme, l’effondrement écologique, l’irruption d’un monde numérique dominé par une intelligence artificielle qui sera régie par le dogme capitaliste, on est en train de basculer dans un monde avec beaucoup d’inconnues et de menaces sur l’espèce humaine. Je me dis : attention, il y a danger. La stimulation majeure est là, hors du ronronnement de la vie littéraire […].) 5 Er fordert eine radikale Poetik, die sich von den Zwängen des Marktes löst und zu einer Form des Widerstands wird. Angesichts von Klimakrisen, Kriegen und politischer Radikalisierung kann die Literatur keine direkten Lösungen bieten, aber sie kann neue Räume der Reflexion eröffnen. Sie schafft eine alternative Wahrnehmung der Realität und ermögliche es, sich aus den totalisierenden Narrativen der heutigen Gesellschaft zu lösen.

La frontière, c’est un trait d’union, tandis que le « sans-frontiérisme » mène à une espèce de soupe fade. La frontière, c’est ce plaisir de passer d’une saveur à une autre. La frontière, c’est également le respect de la différence. Dans la rencontre entre deux différences, se nouent des zones de partage mais également des lieux d’impénétrabilité à maintenir.

Je ne dois pas tenter de réduire l’autre à moi, ni tenter de devenir l’autre. Je dois respecter ce qu’il y a de plus précieux : une relative opacité. Le colonialisme rendait l’autre transparent. Or l’autre doit garder quelque chose d’irréductible pour que mon rapport à lui soit riche et fécond. Sachons donc refuser que tout soit fusionnel et qu’il n’y ait plus de frontières.

Patrick Chamoiseau im Gespräch mit Antoine Perraud, „La frontière, c’est ce plaisir de passer d’une saveur à une autre“, La Croix, 8. März 2025.

Die Grenze ist ein Bindestrich, während eine Ideologie der „Grenzenlosigkeit“ zu einer Art fader Suppe führt. Die Grenze ist das Vergnügen, von einer Geschmacksrichtung zur anderen zu wechseln. Die Grenze ist auch der Respekt vor dem Unterschied. In der Begegnung zwischen zwei Unterschieden entstehen Zonen des Teilens, aber auch Orte der Undurchdringlichkeit, die es aufrechtzuerhalten gilt.

Ich darf nicht versuchen, den anderen auf mich zu reduzieren, und ich darf nicht versuchen, der andere zu werden. Ich muss das Wertvollste respektieren, was es gibt: eine relative Undurchsichtigkeit. Der Kolonialismus machte den anderen transparent. Der Andere muss jedoch etwas Unreduzierbares behalten, damit meine Beziehung zu ihm reich und fruchtbar ist. Wir müssen uns also dagegen wehren, dass alles miteinander verschmilzt und es keine Grenzen mehr gibt.

Chamoiseau bleibt sich in seinem Engagement für eine Welt der Vielstimmigkeit treu, jedoch mit einer erweiterten Perspektive. Während er einst primär die Kreolisierung als kulturelle Strategie betrachtete, sieht er heute die ubiquitäre Notwendigkeit, gegen neue Formen des Obskurantismus und der algorithmischen Vereinheitlichung anzukämpfen. Seine Poetik bleibt ein Werkzeug der Befreiung – allerdings nicht mehr nur von kolonialen Strukturen, sondern etwa auch von den Fallen der digitalen Moderne und der erstarkenden totalisierenden Diskurse. Gleichzeitig betont er, dass die ökologische Krise die ultimative Herausforderung darstellt, der sich Literatur, Philosophie und Politik stellen müssen. Seine „Poétique de la Relation“ bleibt aktuell, wird aber in einem neuen, weltumspannenden Horizont verortet. Chamoiseaus Werk ist weniger eine fixierte Antwort als eine Einladung, sich mit der veränderten Welt in ihrer Komplexität auseinanderzusetzen. Es fordert eine Ethik der Offenheit, in der Literatur nicht als Instrument der Vereinfachung, sondern als Raum der Resonanz verstanden wird. Sein Text ist ein Plädoyer für eine Literatur, die sich nicht an fertigen Weltbildern orientiert, sondern neue Wege des Denkens und Fühlens erschließt. In einer Zeit der ideologischen Verhärtung und populistischen Diskurse erinnert Chamoiseau daran, dass wahre Literatur keine vereinfachenden Antworten zu geben hat.

Question: Vous disiez dans ce manifeste que le temps viendra où le désir de dominer, de dicter sa loi, de bâtir son empire, la fierté d’être le plus fort, l’orgueil de détenir la vérité seront considérés comme un des signes les plus sûrs de la barbarie à l’œuvre dans l’histoire des humanités.

Chamoiseau: Exact. Le temps viendra. Vous disiez, par la luminance de ces survies sociales, politiques, économiques, sécuritaires, une grande nation désormais sait cela et devine ce mouvement du monde. Il va venir un jour. Il va venir. […] Nous habitons en général des réalités, c’est-à-dire des petites constructions dans nos cultures, dans notre imaginaire. Sapiens, c’est toujours qu’on fait des petites bulles de réalité pour ne pas subir le choc de l’impensable du réel. Ce qui fait que le monde est beaucoup plus complexe, plus riche, plus varié, avec plus de potentialité que nous ne le pensons.

Patrick Chamoiseau : « Nous sommes en face du surgissement de l’inconcevable », Mediapart, Youtube.com, Februar 2025.

Frage: Sie sagten in diesem Manifest, dass die Zeit kommen wird, in der der Wunsch zu dominieren, sein Gesetz zu diktieren, sein Imperium aufzubauen, der Stolz, der Stärkste zu sein, der Stolz, die Wahrheit zu besitzen, als eines der sichersten Zeichen der Barbarei angesehen werden wird, die in der Menschheitsgeschichte am Werk ist.

Chamoiseau: Richtig. Die Zeit wird kommen. Sie sagten, durch die Leuchtkraft dieser sozialen, politischen, wirtschaftlichen und sicherheitsrelevanten Überlebensformen weiß eine große Nation nunmehr davon und ahnt diese Bewegung der Welt. Sie wird eines Tages kommen. Sie wird kommen. […] Wir bewohnen in der Regel Realitäten, d.h. kleine Konstrukte in unseren Kulturen, in unserer Vorstellungswelt. Wir Menschen bilden immer kleine Wirklichkeitsblasen, um nicht den Schock des Undenkbaren der Wirklichkeit zu erleiden. Das führt dazu, dass die Welt viel komplexer, reicher, vielfältiger und mit mehr Potenzial ist, als wir denken.

Anmerkungen
  1. Vgl. Patrick Chamoiseau : « Nous sommes en face du surgissement de l’inconcevable », Mediapart, Youtube.com, Februar 2025.>>>
  2. „L’appel de 200 personnalités des Antilles, de Mayotte, de Guyane, de La Réunion à « faire-pays »“, Le Monde, 18. März 2023.>>>
  3. Vgl. „Karibisches Sprachbeben: Der Romancier Patrick Chamoiseau“, Neue Zürcher Zeitung, 27. Januar 1996, 65.>>>
  4. Chamoiseau, Youtube, a.a.O.>>>
  5. Patrick Chamoiseau : « Il faudrait inventer le parti de la relation à l’autre », Gespräch mit Valérie Marin La Meslée, Le Point, 22. Februar 2025.>>>

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