Autofiktion im Irrealis

Constance Debrés „Nom“ formuliert ein politisches Programm, die radikale Moderne einer Welt ohne Abstammung, Familiennamen, ohne Kindheit und elterliche Autorität, ohne Erbschaft, Vermögen oder Staatsangehörigkeit.

Hippies in Marokko

Die aus Marokko stammende Goncourt-Preisträgerin von 2016, Leïla Slimani, legt 2022 mit Regardez-nous danser den zweiten Band ihrer Trilogie „Le pays des autres“ vor, die nach Abschluss Marokkos Geschichte von 1945 bis 2015 behandeln wird.

Musik-Fiktionen: Kerangal mit Pinget, Garcia und Reza

Maylis de Kerangals „Canoës“ bündelt einige der Dimensionen musikalischer Bezüge bei Pinget, Garcia und Reza, zum einen die semiotisch-formale Strukturierung und Arbeit der intertextuellen Bezüge, dann aber auch die tiefe Verbindung von Musikalität und Körperlichkeit, eigener Identität und musikalischer Erlebnisdimensionen. Resonanz meint, wenn ein Körper mit einem anderen mitschwingt oder mittönt, etwa bei den Bordunsaiten von Lauten.

Ende der Welt, Klimafiktion, Götterdämmerung

Reverdys „Climax“ führt im Norden Norwegens zerstörte Natur bei einem Fischerdorf vor, mit sterbenden Bären und Fischen, schmelzenden Gletschern und einem Unfall auf der Ölplattform. Wie in der nordischen Legende findet ein Kampf zweier Prinzipien statt. Das Ende der Welt wird in dem so düsteren wie schönen dystopischen Roman eingeläutet.

Afrika, Europa und der dritte Kontinent

Der senegalesische Autor Mohamed Mbougar Sarr legt mit seinem fünften Buch einen weiteren Baustein seiner politischen Literatur vor, neben Themen bisheriger Bücher wie Migration nach Sizilien (Silence du chœur), Homosexualität im Senegal (De purs hommes), Dschihadismus in der Sahelzone (Terre ceinte) tritt nun mit „La plus secrète mémoire des hommes“ die Literatur selbst in seinen Fokus.

Maske, Porträt, vergrößert, unscharf

Célia Houdart liefert ein gegenseitiges Doppelporträt zweier Fotografen, die das Buch „Journée particulière“ motivieren. Houdart reflektiert die ästhetischen Zugänge zur Welt, die mit der Fotografie möglich geworden sind. Ein flüchtiger Blick, der den kurzen Szenen ihres Schreibens entsprechen mag.

Erinnerungsblitze – und Vergessen: Proust und Modiano

Patrick Modiano zu lesen, wie ein Werk, in der Zeit strukturiert und sich erneut der Erinnerung und dem Verschwinden stellend, das lässt ihn als „ein Marcel Proust unserer Zeit“ erscheinen, in der Formulierung des Ständigen Sekretärs der Schwedischen Akademie, Peter Englund.

Kulturelle Aneignung als Tragikomödie der Generationen

Der frisch pensionierte Geschichtsprofessor mit Hang zum Alkohol, geschieden, ist der Protagonist von Abel Quentins zweitem Roman, „Le Voyant d’Étampes“, den die konservative Presse wie der Figaro und Valeurs actuelles bereits als Menetekel der Cancel Culture feiert – Quentin persifliert die medialen Reaktionen auf Jean Roscoffs Buch und nimmt damit auch die Debatte um seinen eigenen Roman vorweg.

Schüler: verbannter Engel

Wenn man Bücher für den Französischunterricht sucht, ist schnell von prosaischen Ausdrücken die Rede, von ‚Ganzschriften‘ oder ‚Kompetenzen‘. Pädagogisch-didaktische Absichten tendieren leicht zu landeskundlichen oder moralischen guten Absichten, aber es gibt auch diese dunklere Faszination für die Abgründe der Pubertät, des Heranwachsens, bei denen selbst ein Lehrer seine überlegene Distanz verlieren kann und besessen wird. Hierzu gehört der Roman Bélhazar. Das Eingangsmotto von Thomas Wolfes Coming of Age Roman Look homeward, Angel, französisch L’Ange exilé, knüpft an Eugene Gant an, eine autobiographisch gefärbte jugendliche Figur in einer schwierigen Familie, und er ist „als Fremder sich selbst ein Gespenst (…), der in seiner Seele so einsam ist wie in der Welt“. 1

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Anmerkungen
  1. « … en ses douloureuses et sombres entrailles un étranger avait été porté à la vie, nourri d’éternité par des messages perdus, un étranger qui serait à lui-même son propre fantôme, qui hanterait sa propre demeure ; seul dans son âme, seul au monde. Ô perdu ! »>>>

Provinz im Niedergang: eine Art Inventar der Tiefen unseres Landes

« Après tout, la France est la France, comme vous le disiez hier. »

Honoré de Balzac, Le Médecin de campagne.

Daniel Rondeau reiht sich in die Gruppe der Schriftsteller ein, die Romane als Zyklus schreiben. Ob das eine Serialisierung wie bei Filmserien ist oder ein Marketinginstrument, muss man im Einzelfall beurteilen. Sein Zyklus ist noch unvollständig, die Titel 1. Mécaniques du chaos, 2. Arrière-pays und 3. Hors-sol (noch nicht erschienen, livres hebdo nennt diesen Schlussband allerdings Les fils) deuten ein dystopisches Panorama an. Après tout, la France soll die Trilogie heißen. Après tout, das bedeutet: „cependant ; tout bien considéré ; quoi qu’il en soit ; dans le fond“. Also vielleicht: Alles in allem Frankreich; Frankreich wie dem auch sei; Letztendlich Frankreich, oder: Dennoch Frankreich.

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Das große Schweigen im Vater-Prozess, im Barbie-Prozess

Roger de Wecks Bericht zum Barbie-Prozess für die Zeit erwähnte damals auch den Autor des Vaterromans Enfant de salaud: „Sorj Chalandon, der glänzende Berichterstatter von Libération, verzweifelte über den „tausend Fragen“, die im Barbie-Prozeß hätten gestellt werden sollen, meist nicht gestellt wurden, in Ausnahmefällen nicht gestellt werden durften.“ 1 Der Roman verknüpft nun Chalandons Auseinandersetzung mit der großen Geschichte – dem Schlächter von Lyon Klaus Barbie – und mit intimer Familiengeschichte – dem eigenen, 2014 verstorbenen Vater, der bereits 2015 Gegenstand des Romans Profession du père war. Zum Prozess ging der Autor nach eigenen Angaben auf Vorschlag des Vaters und gemeinsam mit ihm:

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Anmerkungen
  1. Roger de Weck, „Schweigen vor dem Leid der Opfer“, Die Zeit, 3. Juli 1987.>>>

Algerien, inneres Land

In ihrem zweiten Roman befasst sich Lilia Hassaine mit der Frage der Integration (bzw. der Ausgrenzung) der algerischen Bevölkerung der ersten Generation in die französische Gesellschaft zwischen den frühen 1960er und den späten 1980er Jahren: In den späten 1950er Jahren zieht Naja in der Region Aurès in Algerien ihre drei Töchter allein auf, seit ihr Mann Saïd zum Arbeiten nach Frankreich rekrutiert wurde. Einige Jahre später, nachdem er Facharbeiter geworden ist, gelingt es ihm, seine Familie in die Region Paris zu holen. Naja wird schwanger, aber ihre Lebensumstände erlauben es dem Paar nicht, das Kind zu behalten. Hassaine hat den Roman ihrer Mutter gewidmet, und es ist nicht zuletzt eine Hommage an die algerischen Frauen, ohne dabei heikle Missstände auszusparen: das antirassistische Gehabe eines Teils der französischen „Kaviar“-Linken, die Ghettoisierung, Sexismus und Drogenmissbrauch.

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Gleichzeitig zu existieren

Beiläufig hat die Literatur epidemische Choreographien eingebaut in ihre Geschichten. Eine Literaturgeschichte von Corona ist wahrscheinlich spannender in Texten, die keine Corona-Romane sein wollen. Der Lockdown färbt die Texte ein, für jeden epochenbildend, der in zehn Jahren in einem Film oder Roman übers letzte Jahrzehnt ein Gespür für das Zeitgenössische geben möchte, wie für den Mauerfall oder für die Zeit nach dem Einsturz des World Trade Center.

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Telerealität-Fiktionen von Bellanger und de Vigan

Auch Autoren sehen fern. Medienwirklichkeiten werden Romangegenstand (wie früher mündliche Erzählstoffe), womöglich auch Poetologien. Die beiden Romane von Delphine de Vigan, Les enfants sont rois, und von Aurélien Bellanger, Téléréalité, erscheinen zwanzig Jahre nach dem französischen Einstieg in das neue Fernsehen. Bellangers Ausgangspunkt für sein Buch war nach eigenen Aussagen der Verkauf von Endemol, bei Delphine de Vigan war es die Erkenntnis durch eine Fernsehsehndung, dass es Kinder gibt, die als sehr junge Youtube-Influencer wie Stars gehandelt werden.

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News-Roman vom perfekten Gefangenen

„Un premier roman urbain, ultra-réaliste et social“, so wurde Mathieu Palain für seinen ersten Roman Sale gosse charakterisiert. 1 Urban, ultrarealistisch und sozial. Eine ähnliche Zuschreibung brachte ihm für den zweiten Roman nun den Preis des Nachrichtenromans ein, Le Prix du Roman News für Ne t’arrête pas de courir. Der Prix du Roman News wurde 2011 von der Modekultur-Zeitschrift Stiletto und Publicisdrugstore, einer Drogerie, die teils Brauerei, teils Buchhandlung und teils Kiosk ist, ins Leben gerufen. Journalistische Recherche, Dokumentation und Phantasie sind die Grundlagen des News-Roman. Mit dem Preis wird ein Werk ausgezeichnet, das aktuelle Ereignisse (eine Situation, eine Geschichte oder Protagonisten, die es gegeben hat) wie einen Roman behandelt. 2 Man kann sich fragen, ob dies wirklich eine Gattung und ein Korpus bezeichnet, wenn man die zehn vorherigen Preisträger/innen betrachtet:

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Anmerkungen
  1. „Un Fil à la page reçoit Cécile Coulon et Mathieu Palain“, Ouest-France, mardi 8 octobre 2019>>>
  2. Vgl. https://www.babelio.com/prix/152/du-Roman-News.>>>

Jaurès getötet, geträumt

La postérité de Jaurès, sa mémoire au XXe siècle n’ont pas de commune mesure, à quelques exceptions près, avec l’intensité de sa vie et la valeur de son action. Plus Jaurès a été célébré, moins il a été compris.

Vincent Duclert et Gilles Candar 1

Die Ermordung von Jean Jaurès im Jahr 1914 ist ein zentrales Thema im Roman von Thierry Froger, Et pourtant ils existent. In abschnittslosen Kurzkapiteln mit schnellen Perspektivwechseln arbeitet der Roman nochmals am nationalen Mythos, als fragendes Motto wird aus Jacques Brels Chanson Jaurès (aus einem anderen bleiernen Krisenjahr, 1977) zitiert:

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Anmerkungen
  1. Vincent Duclert et Gilles Candar, Jean Jaurès (Paris: Fayard, 2014). Dt.: „Die Nachwelt von Jaurès und sein Andenken im 20. Jahrhundert sind, von einigen Ausnahmen abgesehen, mit der Intensität seines Lebens und dem Wert seines Handelns nicht zu vergleichen. Je mehr Jaurès gefeiert wurde, desto weniger wurde er verstanden.“>>>

Photoautomat und Schlemihl

Und Dich, mein lieber Chamisso, hab ich zum Bewahrer meiner wundersamen Geschichte erkoren, auf daß sie vielleicht, wenn ich von der Erde verschwunden bin, manchen ihrer Bewohner zur nützlichen Lehre gereichen könne. Du aber, mein Freund, willst Du unter den Menschen leben, so lerne verehren zuvörderst den Schatten, sodann das Geld. Willst Du nur Dir und Deinem bessern Selbst leben, o so brauchst Du keinen Rat.

Adelbert von Chamisso, Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Die Herausgeberfiktion war in den letzten Jahrhunderten eine Strategie, eigene Fiktion als ein gefundenes Dokument zu legitimieren. Im 21. Jahrhundert kann dies auf andere Weise ein Album mit fremden Selfies sein. Jener Jacob B’rebi hat Anfang der 70er Jahre in einem Jahr 369 Automatenbilder von sich angefertigt und in ein Album geklebt. Der Roman Les vies de Jacob von Christophe Boltanski ist eine Reflexion auf Identität und Erinnerung, ausgehend von einer unbekannten, nomadischen Existenz.

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Schlaflos: Covid, Lautréamont, Trump, Poesie

Der Verlag P.O.L. kündigt mit Darrieussecqs Roman Pas dormir eine Poetik der Schlaflosigkeit an, die seit vielen Jahren auch das Leben der Autorin bestimmt: « J’ouvre les livres et tous me parlent d’insomnie. Woolf! Gide! Pavese! Plath! Sontag! Kafka! Dostoïevski! Darwich! Murakami! Césaire! Borges! U Tam’si! Sur tous les continents, la littérature ne parle que de ça. Comme si écrire c’était ne pas dormir. » 1 Der Roman ist aber weit mehr als nur autofiktionale Bewältigung dieses Schlafmangels im Schreiben, der abwesende Schlaf wird symbolisch aufgeladen zur Störung der Moderne, etwa in der pandemischen Corona-Übertragung, die poetologisch mit Lautréamonts berühmtem Zitat zusammengebracht wird, auch mit dem Schlaf der Vernunft bei Goya (das Buch ist übrigens voll mit Illustrationen): Schlaflosigkeit macht uns die Andersartigkeit der Welt bewusst.

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Anmerkungen
  1. „Ich schlage Bücher auf, und sie alle erzählen mir von Schlaflosigkeit. Woolf! Gide! Pavese! Plath! Sontag! Kafka! Dostojewski! Darwich! Murakami! Césaire! Borges! U Tam’si! Auf allen Kontinenten dreht sich alles in der Literatur um diese Frage. Wie wenn Schreiben heißt, nicht zu schlafen.“>>>

Memorialist des Königs

Tahar Ben Jelloun kündigte gleich an, der Roman werde in Marokko Lärm verursachen: Maël Renouard veröffentlicht die Beichte eines Literaten, der wie Racine für Ludwig XIV. oder Voltaire für Ludwig XV. als Geschichtsschreiber in den Dienst des marokkanischen Königs Hassan II. gestellt wird. Der Roman bedient sich lustvoll der rhetorischen Figuren und Wendungen des großen klassischen Stils im 18. Jahrhundert.

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