Inhalt
Mêmes cris, même sang, homme, animal.
Stéphanie Artarit, On ne mange pas les cannibales, Belfond, 2025.
Dieselben Schreie, dasselbe Blut, Mensch, Tier.
Bambi besucht täglich heimlich den Zoo, um der extremen Armut und dem Wahnsinn ihres Elternhauses zu entfliehen. Sie bevorzugt die Gesellschaft von Tieren gegenüber Menschen, mit Ausnahme ihrer beiden kleinen, geistig behinderten Brüder, Samuel und Valérien, die ihr ähnlich sind. Ihr älterer Bruder Martin ist gewalttätig und gefährlich. Im Zoo trifft sie auf Noël Rivière, den Besitzer, der von ihr berührt ist und ihr eine Anstellung anbietet. Bambi ist anfänglich misstrauisch und naiv, beeindruckt aber Rivière durch ihre natürliche Beobachtungsgabe für Tiere und ihre Rechenkünste, obwohl sie die Schule abgebrochen hat. Kurz nach Beginn ihrer Arbeit im Zoo bemerkt Bambi, dass ihre gelähmte Mutter und der Familienhund Carnage von Martin ermordet und im Garten vergraben wurden.
Der Roman On ne mange pas les cannibales (Belfond, 2025) von Stéphanie Artarit ist eine düstere Geschichte, die die Grenzen zwischen menschlicher Bestialität und tierischer Humanität verwischt und dabei existenzielle Fragen nach Trauma, Rache, Liebe und Identität aufwirft. Der Zoo ist mehr als nur ein Schauplatz; er ist ein symbolischer Raum, in dem die menschliche Gesellschaft mit ihren Hierarchien, ihrer Gewalt, ihrem Elend und ihren Versuchen der Kontrolle abgebildet wird. Die Tiere werden zu Projektionsflächen für menschliche Ängste und Wünsche, während die „zivilisierte“ Welt außerhalb oft wilder und unbarmherziger erscheint als die „Bestien“ im Käfig. Menschliche Verhaltensweisen (Rache, Besitzgier, Gewalt) werden als „bestialisch“ und tierische Reaktionen (Schutzinstinkt, Anpassungsfähigkeit, die „Philosophie“ eines Schimpansen) als „menschlich“ darstellt. Dies gipfelt in der Figur des „Kannibalen“ Martin, der die ultimative Grenzüberschreitung verkörpert, und Rivières endgültiger Aussage, dass man „keine Kannibalen isst“, was die Frage aufwirft, ob dies eine moralische Grenze ist oder eine Anerkennung der inhärenten, nicht verdaulichen Wildheit.
Artarit lässt auch die Perspektive tierischen Erzählens zu:
Celle qui vient souvent me voir, qui se plante là derrière les grillages et m’observe, je la reconnais. Elle pense que je ne la vois pas parce que je ne la regarde pas. Ma vision est mauvaise et je me tiens loin d’elle. Je la vois mal, c’est vrai, mais je la sens. Elle a l’odeur des proies. J’en sais beaucoup plus sur elle qu’elle ne l’imagine. Je détourne les yeux. Elle n’est pas une nourriture pour moi. Je n’ai jamais mangé cette espèce, mais je peux sentir que le goût de sa chair est inscrit dans mes gènes. Le gardien arrive. Je n’ai pas besoin de regarder de son côté, je reconnais son odeur à lui aussi. Je sais qu’elle s’éloigne et qu’il l’attrape par le bras. Maintenant leurs deux odeurs se mélangent, sa peur à elle et sa rage à lui. Quand les hommes sont apeurés ils ne s’enfuient pas. Quand ils sont enragés ils ne mordent pas. Leur sang est rouge mais tiède. Ce sont des bêtes différentes de nous et des autres bêtes.
Stéphanie Artarit, On ne mange pas les cannibales, Belfond, 2025.
Die, die mich oft besucht, die sich hinter dem Zaun aufstellt und mich beobachtet, die kenne ich. Sie glaubt, ich sehe sie nicht, weil ich sie nicht anschaue. Ich sehe schlecht und halte mich von ihr fern. Ich sehe sie zwar schlecht, aber ich spüre sie. Sie riecht nach Beute. Ich weiß viel mehr über sie, als sie ahnt. Ich wende meinen Blick ab. Sie ist keine Nahrung für mich. Ich habe diese Spezies noch nie gegessen, aber ich kann riechen, dass der Geschmack ihres Fleisches in meinen Genen verankert ist. Der Wärter kommt. Ich brauche nicht in seine Richtung zu schauen, ich erkenne auch seinen Geruch. Ich weiß, dass sie sich entfernt und er sie am Arm packt. Jetzt vermischen sich ihre beiden Gerüche, ihre Angst und seine Wut. Wenn Menschen Angst haben, laufen sie nicht weg. Wenn sie wütend sind, beißen sie nicht. Ihr Blut ist rot, aber lauwarm. Sie sind Tiere, die sich von uns und den übrigen Tieren unterscheiden.
Montaigne: Anthropomorphismus und Zooanthropie
Montaigne stellt im Eingangsmotto eine skeptische und gleichheitsorientierte Perspektive auf das Verhältnis zwischen Mensch und Tier dar, einen anthropologischen Relativismus, der die Privilegierung des Menschen infrage stellt. Der zentrale Gedanke ist: Was wir als Tierhaftigkeit (oder Mangel) bei Tieren ansehen – nämlich, dass sie unsere Sprache oder Vernunft nicht verstehen – könnte ebenso gut ein Mangel auf unserer Seite sein. Wir nehmen an, dass wir überlegen sind, weil wir sie nicht verstehen und sie uns nicht verstehen. Aber Montaigne kehrt diese Logik um: Vielleicht liegt der Mangel in uns. Daraus ergibt sich eine relativierende Umkehrung: So wie wir Tiere für „bête“ halten, könnten auch sie uns für „tierisch“ in diesem umfassenden Sinne halten. Montaignes Skeptizismus zielt darauf, dass der Mensch sich seiner eigenen Grenzen bewusst wird und dass der dem Tier auf Augenhöhe begegnet.
Umgekehrt gilt mit der Tierärztin Sandrine im Buch aber auch:
— Y a pas de petits singes, ma bichette ! Le terme même de « singe » ne veut pas dire grand-chose. Il y a des espèces différentes de primates. […] Et comme tu n’as pas de poils et que ta peau est fine comme celle d’un bébé, tu risques d’être méchamment amochée ! Ça fait vingt ans que je travaille ici. Crois-moi, des accidents qui ont coûté des doigts et des morceaux de mollet, j’en ai vu ! […] ne perds pas de vue que les félins ne sont pas des gros chats, que les ours et les singes ne sont pas des peluches. Ils ont des crocs et des griffes et aiment les utiliser. C’est dans leur nature. Même une autruche peut te tuer d’un simple coup de patte.
Stéphanie Artarit, On ne mange pas les cannibales, Belfond, 2025.
„Es gibt keine kleinen Affen, mein Schatz! Der Begriff „Affe” an sich hat keine große Bedeutung. Es gibt verschiedene Arten von Primaten. […] Und da du keine Haare hast und deine Haut so dünn ist wie die eines Babys, könntest du dich schwer verletzen! Ich arbeite seit zwanzig Jahren hier. Glaub mir, ich habe schon Unfälle gesehen, bei denen Finger und Teile der Waden abgetrennt wurden! […] Vergiss nicht, dass Raubkatzen keine großen Katzen sind und dass Bären und Affen keine Kuscheltiere sind. Sie haben Zähne und Krallen und benutzen sie gerne. Das liegt in ihrer Natur. Selbst ein Strauß kann dich mit einem einzigen Tritt töten.“
Zootiere werden oft von Menschen romantisiert oder vermenschlicht. Sandrine betont, dass diese Tiere trotz ihrer Gefangenschaft wild bleiben und ihre natürlichen Instinkte, wie das Benutzen von Klauen und Zähnen, beibehalten. Die Warnung vor der Illusion der „Plüschtiere“ ist eine Kritik an der menschlichen Naivität und dem falschen Verständnis von Tierliebe, die die inhärente Wildheit und potenzielle Grausamkeit der Tiere ignoriert. Diese Passage dient u.a. dazu, die Gefahren im Zoo zu etablieren, was später im Roman relevant wird, wenn Menschen von Tieren angegriffen werden oder wenn sie diese instrumentalisieren.
Die Protagonistin Bambi empfindet eine besondere Verbindung zu den Tieren. Sie sieht in Adam, dem Schimpansen, eine Art „Menschlichkeit“ und „Mitgefühl“. Ihr früheres Interesse an Tieren und ihr Wunsch, sie zu streicheln, zeigen eine grundlegende Zärtlichkeit gegenüber der Natur. Der Roman erzählt neben bestialischen Anteilen des Menschen, seiner Gewalt und Verzweiflung, auch bemerkenswert empathische und zärtliche Seiten. Diese Aspekte beleuchten die menschliche Fähigkeit zur Fürsorge, Liebe und Verbindung, selbst unter extremen Umständen. Dies zeigt sich besonders an der ambivalenten Figur des Noël Rivière, der von Anfang an von Bambi berührt ist und sich entscheidet, sie zu schützen und ihr eine Anstellung in seinem Zoo zu geben, um ihr eine Flucht vor der häuslichen Gewalt ihres Bruders Martin zu ermöglichen. Er spricht sanft mit ihr und bietet ihr eine Perspektive für die Zukunft. Noël nimmt Bambis beide geistig behinderte Brüder, Sam und Valérien, bei sich auf und bietet ihnen ein „günstiges Umfeld für ihre Erziehung“. Er sorgt dafür, dass sie ernährt und gepflegt werden. Dies zeigt seine immense Großzügigkeit und Verantwortung. Obwohl er nicht der leibliche Vater ist, adoptiert Noël Féline und wird ihr liebevoller und beschützender Vater. Er lernt, sich um ein Baby zu kümmern, findet dabei eine neue Menschlichkeit, und seine Liebe zu Féline wird zu einem zentralen Motiv, das ihn antreibt und ihn vor dem vollständigen Absturz in die Rache bewahrt. Noël und Bambi entwickeln eine tiefe Liebe und heiraten. Er ist „voller Liebe“ für sie. Ihre gemeinsamen Momente sind von Zärtlichkeit geprägt, und er versucht, sie durch kleine Aufmerksamkeiten wie klassische Musik und das Erzählen von Geschichten über die Zootiere zu erfreuen. Er lässt sich von ihr „verschlingen“, was hier eine Metapher für tiefe Hingabe und Vertrauen ist. Er gibt ihr sogar seinen Nachnamen an, was eine vollständige Annahme ihrer Person und Vergangenheit darstellt. Die zärtlichen und empathischen Elemente erforschen ihrerseits die Tiefe und Komplexität der menschlichen Natur und bieten einen Kontrast zu den dunkelsten Aspekten des Romans. Sie zeigen, dass selbst in einer Welt voller Gewalt und Trauma die Fähigkeit zur Liebe, Fürsorge und Verbindung fortbestehen kann.
Der Zoo dient Artarit nicht nur als Kulisse, sondern als zentrales Motiv und Spiegel der menschlichen Seele. Hier verschwimmen die Kategorien: Menschen verhalten sich wie Bestien, während Tiere unerwartete Züge von Empathie oder Logik zeigen. Die Sprache ist oft direkt, manchmal brutal, durchsetzt mit einer lyrischen Qualität, die in Momenten der Ruhe oder der Reflexion aufscheint. Sensorische Eindrücke – Gerüche, Geräusche, Farben – sind intensiv und tragen zur Atmosphäre bei. Musik, insbesondere klassische Musik, dient Noël Rivière als Rückzugsort und Ausdruck ungesagter Gefühle, ein Kontrast zur grausamen Realität.
Die Erzählweise ist nicht streng chronologisch, sondern springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen den Perspektiven der Hauptfiguren hin und her. Martins innere Monologe, die oft als „tierische“ Gedanken formuliert sind, bieten einen verstörenden Einblick in seine Psyche. Im Roman spielt die Farbe Rot und das Motiv des Blutes eine zentrale, oft beunruhigende Rolle. Sie sind tief mit den Themen Trauma, Gewalt, familiärer Verderbnis und der gestörten Wahrnehmung der Charaktere verbunden. Weitere wiederkehrende Motive wie das Motiv der Umzäunung und Gefangenschaft sowie die Idee der „parfümierten Panther“ (ein Symbol für tödliche Anziehung und Verführung) durchziehen den Text und verleihen ihm eine dichte symbolische Aufladung. Während die Figuren oft an der direkten Kommunikation scheitern, finden sie Ausdruck und Katharsis in der Musik (Rivière) und in Büchern (Martin). Martins Entwicklung im Käfig durch die Lektüre ist ein zentraler Aspekt der Poetik, der zeigt, wie Literatur auch in extremster Isolation zu einer Form der Menschwerdung führen kann, auch wenn dies seine grundlegende Natur nicht vollständig ändert. Rivières Freispruch, der auf einem impliziten Komplott und Bärens Lügen beruht, sowie sein Umzug nach Afrika, symbolisieren einen Versuch, dem Zyklus der Gewalt zu entkommen. Die letzte Frage Félines und Rivières Antwort lassen den Leser mit der unbeantworteten Frage zurück, ob wahre Erlösung möglich ist oder ob die „Kannibalennatur“ des Menschen unausweichlich ist.
Bestie Mensch bei Zola und Artarit
Artarits Poetik zeichnet sich durch eine rohe, ungeschönte Darstellung von Gewalt und Elend aus, die an Emile Zola erinnert, aber um eine psychologische und symbolische Ebene erweitert wird. Sowohl Émile Zolas La Bête humaine als auch Stéphanie Artarits On ne mange pas les cannibales erforschen das Verhältnis zwischen dem Bestialischen und dem Menschlichen, obwohl sie dies aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Schwerpunkten tun. Émile Zolas Roman La Bête humaine (Bestie Mensch), der 1890 veröffentlicht wurde, diskutiert die Themen der Vererbung, des Determinismus und der animalischen Triebe, die das menschliche Verhalten, insbesondere Kriminalität, bestimmen. Die Handlung dreht sich um Jacques Lantier, einen Lokomotivführer, der von einem ererbten mörderischen Instinkt geplagt wird, den er selbst nicht versteht und gegen den er sich nicht wehren kann. Der Roman, angesiedelt in der Welt der Eisenbahn, verfolgt Jacques‘ Obsession und die verschiedenen Verbrechen, die im Umfeld der Bahnlinie zwischen Paris und Le Havre stattfinden. Zola zielte darauf ab, etwas „Halluzinierendes, Entsetzliches“ zu schaffen, das physiologisch in einem seiner Charaktere begründet ist. Der Roman zeigt, wie die menschliche „Bestie“ auch unter der Oberfläche der Zivilisation lauert und jederzeit ausbrechen kann. Die Eisenbahn selbst wird zu einer Metapher für den unaufhaltsamen Fortschritt, der im krassen Gegensatz zur archaischen, gewalttätigen Natur des Menschen steht.
Stéphanie Artarits On ne mange pas les cannibales dagegen ist ein zeitgenössischer Roman, der in einem Zoo spielt und die Grenzen zwischen Mensch und Tier, Beute und Raubtier auf eine erschütternde und grausame Weise verwischt. Die Geschichte folgt Bambi, einem zerzausten Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, das Zuflucht und Trost im Zoo findet, indem sie sich unter die Tiere mischt. Dort trifft sie auf Noël Rivière, den Besitzer des Zoos, der sie unter seine Fittiche nimmt und später heiratet. Ein zentrales Element der Erzählung ist Bambis brutaler älterer Bruder Martin, ein „Mensch der schlimmsten Sorte, der tötet, wie er atmet, und vergewaltigt, weil ihm alles gehört“. Die Tiere im Zoo werden als empfindungsfähige Wesen dargestellt, die die menschliche Bedrohung riechen können. Der Roman wird als eine „Parabel von Verrückten“ gelesen, eine „Geschichte der Liebe und wilden Bestien, in der die Moral fließend ist“. Er hinterfragt die Vorstellung, dass Menschen den Tieren überlegen sind, und zeigt oft, dass Tiere mehr „Menschlichkeit“ oder Verständnis besitzen als einige ihrer menschlichen Gegenstücke.
Beide Romane verwenden animalische Metaphern, um menschliches Verhalten zu beschreiben und die Präsenz primitiver Instinkte im Menschen zu betonen. In La Bête humaine wird Jacques Lantier immer wieder mit einem „wütenden Tier“ verglichen, das „von weit her kommt, gebrannt vom ererbten Durst nach Mord“. Zola betont, dass das Töten für Jacques nicht auf rationaler Überlegung, sondern auf physiologischem Zwang beruht, einem „erblichen Schub“ oder der Rückkehr eines „mörderischen Vorfahren“. Diese Idee des „geborenen Kriminellen“ ist direkt von der damaligen Kriminalanthropologie Cesare Lombrosos beeinflusst, die Kriminalität als eine Rückkehr zum tierischen oder wilden Zustand betrachtete. Die Lokomotive „Lison“ selbst wird als ein „riesiger, zerquetschter Koloss“ beschrieben, dessen Zerstörung den „entsetzlichen Kummer eines menschlichen Kadavers“ annimmt, was die animalische und organische Natur der Maschine und ihre Verbindung zum rohen Leben betont.
Artarit hingegen spielt mit der physischen und metaphorischen Nähe von Mensch und Tier in der Zooumgebung. Bambi selbst fühlt sich den Tieren oft näher als den Menschen. Martin, der Antagonist, verkörpert das Bestialische durch seine rücksichtslose Gewalt und sexuelle Gier, die als angeboren und als tierisch beschrieben wird. Der Geruch von Martins Körper wird von den Tieren als der eines „parfümierten Panthers“ wahrgenommen, der hypnotisiert und tödlich anzieht. Der Zoo wird zu einem Ort, an dem die Menschen die Tiere „in Käfigen und unterwürfig“ halten, während sie selbst „Bestien“ sind, die sich „anders“ verhalten. Tiere wie Adam der Schimpanse werden mit menschlichen Eigenschaften wie dem weißen Augenlicht oder der Fähigkeit zu denken und zu fühlen ausgestattet, während gleichzeitig ihre tierische Natur (z.B. Zähne und Kraft) hervorgehoben wird. Artarit integriert auch wissenschaftliche Konzepte wie die Toxoplasmose, die das Verhalten von Menschen beeinflussen könnte, was eine biologische Komponente hinzufügt, die an Zolas naturalistische Ansätze erinnert, aber mit einem anderen Fokus.
In La Bête humaine wird das Menschliche als anfällig für die überwältigenden Kräfte der Physiologie und Vererbung dargestellt. Jacques‘ Versuche, seine mörderischen Impulse rational zu erklären oder zu widerstehen, scheitern kläglich, da der „zivilisierte Mensch“ in ihm gegen den „instinktiven Trieb“ kämpft, aber diesem unterliegt. Der Roman zeigt die Justiz als unfähig, die tiefere, „tierische“ Wahrheit hinter den Verbrechen zu erkennen, da sie sich an oberflächliche Beweise und Logik klammert. Zola stellt dar, dass die menschliche Natur auch im Zeitalter des Fortschritts von diesen ursprünglichen, „unveränderlichen“ Kräften beherrscht wird.
Beide Romane greifen auf die Idee der genetischen Degeneration zurück, um die Charaktere und ihre Handlungen zu erklären – Zola durch die literarische Umsetzung naturalistischer und kriminologisch-anthropologischer Theorien der Vererbung, und der Artarits Roman durch die explizite Darstellung der Folgen von Inzest und Blutsverwandtschaft. Die Idee der Vererbung („hérédité“) und eines „erblichen Defekts“ („fêlure héréditaire“) ist ein zentrales Thema und Fundament der gesamten Rougon-Macquart-Reihe, zu der La Bête humaine gehört. Zola wollte den Mord als eine „Fatalität“ erklären, die durch eine „erbliche Triebkraft“ („poussée héréditaire“) und das „Zurückkehren des mörderischen Urahns“ („retour en soi de l’aïeul assassin“) bedingt ist. Jacques Lantier, der Protagonist, wird als „Mörder durch Atavismus“ („meurtrier par atavisme“) beschrieben, der für die Sünden seiner Vorfahren bezahlt. Es wird explizit erwähnt, dass er „für die anderen bezahlte, die Väter, die Großväter, die getrunken hatten, die Generationen von Säufern, deren verdorbenes Blut er war, eine langsame Vergiftung, eine Wildheit, die ihn mit den menschenfressenden Wölfen in den Tiefen der Wälder zurückführte“. Das Konzept des Atavismus – die Rückkehr zu einem primitiven, tierischen oder „wilden“ Zustand – ist prominent. Cesare Lombroso (L’Homme criminel) sah im Kriminellen den „wilden Menschen und gleichzeitig den kranken Menschen“ und beschrieb Verbrechen als „physiologisch, atavistisch“ begründet durch „tierische Instinkte“, die unter bestimmten Umständen wieder aufleben können. Der Roman La Bête humaine spiegelt Zolas Imagination des Niedergangs, der Entropie als Rückkehr zum ursprünglichen Chaos wider, was eine allgemeine Idee der Degeneration und des Verfalls der Energie im Zuge der Entfaltung des Begehrens impliziert.
Beide Romane erkunden die Untrennbarkeit des Tierischen vom Menschlichen. Zola tut dies durch einen deterministischen, naturalistischen Ansatz, der die menschliche Kriminalität als das Ergebnis ererbter physiologischer Triebe darstellt, die unter der zivilisierten Oberfläche lauern. Die Bahnlinie dient als Symbol für einen oberflächlichen Fortschritt, der diese tieferen, dunklen Kräfte nicht überwinden kann. Artarit hingegen nutzt das Setting des Zoos, um die Grenzen zwischen den Spezies auf eine intimere und oft ironische Weise zu verwischen. Sie stellt die Frage nach der „Bestie“ nicht nur als ererbten Trieb, sondern auch als Ergebnis von sozialen Umständen und bewusster Grausamkeit. Während Zolas Charaktere von ihrer „Bestie“ überwältigt werden, zeigt Artarit eine komplexe Interaktion, in der Tiere oft eine größere Authentizität oder sogar „Menschlichkeit“ aufweisen als die Menschen, die sie beobachten oder terrorisieren. Bei Artarit ist das Tierische nicht nur eine innere, überkommene Kraft, sondern auch eine Spiegelung und ein Kommentar zur menschlichen Gesellschaft und ihren moralischen Abgründen.
Neben Montaignes Essais und Zolas deterministischem Naturalismus folgen weitere intertextuellen Bezüge. Martin Rapaz verkörpert die menschliche Bestialität auf drastische Weise. Er wird von Noël Rivière als „canaille de la pire espèce“ (Gesindel der schlimmsten Art) bezeichnet. Seine abgehackten Finger erinnern Rivière an Shylock aus Shakespeares Der Kaufmann von Venedig, was Martin sofort mit Gier und einer Forderung nach „einem Pfund Fleisch“ (une livre de chair) assoziiert. Martins „süßlich-verwesende“ (suave et putride) Geruchsbeschreibung findet eine wissenschaftliche Erklärung in der Toxoplasmose-Theorie des Ethologen Henri, die besagt, dass der Parasit Beutetiere gegenüber ihren Raubtieren „charmant“ und aggressiver macht. Dies verleiht Martins Bestialität eine biologische, fast unvermeidliche Dimension. Die Frage des Animalischen im Menschen wird mit der Bibel als Frage formuliert, mit Kohelet (Ecclésiaste, 3:21), nach der Einheitsübersetzung: „Wer weiß, ob der Lebensgeist des Menschen nach oben steigt und der Lebensgeist des Tieres zur Erde hinunterfährt?“ Frans de Waal und sein Buch Der Primat in uns (Le Singe en nous) werden zitiert: „Man kann den Affen aus dem Dschungel holen, aber nicht den Dschungel aus dem Affen“. Marguerite Yourcenar und ihr Werk Souvenirs pieux werden mit dem Zitat „Das Tier besitzt nichts, außer sein Leben, das wir ihm so oft nehmen“ erwähnt. Adam, der Schimpanse, dient als komplexes Spiegelbild. Ein Motto von Boris Cyrulnik („Le jour où l’on comprendra qu’une pensée sans langage existe chez les animaux, nous mourrons de honte de les avoir enfermés dans des zoos et de les avoir humiliés par nos rires.“) stellt die Frage nach dem Denken der Tiere und der menschlichen Arroganz. Die intertextuellen Verweise im Buch sind integraler Bestandteil der Erkundung des Themas „Bestie Mensch“.
Grenzen der Menschlichkeit
Alle Hauptfiguren des Romans sind von Traumata geprägt – Bambis missbräuchliche Kindheit, Rivières verlassene Jugend, Martins psychotische Entwicklung. Der Text zeigt, wie diese frühen Verletzungen nicht nur das Leben der Individuen bestimmen, sondern auch die Dynamik ihrer Beziehungen prägen und die Handlungen über Generationen hinweg beeinflussen (z.B. Martins Inzest als Wiederholung eines Musters). Rivières langes Quälen Martins ist das moralische Zentrum des Romans. Der Roman hinterfragt, ob Rache tatsächlich Erlösung bringt oder den Rächer in die gleiche „bestialische“ Kategorie wie sein Opfer drängt. Die Komplexität liegt darin, dass Rivières Rache auch als Schutz für seine Familie dient, was die moralische Bewertung erschwert.
Im Roman On ne mange pas les cannibales werden die Behinderungen der Brüder von Martin und Bambi, Samuel und Valérien, direkt mit Inzest und Blutsverwandtschaft („consanguinité“) in der Familie Rapaz in Verbindung gebracht. Sie werden als „behindert“, „Mongolen“ oder „attardés mentaux“ (geistig zurückgeblieben) beschrieben. Die Diagnose lautet „angeborene mentale Retardierung“ („arriération mentale congénitale“), wobei Valériens Zustand schwerer ist als Sams. Die Zwillinge wurden um 1970 geboren, zu einer Zeit, als der angebliche Vater, Roger Rapaz, bereits etwa zehn Jahre tot war. Ihr Bruder Martin Rapaz, der einzige andere Mann, der zu dieser Zeit bei seiner Mutter war, äußert selbst den Verdacht, dass die Zwillinge seine Kinder sein könnten: „Es ist sehr gut möglich, dass sie meine sind“. Das Auffinden zweier weiterer Säuglinge mit „angeborenen Missbildungen“ („malformations congénitales“) als Leichen im Garten untermauert die Hypothese von über Generationen hinweg praktiziertem Inzest und dessen Folgen. Ein Ethologe spricht von „sehr starker Blutsverwandtschaft“ („très forte consanguinité“) bei Spinnenarten, die zu deren Rückgang führen kann, eine Beobachtung, die Rivière auf Rapaz und dessen Familie anwendet, um die Ursache der Degeneration zu verstehen.
Il prit un billet d’entrée et se faufila dans la foule du zoo.
La canicule, au lieu de l’engourdir, faisait bouillir son sang. Un temps idéal pour la chasse. Les sens en état d’alerte, il ne voyait plus rien d’autre que ce qu’il cherchait. Son corps exhalait un parfum que les animaux reconnaissaient, et ils s’agitèrent sur son passage.
À présent, les fauves, ayant repéré un des leurs, se frottaient contre les grillages comme de gros chats en mal de flatteries. Le public appréciait ces démonstrations soudaines et la proximité rare qu’offrait la panthère lorsqu’elle descendait de sa branche. Celle-ci se pourléchait de sa langue rose et râpeuse en fixant un point qui déjà se soustrayait à sa vue. Les herbivores se cabraient. Un cervidé leva la tête de sa pâture, inquiet. Se rappelant l’état sauvage du monde auquel il avait appartenu, il s’écarta vivement de la clôture. Martin ne regardait aucun d’eux. Le règne animal ne l’intéressait pas. Pour lui, ils n’étaient que vermine. Mais les hommes aussi.
Il longea les allées, guidé par son instinct, stoppa net quand il la vit. Bambi était assise sur l’herbe, belle comme un pré de houblon chauffé au soleil. Les pupilles de Martin se dilatèrent et il but la lumière de sa sœur tandis que son sexe s’embrasait de flammes dorées. À ses côtés, un petit corps d’enfant s’agitait mollement. Sa fille était comme eux, leurs visages s’emmêlaient dans son esprit malade. Il était elles. Elles étaient à lui. Bambi était en train de souffler sur quelque chose qu’il ne pouvait pas distinguer d’aussi loin. Elle l’avait repéré, elle aussi, il le sentait. Elle s’était soudain tassée mais ses yeux le cherchaient. Il fit volte-face. Un groupe de visiteurs passa derrière lui et il se fondit dans leur masse pour contourner le terre-plein. Il se rapprochait d’elle. Il était dans son dos, maintenant à quelques mètres. À l’affût derrière un gros arbre, il la guettait. Elle sortit quelque chose de son sac et plaça des écouteurs sur ses oreilles. La voilà absente au monde. Et il pouvait la rejoindre tranquillement. L’enfant dormait. Il sentait son couteau palpiter. En cet instant, il n’était pas encore certain de vouloir la tuer. Il voulait la prendre, la soustraire à elle-même, l’ajouter à lui, se l’accaparer, sans savoir très bien comment.
Stéphanie Artarit, On ne mange pas les cannibales, Belfond, 2025.
Er kaufte eine Eintrittskarte und schob sich in die Menschenmenge im Zoo.
Die Hitze machte ihn nicht träge, sondern brachte sein Blut zum Kochen. Ein ideales Wetter für die Jagd. Seine Sinne waren in Alarmbereitschaft, er sah nichts anderes mehr als das, was er suchte. Sein Körper verströmte einen Duft, den die Tiere erkannten, und sie wurden unruhig, als er an ihnen vorbeiging.
Nun hatten die Raubtiere einen der ihren entdeckt und rieben sich wie große Katzen, die nach Streicheleinheiten verlangen, an den Zäunen. Das Publikum genoss diese plötzlichen Darbietungen und die seltene Nähe, die der Panther bot, als er von seinem Ast herunterkam. Er leckte sich mit seiner rosa, rauen Zunge die Lippen und starrte auf einen Punkt, der sich bereits seiner Sicht entzog. Die Pflanzenfresser bäumten sich auf. Ein Reh hob besorgt den Kopf von seiner Weide. Es erinnerte sich an die Wildnis, zu der es einst gehört hatte, und sprang schnell vom Zaun weg. Martin schaute keines von ihnen an. Das Tierreich interessierte ihn nicht. Für ihn waren sie nur Ungeziefer. Aber die Menschen auch.
Er ging instinktiv die Alleen entlang und blieb abrupt stehen, als er sie sah. Bambi saß im Gras, schön wie eine sonnengewärmte Hopfenwiese. Martins Pupillen weiteten sich und er trank das Licht seiner Schwester, während sein Geschlecht in goldenen Flammen aufloderte. Neben ihr zappelte ein kleiner Kinderkörper schlaff. Seine Tochter war wie sie, ihre Gesichter vermischten sich in seinem kranken Geist. Er war sie. Sie gehörten zu ihm. Bambi blies auf etwas, das er aus der Entfernung nicht erkennen konnte. Sie hatte ihn auch entdeckt, das spürte er. Sie hatte sich plötzlich hingesetzt, aber ihre Augen suchten ihn. Er drehte sich um. Eine Gruppe von Besuchern kam hinter ihm vorbei und er verschmolz mit ihnen, um den Platz zu umgehen. Er näherte sich ihr. Er war hinter ihr, nur noch wenige Meter entfernt. Er lauerte hinter einem großen Baum und beobachtete sie. Sie holte etwas aus ihrer Tasche und setzte Kopfhörer auf. Jetzt war sie für die Welt nicht mehr da. Und er konnte sich ungestört zu ihr gesellen. Das Kind schlief. Er spürte, wie sein Messer pochte. In diesem Moment war er sich noch nicht sicher, ob er sie töten wollte. Er wollte sie nehmen, sie sich selbst entreißen, sie zu sich nehmen, sie an sich binden, ohne genau zu wissen, wie.
Martin wird hier von den Tieren im Zoo als „einer der ihren“ erkannt, als Raubtier. Sein Körper verströmt einen „Duft der parfümierten Panther“, der die großen Katzen anzieht und gleichzeitig die „Pflanzenfresser“ verängstigt. Die Tiere reagieren instinktiv auf ihn als einen Artgenossen, einen gefährlichen Jäger. Martin hingegen verachtet sowohl die Tiere („vermine“) als auch die Menschen. Solche Stellen zeigen, wie tief die Bestialität in Martin verwurzelt ist – er ist nicht nur grausam wie ein Tier, sondern wird von Tieren als die gefährlichste Form des Raubtiers wahrgenommen. Seine Ablehnung sowohl der Tier- als auch der Menschenwelt unterstreicht seine isolierte, amoralische Position als ultimatives „Monster“, das über die normalen Kategorien von „Mensch“ und „Tier“ hinausgeht.
Gerüche sind im Roman selten neutral; sie sind oft Indikatoren für Gefahr, Verderbnis oder tiefe, unbewusste Verbindungen. Noël Rivière, der Direktor des Zoos, nimmt Martins Duft später als „une odeur suave et putride à la fois, comme des fruits talés par le soleil“ wahr, eine Mischung aus Anziehung und Verwesung. Tiere haben die Fähigkeit, Menschen auf einer primären Ebene zu „lesen“. Der Erzähler am Anfang des Buches kann Bambis „odeur des proies“ und die Angst in ihr riechen, ebenso wie Noëls „rage“. Der neue Wolf im Zoo spürt in Rivière „l’odeur de l’inquiétude“, was darauf hindeutet, dass menschliche Emotionen für Tiere olfaktorisch wahrnehmbar sind und ihre Machtdynamik beeinflussen. Dies stellt eine Umkehrung der menschlichen Arroganz dar, die glaubt, die Tierwelt nur durch Beobachtung verstehen zu können. Gerüche sind für Bambi und andere Charaktere stark mit traumatischen Erinnerungen verbunden. Bambis lebenslange Abneigung gegen die Farbe Rot und das Wort „Blut“ ist direkt auf den Geruch und Anblick des Blutes ihres Vaters zurückzuführen: „Die Leiche zermalmte die Früchte, die rote Spuren auf den Fliesen hinterließen. Das war sicherlich der Grund, warum sie seitdem weder den Anblick von Blut noch das Wort ertragen konnte.“ („La dépouille écrasait les fruits qui laissaient une traînée rouge sur les dalles. C’était sûrement pour ça que, depuis, elle ne supportait ni de voir la couleur du sang ni d’entendre le mot.“) Das „rouge sombre et malodorant“ der Bettwäsche ihrer kranken Mutter, der an Blut erinnerte, verstärkte ihr Trauma. Auch Martins „odeur sucrée“ in seinen Briefen löst bei Bambi einen „tourbillon de dégoût“ aus, da er ihre dunkle, missbräuchliche Vergangenheit verkörpert. Gerüche werden zu sensorischen Auslösern für tief sitzende psychische Wunden.
Martin verkörpert die dunkelste Form menschlicher Animalität. Sein „nackter Oberkörper eines jungen Raubtiers, geschmeidig und muskulös“ („torse nu de jeune fauve, souple et musclé“) unterstreicht seine raubtierhafte Natur. Seine Gewaltakte, insbesondere die Morde an Bambi und Sandrine, werden als Ausdruck eines ungestillten, primitiven Verlangens dargestellt. Der Titel des Romans On ne mange pas les cannibales legt nahe, dass Martin und möglicherweise andere Charaktere (oder die Menschheit im Allgemeinen) im übertragenen Sinne „Kannibalen“ sind, die ihre eigenen Artgenossen zerstören und verschlingen. Martins Genuss an der Angst Bambis und seine Vorstellung, ihre Schönheit zu verschlingen („avoir accaparé la beauté d’un oiseau de paradis“), ist eine Form des emotionalen und psychologischen Kannibalismus.
Animalische Metaphern dienen dazu, die tiefsten Instinkte, Traumata und Überlebensstrategien der Charaktere zu beleuchten und eine Welt zu schaffen, in der die Bestialität oft im Menschen selbst liegt. Martin ist die zentrale Figur der menschlichen Animalität und Verkörperung des Monsters im Roman. Er wird als „unberechenbares und grausames Monster, das auf seinen Moment wartet, um loszuspringen und alles zu verwüsten“ („monstre imprévisible et cruel qui attend son heure pour bondir et tout saccager“) beschrieben. Seine Grausamkeit und seine manipulative Art werden oft mit Raubtieren assoziiert. Seine Zähne werden mit den „maxillaires de caïman“ verglichen, was seine unbarmherzige Natur hervorhebt. Er identifiziert sich selbst mit Raubtieren: „Ausdauer ist nicht die Stärke von Raubtieren. Gazellen sind da besser dran. Aber am Ende fressen die Panther sie trotzdem.“ („L’endurance n’est pas le point fort des fauves. Les gazelles s’en sortent mieux. Mais les panthères finissent quand même par les dévorer“.) Martins Obsession für Féline, seine Tochter mit der eigenen Schwester, wird als Verlangen beschrieben, ein „junges Insekt mit noch weichem Panzer“ („jeune insecte à la carapace encore tendre“) zu verschlingen. Letztendlich sieht Adam Martin als „humanimal“, als Mischung aus Mensch und Tier, dessen Blut einen einzigartigen Geschmack hat und dessen Taten das Schlimmste beider Welten vereinen.
Bambi wird von Beginn an als verletzlich und gejagt dargestellt. Ihr Name selbst, der an ein Reh erinnert, ist ironisch angesichts der Gewalt, der sie ausgesetzt ist. Bambi findet Trost bei den Tieren im Zoo und fühlt sich ihnen näher als den Menschen. Sie identifiziert sich mit den Schmerzensschreien der Tiere: „Sie heulte mit den Wölfen, brüllte mit den Hirschen, zwitscherte mit den Vögeln, schrie mit den Elefanten. Alles brüllte immer weiter, der Schmerz zerriss sie und die Angst brachte sie um. Gleiche Schreie, gleiches Blut, Mensch, Tier.“ („Elle hurlait avec les loups, bramait avec les cerfs, piaillait avec les oiseaux, barrissait avec les éléphants. Tout grognait encore et encore, la douleur la déchirait et l’effroi la tuait. Mêmes cris, même sang, homme, animal.“) Diese universelle Erfahrung von Leid löscht die Grenzen zwischen Spezies aus. Ihre Sehnsucht danach, „diese immense Klage mit ihren Leuten“ zu erheben, zeigt ihre tiefe Verbindung zu den Tieren als Ausdruck ihres eigenen Schmerzes und ihrer Isolation.
Die geistig behinderten Zwillingsbrüder werden von Martin herablassend mit Affen verglichen, doch im Laufe des Romans erhalten diese Vergleiche komplexere, für ihn quälende Bedeutungen. Martin nennt sie verächtlich „deux Babouins“ und „Ouistitis“ und fordert sie auf, „Faites les singes, un peu, pour voir !“. Er spiegelt so die gesellschaftliche Abwertung von Menschen mit Behinderungen wider, die oft als „bêtes“ abgestempelt werden. Die Polizei äußert sich ähnlich zynisch: „autant prendre en garde une paire de singes de votre zoo“. Für Bambi sind die Zwillinge jedoch „collés comme des chatons“ und sie erkennt ihre Fähigkeit, Dinge instinktiv zu spüren, „Comme les chiens“ oder „une paire de chiots“. Sam identifiziert sich selbst als „animal“. Sie „ahmten Tiere nicht nach, sie waren Tiere.“ („n’imitaient pas les animaux, ils étaient les animaux“=, was eine tiefere, unschuldige und unfiltrierte Verbindung zur Animalität suggeriert. Valériens tierartige Sprache, „langue animale faite de cris et de murmures“ ist ein Ausdruck dieser ursprünglichen Verbindung.
Rivière ist der Zoobesitzer und somit der „Wärter“ der Tiere, der aber auch selbst eine tiefe, fast tierische Seite in sich trägt, insbesondere in Bezug auf seine Rache. Er versteht die subtilen Machtspiele zwischen Menschen und Tieren: „Die körperlich Schwächeren unterwarfen sich bereitwillig. Die Männer hingegen hatten in ihren Machtspielen raffiniertere Systeme entwickelt.“ („Le plus faible physiquement se soumettait volontiers. Les hommes, eux, avaient mis en place des systèmes plus sophistiqués dans les jeux de pouvoir“.) Sein eigenes Verhalten spiegelt manchmal tierische Instinkte wider, wie wenn er „à pas de loup“ geht oder sich „wie ein Hund, der Flocken aus seinem Fell“ („comme un chien qui dégage des flocons de son pelage“) schüttelt. Die Rache, die Rivière an Martin übt, wird als eine „bête en lui“ beschrieben, die „faim“ hat und die er füttert. Dieser innere „démon“ treibt ihn zu Handlungen, die die Grenze zur Bestialität überschreiten, insbesondere seine Entscheidung, Martin im Käfig des Schimpansen Adam zu quälen. Er „s’était payé sur la bête“, was sowohl auf die Tierisierung Martins als auch auf die Befriedigung seiner eigenen tierischen Rachsucht anspielt. Féline sieht ihn als „der Oger aus dem Märchen Der gestiefelte Kater, der sich in einen Löwen verwandeln konnte, aber auch in eine Maus, wenn er mit ihr sprach“ („l’ogre du Chat botté, capable de se transformer en lion mais aussi en souris quand il s’adressait à elle“), was seine Ambivalenz und seine Fähigkeit, sich verschiedenen Rollen anzupassen, verdeutlicht.
Als Bambis Tochter ist Féline das Produkt der komplexen und oft gewalttätigen Mensch-Tier-Beziehungen im Roman. Als Baby ist sie „une petite guenon“, „eine kleine Affendame“. Später wird sie von Martin als „réincarnation de Bambi“ und „produit unique et sublime de leur fusion“ gesehen, was seine perverse Obsession und die Projektion seiner eigenen Wünsche und Traumata auf sie widerspiegelt. Rivière befürchtet in seinen Albträumen, dass Martin Féline verschlingen wird wie ein Kannibale. Féline selbst spürt später die Last des tierischen Erbes ihrer Familie, nicht nur durch Martins Obsession, sondern auch durch die gesellschaftlichen Stigmata, die den Rapaz anhaften. Sie muss selbst lernen, mit dieser „Animalität“ umzugehen, sei es durch das Imitieren von Tieren in ihren Spielen oder durch ihre spätere Hinwendung zum Tierschutz. Insgesamt verwendet der Roman animalische Metaphern, um die Vielschichtigkeit menschlicher Emotionen und Verhaltensweisen darzustellen und die Grenzen unserer Spezies zu hinterfragen, wobei er die „Bestialität“ als untrennbaren Teil der menschlichen Erfahrung beleuchtet.
Artarit zeichnet dennoch ein nuanciertes Bild des Menschlichen. Während Martin die Abgründe der menschlichen Grausamkeit verkörpert – er tötet und vergewaltigt mit einer „natürlichen“ Skrupellosigkeit und genießt seine Fähigkeit, andere zu erniedrigen – zeigt der Roman auch die Fähigkeit zu Liebe, Fürsorge und Resilienz. Noël Rivière, obwohl aus einer harten Welt stammend und selbst eine „Maschine zum Leben“, zeigt tiefe Empathie und den Wunsch, andere zu schützen, insbesondere Bambi und ihre Kinder. Bambi, gezeichnet von Armut und Trauma, findet in der Arbeit mit Tieren und in Rivières Liebe Heilung und Stärke. Die geistig behinderten Zwillingsbrüder Sam und Valérien, die die Sprache der Tiere besser verstehen und sich in Tierrollen verlieren können, verkörpern eine Form reiner, ungefilterter Menschlichkeit, die oft von der Gesellschaft ignoriert wird. Artarit suggeriert, dass die wahre „Bestie“ oft im menschlichen Verhalten selbst liegt, insbesondere in den Grausamkeiten, die Menschen einander antun, und in ihrer Unfähigkeit, die Intelligenz und die Gefühle der Tiere zu erkennen. Menschlichkeit wird auch durch die Notwendigkeit von Regeln und Ritualen zum Umgang mit Leben und Tod definiert, wie Rivière feststellt.
Gewalt und Rache
Inmitten des Zoos, während eines Feuers, bringt Bambi ein Kind zur Welt, dessen Vaterschaft von Martin, der zu diesem Zeitpunkt bereits inhaftiert ist, nahegelegt wird. Rivière, dessen eigene Kindheit als Staatsmündel ihn empfänglich für ihr Schicksal macht, entscheidet sich, das Mädchen anzuerkennen, um Bambi und die Zwillinge vor der Fürsorge zu bewahren. Die Familie zieht zu Rivière, doch Bambis psychische Instabilität nimmt zu, und sie wird von Ängsten vor „Monstern“ und der „Bestie in ihr“ geplagt. Sie versucht sogar, sich im Tigergehege das Leben zu nehmen, wird aber von Rivière gerettet. Fünf Jahre später, als Bambi und Rivière verheiratet sind und ihre Tochter Féline im Zoo aufwächst, wird Bambi vom eigenen Bruder Martin ermordet.
Martin Rapaz wird von Anfang an als gewalttätig und gefährlich charakterisiert, seinen Besitzanspruch auf Bambi erhebt er offen. Seine Grausamkeit zeigt sich u.a. in der Ermordung seiner Mutter und des Familienhundes Carnage, die er im Garten vergräbt:
Les yeux de la bête plongèrent amoureusement dans les siens. Il lui ficha un coup de manche de pelle sur la tête. Estourbie, Carnage fut jetée sur le corps de la vieille.
Stéphanie Artarit, On ne mange pas les cannibales, Belfond, 2025.
Die Augen des Tieres versanken liebevoll in seinen. Martin versetzte ihm einen Schlag mit dem Schaufelstiel auf den Kopf. Betäubt wurde Carnage auf den Körper der alten Frau geworfen.
Diese Szene offenbart die extremste Form menschlicher Grausamkeit und moralischer Verkommenheit. Carnage, Martins Hund, war ihm absolut loyal und liebte ihn bedingungslos. Martin antwortet auf diese Zuneigung und Loyalität mit brutaler Gewalt, tötet das Tier kaltblütig und wirft es auf den Leichnam der eigenen Mutter, um die Spuren seines Verbrechens zu verwischen. Dies ist neben dem grausamen Muttermord ein erschütterndes Beispiel für das Brechen eines Ur-Vertrauensverhältnisses zwischen Mensch und Tier. Martins Handlung ist hier zutiefst bestialisch, nicht im Sinne tierischer Instinkte, sondern als Ausdruck einer menschlichen Boshaftigkeit, die keine Empathie kennt und sogar die Liebe verrät. Spätere Ermittlungen der Polizei und eine Einschätzung eines Psychiaters deuten darauf hin, dass Martin möglicherweise von seiner Mutter sexuell missbraucht wurde. In Abwesenheit des Vaters („l’absence du père laisse un boulevard à la folie maternelle“) konnte dies zu einer psychotischen Störung bei Martin führen, die sich in Schizophrenie und Paranoia äußerte. Möglich ist also auch, dass er als Folge dieses elterlichen Missbrauchs seine Mutter tötete. Die Polizei vermutet generell Inzest innerhalb der Familie Rapaz über Generationen hinweg und spricht von „inzestuösen Beziehungen auf allen Ebenen und in allen Generationen“ sowie von „konsanguinen Ehen“.
Dans la maison, on avait découvert quelques objets – médailles de guerre, livret de famille et photos – dans une boîte en fer : la famille Rapaz au grand complet. La plupart des clichés, agglutinés les uns aux autres, formaient une compression illisible, un entrelacs semblable à celui des corps empilés sous terre. Vie et mort imbriquées.
[…]
Baer s’imprégnait de leurs visages qui se déclinaient en multiples versions d’une seule et même entité – Rapaz garçon, Rapaz fille, vieux, jeune, bébé, cheveux blonds, yeux bleus, peau mate, nez camus, bouche fine et large comme une cicatrice sur une mâchoire plus ou moins marquée, pommettes hautes, dents blanches et rangées au cordeau – et il se demandait qui étaient les assassins, qui étaient les victimes. Peut-être un peu tous, à tour de rôle prédateurs et proies.
Au fur et à mesure que les images défilaient sous ses yeux, il commençait à entrapercevoir le sordide qui scellait leurs destins, flairait l’inceste à tous les étages et à toutes les générations. Les unions consanguines, il en connaissait quelque chose. Chez les Roms, la promiscuité du territoire et le fait qu’aucun gadjo n’y pénétrait entraînaient forcément un repli de la communauté sur elle-même. Tout était suvdo, cousu, lié, entremêlé : les mariages, les familles, les règlements de comptes. Les Rapaz étaient eux aussi des hors-castes.
On en était aux balbutiements des tests ADN et Baer se demandait s’il était absolument opportun pour son enquête de réclamer des empreintes génétiques. Il y avait fort à parier que le père des jumeaux soit aussi celui des deux petits cadavres retrouvés dans le jardin. Mais vu l’altération des corps, à quel ADN serait-il possible de les comparer ? Celui de Féline ? Une analyse compliquée, onéreuse et peu fiable. Samuel et Valérien étaient sous tutelle, la gamine mineure. Il faudrait une commission rogatoire et il avait l’intuition que Rivière ferait tout son possible pour s’opposer au prélèvement des échantillons sur ses enfants. Bref, ça prendrait du temps et les résultats n’étaient pas garantis.
Stéphanie Artarit, On ne mange pas les cannibales, Belfond, 2025.
Im Haus hatte man in einer Blechdose einige Gegenstände gefunden – Kriegsmedaillen, ein Familienbuch und Fotos – die gesamte Familie Rapaz. Die meisten Fotos waren aneinandergeklebt und bildeten ein unlesbares Durcheinander, ein Gewirr, das an übereinandergestapelte Leichen erinnerte. Leben und Tod waren miteinander verflochten.
[…]
Baer prägte sich ihre Gesichter ein, die sich in vielfältigen Varianten ein und derselben Person zeigten – Rapaz als Junge, Rapaz als Mädchen, alt, jung, als Baby, mit blonden Haaren, blauen Augen, dunkler Haut, Stupsnase, schmalem Mund, der wie eine Narbe auf einem mehr oder weniger ausgeprägten Kiefer lag, hohen Wangenknochen und weiße, gerade Zähne – und er fragte sich, wer die Mörder und wer die Opfer waren. Vielleicht waren es alle ein bisschen, abwechselnd Jäger und Gejagte.
Während die Bilder vor seinen Augen vorbeizogen, begann er, die Schmutzigkeit zu erahnen, die ihr Schicksal besiegelte, er witterte Inzest auf allen Ebenen und in allen Generationen. Blutsverwandtschaft war ihm nicht fremd. Bei den Roma führten die Enge des Lebensraums und die Tatsache, dass kein Gadjo Zutritt hatte, zwangsläufig zu einer Abschottung der Gemeinschaft. Alles war suvdo, verknüpft, miteinander verbunden: Ehen, Familien, Abrechnungen. Auch die Rapaz waren Ausgestoßene.
DNA-Tests steckten noch in den Kinderschuhen, und Baer fragte sich, ob es für seine Ermittlungen wirklich angebracht war, genetische Fingerabdrücke zu verlangen. Es war sehr wahrscheinlich, dass der Vater der Zwillinge auch der Vater der beiden kleinen Leichen war, die im Garten gefunden worden waren. Aber angesichts des Zustands der Leichen, mit welcher DNA hätte man sie vergleichen können? Die von Féline? Eine komplizierte, teure und unzuverlässige Analyse. Samuel und Valérien standen unter Vormundschaft, das Mädchen war minderjährig. Es wäre ein Rechtshilfeersuchen erforderlich gewesen, und er hatte das Gefühl, dass Rivière alles tun würde, um die Entnahme von Proben bei seinen Kindern zu verhindern. Kurz gesagt, es würde Zeit kosten, und die Ergebnisse waren nicht garantiert.
Es wird u.a. nahegelegt, dass Martin seine Schwester Bambi vergewaltigt hat, woraus ihre Tochter Féline hervorgeht. Nach seiner Inhaftierung wegen eines anderen Verbrechens schickt Martin bedrohliche Briefe an Bambi, in denen er seine Besitzansprüche wiederholt. Nach fünf Jahren Haft wird Martin entlassen, angetrieben von Rache und dem Wunsch nach Besitznahme. Er beobachtet Bambi und Rivière und vergiftet Zootiere mit Lorbeerblättern. In einem Akt brutaler Gewalt tötet er die eigene Schwester Bambi und Sandrine, die Tierärztin, die er wohl irrtümlicherweise für Rivière hält. Er versucht auch, Féline anzugreifen, wird aber von einem Panther aufgehalten. Rivière fängt Martin ein und sperrt ihn in das Gehege des Schimpansen Adam, wo er ab jetzt gequält wird. Martin, der zu Beginn seines Aufenthaltes wütend ist und Adam als „Waffe“ betrachtet, beginnt durch Bücher, die ihm Samuel zusteckt, eine Form der Selbstreflexion zu entwickeln. Er gesteht Rivière die Morde an seiner Mutter und Carnage, und er räumt auch ein, dass er auch seine Tochter mit der eigenen Schwester, Féline, „gefressen“ hätte. Schließlich wird Martin Rapaz verkohlt und zerfleischt neben Adams Leiche sterben, wobei dieser Tod dem Affen Adam zugeschrieben wird.
Je lis sans discontinuer. Après Rimbaud, je deviens Raskolnikov. J’ai haï les hommes autant que j’ai méprisé leurs histoires et leurs livres. J’ai fait tellement de mal à ma sœur pour me venger de ma mère. Serai-je encore capable de blesser ma fille ? Suis-je toujours un misérable habité par le crime ? Je mange mon dernier biscuit. Puisque je ne vais pas mourir, peut-être faut-il le casser en deux. S’il existe un demain pour moi, demain j’aurai encore faim.
Stéphanie Artarit, On ne mange pas les cannibales, Belfond, 2025.
Ich lese ununterbrochen. Nach Rimbaud werde ich zu Raskolnikow. Ich habe die Menschen ebenso gehasst wie ich ihre Geschichten und ihre Bücher verachtet habe. Ich habe meiner Schwester so viel Leid zugefügt, um mich an meiner Mutter zu rächen. Werde ich noch in der Lage sein, meiner Tochter wehzutun? Bin ich immer noch ein elender, von Verbrechen besessener Mensch? Ich esse meinen letzten Keks. Da ich nicht sterben werde, sollte ich ihn vielleicht in zwei Hälften brechen. Wenn es für mich ein Morgen gibt, werde ich morgen wieder Hunger haben.
Dieser Auszug zeigt eine unerwartete und komplexe Entwicklung in Martins Charakter. Trotz seiner bestialischen Gefangenschaft und der ihm zugefügten Folter beginnt er durch das Lesen von Büchern (die ihm heimlich zugesteckt werden) eine Form der intellektuellen und moralischen Reflexion. Er identifiziert sich mit literarischen Figuren wie Raskolnikow (aus Dostojewskis Schuld und Sühne, Преступление и наказание), was darauf hindeutet, dass er über seine eigenen Verbrechen und seine innere Verkommenheit nachdenkt. Die Fragen, ob er immer noch fähig ist, seiner Tochter zu schaden und ob er immer noch ein „vom Verbrechen bewohnter Elender“ ist, markieren einen entscheidenden Moment der Selbstprüfung. Dies ist das vielleicht empathischste und menschlichste Element in Martins Reise, da es die Möglichkeit von Reue, Selbstwahrnehmung und einer Abkehr von reiner Bestialität suggeriert, selbst unter den extremsten Bedingungen.
Noël Rivière, der Besitzer des Zoos, ist aus seiner eigenen Geschichte heraus empfänglich für Bambis prekäre Lage, und er nimmt sie und die Zwillinge auf, wobei er die Vaterschaft für Féline anerkennt, um die Familie vor der Fürsorge zu schützen. Er ist ein pragmatischer Mann, der sich um das Wohlergehen seiner Tiere und Angestellten kümmert, aber auch eine harte Seite zeigen kann. Nach Bambis Tod durch Martin wird Rivière zum Hauptverdächtigen. Aus tiefem Hass und dem Wunsch nach Rache für Bambi und für die Drohungen gegen Féline entscheidet er sich, Martin selbst zu bestrafen, anstatt ihn den Behörden zu überlassen. Er fängt Martin ein und sperrt ihn in Adams Gehege, wo er dessen Folter überwacht und genießt. Rivière kämpft mit seinen eigenen menschlichen Schwächen und der Bürde seiner Taten, wobei er seine Menschlichkeit zu verlieren droht. Trotzdem versucht er, seine Familie zu schützen und ein normales Leben zu führen. Er wird schlussendlich von den Vorwürfen des Mordes an Bambi und Sandrine freigesprochen, was zum Teil auf Kommissar Baers Überzeugung und das Zeugnis eines Fachmannes zurückzuführen ist. Nach dem Prozess verkauft Rivière den Zoo und zieht mit seiner Familie nach Afrika, um im Tierschutz zu arbeiten, was seine Verbindung zu den Tieren und seine Suche nach einem besseren Leben unterstreicht.
Féline ist Bambis Tochter, deren Vaterschaft Martin zugeschrieben wird, obwohl Bambi Rivière als Vater angibt. Rivière erkennt sie an, um Bambi und die Zwillinge zu schützen. Sie wächst im Zoo auf und ist umgeben von Tieren, die sie als ihre Familie und Spielkameraden betrachtet. Féline ist ein lebhaftes Kind, das die Tierlaute nachahmt und eine tiefe Zuneigung zu ihrem Vater Noël hat. Als sie älter wird, entdeckt sie die Wahrheit über ihre Familie und konfrontiert Rivière damit. Sie spielt eine entscheidende Rolle, als sie unbewusst die Bücher Martin zugesteckt hat, die Sam in Adams Gehege gebracht hatte. Während des Brandes im Zoo wird sie von Martin angegriffen, aber von Adam verteidigt. Nach Martins Tod und Rivières Freispruch zieht Féline mit ihrer Familie nach Afrika. Ihre abschließende Frage an Rivière, warum er Martin nicht sofort getötet hat – und Rivières Antwort „Weil man keine Kannibalen isst“ – geben dem Roman seinen Titel und eine tiefere moralische Dimension.
Moi, je ne peux t’enseigner rien d’autre que ma singitude. Et ta rétribution sera immense puisque je dispose de ta vie. Première leçon : faire silence. Ce n’est pas très coutumier, le silence, pour les animaux de mon espèce, qu’ils soient humains comme toi ou chimpanzés comme moi. Mais c’est ma règle à moi et tu dois la respecter parce que je te l’impose. Et je te l’impose par ma force qui est supérieure à la tienne.
Stéphanie Artarit, On ne mange pas les cannibales, Belfond, 2025.
Ich kann dir nichts anderes beibringen als meine Affenhaftigkeit. Und deine Belohnung wird immens sein, da ich über dein Leben verfüge. Erste Lektion: Schweigen. Schweigen ist für Tiere meiner Art nicht sehr üblich, egal ob es sich um Menschen wie dich oder Schimpansen wie mich handelt. Aber es ist meine Regel, und du musst sie respektieren, weil ich sie dir auferlege. Und ich auferlege sie dir durch meine Kraft, die größer ist als deine.
In diesem inneren Monolog von Adam (dem Schimpansen) wird das Machtverhältnis zwischen ihm und Martin umgekehrt. Adam, der „zivilisierte“ (eingesperrte) Schimpanse, erteilt Martin eine „Lektion“: Schweigen. Er stellt fest, dass Stille für seine Spezies (Menschen und Schimpansen) unüblich ist und sieht dies als eine von ihm auferlegte Regel, basierend auf seiner überlegenen physischen Kraft. Dies ist eine ironische Umkehrung der Zivilisationserziehung. Ein Tier versucht, einen Menschen zu „zivilisieren“, indem es ihm eine grundlegende Verhaltensweise beibringt, die von Natur aus nicht „menschlich“ oder „tierisch“ ist. Es zeigt, wie die Linien zwischen Zivilisation und Bestialität verwischen, wenn der Mensch in die Position des Unterlegenen gerät und die Tierwelt ihre eigene, oft brutal-pragmatische, Form der „Ordnung“ durchsetzt.
Adam ist ein großer männlicher Schimpanse, der aus Afrika in den Zoo gebracht wird. Er ist aggressiv und misstrauisch gegenüber den Menschen und muss isoliert werden. Trotz seiner gefährlichen Natur empfindet Bambi eine Art von Menschlichkeit in ihm und wünscht sich, ihn berühren zu können. Adam spielt eine zentrale Rolle in Rivières Racheplan: Martin wird in sein Gehege gesperrt und von Adam gefoltert. Adams innere Monologe offenbaren eine philosophische und beobachtende Natur, die die menschliche Grausamkeit Martins erkennt. Ironischerweise ist es Adam, der Martin angreift und tötet, als dieser Féline während des Zoo-Brandes attackiert. Sam, einer der Zwillinge, hatte Adam Bücher gegeben, um ihn „menschlicher“ zu machen, was eine unerwartete Entwicklung in Adams Charakter und Rolle darstellt. Nebenbei gesagt: Der Name „Adam“ des Schimpansen im Roman stammt aus dem Hebräischen und ist eng mit der biblischen Überlieferung verbunden. אָדָם (’ādām) bedeutet „Mensch“, insbesondere der erste Mensch. Der Name ist vermutlich verwandt mit dem Wort אָדָמָה (’adamah), das „Erde“ oder „Ackerboden“ bedeutet. Der Name Adam bedeutet also wörtlich: „der aus Erde Geschaffene“ oder einfach „Mensch“. Im Alten Testament ist Adam der Name des ersten Menschen, den Gott erschafft (Genesis 1–3). Adam steht symbolisch für die menschliche Natur, auch mit ihrer Fehlbarkeit im Sündenfall.
Parce qu’il savait que la culpabilité et le remords sont des sentiments étrangers aux fauves, il écartait la possibilité de le dénoncer. La prison lui laisserait le répit de l’eau tiède et les fantasmes de la nuit, le sentiment de satiété après un mauvais repas, les nouvelles du monde à la radio. Il l’imaginait, vantant ses crimes à la ronde, sa violence faisant naître au sein de la société carcérale la crainte et le respect.
Stéphanie Artarit, On ne mange pas les cannibales, Belfond, 2025.
Da er wusste, dass Schuld und Reue für Raubtiere fremde Gefühle sind, schloss er die Möglichkeit aus, ihn zu verraten. Das Gefängnis würde ihm die Ruhepause des lauwarmen Wassers und die Fantasien der Nacht, das Gefühl der Sättigung nach einer schlechten Mahlzeit und die Nachrichten aus der Welt im Radio lassen. Er stellte sich vor, wie er seine Verbrechen herumposaunte und mit seiner Gewalt in der Gefängnisgemeinschaft Angst und Respekt hervorrief.
Rivière rechtfertigt seine Entscheidung, Martin nicht der Polizei auszuliefern, mit der Überzeugung, dass Schuld und Reue „Raubtieren fremd“ sind. Er sieht Martin als eine Art „wildes Tier“, das in der Gefängnisumgebung nicht wirklich bestraft, sondern lediglich umgesiedelt würde. Dies ist eine dunkle Reflexion über menschliche Moral und Kriminalität. Rivière glaubt, dass Martin in der Gefängnisgesellschaft seinen „bestialischen“ Status sogar noch verstärken würde. Für ihn ist die Rache, die er Martin im Zoo zufügt, die einzige Form der „Bestrafung“, die zu Martins „Tierhaftigkeit“ passt, weil er ihm die Möglichkeit menschlicher Reflexion oder Moral abspricht.
Martin Rapaz wird grausamen, vielschichtigen Quälereien unterzogen, die sowohl physische Gewalt als auch psychologische Erniedrigung umfassen, nachdem er von Noël Rivière gefangen genommen und im Zoo in einem Isolationsgehege des Schimpansen Adam eingesperrt wird. Rivière hat die explizite Absicht, Martin „langsam krepieren“ zu lassen. Er überlässt es Adam, die eigentliche Folter durchzuführen, überwacht Martins Leiden heimlich durch ein Guckloch in der Wand und genießt dessen Qualen. Rivière weigert sich, Martin Mittel zum Suizid zu überlassen. Er stellt klar, dass er ihn niemals töten, sondern Adam dies überlassen wird. Rivière teilt Martin mit, dass er für die Justiz als „vermisste Person“ gilt und somit vergessen ist. Er versucht, Martins Psyche zu zermürben, indem er ihm Details über Bambis sexuelle Beziehung zu ihm in der Kindheit und ihren Mord (den Martin an Bambi begangen hat) in den Mund legt, um Martins Qual zu steigern.
Rivière stört Adams Ruhe gezielt durch lautes Klopfen an der Scheibe, um den Schimpansen zu aggressivem Verhalten gegen Martin zu provozieren, und Martin wird wiederholt von Adam angegriffen. Der Schimpanse schleudert ihn u.a. gegen die Wand, schlägt ihn auf den Kopf, sodass sein Kiefer knackt, und prügelt ihn mit „kolossaler Wut“. Diese Angriffe führen zu Schmerzen an den Rippen und am Kopf, geschwollenen Augen und insgesamt zu einem schwer misshandelten Körper. Bei seinem Tod sind seine Knochen von Adams Attacken gebrochen und sein Boxernase sowie die Knorpel sind wiederholt gebrochen. Er leidet unter ständigem Hunger und Durst. Seine Diät ist rein vegetarisch, was ihm nicht bekommt. Er ist gezwungen, Adams Essensreste zu essen. Er muss in seinem eigenen und Adams Exkrementen schlafen und leben, bis er lernt, den Käfig zu reinigen.
Martins Hoffnung auf Freiheit schwindet allmählich. Er fleht Rivière an, ihn der Polizei auszuliefern, und ist bereit, alles zu gestehen, aber Rivière ignoriert ihn. Die Tortur zersetzt seinen Geist; er wird als ein von Qualen „verwüsteter“ Mensch beschrieben, dessen Hass und Hoffnung schwinden und dessen Leiden schliesslich zu einem dumpfen Schmerz wird. Samuel gibt Adam heimlich Bücher, um ihn „menschlicher“ zu machen, was Martin bemerkt. Er schätzt die Bücher zunächst gering, findet aber später Trost in ihnen, auch wenn sie seine kannibalistischen Gedanken verstärken. Martins Zustand verschlechtert sich über die Jahre seiner Gefangenschaft zunehmend, bis er schließlich seine Menschlichkeit weitgehend verliert und sich Adam angleicht, indem er ihn laust und nicht mehr versucht zu fliehen.
Martins Schicksal kann zugleich als scharfe Kritik am Umgang des Menschen mit Tieren gelesen werden. Seine Gefangenschaft und Folter im Zoo spiegeln die Bedingungen wider, unter denen Tiere oft leben und sterben, und stellen die Trennlinie zwischen Mensch und Tier in Frage. Martin Rapaz wird von Noël Rivière in einem Isolationsgehege des Schimpansen Adam gefangen gehalten. Dies ist die direkte Umkehrung der Tierhaltung in Zoos, wo Tiere zur Schau gestellt und eingesperrt werden. Der Schimpanse Adam selbst war in Afrika gefangen und im Zoo isoliert worden.
Universelle Klage
Le sang de Simeon gicla sur l’herbe verte, éclaboussa de gerbes criardes les singes affolés. Panique démente. Le tollé se propageait chez les autres bêtes. Tout n’était plus qu’un grand tapage. Et tandis qu’Adam déchirait des lambeaux de chair, le sang de Bambi coulait comme un jus de cerises écrasées.
La mare incandescente l’engloutissait tout entière. Elle hurlait avec les loups, bramait avec les cerfs, piaillait avec les oiseaux, barrissait avec les éléphants. Tout grognait encore et encore, la douleur la déchirait et l’effroi la tuait. Mêmes cris, même sang, homme, animal.
Des humains alertés par le vacarme arrivèrent en courant. Le corbeau s’envola au-dessus du vieux chimpanzé, une nourriture tout aussi délectable. Il sautilla jusqu’à Simeon et se risqua à arracher un lambeau de chair à son corps agonisant, puis s’éleva dans les airs avec son butin tandis que Sandrine s’agenouillait près de Bambi en hurlant dans son talkie-walkie qu’on appelle les secours. Elle comprenait, horrifiée, ce qui était en train de se passer. Le ventre de Bambi se vida d’un seul coup, libérant un amas de sang noir qui semblait être tout celui que son corps contenait. Sandrine la regardait mourir, impuissante.
Stéphanie Artarit, On ne mange pas les cannibales, Belfond, 2025.
Simeons Blut spritzte auf das grüne Gras und bespritzte die panischen Affen mit schrillen Spritzern. Wahnsinnige Panik. Der Aufruhr breitete sich unter den anderen Tieren aus. Alles war nur noch ein großes Durcheinander. Und während Adam Fleischfetzen herausriss, floss Bambis Blut wie zerdrückte Kirschen.
Die glühende Lache verschlang sie vollständig. Sie heulte mit den Wölfen, brüllte mit den Hirschen, zwitscherte mit den Vögeln, schrie mit den Elefanten. Alles brüllte immer weiter, der Schmerz zerriss sie und die Angst brachte sie um. Gleiche Schreie, dasselbe Blut, Mensch, Tier.
Menschen, die durch den Lärm alarmiert worden waren, kamen herbeigelaufen. Der Rabe flog über den alten Schimpansen hinweg, der ebenfalls eine köstliche Mahlzeit darstellte. Er hüpfte zu Simeon, wagte es, ein Stück Fleisch aus seinem sterbenden Körper zu reißen, und stieg dann mit seiner Beute in die Luft, während Sandrine neben Bambi kniete und in ihr Walkie-Talkie schrie, man solle Hilfe rufen. Entsetzt begriff sie, was gerade geschah. Bambis Bauch entleerte sich mit einem Schlag und gab eine Menge schwarzen Blutes frei, das anscheinend alles war, was ihr Körper noch enthielt. Sandrine sah ihr hilflos beim Sterben zu.
Diese Szene aus On ne mange pas les cannibales ist ein dramatischer Höhepunkt, der die tiefgreifenden Themen des Romans – die Verwischung der Grenzen zwischen Mensch und Tier, die Allgegenwart von Gewalt und Trauma sowie die universelle Natur des Leidens – auf erschütternde Weise verdichtet. Die Szene inszeniert eine schockierende Parallelität zwischen der animalischen Brutalität und dem menschlichen Leid. Während der Schimpanse Adam in einem Akt der Raserei – der durch sein eigenes Trauma und die aufgewühlte Umgebung verstärkt wird – den alten Schimpansen Simeon zerfleischt und dessen Blut spritzt, durchleidet Bambi in unmittelbarer Nähe eine traumatische Geburt und verblutet nach einem Messerangriff. Diese Gleichzeitigkeit legt nahe, dass die „Bestialität“ nicht nur im Tierreich, sondern auch tief in der menschlichen Erfahrung verwurzelt ist und dass sich Gewalt in verschiedenen Formen über Spezies hinweg manifestiert.
Der zentrale Satz dieser Passage, „Mêmes cris, même sang, homme, animal“ (Dieselben Schreie, dasselbe Blut, Mensch, Tier), ist die Quintessenz der Romanbotschaft. Bambis Schmerzensschreie verschmelzen buchstäblich mit den „Geheul der Wölfe“, dem „Röhren der Hirsche“, dem „Piepen der Vögel“ und dem „Trompeten der Elefanten“. Dies löst die hierarchische Trennung zwischen Mensch und Tier auf und betont eine grundlegende, existenzielle Gleichheit im Angesicht von Schmerz und Tod. Bambi, die sich den Tieren im Zoo stets näher fühlte als den Menschen, erlebt hier die ultimative Verbundenheit durch das gemeinsame Erleiden. Ihre Not wird zu einer universellen Klage, die alle Lebewesen teilen.
Bambis Blut wird als „jus de cerises écrasées“ (Saft zerdrückter Kirschen) beschrieben. Diese Metapher ist von entscheidender Bedeutung, da sie direkt auf ein früheres Trauma in Bambis Leben verweist: den Tod ihres Vaters, bei dem die roten Kirschen wie Bluttropfen um ihn herum lagen. Die Wiederholung dieses Bildes unterstreicht die zyklische Natur des Traumas und wie die Vergangenheit Bambis Gegenwart immer wieder einholt. Es ist ein Symbol für die Gewalt, die ihr Leben seit ihrer Kindheit prägt, insbesondere durch ihren Bruder Martin, der sich ebenfalls auf pervertierte Weise auf das Bild von Kirschsaft und Blut bezieht.
Die Szene betont erneut die Bedeutung des Geruchssinns als primäres Kommunikationsmittel, das die menschliche Wahrnehmung oft übersteigt. Der Rabe wird durch die „Molekül E2D“ und den Geruch von „warmem Flüssigkeit“ (Blut) angezogen, was auf ein bevorstehendes „Festmahl“ hindeutet. Dies zeigt die rohe, unerbittliche Natur des Überlebens und des Todes im Tierreich. Früher im Roman wurde Bambi von den Tieren als „Beute“ wahrgenommen, und Martin verströmt einen „süßen und gleichzeitig fauligen Geruch“, den Adam als „parfümierter Panther“ erkennt und der tödlich ist. Hier kulminiert Bambis Existenz als „Beute“ in ihrem lebensbedrohlichen Zustand. Während Bambi leidet, reagieren die Menschen mit Panik und Hilflosigkeit. Sandrine, die Tierärztin, kniet neben Bambi und ruft verzweifelt um Hilfe, doch sie kann den unabwendbaren Blutverlust nicht aufhalten. Gleichzeitig fliegen Raben über Simeon, um sich an seinem sterbenden Körper zu laben. Dies stellt die nüchterne Realität dar, dass das Leben im Zoo, das den Besuchern als idyllische „Inszenierung des wilden Lebens“ präsentiert wird, in Wahrheit ein Ort ist, an dem der Tod ein „ständiger Gast“ ist, und menschliches Leid oft auf die gleiche unerbittliche Weise wahrgenommen wird wie das Leiden der Tiere.
Martin hatte Bambi zuvor an einer Landstraße abgefangen, als ihr Auto ohne Benzin liegen blieb. Er verfolgte sie seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis, angetrieben von einer obsessiven, inzestuösen Besessenheit ihr gegenüber. Er sah Bambi als sein Eigentum an und plante, sie zu sich zu holen. Er empfand eine perverse Befriedigung durch ihre Angst und ihr Schweigen. Nach dem Mord empfand Martin ein Gefühl der „Vollendung“ und „Erfüllung“. Er sah es als ein „göttliches Sakrament“ an. Seine Tränen danach waren Ausdruck dieser intensiven, verdrehten Emotion. Bambis Kind Féline sowie die Zwillinge Sam und Valérien waren im Auto anwesend und wurden Zeugen der grausamen Taten, obwohl Rivière versuchte, Féline die Augen zu verdecken. Martin sprach zu Bambi über Féline, bevor er sie tötete, und drohte, dass er auch für Féline der „erste und letzte“ sein würde. Martin sah seine Gewalt als eine Fortsetzung des Kreislaufs der „Kannibalismus“ und Grausamkeit, die er selbst erfahren hatte und die er nun auf seine eigene Familie ausdehnte.
Martin, der die Quelle von Bambis Trauma ist und sie verfolgt, ist physisch nicht anwesend, aber seine Schatten prägen die Szene. Die Grausamkeit und Gewalt, die Bambi erleidet, sind eine direkte Folge seiner Taten. Ironischerweise wird Martin später von Rivière in Adams Käfig gesperrt und gefoltert, wodurch er selbst zum „Tier“ wird, das der Rabe als „parfümierter Panther“ bezeichnet hat. Adams Angriff auf Simeon und die blutige Konsequenz spiegeln die gewalttätige Welt wider, die Martin geschaffen hat. Die Tatsache, dass Adam später Martin zerfleischen wird, schließt den Kreis der „Animalisierung“ und der universellen Gewalt.
Noël Rivière ist zum Zeitpunkt der Geburt und des Angriffs nicht anwesend, da er sich um die kranke Giraffe kümmern muss. Diese Abwesenheit ist für ihn später eine Quelle tiefer Schuldgefühle, da er seine Tiere vorrangig beschützt hat, während seine Familie in Gefahr war. Die grausamen Details von Bambis Leiden und Sandrines Tod werden zu einem Katalysator für Rivières Racheplan gegen Martin. Er wird selbst zum „Wärter“ und „Folterer“ von Martin, wodurch er seine eigene „tierische Natur“ zum Vorschein bringt. So zeigt diese Szene, wie der Roman die Grenzen zwischen Mensch und Tier aufhebt, indem er die gemeinsamen Erfahrungen von Gewalt, Leid und Tod betont und die tiefsten, oft unbewussten Instinkte der Charaktere beleuchtet. Sie ist ein Schlüsselmoment, der Bambis tiefstes Trauma offenbart und Rivières späteren Weg der Rache einleitet.
Der Roman insgesamt spielt mit der Idee, wer die „Bestie“ ist. Martin selbst ist ein gewalttätiger und gefährlicher Mensch, der seine Schwester missbraucht und der mordet. Seine „tierische“ Seite wird vor seiner Gefangenschaft deutlich. Ironischerweise wird er in einem Gehege mit einem echten Tier gefoltert. Der Gorilla erkennt in Martin eine „Pantherparfüm“-Geruch, der Raubtiere anzieht. Dies deutet darauf hin, dass Martin selbst eine Art „Raubtier“ oder „Monster“ ist, das von den Tieren erkannt wird. Die Toxoplasmose-Infektion, die Martin trägt, könnte sogar sein aggressives Verhalten erklären und seine Anziehungskraft auf Raubtiere erhöhen. Rivières abschließende Erklärung am Ende des Buches, warum er Martin nicht getötet hat, sondern ihn foltern ließ, lautet: „Weil man keine Kannibalen isst“. Martin war ein „Kannibale“ im übertragenen Sinne, der seine Familie „auffraß“ und zerstörte. Indem Rivière ihn nicht tötet, sondern ihn tierähnliche Qualen erleiden lässt, verlängert er die „Tierwerdung“ Martins und entmenschlicht ihn vollständig, anstatt ihn als menschliches Wesen zu behandeln, das „gegessen“ oder hingerichtet wird. Insgesamt stellt Martins Schicksal eine düstere Spiegelung der menschlichen Hybris im Umgang mit der Natur und den Tieren dar. Es kritisiert die Objektivierung und Instrumentalisierung von Lebewesen für menschliche Zwecke – sei es Unterhaltung, Wissenschaft oder Rache – und zeigt auf, wie schnell die scheinbar klare Grenze zwischen Mensch und Tier verwischt werden kann.