Briefroman im Datennetz: Sandra Lucbert

Sandra Lucberts Roman La Toile (zu Deutsch: „Das Netz“) ist eine Reflexion über Literatur im Zeitalter der digitalen Kommunikation und künstlichen Intelligenz. Durch seine spezifische Form und die komplexe Verflechtung von Technologie, Macht, Beziehungen und Identität beleuchtet der Text fundamentale Fragen von Autorschaft und Authentizität in einer zunehmend vernetzten Welt.

Autorschaft und Authentizität

Der Roman beginnt mit einem provokativen „Avis au lecteur“ (Hinweis an den Leser). Hier deklariert sich der Erzähler explizit als „Opérateur“ (Bediener) und leugnet vehement, der eigentliche Autor des Buches zu sein. Er behauptet, lediglich Informationen geordnet und Algorithmen kompensiert zu haben, wo Künstliche Intelligenz (KI) versagte, da sie angeblich „keinen Roman komponieren“ kann. Diese „wahre falsche Vorrede“ war seine Strategie, den Vertrag zu erhalten, indem er sie gratis anbot – eine Taktik, die die Verlagswelt laut Erzähler anwendet, indem sie die finanzielle Unsicherheit von Hochschulabsolventen ausnutzt.

Der Titel La Toile spielt auf diese Doppelbödigkeit an: Es ist ein Netz von Daten und Beziehungen, aber auch ein „Machwerk ohne Autor oder Ethik“. Der Operator sieht sich selbst als Teil einer von Amazon (über Mechanical Turk) geschaffenen „Box“ zur Unterhaltung der Lesenden, was eine Anspielung auf den historischen „Türkischen Schachspieler“ ist, einen scheinbar autonomen Automaten, der in Wirklichkeit von einem Menschen gesteuert wurde. Dies unterstreicht die zentrale These: Hinter jeder scheinbar automatisierten oder algorithmischen Operation steckt ein Mensch, auch wenn dessen Rolle unsichtbar gemacht oder geleugnet wird. Hinter jeder scheinbar automatisierten oder algorithmischen Operation steckt immer noch ein Mensch, auch wenn dessen Rolle unsichtbar gemacht oder geleugnet wird. Die traditionellen Regeln der Académie française werden durch die „Daten der E-Reader“ ersetzt, um die „literarische Effizienz von innen heraus zu steigern“ – es gibt keine „Verlangsamungen, keinen Stil, keine Ideen und keine Wörter mit mehr als drei Silben“ mehr. Somit ist der Roman ein Produkt dieser digitalen Ökonomie und eine Reflexion über seine eigene Entstehung und die Veränderung des literarischen Schaffensprozesses.

Wenn der Autor seine eigene Rolle als „Operator“ verortet, der lediglich „Daten zusammenbastelt“, stellt sich die Frage nach der Authentizität des erzählten Erlebnisses. Sind die gezeigten Emotionen und Konflikte „echt“ oder ebenfalls nur „Daten“ und „Maschinen“, die agieren? Der Roman verschmilzt diese Ebenen, indem er die subjektive Erfahrung im Kontext der Datenströme darstellt. Die Authentizität verschiebt sich dabei vom Schöpfer zum kollektiven, interaktiven und oft manipulierten Erlebnis im Netz.

Der Roman ist fast ausschließlich durch digitale Kommunikationsformen wie E-Mails, Messenger-Chats, Medium-Beiträge und verschlüsselte Jabber-OTR-Nachrichten strukturiert. Diese Form spiegelt die allgegenwärtige Präsenz des Internets im Alltag wider.

Die Agentur LineUp steht im Mittelpunkt. Sie wird von Agathe Denner (AAArg) und Guillaume Thévenin (GoogleATor) geleitet. Sie wird als digitales Kunstunternehmen beschrieben, das Künstlern Infrastruktur, technische Kompetenzen und Finanzierung bietet. Denner und Thévenin sind „darwinisch“, kontrollierend und manipulativ. Sie nutzen die „Eitelkeit der Schriftsteller“ und die „Prekarität der Absolventen“ aus. Ein Höhepunkt ihrer Manipulation ist das Event „Le Confessionnal“, bei dem Gäste dazu gebracht werden, ihre intimsten Geheimnisse zu offenbaren, die dann als Teil eines „Kunstwerks“ genutzt werden.

Maud Trévian, die Juristin und Autorin des Buchs Le droit de disparaître (Das Recht zu verschwinden), beginnt bei LineUp zu arbeiten, um die „Grauzone“ zwischen Gesetz und digitaler Realität zu analysieren. Ihre Geschichte beleuchtet die Erosion der Privatsphäre und die Notwendigkeit, sich gegen algorithmische Kontrolle zu wehren.

Die Beziehungen im digitalen Zeitalter werden beobachtet, so Ian Cole und Maud Trévian: Ians obsessive E-Mails an Maud, nachdem sie New York verlassen hat, zeigen eine toxische, unerwiderte Liebe. Seine „elegische Poesie“ steht im Kontrast zur sofortigen, oft oberflächlichen digitalen Kommunikation und wird von Maud als „Spam“ markiert.

Die Beziehung von Anastasia Liovais und Alexandre Drilhon wird durch digitale Kommunikation und die Manipulationen von Agathe Denner zerrüttet. Anastasias Kampf mit digitaler Abhängigkeit und ihr Versuch einer „digitalen Entgiftung“ zeigen die Schwierigkeit, sich aus den Fesseln der Online-Welt zu befreien.

Das lesbische Paar Marion Pisani und Jeanne Letterman gerät ins Visier von Denner und Thévenin, nachdem Marion LineUp wegen Urheberrechtsverletzungen verklagt hat. Ihre Beziehung wird durch Denner manipuliert, die eine Affäre mit Jeanne beginnt.

Ein wiederkehrendes Motiv ist Überwachung und Datenkapitalismus, damit die fortwährende Aushöhlung der Privatsphäre. Der Roman kritisiert den kognitiven Kapitalismus, in dem jede menschliche Interaktion und jeder „Klick“ zu einem Datenpunkt wird, der von Unternehmen zur Profitmaximierung genutzt wird. Die Ausstellung „Que se passe-t-il quand je clique?“ (Was passiert, wenn ich klicke?) soll diese Mechanismen bewusst machen.

„Hacktivismus“ und politische Aktion werden gezeigt: Guillaume Thévenin agiert als GoogleATor und Agathe Denner als AAArg. Sie sind Hacktivisten, die Informationsfreiheit und Dezentralisierung befürworten. Gleichzeitig nutzen sie ihre Fähigkeiten, um andere zu manipulieren. Die Gezi-Proteste in Istanbul bilden einen wichtigen Hintergrund: Dort spielt die digitale Kommunikation eine zentrale Rolle bei der Organisation des Widerstands, kann aber auch zur Kommerzialisierung und Instrumentalisierung führen.

Figurenkonstellation

Die Charaktere sind weniger psychologisch tiefenpsychologisch gezeichnet als vielmehr funktional, um die komplexen Dynamiken des digitalen Zeitalters darzustellen. Der Operator verkörpert die entindividualisierte Arbeit und damit die Ironie des digitalen Zeitalters. Als „Malgache quadragénaire ohne soziale Absicherung“ repräsentiert er die unsichtbare, billige Arbeitskraft, die das digitale „Netz“ am Laufen hält. Seine Abwesenheit als „Autor“ verstärkt die Idee, dass das Produkt, der Roman selbst, aus einer kollektiven, automatisierten und letztlich entmenschlichten Quelle stammt.

Maud Trévian ist die Analytikerin und Beobachterin. Mit ihrer Spezialisierung auf digitales Recht und ihrem Buch Le droit de disparaître versucht sie, die rechtlichen und ethischen Grenzen im digitalen Raum zu definieren. Ihre persönliche Verstrickung in die Manipulationsspiele (insbesondere mit Ian und LineUp) macht deutlich, wie schwer es ist, eine objektive Distanz zu wahren und das „Netz“ von außen zu betrachten.

Agathe Denner (AAArg) und Guillaume Thévenin (GoogleATor) sind die Architekten und Manipulatoren der digitalen Macht. Ihre Doppelidentität als Geschäftspartner und Hacktivisten spiegelt die Ambivalenz des Internets wider: Es ist ein Werkzeug für Freiheit und Dezentralisierung, aber auch für Kontrolle und Ausbeutung. Sie sind die „Darwin’schen“ Chefs, die menschliche Schwächen und digitale Schwachstellen gleichermaßen ausnutzen. Ihre Beziehungen (z. B. Agathes Affäre mit Alexandre und die Manipulation von Jeanne) sind direkte Erweiterungen ihrer Machtspiele.

Anastasia Liovais steht für die Abhängigkeit und das Potenzial des Individuums im Digitalen. Ihre Sucht nach Konnektivität und ihre Schwierigkeiten mit der „analogen Welt“ zeigen die psychologischen Auswirkungen des Internets. Ihre Entwicklung von der Betroffenen zur „Hackeuse française“ in den Gezi-Protesten symbolisiert das Potenzial des Einzelnen, sich zu wehren und die Werkzeuge des Netzes für politische Zwecke zu nutzen.

Alexandre Drilhon wird als Anas Verlobter und LineUp-Mitarbeiter zum Opfer und Werkzeug der digitalen Manipulation. Seine Beziehung zu Ana zerbricht unter dem Einfluss von Agathe und er wird von Thévenin benutzt. Seine anfängliche Naivität gegenüber den LineUp-Methoden und sein späteres Bemühen, Ana zurückzugewinnen, zeigen die persönlichen Kosten fehlender Grenzen im Digitalen.

Ian Cole repräsentiert die „verlorene“ analoge Welt und die Macht der Obsession. Seine literarisch überhöhten, jedoch oft als „Spam“ wahrgenommenen E-Mails an Maud sind ein Kommentar zur Veränderung romantischer Kommunikation. Seine Weigerung, Maud aufzugeben, selbst wenn er als „Spam“ klassifiziert wird, zeigt die unbeugsame Natur menschlicher Emotionen jenseits der digitalen Kontrolle. Seine „elegische Poesie“ wird zum Werkzeug der Selbstfindung und Rache.

Marion Pisani und Jeanne Letterman stehen für die Künstler im Spannungsfeld zwischen kreativer Freiheit und digitaler Ausbeutung. Ihr Rechtsstreit mit LineUp und die Manipulation ihrer Beziehung durch Denner verdeutlichen, wie persönliche Daten und Beziehungen zu Handelswaren im kognitiven Kapitalismus werden können.

Der Roman ist ein virtuoses Mosaik digitaler Kommunikation dieser Figuren, das die Erzählweise entscheidend prägt: E-Mails dienen oft für ausführlichere, reflektierende oder emotional aufgeladene Mitteilungen, wie Ians lange Liebesschwüre oder Mauds persönliche und berufliche Überlegungen. Sie sind die moderne Entsprechung des Briefromans und ermöglichen dem Leser einen intimen Einblick in die Gedankenwelt der Charaktere, bewahren aber auch eine gewisse Distanz.

Messenger-Chats (Medium: Messenger, JabberOTR) sind flüchtiger und direkter und spiegeln die Unmittelbarkeit und Fragmentierung der digitalen Konversation wider. Sie zeigen unmittelbare Reaktionen, Missverständnisse und die flüchtige Natur von Online-Beziehungen. Die Nutzung verschlüsselter Dienste wie JabberOTR unterstreicht die Sorge um die Privatsphäre.

Medium-Posts und Newsfeeds fungieren als öffentliche Bühne für Selbstdarstellung und Branding. Sie zeigen, wie private und politische Äußerungen im Fluss der Informationen gleichrangig nebeneinanderstehen und zur „Aufmerksamkeitsökonomie“ beitragen.

Die Kapitel sind als „Session de [Name]“ betitelt und fungieren als eine Art Protokoll der digitalen Aktivität eines Charakters. Dies verstärkt den Eindruck, dass das gesamte Buch eine Datenzusammenstellung ist, wie vom Operator behauptet. Die vorherrschende Erzählperspektive ist die einer direkten Wiedergabe digitaler Dokumente. Dies führt zu einer multiperspektivischen, subjektiven Erzählweise, in der die Leser direkten Zugang zu den Gedanken und Interaktionen der Charaktere haben. Die Rahmung durch den „Opérateur“ stellt diese vermeintliche Direktheit jedoch infrage. Es gibt keine allwissende Erzählinstanz im klassischen Sinne, sondern ein Netzwerk von Stimmen, die sich gegenseitig beeinflussen und kommentieren. Dies spiegelt die dezentralisierte und oft unkontrollierbare Natur des Internets wider. Somit ist die Form des Romans selbst ein Kommentar zur Natur der digitalen Kommunikation.

Les Connections dangereuses

Der Buchumschlag von Sandra Lucberts Roman La Toile spielt auf Les Liaisons dangereuses, den kanonisierten Briefroman von Choderlos de Laclos aus dem 18. Jahrhundert, an. Dieser Vergleich erweist sich als fruchtbar für die Interpretation, da er La Toile als eine Transformation des Briefromans ins digitale Zeitalter kennzeichnet und die klassischen Themen Macht, Manipulation und Verletzlichkeit in den Kontext vernetzter Kommunikation überträgt.

In einigen zentralen Punkten kann der Vergleich zur Interpretation beitragen: Der Roman selbst ist als Sammlung digitaler Korrespondenz aufgebaut, darunter E-Mails, Medium-Beiträge und JabberOTR-Chats (verschlüsselte Sofortnachrichten). Dies entspricht der traditionellen Form des Briefromans, wobei physische Briefe durch moderne Kommunikationsmittel ersetzt werden. Der Hinweis an den Leser am Anfang des Buches ist selbst eine Anspielung auf die Einleitungstexte klassischer Briefromane, in denen der Herausgeber die Herkunft der „gefundenen“ Korrespondenz erklärt. Im Fall von La Toile ist der „Erzähler“ (der Operator) ein Datensammler, der unter Vertrag steht, um Informationen zu ordnen, und nicht der eigentliche Autor. Dies ist eine Metareflexion über die Autorschaft und die Produktion von Texten in der digitalen Arbeitswelt.

Themen wie Manipulation, Macht und Ruf in einem neuen Medium spielen eine Rolle: Les Liaisons dangereuses ist berüchtigt für seine Darstellung von libertiner Verführung, Intrigen und psychologischer Kriegsführung durch Korrespondenz. La Toile adaptiert diese Dynamik nahtlos an die digitale Welt. Die Protagonisten, insbesondere die Direktoren von LineUp, Agathe Denner und Guillaume Thévenin, werden als „zweideutige Whistleblower und undurchsichtige Verführer“ beschrieben, die „die Naivität ausspielen, Gespräche hacken und die Fehler ihrer Rivalen oder multinationaler Konzerne ausnutzen“.

Auch wird die Ausbeutung persönlicher Daten und Interaktionen zu einem zentralen Machtinstrument. Agathe Denner argumentiert, dass es beim Sammeln digitaler Daten um „Profiling“ geht, um Menschen in eine Umgebung zu platzieren, in der alles bereits algorithmisch nach ihren vermeintlichen „Wünschen“ organisiert ist. Sie offenbart, dass Geheimnisse nachträglich aufgedeckt werden können. Dies ist eine moderne, technologische Variante der Kontrolle und Enthüllung, wie sie auch in Liaisons dangereuses stattfindet. Die von LineUp organisierten Events „Le Confessionnal“ und „Tornade-Exercice spirituel“ sind inszenierte Darbietungen, die darauf abzielen, die Teilnehmer zu manipulieren und ihre Reaktionen und „Geständnisse“ auszunutzen, um die „Schönheit der Transparenz“ zu demonstrieren und daraus Profit zu schlagen. Diese Veranstaltungen ähneln den gesellschaftlichen Experimenten und Intrigen der Marquise de Merteuil und des Vicomte de Valmont. Die hartnäckigen und obsessiven Nachrichten von Ian an Maud spiegeln die unerbittliche Korrespondenz in Gefährliche Liebschaften wider. Ian versucht, Maud emotional zu beeinflussen und zu kontrollieren, indem er ihr seine „Leiden” und Fantasien schildert. Maud empfindet dies als eine Form von „Gewalt“ und „Übergriff“.

Der Roman stellt die Frage, wie das Konzept der Privatsphäre und des Selbstbestimmungsrechts in einer Welt definiert werden kann, in der digitale Spuren unauslöschlich sind und Interaktionen ständig überwacht und verwertet werden. Die Charaktere kämpfen mit der Spannung zwischen dem Wunsch nach Verbindung und dem Schutz ihrer innersten Gedanken und Gefühle vor der „Transparenz“ des Internets. Die Illusion der freien Wahl oder des Rückzugs wird immer wieder durch die allgegenwärtige Logik des Internets zunichte gemacht. Der Roman reflektiert nicht nur die Auswirkungen digitaler Technologien auf menschliche Beziehungen, sondern auch die Natur des Erzählens in diesem Kontext. Die scheinbare Zufälligkeit der Nachrichten, die Fragmentierung der Erzählung und die Verschleierung der „wahren“ Absichten der Charaktere (und des Autors/Operators) sind direkte Parallelen zu den erzählerischen Strategien des 18. Jahrhunderts, die die Authentizität der Korrespondenz betonen wollten.

Der Vergleich mit Les Liaisons dangereuses sensibilisiert dafür, La Toile als scharfsinnige Analyse der Machtstrukturen im digitalen Zeitalter zu lesen. Er zeigt, wie die Mechanismen der Manipulation und Kontrolle, die einst durch physische Briefe ausgeübt wurden, in der Online-Welt neue und potenziell gefährlichere Formen annehmen, die unsere Privatsphäre, unsere Beziehungen und sogar unser Selbstverständnis beeinflussen.

Interpretation des Schlusses

Der Schluss von La Toile ist kein traditionelles Happy End oder eine klare Auflösung, sondern eine Verstärkung der zugrundeliegenden Themen des Romans:

Der Fall von LineUp

Agathe Denner veröffentlicht einen Text, in dem sie ihren Geschäftspartner Guillaume Thévenin als „impotent“ outet und die manipulativen und ausbeuterischen Praktiken von LineUp detailliert aufzählt – von nicht existenten Jobangeboten bis hin zur Versteigerung privater Geheimnisse beim „Confessionnal“. Dies führt zur Schließung ihres eigenen Medium-Kontos aufgrund zahlreicher Beschwerden. Marion Pisani kommentiert dies als Ende einer Ära, als „Vie et mort d’une start-up numérique“. Doch Thévenin selbst betrachtet dies nicht als Niederlage, sondern als Teil eines fortgesetzten Spiels. Die Dynamik des „Outings“ und der Gegenreaktion ist selbst ein perfektes Beispiel für die von LineUp betriebene „Ökonomie der Aufmerksamkeit“.

Die Fortsetzung der „Toile“

Trotz der scheinbaren Niederlage oder des „Zerfalls“ von LineUp enden die Manipulationen und die Verstrickungen der Charaktere nicht. Thévenin zeigt sich unbeeindruckt. Ana und Alexandre, die sich in Istanbul im Rahmen der Gezi-Proteste engagieren, finden eine neue Form der „Nützlichkeit“. Ihre neu gefundene Beziehung ist jedoch auch wieder Angriffen durch Dritte ausgesetzt. Ian Coles‘ obsessive „elegische Poesie“ geht weiter; er ist „froh“, dass Maud ihn immer noch liest – selbst aus dem Spam-Ordner. Maud selbst bleibt im Dienst von LineUp und ist weiterhin fasziniert von der „Verwirrung, die sie ausnutzen“. Sie sieht ihre Rolle darin, die Grenzen der Privatsphäre zu erkunden und zu verteidigen.

Gezi als Mikrokosmos des Netzes

Die Ereignisse um die Gezi-Proteste in Istanbul verdeutlichen die Ambivalenz des digitalen Engagements. Einerseits ermöglichen sie kollektiven Widerstand und „Offenheit des Codes“, andererseits werden sie zum Schauplatz weiterer Manipulationen und Kommerzialisierung (zum Beispiel der Verkauf von „Occupy“-Memorabilia). Selbst das „Hacking“ wird zum öffentlichkeitswirksamen „Exploit“, dessen ethische Grenzen verschwimmen. Die zunächst physischen Proteste werden durch das digitale Netz in ihrer Wirkung verstärkt und gleichzeitig in ihrer Authentizität herausgefordert. Der Protest selbst wird zu einer „Marke“.

Die Illusion der Kontrolle und die ewige Verstrickung zeigt sich am Romanende nicht mit einer Erlösung oder einer klaren Botschaft. Stattdessen wird deutlich, dass die „Toile“ ein sich selbst perpetuierendes System ist, in dem Kontrolle illusorisch bleibt. Die Charaktere versuchen, Grenzen zu ziehen (Maud und Ana mit ihrem „Digital Detox“), doch das Netz saugt sie immer wieder ein. Selbst das Ende persönlicher Beziehungen (z. B. Ana und Alexandre) ist oft eine Folge der digitalen Verstrickung.

Die letzte autopoetologische Bemerkung in den Danksagungen am Ende des Buches nimmt eine Aussage des „Opérateurs“ wieder auf. „Die Geschichten in diesem Buch haben zwar manchmal reale Ereignisse und Personen als Hintergrund und Protagonisten, sind jedoch der Fantasie des Autors entsprungen. Alles ist erfunden.“ Diese letzte Zeile führt die Lesenden zurück zum Beginn, zum „Avis au lecteur“, und rekonfiguriert die gesamte Leseerfahrung. Wenn „alles falsch ist“, obwohl es auf realen Ereignissen und Personen basieren mag, dann wird der Roman selbst zur „Machwerk“, das der Operator eingangs beschrieben hatte. Die Authentizität des Textes liegt nicht in seiner faktischen Wahrheit, sondern in seiner Reflexion der performativen und manipulativen Natur der digitalen Ära. Der Roman ist eine künstlerische Nachahmung der digitalen Realität, die selbst die Grenzen von Fakt und Fiktion verschwimmen lässt.

La Toile ist somit ein nervöser, höchst origineller Roman, der die Leser herausfordert, ihre Annahmen über Realität, Kommunikation und Identität im digitalen Zeitalter zu hinterfragen. Er bietet keine einfachen Antworten, sondern zeigt eine Welt, in der die Grenzen zwischen privat und öffentlich, real und virtuell sowie Freiheit und Kontrolle ständig neu verhandelt und überschritten werden. Der Schluss unterstreicht, dass die „Toile“ ein immerwährender Prozess ist, ein nie endender Fluss von Informationen, Beziehungen und Machtkämpfen.


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