Donald Trump, Geschichtspolitik und Wissenschaftsfreiheit bei Perrine Tripier

Wer die Wahrheit manipuliert, muss sie permanent überwachen

Les hommes de main de l’Empereur, bien que cuirassés de pied en cap, s’étaient montrés doux comme des chats.

« Si vous voulez bien nous suivre », avaient-ils dit, caressant à leur ceinture la crosse d’un petit pistolet.

Non, Martabée n’avait pas spécialement envie de les suivre ; elle se sentait bien, au chaud dans son petit bureau de l’Université, au milieu de ses livres, de ses carnets, de ses statuettes ; elle avait mis à bouillir de l’eau, et donnait un cours dans vingt minutes ; un soleil pâle tombait de la fenêtre à croisillons et, par un carreau ouvert, on entendait la mer. « Si vous voulez bien nous suivre », donc, tombait mal. Un silence un peu embarrassant s’ensuivit, au cours duquel les deux gardes et Martabée se dévisagèrent sans bouger. La bouilloire émit un sifflement feutré. Martabée la débrancha d’un coup sec, renonçant pour de bon à son thé. « Je vous suis, messieurs. » 

Perrine Tripier, Conque: roman, Gallimard, 2024.

Die Gefolgsleute des Empereurs waren, obwohl sie von Kopf bis Fuß gepanzert waren, sanft wie Katzen.

„Wenn Sie uns bitte folgen würden“, hatten sie gesagt und an ihrem Gürtel den Kolben einer kleinen Pistole gestreichelt.

Nein, Martabée hatte keine besondere Lust, ihnen zu folgen; sie fühlte sich wohl in ihrem warmen, kleinen Büro in der Universität, inmitten ihrer Bücher, Notizbücher und Statuetten; sie hatte Wasser zum Kochen gebracht und hielt in zwanzig Minuten eine Vorlesung; die Sonne fiel blass durch das Sprossenfenster und durch eine offene Scheibe konnte man das Meer hören. Die Frage „Wenn Sie uns bitte folgen würden“ kam also zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Es folgte eine etwas peinliche Stille, in der die beiden Wachen und Martabée sich regungslos anstarrten. Der Wasserkocher gab ein leises Zischen von sich. Martabée schaltete ihn mit einem Ruck aus und verzichtete endgültig auf ihren Tee. „Ich folge Ihnen, meine Herren.“

In ihrem zweiten Roman Conque konfrontiert Perrine Tripier die Historikerin Martabée mit einem fanatischen Empereur, der die Geschichte für seine politischen Zwecke instrumentalisieren will. Die Handlung spielt in einer unbestimmten, windgepeitschten Küstenregion, wo archäologische Ausgrabungen Spuren der Morgonden zutage fördern – eines längst verschwundenen, als glanzvoll idealisierten Volkes: die Überreste der Morgondes, jahrtausendealter Seekrieger. Die Historikerin wird herangezogen, um die Funde zu interpretieren und eine narrative Verbindung zwischen den archäologischen Entdeckungen und dem nationalen Selbstverständnis herzustellen. Dabei steht jedoch nicht die wissenschaftliche Genauigkeit im Vordergrund, sondern die Konstruktion eines Gründungsmythos, der das zerfallende Reich stabilisieren soll. Während die Forscher eine komplexe Zivilisation freilegen, deren Spuren – darunter monumentale Walfangriten – faszinierend und zugleich verstörend sind, wird Martabée zur Schlüsselfigur in einem politischen Spiel. Sie erhält Privilegien, wird hofiert und in eine Rolle gedrängt, die sie dazu zwingt, fehlende Informationen mit spekulativen Elementen zu füllen. Doch es fällt auf, dass Frauen und Kinder in den Funden fehlen – eine Leerstelle, die Martabée zum Nachdenken bringt.

Tripiers allegorische Erzählung über die politische Instrumentalisierung von Geschichte lässt die Historikerin Martabée Gaeldish in ein Netz aus Manipulation und Selbsttäuschung geraten, durch ihre Teilnahme an der Konstruktion eines nationalistischen Mythos. Ein Thema von hoher Aktualität und Relevanz in einem Frankreich des umkämpften roman national und weltweit ideologischer Vereinnahmungsversuche von Geschichte. Formal mischt der Roman historiografische Fiktion, wechselnde Erzählperspektiven und eine zunehmend destabilisierte Sprache, die die Diskrepanz zwischen archäologischer Evidenz und ideologisch aufgeladener Geschichtsschreibung sichtbar macht. Tripier entlarvt dabei nicht nur die Verführbarkeit wissenschaftlicher Diskurse durch Machtstrukturen, sondern erzeugt mit der symbolisch aufgeladenen Bildsprache – etwa den in Walskeletten bestatteten Morgonden – eine poetische Reflexion über die Verdrängungsmechanismen kollektiver Erinnerung. Perrine Tripier, die bereits in Les guerres précieuses (2023) das trügerische Wechselspiel von Erinnerung und Erzählung untersuchte, erweitert in Conque ihr literarisches Werk um eine ebenso präzise wie beunruhigende Reflexion über die Macht von Mythen und die Fragilität historischer Wahrheit.

Besonders eindrucksvoll bleiben nach der Lektüre die persönlichen Nöte der Wissenschaftlerin, die in einem repressiven System zwischen Loyalität, Wahrheitssuche und der Verführung durch Macht gefangen ist. Ihr Dilemma wirkt bei einer Lektüre im vierten Jahr des Angriffskrieges von Wladimir Putin in der Ukraine und wenige Wochen nach dem zweiten Amtsantritt des US-Präsidenten Donald Trump beunruhigend aktuell: Dieser hat einen umfassenden Angriff auf die Wissenschaft und die akademische Freiheit in den USA gestartet. Zu seinen Maßnahmen gehören u.a. Kürzungen von Forschungsgeldern: Die Nationalen Gesundheitsinstitute (NIH) und andere Forschungseinrichtungen haben ihre Zuschüsse an Universitäten drastisch gekürzt, insbesondere Forschungsbereiche wie Krebs- und Alzheimerforschung. Trump hat die Etats der NIH und anderer Einrichtungen eingefroren und überprüft, was als klarer Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit angesehen wird. Forscher, deren Arbeiten nicht dem politischen Weltbild Trumps entsprechen, laufen Gefahr, weniger Fördermittel zu erhalten. Bestimmte Begriffe in Forschungsanträgen, wie „Gerechtigkeit“ oder „Diskriminierung“, werden als problematisch eingestuft, was die Durchführung von Studien erheblich erschwert. Dies führt zu einem Klima der Angst und Selbstzensur unter Wissenschaftlern. Trump hat Schulen und Universitäten angeordnet, alle Diversitätsinitiativen zu beenden, was potenziell erhebliche Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Studierendenschaft und die akademische Freiheit hat. Trumps Politik könnte dazu führen, dass Spitzenforscher aus den USA in andere Länder, auch nach Deutschland, abwandern. Die Max-Planck-Gesellschaft berichtet von einem Anstieg der Bewerbungen aus den USA, da Wissenschaftler das aktuelle politische Klima im Land als einschüchternd empfinden. Insgesamt stellen Trumps Maßnahmen eine ernsthafte Bedrohung für die wissenschaftliche Integrität und die internationale Zusammenarbeit in der Forschung dar. Die negativen Folgen dieser Politik könnten langfristig nicht nur die USA, sondern auch die globale Wissenschaftsgemeinschaft beeinträchtigen, da wichtige Forschungsinitiativen und Erkenntnisse gefährdet sind. Zitate von US-Wissenschaftlern, die ihre Sorgen und Probleme mit Trumps Wissenschaftspolitik schildern, kursieren zur Zeit in Mengen:

„Im Prinzip wussten wir, was alles kommen würde. Aber wir waren einfach nicht darauf vorbereitet, wie schnell es umgesetzt werden würde.“ – Neil Gross, Soziologieprofessor am Colby College. 1

„Das ist Social Engineering über die Universitäten.“ – Johannes von Moltke, Historiker an der University of Michigan. 2

„Man kann keine Studien mit Menschen konzipieren, ohne zumindest einen dieser verbannten Begriffe zu benutzen. Biomedizinische, Neuro- und sozialwissenschaftliche Forschung liegt in den USA damit auf Eis.“ – Darby Saxbe, Psychologin an der University of California. 3

„Das Vorgehen der Regierung von Präsident Donald Trump ist darauf angelegt, Institutionen, Forschern und der biomedizinischen Forschung zu schaden.“ – Jeffrey Flier, ehemaliger Dekan der medizinischen Fakultät an der Harvard-Universität. 4

„Die Kürzungen sind ein bombensicherer Weg, um lebensrettende Forschung und Innovation zu lähmen.“ – Matt Owens, Vorsitzender des Interessenverbandes der US-Forschungseinrichtungen (COGR). 5

„Das ist ein klarer Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit, denn die Themenwahl obliegt den Forschenden und nicht dem Weißen Haus.“ – Patrick Cramer, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. 6

„Viele amerikanische Kolleginnen und Kollegen sind verunsichert. Sie befürchten, dass vor allem die von Trump gewünschte Forschung gefördert werden soll und unliebsame Wissenschaftler, deren Arbeit nicht in sein Weltbild passt, mit Kürzungen rechnen müssen.“ – Patrick Cramer, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. 7

„Die Universitäten hier sind wundervolle Orte, sie sind das Kronjuwel der USA, weil eine freie Wissenschaft überparteilich im Sinne aller war. Jetzt erleben wir eine Zerstörung der intellektuellen Infrastruktur im Land.“ – Ravi Vakil, Präsident der American Mathematical Society. 8

„Es ist ein Krieg gegen Wissen und Bildung. Sie dürfen aber auf keinen Fall meinen Namen schreiben.“ – Unbekannter Forscher in Boston, zitiert während der Jahrestagung der American Association for the Advancement of Science (AAAS). 9

Der Herrscher in Tripiers Roman ist nicht nur ein politischer Stratege, sondern auch eine tief psychologisch geprägte Figur. Seine Fixierung auf die Relikte des Volks der Morgonden geht über reine Machtsicherung hinaus – er sucht in ihnen eine Bestätigung seiner eigenen Größe. Er lässt Porträts von Morgonden anfertigen, die ihm selbst ähneln. Diese Szene verdeutlicht seine narzisstische Selbstinszenierung: Die Vergangenheit wird nicht als unabhängige Größe betrachtet, sondern als Spiegelbild seines eigenen Machtanspruchs. Seine Herrschaft basiert auf der ständigen Angst, seine Kontrolle über das Narrativ zu verlieren. Sobald Zweifel an der Geschichte der Morgonden auftauchen, reagiert er mit repressiven Maßnahmen. Seine paranoide Angst vor abweichenden Interpretationen spiegelt das Dilemma vieler Autokraten wider: Wer die Wahrheit manipuliert, muss sie permanent überwachen. Der Empereur kann großzügig sein – er überschüttet Martabée mit Geschenken und Privilegien. Doch seine Gunst ist fragil, und sobald jemand seinen Erwartungen nicht entspricht, schlägt sie in Bedrohung um. Diese Ambivalenz macht ihn zu einer unberechenbaren Figur, die zwischen Verführung und Einschüchterung wechseln kann.

Archäologie und roman national

Bien entendu, les Morgondes ne chassaient pas les monstres, et ne chevauchaient pas les vagues dorées par un soleil plus jeune – mais c’est ainsi que les présentaient les chants et les poèmes, et c’est donc ainsi que l’Empereur souhaitait les voir. 

Perrine Tripier, Conque: roman, Gallimard, 2024.

Natürlich jagten die Morgonden keine Monster und ritten nicht auf den Wellen, die von einer jüngeren Sonne vergoldet wurden – aber so wurden sie in den Gesängen und Gedichten dargestellt, und also wollte der Empereur sie auch so sehen.

Conque ist ein bildstarker Roman über Archäologie, nicht nur als wissenschaftliche Disziplin, sondern als Metapher für die Konstruktion von Vergangenheit. Der Text verhandelt zentrale Fragen der Geschichtsschreibung: Wer erzählt Geschichte, mit welchem Ziel, und wie viel Wahrheit bleibt bestehen, wenn Machtinteressen die Narration beeinflussen? Die systematische Freilegung der Morgonden-Ruinen dient nicht nur der Erforschung einer untergegangenen Kultur, sondern wird zur politischen Inszenierung, in der archäologische Funde selektiv interpretiert und manipuliert werden, um ein nationales Narrativ zu legitimieren. Die Figur der Historikerin Martabée Gaeldish verkörpert dabei die Spannung zwischen wissenschaftlicher Sorgfalt und politischem Druck: Ihre Aufgabe ist es, die Funde in ein kohärentes Narrativ zu übersetzen, das sich jedoch zunehmend als Instrument kaiserlicher Ideologie entpuppt. Perrine Tripier zeigt, wie Archäologie nicht nur Geschichte aufdeckt, sondern auch verschleiern oder umdeuten kann. Die Materialität der archäologischen Funde macht die Spannung zwischen wissenschaftlicher Präzision und ideologischer Instrumentalisierung aus: Die Beschreibung der Ausgrabungen ist von großer Sinnlichkeit geprägt. Die Erde wird Schicht für Schicht freigelegt, Sand und Gestein abgetragen, Skelette von Kriegern in den gewaltigen Gerippen von Walen entdeckt. Die geborgenen Artefakte – Waffen, Schmuck, monumentale Bauten – erscheinen zunächst als Zeugnisse einer mächtigen Zivilisation, doch ihre Bedeutung bleibt fließend, da sie durch den Blick der Betrachter geformt wird. Die Detailverliebtheit der Schilderung verstärkt den Eindruck einer realen wissenschaftlichen Arbeit: Kartierungen werden angefertigt, Fundstücke katalogisiert, Hypothesen überprüft. Das erklärte Ziel einer historischen Erzählung, die von der Wissenschaftlerin geliefert werden soll, den Nationalstolz zu stärken und von der Verschwendungssucht des Herrschers abzulenken, erinnert an reale politische Mechanismen: In zahlreichen Staaten der Gegenwart gibt es Versuche, eine offizielle „Version“ der Geschichte zu etablieren, die nationale Einheit und Stolz fördern soll. Geschichtsrevisionismus wird genutzt, um dunkle Kapitel zu relativieren oder umzudeuten, sei es in Bezug auf Kolonialismus, Kriege oder Menschenrechtsverletzungen. Politische Führungspersonen greifen gezielt in Lehrpläne ein, um historische Narrative im Sinne der nationalen Identität zu beeinflussen. Der Roman zeigt, dass solche Praktiken nicht nur Vergangenes umdeuten, sondern auch die Zukunft eines Landes prägen können. Wer die Geschichte kontrolliert, kontrolliert auch die Gegenwart.

Obwohl Martabée zunächst skeptisch gegenüber der politischen Vereinnahmung der Archäologie ist, beginnt sie nach und nach, sich mit dem staatlichen Narrativ zu arrangieren. Sie setzt sich mit diesem Zwang zur Selbstzensur dem Risiko aus, ihre wissenschaftliche Integrität zu verlieren. Ihre privilegierte Stellung als „Hofhistorikerin“ wird durch ihre Nähe zum Empereur gesichert. Diese institutionalisierte Position bringt ihr zunächst Status und Einfluss, macht sie aber zugleich erpressbar. Während Martabée lange versucht, sich innerhalb des Systems zu bewegen, wird sie am Ende mit der Frage konfrontiert, ob sie den Mut aufbringt, sich gegen die Manipulation der Geschichte zu stellen. Diese Dynamik erinnert an reale historische Beispiele von Wissenschaftlern und Intellektuellen, die sich zwischen Anpassung und Widerstand in repressiven Systemen bewegen mussten – von den Historikern in totalitären Staaten bis hin zu modernen Fällen von wissenschaftlicher Einflussnahme durch Politik.

« J’aimerais, dit l’Empereur avec gravité, j’aimerais que vous travailliez sur ce projet. Que vous compreniez qui était la civilisation qu’on vient de mettre au jour. Pour tout vous dire, je pense qu’il s’agit là de vestiges bouleversants, quelque chose comme le maillon manquant de notre Histoire. Il faudra communiquer avec le peuple, lui expliquer qu’on a trouvé nos ancêtres. J’aimerais que les gens sachent qui a construit leur territoire, qui a peuplé le golfe. » Sa voix devenait de plus en plus forte. « Comprenez-vous, il faut que l’histoire de ce nouveau champ de fouilles puisse résonner dans le cœur des gens. C’est historique. Je crois que nous avons trouvé les Morgondes. »

Martabée se figea. On chantait aux bambins des berceuses sur les Morgondes ; on leur lisait des contes sur les Morgondes ; à l’école, on leur apprenait l’histoire avec un trou, un mystère à combler : les Morgondes ont été un grand peuple, il y a dix siècles, mais on n’a rien retrouvé d’eux sinon leur nom dans des manuscrits ultérieurs, des mots de barde, des paroles de nourrice.

Dans les yeux écarquillés de l’Empereur, Martabée lut du bleu extatique, du bleu transcendé, une lumière intérieure qui irradiait. Il n’était plus ridicule, il était presque beau. « Je n’ai pas peur de le dire », reprit-il. « Qu’on me traite de renard fou si l’on veut, oui, ce sont les Morgondes qui nous appellent depuis la dune. C’est le peuple ancestral qui chassait des monstres marins, ces puissants guerriers qui ont assis notre puissance, décimé leurs voisins, assoiffé les mers – je veux que le peuple sache que c’étaient nous, et que notre grandeur passée est encore vivace. » L’Empereur écumait. Martabée comprit qu’il y avait là sous le sable de la dune un enjeu qui la dépassait complètement. Tout cela engageait, outre l’argent du peuple, l’essence même du pays. Si l’Empereur disait vrai, si les vestiges, découverts par hasard par un groupe d’archéologues en lequel personne ne croyait, s’avéraient être les restes des Morgondes, alors elle se trouvait à l’aube du projet de sa vie.

« Ce que je vous demande, déclara l’Empereur en lui prenant la main, c’est de mener la supervision historique du chantier. Vous ferez des recherches, vous éclaircirez tout ça. Vous rédigerez les bulletins qu’on présentera au peuple pour lui rendre compte de l’avancée des recherches. Je veux qu’on communique beaucoup, qu’on le passionne, qu’on le transcende. Je veux que la nation retrouve son souffle, son unité, son panache… » Martabée n’entendait plus rien. Elle était terrassée par la confiance que l’Empereur plaçait en elle. Elle imagina comment elle raconterait à ses vieux parents, au fond de leur ferme, ce qu’il venait de lui arriver. 

Perrine Tripier, Conque: roman, Gallimard, 2024.

„Ich wünschte“, sagte der Empereur ernst, „ich wünschte, Sie würden an diesem Projekt mitarbeiten. Ich möchte, dass Sie verstehen, wer die Zivilisation war, die wir gerade ausgegraben haben. Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass es sich um erschütternde Relikte handelt, so etwas wie das fehlende Glied in unserer Geschichte. Wir müssen mit den Menschen kommunizieren und ihnen erklären, dass wir unsere Vorfahren gefunden haben. Ich möchte, dass die Menschen wissen, wer ihr Gebiet aufgebaut hat, wer den Golf besiedelt hat.“ Seine Stimme wurde immer lauter. „Verstehen Sie doch, die Geschichte dieses neuen Ausgrabungsfeldes muss in den Herzen der Menschen nachhallen können. Es ist historisch. Ich glaube, wir haben die Morgonden gefunden“.

Martabée erstarrte. Die Morgonden waren vor zehn Jahrhunderten ein großes Volk gewesen, aber man hat nichts über sie gefunden außer ihrem Namen in späteren Manuskripten, Bardenworten und Ammeworten.

In den weit aufgerissenen Augen des Empereurs las Martabée ein ekstatisches Blau, ein transzendiertes Blau, ein inneres Licht, das ausstrahlte. Er war nicht mehr lächerlich, er war fast schön. „Ich habe keine Angst, es zu sagen“, fuhr er fort. „Man kann mich einen verrückten Fuchs nennen, wie man will, ja, es sind die Morgonden, die uns von der Düne aus rufen. Es ist das uralte Volk, das Seeungeheuer jagte, die mächtigen Krieger, die unsere Macht begründeten, ihre Nachbarn dezimierten und die Meere austrockneten – ich will, dass das Volk weiß, dass wir es waren und dass unsere einstige Größe noch immer lebendig ist.“ Der Empereur schäumte. Martabée begriff, dass hier unter dem Sand der Düne etwas auf dem Spiel stand, das sie völlig überforderte. Hier ging es nicht nur um das Geld des Volkes, sondern auch um das Wesen des Landes. Wenn der Kaiser die Wahrheit sagte, wenn die Überreste, die zufällig von einer Gruppe von Archäologen, an die niemand glaubte, entdeckt worden waren, sich als die Überreste der Morgonen herausstellten, dann stand sie vor dem Projekt ihres Lebens.

„Was ich von Ihnen verlange“, erklärte der Empereur und nahm ihre Hand, „ist, dass Sie die historische Aufsicht über die Werft führen. Sie werden Nachforschungen anstellen und alles aufklären. Sie werden die Bulletins verfassen, die wir dem Volk vorlegen werden, um ihm über den Fortschritt der Forschung zu berichten. Ich will, dass wir viel kommunizieren, es begeistern und über sich hinauswachsen lassen. Ich will, dass die Nation ihren Atem wiederfindet, ihre Einheit, ihren Elan …“. Martabée hörte nichts mehr davon. Sie war überwältigt von dem Vertrauen, das der Empereur in sie setzte. Sie stellte sich vor, wie sie ihren alten Eltern auf dem Bauernhof erzählen würde, was ihr gerade passiert war. 

Martabée, zunächst geehrt durch ihre Rolle und verführt von den Privilegien, die ihr zuteilwerden, lässt sich auf das Projekt ein. Doch als die Ausgrabungen fortschreiten, treten beunruhigende Aspekte der Morgonden-Kultur zutage, die nicht in das glorreiche Narrativ passen. Diese Enthüllungen zwingen die Historikerin in einen moralischen Konflikt: Soll sie die Wahrheit aussprechen oder dem Herrscher und seiner nationalistischen Geschichtspolitik folgen? Während der Empereur öffentliche Feste veranstaltet und sich mit den Morgonden identifiziert, wächst Martabées Skepsis.

Mit zunehmendem Fortschritt der Grabungen tritt eine Irritation ein – immer mehr Brüche und Unstimmigkeiten offenbaren sich, die gegen die heroische Erzählung des Kaisers sprechen. Die Materialität der Funde widersteht der ideologischen Überformung nicht vollständig, sondern birgt eine subversive Kraft: Sie enthält Spuren einer verdrängten, verstörenden Wahrheit, die mit jeder freigelegten Schicht weniger zu unterdrücken ist. Conque zeigt somit Archäologie als einen Prozess des Suchens und Lesens von Geschichte, aber auch als einen Raum, in dem sich Deutungshoheit und Machtansprüche überlagern. Die Archäologen entdecken eine monumentale Grabstätte mit riesigen Reliefs, auf denen Krieger mit überproportional großen Waffen und grotesk verformten Gliedmaßen dargestellt sind. Besonders verstörend ist, dass eine der Figuren dem Empereur selbst verblüffend ähnelt – ein bewusst inszenierter Schachzug, um ihn als legitimen Erben der Morgonden darzustellen? Als Martabée zögert, die gewünschten Berichte zu schreiben, spürt sie, dass sie unter Beobachtung steht. Sie lebt in einer luxuriösen Villa, umgeben von Annehmlichkeiten – doch sie ist sich bewusst, dass dies auch eine Form der Kontrolle ist. Die Wissenschaftler im Team beginnen zu verschwinden, einer nach dem anderen. Wer die Geschichte nicht in das Narrativ des Empereurs einfügt, wird ausgeschlossen oder bedroht.

Tripier inszeniert diesen Konflikt als einen düsteren, fabelhaften Thriller, in dem archäologische Spuren zu unheimlichen Offenbarungen führen. Die poetische Sprache des Romans verstärkt die Ambivalenz zwischen Faszination und Schrecken, während die Erzählung eine subtile Kritik an autoritären Regimen und der politischen Manipulation von Geschichte übt. Besonders hervorzuheben ist die Ironie, mit der der Empereur sich mit den Morgonden identifiziert – bis hin zu grotesken Selbstinszenierungen –, nur um am Ende mit einer Vergangenheit konfrontiert zu werden, die er nicht kontrollieren kann. Conque ist somit nicht nur eine Reflexion über den Missbrauch von Mythen, sondern auch eine fesselnde Erzählung, die Historie, Macht und menschliche Hybris miteinander verwebt.

Derrière la zone 1, on avait monté un dôme solide, à l’abri du vent, du sable et de la pluie, où on avait commencé à déplacer les vestiges, pour qu’ils soient protégés et, surtout, analysés. On avait découvert, entre les côtes miraculeuses des baleines, des centaines de squelettes d’hommes. Couchés près d’une longue épée rouillée ou d’une lance en métal verdi, les guerriers morgondes dormaient là, au creux des baleines qu’ils avaient chassées, voyageant vers les entrailles de la mer où résidait leur infini. C’est ce qu’Elmund expliqua à Martabée en lui faisant visiter le laboratoire. Les squelettes s’alignaient, enroulés dans leur cape en lambeaux. « On en a laissé plein dans le sol », ajouta Elmund.

Martabée déambulait, presque fiévreuse. L’émotion la saisissait à bras-le-corps et elles roulaient toutes les deux dans une lutte acharnée. Elle se pencha comme une mère. Elle vit les cadavres enrubannés, emmitouflés dans la grosse laine. Des capes choisies par leurs proches pour tenir chaud dans l’au-delà. Elle regarda les pommettes, les bras où jadis saillait le muscle, luisait la sueur.

Ainsi tranquilles, ils avaient l’air d’anges casqués de fer. Les poses vénérables où ils se tenaient encore, sévères et décharnés, leur arme au flanc ; les orbites vides d’yeux qui avaient vu des créatures terrifiantes dans la houle ; tout sentait le héros, tout sentait le mythe incarné. Ces hommes parvenaient à traquer et à harponner des bêtes cent fois plus grosses qu’eux, à les traîner du fond de l’océan jusqu’à leur ville, à les vider, à s’en nourrir, à les aligner ensuite pour y coucher leurs vieux guerriers. On percevait une tendresse infinie d’homme à bête, un pacte étrange entre les Morgondes, géants terrestres et les baleines, géants marins. 

Perrine Tripier, Conque: roman, Gallimard, 2024.

Hinter Zone 1 war eine stabile Kuppel errichtet worden, die vor Wind, Sand und Regen geschützt war. Dort hatte man damit begonnen, die Überreste umzusiedeln, damit sie geschützt und vor allem analysiert werden konnten. Zwischen den wundersamen Rippen der Wale hatte man Hunderte von menschlichen Skeletten entdeckt. Die Morgonenkrieger lagen neben einem langen, rostigen Schwert oder einem Speer aus glühendem Metall und schliefen dort, in den Höhlen der Wale, die sie gejagt hatten, auf ihrer Reise in die Eingeweide des Meeres, wo ihre Unendlichkeit wohnte. Das erklärte Elmund Martabée, als er sie durch das Labor führte. Die Skelette standen in Reih und Glied, eingewickelt in ihre zerschlissenen Umhänge. „Wir haben viele von ihnen im Boden gelassen“, fügte Elmund hinzu.

Martabée lief fast fieberhaft herum. Die Emotionen packten sie am Schopf und sie rollten beide in einem erbitterten Kampf. Sie beugte sich wie eine Mutter vor. Sie sah die umwickelten Leichen, die in dicke Wolle gehüllt waren. Umhänge, die von ihren Angehörigen ausgewählt worden waren, um im Jenseits warm zu halten. Sie betrachtete die Wangenknochen und die Arme, wo einst die Muskeln hervorstanden und der Schweiß glänzte.

So ruhig wirkten sie wie Engel mit Eisenhelmen. Die ehrwürdigen Posen, in denen sie noch immer standen, streng und ausgemergelt, die Waffe an der Seite; die leeren Augenhöhlen, die in der Brandung furchterregende Kreaturen gesehen hatten; alles roch nach Held, alles roch nach dem verkörperten Mythos. Diese Männer schafften es, Tiere aufzuspüren und zu harpunieren, die hundertmal größer waren als sie selbst, sie vom Meeresgrund in ihre Stadt zu schleppen, sie auszunehmen, sich von ihnen zu ernähren und sie dann aufzureihen, um ihre alten Krieger darauf zu betten. Man spürte eine unendliche Zärtlichkeit von Mensch zu Tier, einen seltsamen Pakt zwischen den Morgonden, den Landriesen, und den Walen, den Meeresriesen.

Der Roman beginnt mit einer klassischen Exposition: Die Entdeckung der gigantischen, in Wale eingebetteten Skelette löst Faszination und Ehrfurcht aus. Die archäologische Erkundung und die diskursive Aneignung dieser Entdeckungen durch verschiedene Akteure bestimmt die Folgekapitel. Während Martabée anfangs um wissenschaftliche Objektivität bemüht ist, gerät sie nach und nach unter den Einfluss der Erwartungen des Imperators, der die Geschichte der Morgonden als Teil einer nationalen Identitätspolitik inszeniert. Auch formal wird dieser Prozess abgebildet, indem zwischen sachlich gehaltenen, scheinbar objektiven Berichten, persönlichen Reflexionen und narrativ durchbrochenen Sequenzen gewechselt wird, die zunehmend eine Unzuverlässigkeit der Darstellung suggerieren. Neben der Rahmenerzählung, die Martabées Erlebnisse beschreibt, gibt es direkte Einschübe ihrer Berichte, die mit fortschreitender Handlung stilistisch und inhaltlich transformiert werden. Die ersten Texte sind nüchtern und deskriptiv, doch unter dem Einfluss des Imperators verändert sich ihr Tonfall: Pathos und ideologische Elemente schleichen sich ein, während bestimmte Fakten übergangen oder umgedeutet werden. Dieser Wandel in der Sprache dient als erzählerisches Mittel, um die Einflussnahme auf historische Erzählungen sichtbar zu machen. Darüber hinaus wird durch Wiederholung und Variation sprachlicher Bilder eine instabile narrative Struktur geschaffen. Der Roman ist stark durch Dialoge und indirekte Kommunikationsformen strukturiert, die die Machtverhältnisse innerhalb der Geschichte sichtbar machen. Die zentrale Konstellation besteht aus diesen Hauptfiguren: die Protagonistin Martabée Gaeldish, eine Historikerin mit wissenschaftlichem Anspruch, die jedoch zunehmend in die politische Agenda des Empereur verstrickt wird. Ihre Rolle ist ambivalent: Sie ist sowohl Akteurin als auch Opfer des ideologischen Apparats. Der Herrscher, eine charismatische, manipulative Figur, die historische Narrative lenkt, um seine Herrschaft zu legitimieren. Seine Eingriffe in Martabées Arbeit erfolgen schrittweise, zunächst subtil, dann immer offener. Als überlebensgroße Figur mit fast märchenhaften Zügen verlangt der Empereur von seinen Wissenschaftlern, die Morgonden als Symbol für Stärke und Einheit zu präsentieren. Der Empereur kommuniziert zunächst indirekt mit Martabée durch Anmerkungen und Änderungswünsche an ihren Texten. Diese Form der Manipulation wird nicht durch offene Befehle, sondern durch subtile sprachliche Interventionen ausgeübt. Später erfolgt eine direkte Einflussnahme, indem er explizit verlangt, dass bestimmte Formulierungen eingebaut oder bestimmte Aspekte der Geschichte betont werden.

Der Text entfaltet sich als ein poetisch verdichtetes, zugleich historisch reflektierendes und narrativ experimentierendes Werk, das nicht nur die inhaltlichen Dimensionen seiner Themen auslotet, sondern diese auch auf formaler Ebene in Szene setzt. Die Romanstruktur erzeugt eine Dynamik zwischen dokumentarischer Strenge und einer zunehmend unzuverlässigen Wahrnehmung. Diese Ambivalenz spiegelt sich insbesondere in der Erzählerfigur wider, die zunächst als Beobachterin und Chronistin auftritt, sich aber schrittweise in die Mythenkonstruktionen des Empereurs verstrickt.

Erkenntnis oder Propaganda

Die Morgonden, die zunächst als ruhmreiche Krieger und edle Vorfahren stilisiert werden, entpuppen sich im Laufe der Ausgrabungen als weitaus düsterere Gestalten. Während der Empereur ihre Taten zur Grundlage eines heroischen Nationalmythos machen will, offenbaren spätere Funde eine brutale Realität: Die Morgonden waren nicht nur geschickte Jäger und Seefahrer, sondern auch Eroberer und Unterdrücker, deren Gesellschaft auf Gewalt, Sklaverei und möglicherweise rituellen Menschenopfern basierte. Besonders verstörend ist die Entdeckung eines riesigen steinernen Reliefs, das eine obszöne und entfremdende Darstellung männlicher Macht zeigt – ein Symbol für ein patriarchales System, das Frauen auf untergeordnete, rein funktionale Rollen reduzierte. Diese Enthüllungen bedrohen das sorgfältig konstruierte Narrativ des Kaisers, der die dunklen Seiten der Vergangenheit unterdrücken oder umdeuten muss, um die Morgonden als würdige Ahnen seines Reiches darzustellen. Die wahre Geschichte der Morgonden konterkariert damit die offizielle Propaganda und verweist auf die instrumentelle Nutzung von Geschichte durch politische Machthaber.

« Cette nécropole est une cuve, Votre Altesse, où étaient jetées des femmes qui, toute leur vie, avaient été séquestrées dans un sanctuaire sans lumière, nourries au fouet, violées chaque soir, accouchées battues, enfantées épuisées, déjà mères à peine filles. » Elle enfonça la lame. La harponna dans la chair. Elle articula : « Voilà nos héros. »

Elle resta haletante sur son siège. Le rouge lui tournait dans le crâne, par vagues de chaleur, par vagues de honte, mais non pas de honte, par vagues de juste colère, de juste indignation. Par vagues d’humanité. La respiration refluait enfin.

C’est alors que l’Empereur sourit et dit cette chose, cette chose encore plus ignoble que le déni :

« Très bien. Je suis d’accord avec vous. Ça saute aux yeux, c’est abominable. Les Morgondes étaient des bêtes et des bourreaux. Ma vraie question est, en parlerez-vous ? Ou aurez-vous le courage de le cacher, pour l’amour de votre nation ? Pour notre unité, pour notre gloire ? »

Le reste du repas fut à vomir. L’Empereur admettait qu’il condamnait les actes des Morgondes, mais qu’il était trop tard pour les désapprouver publiquement. Il parla de l’enthousiasme du peuple, de la renommée mondiale soudain assurée pour leur petit pays, puissant à nouveau des bras des ancêtres, guerriers et bâtisseurs de génie. Alors des brutes, oui, bien sûr, mais des brutes si savantes ! Fallait-il les réduire au rang de barbares, quand ils étaient par ailleurs si fins ? Il savait que si on publiait la vérité, si on disait que les Morgondes étaient responsables d’un génocide, c’est cela que le monde entier retiendrait. Pour quoi passerait-il, avec ses autoportraits en Morgonde, ses conques dorées, la liesse qui avait porté tout ce merveilleux projet ? Martabée devait voir plus loin que la vérité, elle devait penser au salut de l’Empire ! Préférait-elle que son pays soit célébré comme l’héritier d’un royaume génial, puissant, stratège, artiste ? Ou souhaitait-elle être vue comme la descendante d’ogres et d’assassins ? 

Perrine Tripier, Conque: roman, Gallimard, 2024.

„Diese Nekropole ist ein Bottich, Hoheit, in den Frauen geworfen wurden, die ihr ganzes Leben lang in einem lichtlosen Heiligtum gefangen gehalten wurden, mit Peitschen gefüttert, jeden Abend vergewaltigt, geschlagen zum Gebären, Kinder erschöpft geboren, schon Mütter, kaum dass sie Töchter waren.“ Sie stieß die Klinge hinein. Sie bohrte sich in das Fleisch. Sie artikulierte: „Das sind unsere Helden.“

Sie blieb keuchend auf ihrem Sitz sitzen. Das Rot schoss ihr durch den Kopf, in Wellen der Hitze, in Wellen der Scham, aber nicht der Scham, in Wellen des gerechten Zorns, der gerechten Empörung. In Wellen der Menschlichkeit. Endlich kehrte der Atem zurück.

Da lächelte der Kaiser und sagte diese eine Sache, diese eine Sache, die noch schändlicher war als die Leugnung:

„Sehr gut. Ich stimme Ihnen zu. Es springt einem förmlich ins Auge, es ist abscheulich. Die Morgonden waren Bestien und Henker. Meine eigentliche Frage ist, ob Sie darüber sprechen werden. Oder werden Sie den Mut haben, es zu verbergen, um der Liebe Ihrer Nation willen? Für unsere Einheit, für unseren Ruhm?“

Der Rest der Mahlzeit war zum Erbrechen. Der Empereur gab zu, dass er die Taten der Morgonden verurteilte, aber es sei zu spät, sie öffentlich zu missbilligen. Er sprach von der Begeisterung des Volkes, vom plötzlichen Weltruhm ihres kleinen Landes, das wieder mächtig war in den Armen der Vorfahren, der genialen Krieger und Baumeister. Also Unmenschen, ja, natürlich, aber so gelehrte Unmenschen! Musste man sie zu Barbaren degradieren, wenn sie ansonsten so fein waren? Er wusste, wenn man die Wahrheit veröffentlichte, wenn man sagte, dass die Morgonden für einen Völkermord verantwortlich waren, würde die ganze Welt sich daran erinnern. Was sollte er mit seinen Selbstporträts als Morgonde, seinen goldenen Muscheln und dem Jubel, der dieses ganze wunderbare Projekt getragen hatte, schon ausrichten? Martabée musste über die Wahrheit hinausblicken, sie musste an die Rettung des Reiches denken! Wollte sie lieber, dass ihr Land als Erbe eines genialen, mächtigen, strategischen und künstlerischen Königreichs gefeiert wurde? Oder wünschte sie sich, als Nachkomme von Ogern und Mördern gesehen zu werden? 

Doch inmitten der glorifizierenden Geschichtsschreibung taucht eine letzte Entdeckung auf, die die gesamte konstruierte Erzählung ins Wanken bringen könnte. Wissenschaft und Politik kollidieren, und Martabée muss sich fragen, wie weit sie sich kompromittieren kann, ohne sich selbst zu verraten. Parallel dazu gibt es eine unterschwellige Kommunikationsebene zwischen Martabée und den archäologischen Funden selbst. Ihre persönliche Wahrnehmung der Entdeckungen weicht zunehmend von der offiziellen Version ab. Hier zeigt sich ein erzählerisches Spannungsmoment: Während Martabée anfangs noch eine kritische Distanz wahren kann, verschwimmen für sie selbst zunehmend die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Rekonstruktion und mythologischer Konstruktion. Im Zentrum steht letztlich die Frage, inwiefern Geschichte jemals ohne ideologische Einflüsse erzählt werden kann. Tripier thematisiert dieses Problem nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf formaler Ebene: Die narrative Struktur des Romans spiegelt die Zersplitterung und Neuordnung historischer Erzählungen wider.

Durch die Figur Martabées wird die Problematik historischer Objektivität sichtbar gemacht. Ihre Texte beginnen als wissenschaftliche Chroniken und enden als ideologische Instrumente. Der Roman zeigt, dass es keine „reine“ Geschichtsschreibung gibt – jede Form von Narration ist von der Position des Erzählenden abhängig. Besonders brisant wird diese Reflexion vor dem Hintergrund aktueller politischer Debatten über Geschichtspolitik. Conque verweist auf reale Tendenzen zur Kontrolle historischer Erzählungen, sei es durch staatliche Narrative oder durch gesellschaftlichen Druck auf Geschichtswissenschaften.

Besonders erschreckend ist die Entdeckung eines monumentalen Bauwerks mit Reliefs, die grotesk überzeichnete männliche Figuren zeigen, deren riesige Waffen und überdimensionierte Gliedmaßen eine fast karikaturhafte Übertreibung von Macht und Männlichkeit darstellen. Die einzige Darstellung von Frauen zeigt sie in unterwürfigen Posen, instrumentalisiert als Objekte innerhalb eines hypermaskulinen Kriegerkults. Die Wahrheit der Morgonden erweist sich als schreckliche: Sie waren ein Volk, das sich durch Gewalt, soziale Kontrolle und kultische Rituale definierte. Sie nutzten Wale nicht nur als Jagdbeute, sondern auch als symbolische Schutzräume für ihre toten Krieger – ein Zeichen für eine Gesellschaft, die den Tod verherrlichte. Statt einer blühenden Kultur offenbart sich eine Tyrannei, die auf Unterwerfung und Angst basierte.

Ihre Geschichte wird zur symbolischen Leerstelle, die je nach Perspektive unterschiedlich gefüllt wird. Die Morgonden erfüllen eine doppelte Funktion: Sie sind nicht als handelnde Figuren präsent, sondern sind Projektionsfläche für politische Mythenbildung. Die Regierung des Empereurs nutzt sie, um nationale Identität zu konstruieren und eine Vergangenheit zu erschaffen, die seine Macht legitimiert. Sie sind ein Symbol für die Fragilität historischer Wahrheit. Der Roman zeigt, wie schwer es ist, eine objektive Geschichte zu bewahren, wenn sie mit politischen Interessen kollidiert. Durch die Geschichte der Morgonden stellt Conque eine zentrale Frage: Wie gehen Gesellschaften mit ihrer Vergangenheit um? Sind sie bereit, sich der Komplexität historischer Wahrheit zu stellen, oder ziehen sie es vor, sich an bequeme Mythen zu klammern? Die Morgonden sind somit nicht nur eine fiktive Zivilisation, sondern ein Spiegelbild der Mechanismen, mit denen Geschichte geschrieben – und umgeschrieben – wird.

Martabée steht vor einer Entscheidung: Sie kann die Wahrheit über die Morgonden enthüllen und sich damit selbst in Gefahr bringen – oder sie kann sich weiter anpassen und Teil der propagandistischen Erzählung bleiben. Ihr letzter Bericht wird zur Nagelprobe. Sie beginnt zu schreiben, aber der Leser erfährt nicht, welche Version der Geschichte sie letztendlich wählt. Die Frage bleibt offen, ob das wahre Bild der Morgonden in die Öffentlichkeit gelangt oder ob es unterdrückt bleibt.

Anmerkungen
  1. Carlotta Wald, „Geschockt, aber nicht hilflos; Donald Trump krempelt die amerikanischen Hochschulen um. Die wehren sich mit einer neuen Strategie“, Die Zeit, 6. Februar 2025, 33.>>>
  2. Ebd.>>>
  3. Ebd.>>>
  4. Verena Hölzl, „US-Gesundheitsinstitute kürzen Zuschüsse an Forschungseinrichtungen“, Die Zeit, 9. Februar 2025.>>>
  5. Ebd.>>>
  6. Christina Felschen, „Max-Planck-Gesellschaft wirbt um US-Spitzenforscher; Deutschland könnte von Trumps restriktiver Forschungspolitik profitieren“, Die Zeit, 8. Februar 2025.>>>
  7. Ebd.>>>
  8. Marina Klimchuk, „Die größten gemeinsamen Teiler: Die US-Regierung überzieht die Wissenschaft im Land mit tiefgreifenden Einschnitten“, die tageszeitung, 21. Februar 2025, 8.>>>
  9. Alexandra Kraft: „Trumps Krieg gegen die Wissenschaften gefährdet die ganze Welt“, Stern Plus, 19. Februar 2025.>>>

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