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Standortfreigabe: Technik, Trauer und Obsession
Lucie Ricos GPS folgt der sozial zurückgezogenen Ariane, die nur widerwillig ihre Wohnung verlässt, um an den Verlobungsfeierlichkeiten ihrer Jugendfreundin Sandrine teilzunehmen. Als Sandrine ihr die Standortfreigabe schickt, wird der digitale Punkt auf dem Smartphone für Ariane zu einer Art Leitfaden, der eine fast magische Nähe suggeriert. Doch am nächsten Morgen ist Sandrine verschwunden, und obwohl ihr verkohlter Körper am Rand eines Sees gefunden wird, bewegt sich der GPS-Punkt weiter – als würde Sandrine noch leben. Ariane steigert sich zunehmend in die Verfolgung dieser Spur hinein, verwischt die Grenze zwischen Realität und Projektion und deutet jede Bewegung als Botschaft, die nur für sie bestimmt ist. Während Polizei, Umfeld und Verlobter im Dunkeln tappen, folgt Ariane dem GPS immer weiter, bis der Punkt sie zu einem finalen Ort führt, an dem ihre Obsession, ihre Trauer und ihr Wunsch nach Bindung in eine letzte, unheilvolle Konfrontation mit der Wahrheit münden.

Die Interpretation von Lucie Ricos Roman GPS konzentriert sich auf die existenzielle Krise der Protagonistin Ariane, die ihr Leben durch die obsessive Verfolgung des digitalen Avatars ihrer verschwundenen Freundin Sandrine in der Google-Maps-Anwendung zu strukturieren versucht. Das Werk untersucht die Grenzen zwischen digitaler und physischer Realität, wobei die Intertextualität mit dem Ariadne-Mythos und dem Labyrinth eine zentrale Rolle spielt.
Arianes GPS-Reise führt sie zum Lac du Der, einem wichtigen Ort ihrer Jugend, wo kurz darauf eine verbrannte Leiche gefunden wird. Ariane verdächtigt nacheinander verschiedene Personen, bevor sie erkennt, dass die digitale Spur sie auch zu Sandrines traumatischer Vergangenheit führt: einem Familiendrama in der rue Damour, das Ariane einst unwissentlich in einem Artikel verfälscht hatte. Schließlich bestätigt eine Nachricht: Sandrine ist tot; sie hat sich selbst verbrannt, wozu Ariane unwissentlich ein Feuerzeug beigetragen hatte. Trotz des Versuchs, das GPS loszuwerden, erhält Ariane am Ende erneut eine Einladung zur Standortfreigabe.
Labyrinth und globales Ortungssystem
Le téléphone a vibré. Un lien Google Maps – que tu appelles toujours GPS par abus de langage, comme si toutes les cartes, toutes les représentations du monde et les technologies étaient les mêmes, de simples outils pour te conduire à bon port – s’est affiché : Sandrine souhaite partager sa localisation avec vous. Ton ego en a pris un coup. Elle n’allait pas venir te chercher en personne, elle se contentait de missionner un avatar numérique. Tu as rangé la bouteille de muscat. Malgré tout, cette formule, partager, te faisait plaisir. Tu as pensé à l’appartement que vous partagiez, Sandrine et toi, rue des Graviers. Tu as cliqué sur le lien. L’application Google Maps est apparue en plein écran, dévoilant une carte sommaire, et, en son centre, un imposant point rouge – parfaitement rond, parfaitement rouge.
Das Telefon vibrierte. Ein Google Maps-Link – den du fälschlicherweise immer als GPS bezeichnest, als ob alle Karten, alle Darstellungen der Welt und Technologien gleich wären, einfache Werkzeuge, um dich ans Ziel zu bringen – wurde angezeigt: Sandrine möchte ihren Standort mit dir teilen. Dein Ego bekam einen Dämpfer. Sie würde dich nicht persönlich abholen kommen, sondern begnügte sich damit, einen digitalen Avatar zu schicken. Du hast die Flasche Muskateller weggestellt. Trotzdem gefiel dir dieser Ausdruck, „teilen”. Du dachtest an die Wohnung, die du und Sandrine in der Rue des Graviers teilten. Du hast auf den Link geklickt. Die Google Maps-Anwendung erschien im Vollbildmodus und zeigte eine Übersichtskarte mit einem imposanten roten Punkt in der Mitte – perfekt rund, perfekt rot.
In dieser Szene verdichtet sich das ambivalente Verhältnis zwischen Ariane, Sandrine und der technischen Vermittlung ihrer Beziehung zu einem Moment scharfer symbolischer Klarheit. Die Standortfreigabe erscheint auf den ersten Blick als Geste der Nähe – das Verb teilen löst in Ariane einen fast körperlichen Impuls von Freude aus und ruft Erinnerungen an das frühere gemeinsame Wohnen wach. Doch zugleich trifft sie die Erkenntnis, dass Sandrine nicht persönlich erscheint, sondern nur ihren „Avatar“ schickt, wie ein stiller Affront: Die digitale Stellvertretung ersetzt den menschlichen Kontakt, und Ariane spürt darin eine Entwertung ihrer Person, ein Abrutschen in die zweite Reihe hinter der Technologie. Dass sie die Flasche Muscat wegstellt, markiert die abrupte Korrektur ihrer Hoffnung auf ein echtes Wiedersehen. Der rote Punkt, der sich in der Mitte des Bildschirms entfaltet, wird zum Emblem dieser paradoxen Erfahrung: makellos, eindeutig, absolut lesbar – und zugleich vollkommen körperlos. Arianes „Missbrauch“ des Begriffs GPS zeigt dabei, wie sehr sie alle Formen der Weltrepräsentation als Austauschbares, Vereinheitlichtes begreift; die digitale Karte ersetzt für sie die Realität, noch bevor die Obsession begonnen hat. Die Szene inszeniert damit den Moment, in dem Intimität durch Technologie zugleich ermöglicht und entleert wird: Nähe wird versprochen, aber nur in Form eines abstrakten, vollkommen runden, vollkommen roten Zeichens.
Im Zentrum von GPS steht ein Ariadne-Motiv, das sich – kaum verhüllt – an der Beziehung zwischen Ariane und Sandrine entwickelt. Ariane/Ariadne, die im Mythos mit ihrem Faden Theseus durch das Labyrinth führt, findet hier keinen Weg aus dem Labyrinth, sondern in eines hinein. Die „Zone Belle-Fenestre“, die ihr bereits im Vorfeld als „Falle“ erscheint, wird zur Variante eines irreführenden, schwer durchschaubaren Ortes. Dass Ariane die Einladung dorthin sofort mit potenziellen Katastrophen verknüpft – den unfassbaren Ausmaßen der Hektar, dem möglichen Angriff, den richtungsentscheidenden Abzweigungen – zeigt, wie sehr das moderne Subjekt trotz Navigationshilfen in einem existenziellen „labyrinthischen“ Zustand verbleibt: ohne festen Mittelpunkt, ohne verlässliche Wegzeichen, von Angst durchdrungen. Zwar bietet das Gerät ihr eine eindeutige Route an, doch diese vermeintliche Linearität erweist sich als jederzeit widerrufbares Versprechen.
Diese Struktur kulminiert in der Szene, in der Ariane vor einer niedrigen, aber unüberwindbaren Steinmauer steht – ein reales Hindernis, das der glatten, grenzenlos erscheinenden Kartografie ihres GPS widerspricht. Hier kehrt der Text den Ariadne-Mythos um: Nicht ein geordneter Faden hilft, das Chaos zu überwinden, sondern ein digitales Abbild erzeugt erst die Illusion von Ordnung – und verdeckt die Unübersichtlichkeit der Landschaft. Der Punkt führt Ariane tief in ein Territorium, das sich als verschlungener, widersprüchlicher Raum entpuppt. In der Spannung zwischen Karte und Gelände materialisiert sich das Labyrinth als Zwischenraum von Daten und Wahrnehmung, digitaler Projektion und physischer Realität. Die labyrinthische Erfahrung wird so zur epistemischen Grundbedingung: Orientierung ist nur möglich, wenn Ariane den permanenten Irrtum einkalkuliert.
Schließlich erscheint der GPS-Punkt selbst als moderne Variante des Ariadnefadens – jedoch in verfremdeter Form: Statt den Weg aus dem Labyrinth zu markieren, zieht er Ariane immer weiter hinein, ja in eine verführerische Irrealität. Wenn sie den Punkt in ihrem Apartment verfolgt, seine Bewegungen nachahmt und ihn als „Ziel“ begreift, das ihr Leben neu „ausrichten“ werde, wächst er über seinen Status als technisches Zeichen hinaus. Er wird zu einem mythischen Leitobjekt, das Rettung verspricht und zugleich Verwirrung stiftet. Wie der Faden Ariadnes entwirrt er eine Geschichte – nur die falsche, denn Sandrine ist bereits tot, und der Punkt führt Ariane in eine Spirale aus Projektion, Wunsch und Verkennung. Das Labyrinth ist nun psychisch wie medial: ein Geflecht aus Trauer, digitaler Spur, algorithmischer Bewegung und Arianes übersteigerter Vorstellungskraft. Der Roman zeigt, dass der Ariadne-Mythos im digitalen Zeitalter nicht verschwindet, sondern sich transformiert: Der Faden wird zum GPS-Signal – und die Wahrheit, statt im Zentrum des Labyrinths zu warten, zerfällt in gleitende, täuschungsanfällige Pixel.
Der Ariadne-Mythos in der 33. Region
Ariane ist die moderne Heldin, die an einem tiefgreifenden Orientierungsproblem leidet, das in ihrer Isolation verwurzelt ist. Die Welt außerhalb ihres Zuhauses ist ein furchteinflößender, unübersichtlicher Ort, der ihr die Atmung abschneidet. Die „Zone Belle-Fenestre“ erscheint ihr als gefährlicher Raum, in dem sie umherirrt und eine potenzielle Vernichtung befürchtet – ein zeitgenössisches Labyrinth wie bei Ariadne. Der GPS-Punkt übernimmt die Rolle des rettenden Fadens. Ariane hält die Karte „zwischen ihren Händen“ und gewinnt das Gefühl, die Welt lenken zu können. Der rote Punkt ermöglicht ihr eine Form von Bewegung, die nicht Selbstermächtigung ist, sondern geführte Passivität. In der „33. Region“, einem idealisierten digitalen Raum, projiziert Ariane ihre Sehnsucht nach Ordnung – eine Welt ohne die Zumutungen der Realität.
Tu cliques une première fois, et, avant que la page n’ait fini de se charger, une seconde fois, comme tu le fais lorsqu’un mail s’intitule « RÉPONSE À VOTRE CANDIDATURE », ou quand l’un d’eux affiche en objet, de manière plus fataliste, sans s’encombrer de suspense inutile, « VOTRE CANDIDATURE N’A PAS ÉTÉ RETENUE ». C’est ton téléphone qui t’envoie l’article. Il fait cela à intervalles réguliers, notamment quand tu ne reçois aucun appel ou message. Tu cliques sur le lien. Un joggeur découvre un corps brûlé à l’est de la commune du Derme, au bord du lac du Der. La caserne des pompiers a été contactée par un joggeur après la découverte d’un corps humain en cendres ce mardi 28 juin au matin sous un des saules du lac du Der. Quand tu lis à nouveau, l’article n’est plus tout à fait le même. Le prénom Sandrine a remplacé le mot cendres. Tu penses au pied gauche intact, tu te demandes ce qu’il est advenu de la chaussure et si ce pied est laid comme ceux de Sandrine, les orteils recourbés.
Du klickst ein erstes Mal und, noch bevor die Seite vollständig geladen ist, ein zweites Mal, so wie du es tust, wenn eine E-Mail den Betreff „ANTWORT AUF DEINE BEWERBUNG” hat oder wenn eine E-Mail fatalistischerweise und ohne unnötige Spannung im Betreff anzeigt: „IHRE BEWERBUNG WURDE NICHT BERÜCKSICHTIGT”. Es ist dein Telefon, das dir den Artikel schickt. Das macht es in regelmäßigen Abständen, insbesondere wenn du keinen Anruf oder keine Nachricht erhältst. Du klickst auf den Link. Ein Jogger entdeckt östlich der Gemeinde Derme am Ufer des Lac du Der eine verkohlte Leiche. Die Feuerwehr wurde von einem Jogger alarmiert, nachdem er am Dienstagmorgen, dem 28. Juni, unter einer der Weiden am Lac du Der eine verkohlte Leiche entdeckt hatte. Als du den Artikel erneut liest, ist er nicht mehr ganz derselbe. Der Vorname Sandrine hat das Wort Asche ersetzt. Du denkst an den intakten linken Fuß und fragst dich, was mit dem Schuh passiert ist und ob dieser Fuß so hässlich ist wie der von Sandrine, mit ihren gekrümmten Zehen.
In dieser Szene verschränkt der Roman auf beklemmende Weise Arianes prekäre Lebenslage mit der unheimlichen Autonomie der digitalen Zeichenwelt. Die Doppel-Klick-Bewegung – mechanisch, nervös, vertraut aus den automatisierten Absagen auf Bewerbungen – markiert Arianes existenzielle Abhängigkeit von elektronischen Mitteilungen: Ihr Leben rhythmisiert sich nach digitalem Feedback, das meist Zurückweisung bedeutet. Dass nun ihr eigenes Telefon ihr den Artikel schickt, und zwar regelmäßig gerade dann, wenn niemand sonst sich meldet, offenbart eine intime, fast parasitäre Beziehung zu ihrem Gerät: Das Smartphone wird zur einzigen Stimme, die zu ihr spricht, aber es ist eine Stimme der Katastrophenmeldungen. Als sie den Artikel öffnet, verschiebt sich dessen Inhalt vor ihren Augen – erst ein anonymer verbrannter Körper, dann plötzlich Sandrine: Die Metamorphose des Begriffs „cendres“ in „Sandrine“ macht die digitale Oberfläche zum Ort einer schockhaften Offenbarung, aber auch einer möglichen Halluzination. Der Text selbst scheint sich gegen Ariane zu richten, als würde die Wahrheit sich algorithmisch ins Bewusstsein drängen. Dass Ariane sofort an Sandrines „hässlichen linken Fuß“ denkt, an die gebogenen Zehen, zeigt, wie körperlich und intim ihr Verlust wird: Aus der medialen Nachricht entsteht ein fragmentarischer Körper, dessen einzig verbliebener Teil in Arianes Erinnerung verankert ist. So entlarvt die Szene das digitale Medium als Beschleuniger von Trauma: Es liefert Informationen nicht neutral, sondern personalisiert, verzerrt, unheimlich – bis Wirklichkeit und Imagination sich ununterscheidbar überlagern.
Der Minotaurus: Der Tod und das Selbst
Im klassischen Mythos führt der Faden zum Minotaurus, dem Feind, den es zu besiegen gilt, um aus dem Labyrinth zu entkommen. In GPS führt der rote Punkt Ariane zwar in die Irre bezüglich der Identität eines Mörders (sie verdächtigt John), aber letztlich führt sie die Spur direkt zu Sandrines Tod und ihrem tiefsten Trauma. Sandrine selbst ist dabei Opfer und Täterin ihres eigenen Untergangs (Suizid). Sie wird zum Minotaurus, indem sie Ariane durch ihre Abwesenheit in eine digitale Hysterie treibt. Durch das GPS-Labyrinth wird nicht nur Sandrines physisches Ende enthüllt, sondern auch die Wahrheit über Sandrines Vergangenheit (der Mordversuch des Vaters in der Rue Damour), und Arianes eigene Schuld (die verharmlosende Beschreibung des Dramas in einem Artikel). Das Ziel des Labyrinths ist nicht Befreiung, sondern die Enthüllung verdrängter Wahrheiten.
Lentement, tu zoomes sur le visage de la jeune fille. Tu la reconnais. Sandrine, Sandrine à quinze ans, Sandrine avec son nez d’origine, sa bouche et de longs cheveux en bataille. Près d’elle, sur l’asphalte, se déplie le nom de la rue : rue Damour. Tu le sais, à l’intérieur de l’ambulance se trouve un père. Il a tenté d’abattre ses deux enfants, a touché mortellement son fils, puis il a retourné l’arme contre lui et s’est tiré une balle dans la tête. Diese Geschichte, du kennst sie. Tu l’as lue dans tous les journaux de tes parents. En exhumant de vieux journaux, celui-là t’avait frappé. Tu te souviens de ton titre : DRAME DE LA RUE DAMOUR : Un père tue son fils puis se suicide sous les yeux de sa fille aînée. Dans le corps de l’article, tu t’étais trompée sur le nombre de morts. La fille aînée, c’est Sandrine. Tu l’as assassinée dans un article.
Langsam zoomst du auf das Gesicht des Mädchens. Du erkennst sie. Sandrine, Sandrine mit fünfzehn Jahren, Sandrine mit ihrer ursprünglichen Nase, ihrem Mund und ihren langen, zerzausten Haaren. Neben ihr, auf dem Asphalt, steht der Name der Straße: Rue Damour. Du weißt, dass sich im Krankenwagen ein Vater befindet. Er hat versucht, seine beiden Kinder zu erschießen, hat seinen Sohn tödlich getroffen, dann hat er die Waffe auf sich selbst gerichtet und sich in den Kopf geschossen. Diese Geschichte kennst du. Du hast sie in allen Zeitungen deiner Eltern gelesen. Als du alte Zeitungen durchforstet hast, ist dir diese besonders aufgefallen. Du erinnerst dich an die Überschrift: DRAMA IN DER RUE DAMOUR: Vater tötet seinen Sohn und begeht dann vor den Augen seiner ältesten Tochter Selbstmord. Im Artikel selbst hast du dich bei der Anzahl der Todesopfer geirrt. Die älteste Tochter heißt Sandrine. Du hast sie in einem Artikel ermordet.
Die Szene markiert einen entscheidenden Moment der Selbsterkenntnis, in dem Ariane erkennt, dass ihre obsessive Suche nach Sandrines digitaler Spur untrennbar mit einer verdrängten Schuld verbunden ist. Der Zoom auf das Gesicht der fünfzehnjährigen Sandrine enthüllt nicht nur ihre ursprüngliche körperliche Gestalt, sondern führt Ariane in die Tiefenschicht zurück, die eines Traumas, das sie selbst – unwissentlich, aber wirkmächtig – mitgeschaffen hat. Die „rue Damour“, deren Name makaber mit dem Familienmassaker kontrastiert, wird zum Ort, an dem sich persönliche und mediale Gewalt verschränken: Während Sandrine einst Zeugin der Ermordung ihres Bruders und des Suizids des Vaters wurde, hat Ariane dieselbe Szene später in einem journalistischen Artikel verfälscht und damit Sandrine ein zweites, symbolisches Sterben zugefügt. In diesem Moment realisiert Ariane, dass ihr vermeintliches Suchen nach Sandrine immer auch ein Suchen nach Vergebung war; dass die digitale Verfolgung der Freundin nicht nur Trauerarbeit darstellt, sondern der Versuch, ein durch Sprache begangenes Unrecht rückgängig zu machen. Der Blick auf das alte Foto wirkt wie ein Spiegel, in dem sich der rote GPS-Punkt – bislang ein Zeichen der Nähe – in eine Anklage verwandelt: Ariane erkennt, dass sie nicht nur einer Toten folgt, sondern einer Schuld, die sie selbst mitgetragen hat.
Ariane kann die „33. Region“ nicht verlassen. Obwohl sie versucht, das GPS zu zerstören, zieht eine neue Benachrichtigung sie zurück. Der rote Punkt wird zur Metapher der unendlichen Wiederholung von Trauma und Abhängigkeit. Der Faden führt nicht zur Freiheit, sondern in eine dauerhafte Symbiose mit der Toten.
Metaphorik des roten Punkts: Technologie als Schicksalsinstrument
Die Metaphorik in GPS kreist zentral um den GPS-Punkt als Verdichtung von Präsenz, Verlust und Projektion. Der rote Punkt wird zum mythisierten Zeichen, das eine tote Freundin in Bewegung hält und die Ununterscheidbarkeit von Realität, Erinnerung und Wunsch sichtbar macht. Seine unberechenbaren Bewegungen machen die Markierung zum Ersatzkörper Sandrines – ein unheimliches Weiterleben, das Ariane zugleich fasziniert und destabilisiert. Die Spannung zwischen digitaler Karte und realer Landschaft besitzt durchgehend metaphorisches Gewicht: Die glatte Karte steht für Orientierung, der widerspenstige reale Raum für Arianes innere Desorientierung.
Parallel dazu arbeitet der Roman mit Körpermetaphern, die Identität, Vergänglichkeit und Fragilität thematisieren. Sandrines veränderter Körper verweist auf ein instabiles Selbst, während Arianes eigener Körper – anfällig für Angst und Ohnmacht – ihre soziale Isolation spiegelt. Bildschirmoberflächen wirken als Metaphern epistemischer Unsicherheit: Die Ordnung des Displays kontrastiert mit der Unübersichtlichkeit des Außenraums. Bewegung und Stillstand strukturieren schließlich die Beziehung der beiden Frauen: Während Sandrine – oder ihr Punkt – weiterzieht, bleibt Ariane eingefroren und lässt sich erst durch die digitale Spur in Bewegung setzen. Die Metaphern verweben Technik, Körper und Raum zu einer Struktur, in der Orientierung nie garantiert ist und jede Spur eine Täuschung birgt.
Im Schluss von GPS kulminiert der Roman in einer Verschiebung der Realitätsebenen: Der digitale Punkt, lange Zeit Arianes letzter Halt und Projektionsfläche ihrer Wünsche, entpuppt sich als selbständiges Narrativ, das ihre Wahrnehmung kolonisiert. Dass der Standort erneut geteilt wird, obwohl Sandrine tot ist, zeigt, wie das Digitale ein mythisches Eigenleben gewinnt. Arianes Entscheidung, dem Punkt zu folgen, verwandelt Technologie in ein Schicksalsinstrument. Der Roman endet damit nicht in einer Auflösung, sondern in der Frage nach dem Verhältnis zwischen Verlust und Zeichen, zwischen Körper und Spur.
Rückblickend beleuchtet das Finale den ganzen Roman als labyrinthische Bewegung: Ariane verliert sich nicht im Raum, sondern in einer techno-psychischen Struktur, deren Architektur sie miterschafft. Der GPS-Punkt macht sie zur Mitautorin eines Mythos der Orientierung. Das doppelte Drama einer zerbrochenen Freundschaft und einer Identität, die nur medial stabilisierbar ist, wird sichtbar. Ariane verliert im Versuch, Sandrine zu finden, vor allem sich selbst – nicht im Außen, sondern im inneren Labyrinth ihrer Sehnsüchte und Ängste. GPS erscheint so als kritische Fabel über das Mensch-Technik-Verhältnis: Orientierung wird zur Illusion, Nähe zur Konstruktion, und die Wahrheit endet dort, wo die Spur den Suchenden verschluckt.