Inhalt
Cyril Gelys Roman Le Prix (2019) entfaltet sich auf der klaustrophobischen Bühne einer Stockholmer Hotelsuite als intensives psychologisches Duell, das am 10. Dezember 1946 stattfindet – dem Tag, an dem Otto Hahn den Nobelpreis für Chemie erhalten soll. In diesem zeitlich und räumlich stark begrenzten huis clos treffen Hahn, der Profiteur des Ruhms, und Lise Meitner, seine langjährige wissenschaftliche Partnerin und moralische Anklägerin, aufeinander, um eine längst überfällige Abrechnung zu vollziehen. Die Begegnung ist mehr als eine private Auseinandersetzung; sie ist eine Verhandlung über Wissenschaftsgeschichte, moralische Schuld, die Macht der nationalen Narrative und die strukturelle Marginalisierung des weiblichen Genies.
Der psychologische Zweikampf: Abfolge der Konfrontation
Die Struktur des Romans ist die eines Dramas in Prosa, einer strategischen „partie d’échecs“ („Schachpartie“), deren Verlauf sich in klar definierten Phasen entfaltet, die die Figuren tief in ihre gemeinsame Vergangenheit zurückführen. Zunächst versuchen beide Kontrahenten, die Lage abzutasten, wobei Höflichkeit als „Tarnung“ dient. Hahn ist sofort alarmiert, seine innere Unruhe verrät die Machtverschiebung, die Lises Anwesenheit bewirkt; er „denkt nicht mehr an den Preis… denkt nicht mehr an Edith… denkt nur an Lise“ („ne pense plus au prix… ne pense plus à Edith… ne pense qu’à Lise“.
Schnell geht die Begegnung in die Phase der Ersten Angriffe über, in der Lise die historischen Entscheidungen Hahns ins Visier nimmt: seine politischen Kompromisse mit dem NS-Regime und vor allem den Zwang, sie 1938 aus Deutschland fortzuschicken. Die zentrale Anschuldigung wird formuliert, indem Lise ihm vorwirft, sie geopfert zu haben, um seine Karriere und Forschung zu sichern: „Voilà pourquoi tu m’as sacrifiée.“ („Deshalb hast du mich geopfert.“).
Die Konfrontation eskaliert, als die wissenschaftlichen Leistungen ins Spiel kommen und die Frage der Fission und des Nobelpreises im Zentrum steht. Lise betont, dass die theoretische Erklärung der Kernspaltung maßgeblich von ihr stammt, während Hahn den Preis allein erhielt: „Sauf la dernière. La fission nucléaire.“ („Außer der letzten. Die Kernspaltung.“) Dieser Konflikt wird existenziell, da er Hahns gesamten Ruhm in Frage stellt.
Hahn versucht daraufhin, mit einer Psychologisierung durch den Neid-Begriff zurückzuschlagen, indem er Lises Motivation als „Envie“ („Neid“) abzutun versucht. Er benutzt ein Machtvokabular, das Lises Position delegitimieren soll: „L’envie… c’est la réaction des vaincus face aux vainqueurs.“ („Neid… ist die Reaktion der Besiegten auf die Sieger.“) Diese Strategie, die den erfolgreichen Mann gegen die angeblich verletzte, neidische Frau stellt, wird von Lise jedoch als Versuch erkannt, die tatsächlichen Machtverhältnisse zu verschleiern.
Kurze, zarte Momente der Intimität durchbrechen das Duell, etwa wenn sie gemeinsam das Foto des Enkels betrachten, was ihre jahrzehntelange Verbundenheit als Laborpartner bezeugt: „Comme ils pouvaient l’être autrefois dans leur laboratoire.“ („Wie sie es früher in ihrem Labor sein konnten.“). Doch diese Augenblicke verstärken durch den Kontrast nur die Härte der folgenden Angriffe.
Der Höhepunkt wird in der moralischen Entblößung erreicht, als Lise die Wahrheit unmissverständlich ausspricht: „Tu ne mérites pas le Nobel. Ni aucun autre prix.“ („Du verdienst den Nobelpreis nicht. Auch keinen anderen Preis.“) Hahn, der gekommen war, um gefeiert zu werden, wird dadurch zu einer Figur, die sich moralisch zu verantworten hat.
Die Charakterkonstellation: Schuld, Ruhm und das Geschlecht in der Wissenschaft
Die Interpretation der beiden Hauptfiguren ergibt ein scharfes Gegensatzpaar, dessen Dynamik tief in den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Machtstrukturen der Zeit verwurzelt ist.
Otto Hahn verkörpert den akademischen und nationalen Profiteur. Er ist strategisch, versucht, die Kontrolle zu behalten und die Diskussionen abzulenken, sei es durch das Heraufbeschwören politischer Zwänge oder durch Selbstmitleid. Hahn sieht den Nobelpreis nicht nur als persönliche Ehrung, sondern als politisches Instrument zur Rehabilitation Deutschlands nach dem Krieg: „L’honneur… doit rejaillir sur notre pays.“ („Die Ehre… muss auf unser Land zurückfallen.“) Seine Verteidigungsstrategie beruht auf Verdrängung und der Konstruktion einer bequemen moralischen Entlastung, die er sich selbst und der deutschen Nachkriegswissenschaft zuschreibt. Sein innerer Kampf manifestiert sich physisch, etwa in seinen Magenbeschwerden, die seine emotionale Anspannung verraten.
Lise Meitner hingegen agiert analytisch, präzise und moralisch kompromisslos, wie eine Wissenschaftlerin, die experimentell die Wahrheit freilegt. Ihr Ziel ist nicht die Wiedergutmachung oder der Preis, sondern die Anerkennung der Wahrheit. Sie nutzt ihre Erinnerung als Waffe, um Hahn in Widersprüche zu treiben, und ist fest entschlossen, ihre Stimme wiederzuerlangen, die ihr jahrzehntelang verwehrt blieb. Meitner repräsentiert die marginalisierte Wissenschaftlerin im Exil und die oft unsichtbare Arbeit, die letztlich den Ruhm eines Mannes begründet.
Die Geschlechterdynamik ist ein zentraler Aspekt der Konfrontation. Hahn hat unbewusst von einer patriarchalen Struktur profitiert. Meitner erinnert ihn daran, dass sie zu Beginn ihrer Karriere im Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) als Frau nur im Untergeschoss arbeiten durfte und für die Toilette ein externes Restaurant aufsuchen musste. Ihre Anerkennung war stets fragil, was sich darin manifestiert, dass sie in Interviews als „Lise Meitner, l’assistante de Hahn“ („Lise Meitner, die Assistentin von Hahn“) bezeichnet wurde. Die Ungerechtigkeit der wissenschaftlichen Hierarchie wird durch das Allumetten-Motiv versinnbildlicht: „Pasch invente. Et Kreuger tire profit.“ („Pasch erfindet. Und Kreuger zieht Nutzen daraus.“) Lise sieht sich als die Erfinderin (Pasch), deren wissenschaftliche Leistung von einem Mann (Kreuger/Hahn) ausgenutzt und marginalisiert wurde, um Ruhm zu erlangen. Hahns Rechtfertigung, er habe ihre gemeinsame Entdeckung von 1918 (Protactinium) wegen ihres Geschlechts mitunterzeichnen müssen, da „niemand diese Entdeckung ernst genommen hätte“ („personne n’aurait pris cette découverte au sérieux“), beleuchtet die tief verwurzelte Diskriminierung in der Wissenschaft. Lises Kampf um Anerkennung ist daher ein Akt der Selbstbehauptung und nicht der Rache.
Kernspaltung als menschliches Opfer und Meitners Entschluss
Meitners Entschluss, Deutschland zu verlassen, wird im Roman als zutiefst ambivalenter und schmerzhafter Vorgang dargestellt. Sie ist die letzte jüdische Wissenschaftlerin, die 1938 das KWI verlässt. Ihre anfängliche Weigerung, Deutschland früher zu verlassen, rührte daher, dass sie ihre Arbeit nicht aufgeben wollte: „Wir waren so nah am Ziel. So nah!“ Als sie durch den Anschluss 1938 ihre österreichische Staatsbürgerschaft verliert, ist ihre Lage unhaltbar. Hahn steht vor der Wahl, die er nur zögerlich gesteht: „C’était toi ou c’était moi.“ („Es war entweder du oder ich.“) Er opferte Lise, um das KWI und seine Forschung vor den Nazis zu schützen. Lise erkennt darin jedoch nicht nur Angst, sondern wissenschaftliche Opportunität: Er hatte sie in Berlin gehalten, solange er ihre Expertise in Physik brauchte, um die Geheimnisse des Urans zu entschlüsseln. Der wahre Verrat Hahns bestand darin, ihr diese opportunistische Wahrheit zu verheimlichen und die Flucht als reinen „Schutz“ zu maskieren.
Meitner verlässt Deutschland physisch, aber moralisch und emotional bleibt sie dem Land verbunden. Sie vergleicht ihren Verlust mit dem Tod eines Zwillings: „Als ich hier ankam, war es, als wäre mein Zwillingsbruder gestorben. Als hätte man mir die Hälfte meiner selbst weggenommen.“. Ihr spätes Bedauern gilt weniger der Flucht selbst als dem zu späten Zeitpunkt, da sie durch ihre Abwesenheit die endgültige wissenschaftliche Erklärung der Fission nicht vor Ort miterleben konnte.
Ihr endgültiger Entschluss in der Suite, nicht nach Deutschland zurückzukehren, erfolgt, nachdem Hahn ihr anbietet, das Physik-Department des wiederaufzubauenden KWI zu leiten. Lise lehnt ab, weil sie fürchtet, dort nicht frei atmen zu können: „Je crains de ne pas pouvoir respirer librement là-bas.“ („Ich fürchte, dort nicht frei atmen zu können.“) Das Land ist zu sehr von der Vergangenheit kontaminiert; die Rehabilitierung von ehemaligen Mitläufern wie Kurt Hess ist Teil von Hahns Wiederaufbaustrategie („Nous devons faire la paix avec des hommes comme lui.“ [„Wir müssen Frieden schließen mit Männern wie ihm.“]), was für Lise moralisch unmöglich ist. Sie zieht die schwedische Staatsbürgerschaft und ein einfaches Leben im Exil vor, um sich der reinen Wissenschaft zu widmen: „Mon endroit est ici désormais.“ („Mein Platz ist von nun an hier.“)
Die ewige Macht der Vergangenheit: Deutung des Schlusses
Der Roman endet ohne eine echte Versöhnung, aber mit einer neuen, unauslöschlichen Ordnung der Wahrheit. Hahn, der von Lise gefordert wurde, seine Version der Geschichte zu ändern, hat zwar den Nobelpreis gewonnen, doch sein Triumph ist vergiftet. Lise hinterlässt einen stillen, aber eindringlichen Nachhall ihres moralischen Sieges: Nachdem Hahn gegangen ist, um sich für die Zeremonie vorzubereiten, entdeckt er auf dem bewunderten Turner-Gemälde (Tempête de neige en mer) einen blauen Schriftzug, der von Lise stammt: „Nul ne sait ce que nous réserve le passé.“ („Niemand weiß, was die Vergangenheit uns vorbehält.“) Diese Inschrift ist die ultimative Pointe der Konfrontation. Sie ist eine Umkehrung der Zeitlogik: Die Vergangenheit ist nicht abgeschlossen; sie ist eine aktive Kraft, die die Zukunft beeinflusst und ständig Gerechtigkeit oder Enthüllung bereithält. Sie bedeutet für Hahn: Du wirst diesem Gespräch nie entkommen. Lise hat sich damit symbolisch in Hahns Geschichte und in den Moment seines größten Triumphes eingeschrieben.
Der Schluss deutet an, dass Hahn von nun an mit einer „fragilen Selbstwahrnehmung“ leben muss. Obwohl er den Preis erhält, weiß er, dass die offizielle, makellose Erzählung seiner Entdeckung nun mit der Wahrheit über die „sacrificée“ („Geopferte“) kontaminiert ist, die er nicht anerkennen wollte. Lises Zeichen auf dem Kunstwerk ist ein nicht-destruktiver Akt der Wiederaneignung ihrer Leistung und der moralischen Erinnerung. Hahn behält den Ruhm, Lise gewinnt die Wahrheit, die wie ein unentrinnbares Echo an seinem Gewissen haften bleibt. Die Interpretation dieses Endes liegt in der Erkenntnis, dass wissenschaftliches Renommee, wie Gely zeigt, selten durch reine Entdeckung entsteht, sondern durch Macht, Narrativ und die Unterdrückung von unbequemen Wahrheiten – insbesondere jener, die das Opfer einer Frau und Exilantin betreffen.