Poetiken der Kindheit: Clothilde Salelles, Nos insomnies (2025)

Sehr ernsthafte Ermittlungen

In ihrem Debütroman Nos insomnies (Gallimard, 2025) führt Clothilde Salelles uns in die Innenwelt eines Kindes, das in einer Familie aufwächst, deren Dasein von einem unausgesprochenen Geheimnis – der kollektiven Schlaflosigkeit – und der rätselhaften Präsenz des Vaters geprägt ist. Die Erzählung zeichnet keine idyllische Kindheit, sondern vielmehr eine, die durch Ambivalenz, Wahrnehmungsverzerrungen und eine ständige Suche nach Sinn konstituiert wird. Die zentrale Fragestellung dieses Artikels ist, wie der Roman durch die kindliche Perspektive eine spezifische „Poetik der Kindheit“ entwickelt. Dabei wird untersucht, wie das Kind die Welt um sich herum interpretiert, wenn die Erwachsenen schweigen, und welche Rolle die Sprache – sowohl ihre Anwesenheit als auch ihre Abwesenheit – in dieser Konstruktion der Realität spielt.

Drei zentrale Thesen leiten diese Untersuchung: Die Welt als Rätsel (1): Die kindliche Wahrnehmung in Nos insomnies ist von einer grundlegenden Verrätselung der Realität geprägt. Unausgesprochene Geheimnisse und ambivalente Verhaltensweisen der Erwachsenen generieren eine fantastische und verzerrte Weltsicht. Das Scheitern und die Entdeckung der Sprache (2): Der Roman verdeutlicht das Versagen der konventionellen Sprache im Umgang mit familiären Tabus. Dadurch ist das Kind gezwungen, eigene, oft nonverbale oder symbolische Ausdrucksformen und Interpretationen zu entwickeln, um sich der Realität anzunähern. Die Kindheit als narrative Suche (3): Die Protagonistin ist aktiv in eine narrative Sinnsuche verstrickt, die sich in detektivischer Beobachtung, symbolischer Deutung und dem Versuch, die rätselhafte Figur des Vaters zu dechiffrieren, manifestiert. So versucht sie, die Fragmente ihrer Erfahrungen zu einem kohärenten Ganzen zusammenzufügen.

Der Roman erzählt die Geschichte einer namenlosen Ich-Erzählerin, die Ende der 1990er Jahre in einem ländlichen Vorort aufwächst. Zentrales und streng gehütetes Familiengeheimnis ist die chronische Schlaflosigkeit, die „wie ein böser Zauber“ von einem Familienmitglied zum nächsten gleitet. Die Protagonistin ist eine aufmerksame Beobachterin, sie betrachtet ihren Vater, seine mysteriöse Arbeit im Labor und seine Reaktionen auf die Außenwelt (insbesondere Lärm und die Bedrohung durch die sich ausbreitende „Lotissement“-Bebauung) mit Argwohn und Misstrauen. Sie führt „sehr ernsthafte Ermittlungen“ durch, um die unausgesprochenen Wahrheiten zu entschlüsseln, empfindet dabei aber Neid auf die „Probleme“ ihrer Freundin Julie, die benennbar sind und ihrer Existenz eine „Konsistenz“ verleihen. Sommerurlaube auf einem Campingplatz bieten eine temporäre Auszeit von der heimischen Beklemmung; hier scheint der Vater aufzublühen, und die Insomnie tritt in den Hintergrund, auch wenn schließlich selbst der Sommer von ihr „kontaminiert“ wird.

Die kindliche Welt der Erzählerin wird dann durch ein unbenanntes „Drama“ – das sich als der Tod des Vaters herausstellt – in ihren Grundfesten erschüttert. Ihre Umwelt reagiert mit umfassendem Schweigen und Leugnen, wodurch sich die Protagonistin in ihrer Trauer noch isolierter fühlt. Sie versucht, das Geheimnis des Vaters über die Familienshündin zu ergründen, da sie die beiden existenziell verbunden sieht. Die Insomnie der Familie setzt sich fort, und die kindliche Erzählerin muss lernen, mit ihrer eigenen inneren Wut und Verwirrung umzugehen. Erst in vertraulichen Gesprächen mit ihrer Mutter, oft im Auto, werden die Schleier gelüftet, und die Mutter enthüllt die wahren „Ursachen“ der Probleme des Vaters, die in seiner eigenen Kindheit wurzeln. Diese Erkenntnisse ermöglichen der Erzählerin, das Erlebte zu verarbeiten, ihre eigene Stimme zu finden und sich von der lähmenden Last des unausgesprochenen Tabus zu befreien, indem sie beginnt, ihre eigene Vergangenheit zu rekontextualisieren und zu erzählen.

Der gesellschaftliche Wandel in Nos insomnies wird maßgeblich durch die Darstellung der ländlich-urbanen Peripherie und die Einführung bedrohlicher Begriffe der Stadtplanung und des Baugeschehens veranschaulicht. Die Familie lebt in einer „banlieue périurbaine“ (Vorstadtsiedlung), deren Alltag als stark abgegrenzt und abgeschottet beschrieben wird, ähnlich den Hecken und Zäunen, die die Häuser umgeben. Die Landschaft ist von Feldern, Weilern und einer ferneren Stadt geprägt. In dieser Umgebung dringen jedoch immer wieder Anzeichen des gesellschaftlichen Wandels ein, die von der Erzählerin als unterschwellige Bedrohungen wahrgenommen werden. Ein zentraler Begriff, der die Sorge vor dem Wandel symbolisiert, ist das „lotissement“ (Siedlung oder Baugebiet). Dieses Wort, zusammen mit „autorisation“, „mairie“, „parcelle“, „permis de construire“ und der Abkürzung „PLU“ (Plan Local d’Urbanisme), ruft bei den Eltern Angst hervor. Mit dem „lotissement” werden uniforme Häuser assoziiert (beige oder weiße Fassaden, graue oder rote Ziegeldächer, symmetrische Fensterläden, kleine eingezäunte Gärten und Familienautos). Die Eltern fürchten die „promiscuité“ (Nähe oder Mangel an Privatsphäre) und das als unerwünscht empfundene Publikum, das dort einziehen würde. Das Verschwinden des Esels Dédé und die Asphaltierung des Feldwegs zum Haus der Familie werden als Vorboten dieses Wandels interpretiert.

Die tatsächliche Inbetriebnahme der Baustelle des „lotissement“ führt zu einer neuen Realität, die als unheimlich und allgegenwärtig empfunden wird. Morgens um acht Uhr nimmt ein „Monstre de rouille“ (ein Rostmonster, ein Bagger) seine Arbeit auf und verschlingt Schutt. Ein „Charivari“ (ein ohrenbetäubender Lärm) von Kettensägen, Bohrmaschinen und Motorsägen „kolonisiert“ die Geräuschkulisse der Familie. Ähnlich wie sie mit ihren Schlaflosigkeiten umgehen, versuchen die Eltern, die Existenz der Baustelle zu ignorieren. Die Erzählerin beobachtet die muskulösen Bauarbeiter, die eine fremde Sprache sprechen und eine überraschende Leichtigkeit ausstrahlen, obwohl ihr Werk für die Eltern die „Apokalypse“ bedeutet. Später wird in der Nähe sogar ein richtiges „immeuble“ (Wohnhaus), wie es in der Stadt üblich ist, was den Horizont verdeckt und die Mutter beunruhigt.

Der Vater reagiert besonders empfindlich auf die Geräusche des gesellschaftlichen Wandels. Er leidet unter einer „désynchronisation des sens“, bei der Geräusche seinen Körper infiltrieren und ihn physisch beeinträchtigen. Dazu gehören: „laradioduvoisin“ (das Radio des Nachbarn) und dessen „musiquedebeauf“, „ladépartmentale“ (die Departementalstraße), deren permanentes Surren bei Einbruch der Nacht zum Pfeifen wird und ihn in seinen Träumen heimsucht. Diese Straße ist auch gefährlich, da Autos Tiere überfahren, „lesfoutusavions“ (die verdammten Flugzeuge) des „couloir aérien“ (Flugkorridors), deren Lärm ihm „den Schädel abkratzt“. Diese Geräusche beunruhigen die Eltern und führen zu Protesten, durch die das Dorf für kurze Zeit wie eine Gemeinschaft wirkt. Die Erzählerin ist von ihnen fasziniert, da sie „geheime Türen zu den fünf Kontinenten“ öffnen. Am schlimmsten sind die „bruits d’travaux“ (Baustellenlärm), die ihn körperlich quälen und ans Bett fesseln. Sie verursachen ihm körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen („maldedos”) und Kopfschmerzen („maldetête”), weshalb er oft den ganzen Tag im Bett verbringt. Das Schweigen im Haus aus Angst, den schlafenden Vater zu stören, wird zur Regel.

Als Reaktion auf das drohende „lotissement“ beginnt der Vater, eine Gartenhütte („cabane“) zu bauen. Dieses Projekt, das eigentlich zur Aufbewahrung von Werkzeugen gedacht ist, die hauptsächlich von der Mutter genutzt werden, wird zu einem symbolischen „Kampf für die Zivilisation“. Es stellt eine „Konkurrenz“ zur kalten Perfektion und Uniformität der neuen Siedlung dar und betont die Natürlichkeit und Wärme des Holzes gegenüber den aseptischen Fassaden der neuen Häuser. Die Hütte ist ein Ort, an dem die Hände des Vaters wieder lebendig werden, ein Kampf gegen den Bagger und den Schutt. Ihr Charme verfliegt jedoch, als eine neue Baustelle für ein weiteres großes Gebäude in Sichtweite der Hütte entsteht. Insgesamt wird der gesellschaftliche Wandel im Roman nicht nur durch konkrete Baumaßnahmen und Geräusche dargestellt, sondern auch durch die psychologische Belastung, die diese Veränderungen bei den Familienmitgliedern, insbesondere beim Vater, hervorrufen. Ebenfalls thematisiert wird das Schweigetabu, das um diese Themen und das „Drama“ im Allgemeinen gelegt wird.

Librairie Mollat: Clothilde Salelles, Nos insomnies.

Die Welt als Rätsel und der Vater

Die Kindheit in Nos insomnies ist keine Zeit der klaren Erkenntnis, sondern ein Stadium der permanenten Dechiffrierung einer Welt, die sich dem Kind in Rätseln darbietet. Dies manifestiert sich durch die Unfähigkeit der Erwachsenen, direkt über familiäre Probleme zu sprechen, und die daraus resultierende fantastische Interpretation durch das Kind. Das zentrale Geheimnis der Familie ist die Insomnie, eine Schlaflosigkeit, die von der Protagonistin nicht als medizinischer Zustand, sondern als „böser Zauber“ wahrgenommen wird:

Comme toutes les familles, nous avions un secret. Ce secret, c’était que la nuit, nous ne dormions pas. L’insomnie, tel un mauvais sort, glissait des uns vers les autres.

Wie alle Familien hatten wir ein Geheimnis. Dieses Geheimnis war, dass wir nachts nicht schliefen. Die Schlaflosigkeit griff wie ein Fluch von einem auf den anderen über.

Durch diese Metaphorik des Zaubers wird die Realität zu einem mystischen Szenario, in dem die Ursachen der Schlaflosigkeit übernatürlich erscheinen. Die kindliche Logik versucht, das Unverständliche durch fantastische Erklärungen zu fassen. Der Vater, dessen Existenz außerhalb des Hauses bereits fragwürdig erscheint („ce métier n’existait pas vraiment“), trägt zur Verrätselung bei, indem er von einem Ort namens „clairière“ spricht, den die Erzählerin sich als „lieu circulaire, entouré d’une voûte arborée et inondé de lumières tombant en cascade“ vorstellt – ein magischer Ort, der in starkem Kontrast zur nüchternen Vorstadtrealität steht. Die Kindheit wird somit zu einem Bereich, in dem das Reale durch die Linse einer fantasievollen, aber auch ängstlichen Wahrnehmung verzerrt und mit Bedeutungen aufgeladen wird, die sich Erwachsenen entziehen. Selbst profane Alltagsgeräusche werden in der kindlichen Vorstellung zu „verrückten Klängen“, und der Vater selbst nimmt in ihrer Vorstellung die Gestalt eines Tieres an.

Er wird als eine rätselhafte und widersprüchliche Figur charakterisiert, die eine zentrale Quelle der Spannung und des Schweigens innerhalb der Familie ist. Er ist für die Erzählerin oft schwer fassbar, eine „Schattenfigur“ oder „Chimäre“, deren wahres Berufsleben und Aktivitäten im Büro-Kämmerchen („cagibi“) angezweifelt werden. Er spricht in „abstrakten, wissenschaftlichen und vagen“ Worten. Seine Präsenz im Haus ist oft nur als „graues, dickes Schweigen“ spürbar. Er scheint in einer „Welt ohne Objekte“ zu leben, es sei denn, es handelt sich um seine persönlichen „Totems“ wie sein Tagebuch, seine Zigarillos, seinen Hund oder die Tintin-Alben. Seine chronische Schlaflosigkeit („Insomnie“) ist sein zentrales, tabuisiertes Problem und das „Geheimnis“ der Familie. Sie äußert sich in seinem ständigen Kampf um Schlaf sowie in Rückenschmerzen („mal de dos“) und Kopfschmerzen („mal de tête“), die ihn ans Bett fesseln können („journéedifficile“). Bestimmte Geräusche wie Bauarbeiten, das Radio des Nachbarn, die Durchgangsstraße und Flugzeuge dringen in seinen Körper ein und lösen extreme physische Reaktionen aus, die ihn bis zur Bewegungsunfähigkeit ans Bett fesseln. Der Vater besitzt einen „wissenschaftlichen Geist“ und Freude am Lösen von Rätseln (Videospiel „MYST“), scheitert aber daran, sich selbst zu verstehen. Er hat einen Sinn für Humor, der sich jedoch oft in verstörenden Lügen oder dem absichtlichen Erzeugen von Panik bei der Erzählerin äußert.

Obwohl er oft physisch abwesend oder zurückgezogen ist, bestimmt sein Zustand den Rhythmus und die Atmosphäre im Haus. Das Familienleben wird vom „chutpapadort“ (Psst, Papa schläft!) beherrscht, was ständige Stille und Anspannung erfordert. Dies führt zu einer „erdrückenden Stille“ und einem „dicken Samtvorhang“ des Schweigens. Seine Schlaflosigkeit und seine psychischen Probleme sind das zentrale, niemals benannte Familiengeheimnis („ce qui s’est passé“, „la façon dont ça s’est passé“), über das nicht gesprochen werden darf. Dies führt für die Erzählerin zu einer „Nicht-Existenz ohne Worte“. Die „schwierigen Tage” des Vaters beeinflussen die gesamte Familie, erzeugen „Spannungen” und „Frustrationen” und führen dazu, dass Familienmitglieder ihre Emotionen unterdrücken oder sich zurückziehen. Die Erzählerin kann sich weder an seine Stimme noch an konkrete Interaktionen mit ihm erinnern, was die Entfremdung unterstreicht. Die Familie vermeidet es, Gäste einzuladen, aus Angst, das Geheimnis könnte ans Licht kommen. Obwohl seine Anwesenheit bedrückend ist, bietet sie der Erzählerin paradoxerweise einen gewissen „Rahmen“ oder „Sinn“, der ihrer eigenen Existenz Bedeutung verleiht. Der Sommerurlaub im Zelt ist eine seltene Ausnahme, in der der Vater „eine neue Person“ wird und in der Familie gelacht wird.

Das Scheitern und die Entdeckung der Sprache

Ein zentrales Motiv des Romans ist das Schweigen der Erwachsenen und die daraus resultierende Notwendigkeit für das Kind, eigene Wege der Sprachfindung zu gehen. Die Familie hat eine implizite „Philosophie“, bestimmte Dinge nicht zu benennen:

La philosophie de la maison, c’était de ne pas parler de ces insomnies, d’en faire un sujet tabou, comme si de la sorte elles allaient disparaître.

Die Philosophie des Hauses war es, nicht über diese Schlaflosigkeit zu sprechen, sie zu einem Tabuthema zu machen, als ob sie dadurch verschwinden würde.

Dieses Tabu des Schweigens wird zu einem „Tentakel-Monster“, das die Kommunikation erstickt und die Protagonistin dazu zwingt, ihre eigenen Erfahrungen und Gefühle zu unterdrücken. Sie bemerkt neidisch, wie Julies Familie explizite Worte wie „argent“ oder „connard“ für ihre Probleme besitzt, während ihre eigene Familie in vagen Umschreibungen verharrt oder schlichtweg schweigt. Die Erzählerin fühlt sich in ihrer „Nicht-Existenz ohne Worte, um sie zu erzählen“ gefangen. Nach dem Tod des Vaters wird das Sprechen über ihn zu einem noch größeren Tabu. Die Mutter von Julie unterbindet das sogar physisch: „Elle se précipita sur moi et me bâillonna la bouche pour me faire taire ; elle mit ses deux petites mains sur mes lèvres et les pressa si fort et si longtemps que je finis par baver sur ses doigts.“

Die „Poetik der Kindheit“ offenbart hier, wie das Kind unter der Last des Ungesagten leidet, aber auch, wie es sich daraus befreit. Die Erzählerin lernt, zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren zu unterscheiden, und findet schließlich in ihrer Mutter eine Verbündete, die den „Schleier des Schweigens“ lüftet und die „komplexe semantische Halbinsel“ der Vergangenheit des Vaters offenbart. Durch diese späte Öffnung kann die Protagonistin die „Worte, die aufhörten, Vorwände zu sein“, für sich beanspruchen und ihre eigene Geschichte erzählen.

Die Erzählerin verwendet oft zu einem Wort verschmolzene Ausdrücke, die das unausgesprochene familiäre Tabu widerspiegeln und die Allgegenwart der Probleme betonen. Beispiele hierfür sind „chutpapadort” (Psst, Papa schläft), das eine ständige Anweisung darstellt, um den Vater nicht zu stören, sowie „journédificil” (schwieriger Tag), das eine komplexe Stimmung aus Müdigkeit und Frustration zusammenfasst. Nach dem Tod des Vaters werden das Trauma und das Geschehene zunächst euphemistisch mit „ce qui s’est passé“ (was passiert ist) und später etwas präziser, aber immer noch vage, mit „la façon dont ça s’est passé“ (wie es passiert ist) bezeichnet. Dies verdeutlicht die Schwierigkeit oder Weigerung der Familie, die Wahrheit direkt zu benennen.

Das Schweigen ist ein zentrales Element der Familiendynamik. Es wird als „Geheimnis“ beschrieben, dass die Familie nachts nicht schlief. Die „Philosophie des Hauses“ war es, nicht über die Schlaflosigkeit zu sprechen, sie zu einem Tabu-Thema zu machen, in der Hoffnung, dass sie dadurch verschwinden würde. Dieses Schweigen wird als „grau und dick“ oder als „dicker Samtvorhang“ beschrieben, der die Familie umschließt und alles verschluckt, was nicht verbalisiert werden soll. Es ist eine „Injunktion zum Schweigen“, die von den Erwachsenen aufrechterhalten wird.

Die Erzählerin erkennt, dass „Dinge verbalisiert werden müssen, um zu existieren“. Gleichzeitig sind Worte für die Erwachsenen beängstigend, da sie eine „schädliche Macht“ besitzen können. Sie können „Ereignisse ins Gedächtnis brennen“. Deswegen vermeiden sie klare Benennungen, besonders die Mutter von Julies Freundin, die verhindern will, dass „la façon dont ça s’est passé“ ihre Tochter „kontaminiert“.

Die Worte der Erwachsenen über ernste Probleme wirken oft abstrakt und distanziert. Der Psychologe verwendet den Ausdruck „problèmespsychologiques“ (psychologische Probleme), der für die Erzählerin „die Kälte eines neutralen Wissens“ hat und schwer auszusprechen ist. Der Vater selbst verwendet „abstrakte, wissenschaftliche und vage“ Begriffe, wenn er über seine Arbeit spricht. Auch andere Begriffe wie „drame“ oder „malheur“ werden als leere Hüllen empfunden, die von den Erwachsenen als Schutzschilde benutzt werden, um die Dinge zu benennen, ohne darüber sprechen zu müssen.

Nach dem Tod des Vaters wird seine Existenz sprachlich aktiv geleugnet. Man spricht von der Familie als „vous quatre“ (ihr vier) anstatt „vous cinq“ (ihr fünf). Auch der Besitz, wie das Auto, wird neu zugeschrieben: „lavoituredetamère“ (das Auto deiner Mutter) statt „lavoituredetonpère“ (das Auto deines Vaters). Wenn über den Vater gesprochen werden muss, geschieht dies mit „Stottern, fehlenden Silben wie Stufen, ausweichenden Blicken“, was die Peinlichkeit und den Denial der Umgebung verdeutlicht.

Im Laufe des Romans entdeckt die Erzählerin die Möglichkeit, die Kontrolle über ihre eigene Sprache zu übernehmen. In vertrauten Gesprächen mit ihrer Mutter im Auto beginnt sie, die „Ursachen“ und die „Art und Weise, wie es passiert ist“ zu verbalisieren. Sie beschreibt diese Worte als „kleine Lichter“ und „Scheinwerfer auf die Vergangenheit“, die eine komplexe Realität gegenüber der „falschen Perfektion glatter Erscheinungen und hergestellten Schweigens“ aufzeigen. Am Ende empfindet sie die „Freiheit, ihre eigenen Worte zu wählen“, und die „Worte waren wilde Tiere, denen man ihre Freiheit zurückgegeben hatte“.

Kindheit als narrative Suche und der Abschluss

Die Protagonistin ist kein passives Opfer ihrer Umstände, sondern eine aktive Akteurin, die versucht, die Kontrolle über ihre eigene Geschichte zu gewinnen. Ihre „Ermittlungen“ sind der Versuch, eine Erzählung zu konstruieren, die ihrer chaotischen Realität Sinn verleiht:

À la maison, je menais des enquêtes très sérieuses, avec une éthique professionnelle inégalable. J’espionnais les parents, j’écoutais les conversations téléphoniques derrière les portes, je fouillais dans les affaires, dans la chambre maritale… Je cherchais des marques tangibles, des bigarrures, je voulais désosser le réel.

Zu Hause führte ich sehr ernsthafte Ermittlungen durch, mit einer unübertroffenen Berufsethik. Ich spionierte meinen Eltern nach, lauschte hinter verschlossenen Türen ihren Telefongesprächen, durchsuchte ihre Sachen, das Schlafzimmer meiner Eltern… Ich suchte nach greifbaren Hinweisen, nach Unstimmigkeiten, ich wollte die Realität auseinandernehmen.

Diese fast detektivische Haltung zeigt den kindlichen Drang, die undurchsichtige Welt der Erwachsenen zu entschlüsseln. Ihre Faszination für die „Flüstern“ des Vaters aus seinem Arbeitszimmer oder die Notizen zu seinem Videospiel „MYST“, die „die Lösung eines Rätsels“ evozieren, spiegeln ihren eigenen Wunsch wider, die Rätsel ihrer Existenz zu lösen. Die Figur des Vaters selbst ist ein ständiges Objekt ihrer Beobachtung und Deutung: Sie versucht, ihn außerhalb des häuslichen Umfelds zu visualisieren, aber es gelingt ihr nicht: „Ich konnte ihn nicht außerhalb des Hauses sehen, seine Anwesenheit in den Straßen unseres Dorfes erschien mir einfach unpassend.“ Dies ist Teil ihrer narrativen Suche, da sie versucht, eine kohärente Geschichte über ihn zu erzählen.

Die „Poetik der Kindheit“ in Nos insomnies zeigt, wie das Kind nicht nur Realität wahrnimmt, sondern sie auch aktiv erschafft, indem es versucht, Lücken zu füllen und das Ungesagte zu interpretieren. Diese narrative Suche ist ein Überlebensmechanismus, der es der Protagonistin ermöglicht, das Schweigen und die Traumata ihrer Kindheit zu überwinden und schließlich ihre eigene Stimme als Erzählerin zu finden, die die zuvor „leere Seite“ mit Bedeutung füllt.

Der Vater stirbt infolge eines Ereignisses, das im Roman als „ce qui s’est passé“ oder „le drame“ umschrieben wird und zu Beginn des Sommers eintritt. Die genaue Methode seines Todes wird nicht explizit genannt, aber die Erzählerin gibt starke Hinweise und schildert die Umstände indirekt. Sie beschreibt den letzten Tag des Vaters als Abfolge von Handlungen, die im Nachhinein eine tiefere, tragische Bedeutung erhalten. Er verbringt seine letzten Stunden mit Einkäufen: Zunächst kauft er ein Paar neue Tennisschuhe der Marke Nike in einem Sportgeschäft (Decathlon). Nur eine Stunde später kauft er in einem Baumarkt (Weldom) einen Gegenstand, der sich später als eine neue, sehr robuste Befestigung für das Halsband des Hundes herausstellt. Sie ist mit einem Stahlkarabiner ausgestattet, der verhindern soll, dass der Hund entweicht. Die Erzählerin reflektiert, wie Leben und Tod in diesen scheinbar alltäglichen Handlungen so prägnant und gewaltsam koexistieren konnten. Sie bezeichnet sie als „Gestus des Lebens“ und „die vielversprechendste Projektion in die Zukunft“.

Die Erzählerin hat eine eindringliche, traumähnliche Vision ihres Vaters: Er liegt auf dem Rücken ausgestreckt, „versteinert“, mit einer „Krake“ (pieuvre) über seinem Gesicht, die ihm einen langen, sanften Kuss gibt. In dieser Szene ist auch eine „Frau in einem weißen Kittel“ anwesend, die „tentakelartige Fäden“ auf seinem Gesicht, seinem Oberkörper und seinen Armen anordnet und seine Stirn berührt. Diese Bilder deuten auf einen medizinischen Kontext oder die unmittelbare Nachwirkung des Todes hin. Die Erzählerin hebt hervor, dass der Vater eine „Geschicklichkeit im Tod“ („dextérité dans la mort“) besass, was auf eine bewusste und präzise Handlung hindeutet. Die Kombination aus dem Kauf der Halsbandbefestigung in einem Baumarkt, kurz bevor „ce qui s’est passé“, und der metaphorischen Darstellung seines Todes legt nahe, dass der Vater sich das Leben genommen hat. Dabei könnte die neue Halsbandbefestigung symbolisch oder sogar als Werkzeug eine Rolle gespielt haben.

Der Tod des Vaters ist das zentrale, aber tabuisierte Geheimnis der Familie, über das nicht direkt gesprochen wird („silence“, „on ne faisait rien de ces microrituels“). Erst viel später erfährt die Erzählerin von ihrer Mutter die Hintergründe („la façon dont ça s’est passé“), die mit der Kindheit des Vaters, seinem tiefen „Unglück“ („mal-être“) und einem Gefühl des „ewigen Scheiterns“ zusammenhängen. Dies umfasste auch seine chronische Schlaflosigkeit („insomnies“), seine Rückenschmerzen („maldedos“), Kopfschmerzen („maldetête“) und seine „psychologischen Probleme“ („problèmespsychologiques“).

Der Abschluss des Romans Nos insomnies von Clothilde Salelles beschreibt das Leben der Familie nach dem Tod des Vaters, der im Text als „ce qui s’est passé“ bezeichnet wird. Die Endpassagen ab Teil III zeigen eine grundlegende Entwicklung der Erzählerin und ihrer Familie im Umgang mit dem Verlust und dem zuvor streng gehüteten „Geheimnis” der Schlaflosigkeit.

Unerwarteterweise empfindet die Erzählerin am Tag der Beerdigung und in den folgenden Wochen eine Form der Schwerelosigkeit und Erleichterung. Dieses Gefühl, das sie zunächst beschämte und geheim hielt, wird zu einer „angenehmen Gelassenheit“. Ihre Umgebung nimmt sie mit einer „plötzlichen Klarheit“ wahr. Dies deutet darauf hin, dass der Tod des Vaters eine Befreiung von der erdrückenden Atmosphäre und dem unausgesprochenen Tabu darstellt, das zuvor im Haus geherrscht hatte.

Die Mutter übernimmt eine neue, stabilisierende Rolle. Sie stellt sicher, dass der Familienalltag unverändert bleibt und die „Räder unseres Daseins“ reibungslos weiterlaufen. Die abendlichen Gewohnheiten werden lockerer und „anarchischer“. Das Zwanghafte des gemeinsamen Abendessens entfällt und die Familie isst oft im Wohnzimmer vom Couchtisch. Das Auto, früher ein Ort der Anspannung und der „Krümel der Schlaflosigkeit“ des Vaters, wird zum „Territorium“ der Mutter und zu einem „Hafen“ für vertrauliche Gespräche. Hier können die zuvor unaussprechlichen „Dinge“ des Vaters thematisiert werden: seine Kindheit, seine unerfüllten Träume und seine psychologischen Probleme. Die Mutter enthüllt ein „komplexes, oft widersprüchliches“ semantisches Gebiet und wird zur „Zauberin“, die ein „Geheimniswissen“ über den Vater weitergibt.

Die Erzählerin erhält den Schreibtisch des Vaters, dessen Bedeutung für sie in seiner Unbestimmtheit liegt. Die Entdeckung seiner Notizen zum Videospiel „MYST“ in dem verschlossenen Schubfach enthüllt seinen „wissenschaftlichen Geist“ und seine Freude am Lösen von Rätseln – im Kontrast zu seinem Unvermögen, sich selbst zu verstehen. Die Erzählerin erkennt, dass sie sich nicht an seine Stimme oder konkrete Interaktionen, sondern nur an „Gerüche und Bilder“ sowie die „hartnäckigen Wörter“ wie „bruitsd’travaux“ oder „maldedos“ erinnern kann. Durch Gespräche mit der Mutter und eigene Reflexionen entstehen neue „Fragmente“ über den Vater. Diese lassen ihn als „reale Person“ mit sozialen Beziehungen und einer komplexen Vergangenheit erscheinen: seine Probleme am Arbeitsplatz, sein LSD-Konsum in jungen Jahren, ein Autounfall, bei dem er fast einen Fußgänger überfahren hätte, sein Charisma und seine Empfindlichkeit. Diese „Oszillationen“ zwischen der „chimärischen Schatten“-Figur ihrer Kindheit und der „konkreten Person“ im Nachhinein lassen den Vater „nach seinem Tod sehr verändert“ erscheinen. Dieser Prozess der Entwicklung hört niemals auf.

Das Tabu des Schweigens („cequisépassé“/„lafaçondontçasépassé“) wird allmählich durchbrochen. Die Interaktion mit Leïla, die das Schweigen mit der Frage „Wie hieß er?” durchbricht, markiert einen Wendepunkt. Die Erzählerin erkennt, dass sie nun die Freiheit hat, ihre eigenen Worte zu wählen. Diese Worte sind keine „Fassaden“, „Fesseln“ oder „Ketten“ mehr, sondern „Fauves, denen man die Freiheit zurückgegeben hat“. Sie muss eine „Sprache erfinden“. Die Schlaflosigkeit, das ursprüngliche Familiengeheimnis, ist zwar immer noch präsent, aber sie ist nicht mehr beschämend und kann verbalisiert werden. Die Erzählerin lernt, sie zu „beherrschen“ und zu „zähmen“. Dies gelingt ihr, indem sie sich auf „mächtige Bilder“ konzentriert: die Autofahrten mit ihrem Vater, die sie in eine „magische Ruhe“ versetzten, oder angenehme Urlaubserinnerungen. Besonders prägend ist die Vorstellung einer Lichtung mit Rehen und Hirschen, die sie in ihren Träumen besucht. Diese Lichtung ist ein Ort der Stille und der Verbindung zwischen dem „Fauve“ (dem Hund) und den wilden Tieren. In der Realität enttäuschte dieser Ort, doch in der Imagination wird er zu einem „Gegenmittel gegen Schlaflosigkeit“. Es ist ein Ort, an dem die „Fauven“ ohne Leine oder Halsband sind und ein „silenter Blickwechsel“ stattfindet. Dies symbolisiert die Akzeptanz und Integration der wilden, ungezähmten Aspekte in ihrem Leben und in der Erinnerung an den Vater. Die Schlaflosigkeit hängt nicht mehr von der physischen Präsenz oder dem Zustand des Vaters ab. Sie ist kein Geheimnis mehr und kann „gezähmt“ werden.

Somit lässt sich der Abschluss des Romans als ein Prozess der Bewältigung, Selbstfindung und Neubewertung der familiären Vergangenheit interpretieren. Die Erzählerin überwindet das erdrückende Schweigen und die diffusen Ängste ihrer Kindheit, indem sie die Wahrheit über ihren Vater (und sich selbst) in Worte fasst. Die anfangs als Fluch empfundene Schlaflosigkeit wird zu einem beherrschbaren Zustand, da sie lernt, innere Bilder und Erzählungen zur Beruhigung zu nutzen. Der Roman endet mit einem Gefühl der Autonomie und der Möglichkeit, die eigene Geschichte frei von den Tabus und „Fassaden“ der Vergangenheit zu erzählen.

Fazit

Clothilde Salelles gelingt mit Nos insomnies eine Darstellung der Kindheit, die sich von einer romantisierten Vorstellung abwendet und stattdessen die komplexe, oft beunruhigende Realität einer kindlichen Subjektivität hervorhebt. Die „Poetik der Kindheit“ im Roman ist eine der Verrätselung und des suchenden Blicks, geprägt durch das familiäre Tabu der Schlaflosigkeit und die rätselhafte Figur des Vaters. Das Schweigen der Erwachsenen über ihre „Probleme“ zwingt die Protagonistin zu einer aktiven, oft fantasievollen Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, in der sie versucht, das Unsagbare zu dechiffrieren und ihm einen Sinn zu geben. Die physischen Manifestationen der emotionalen Last unterstreichen die Intensität dieser kindlichen Erfahrung.

Der Roman demonstriert eindringlich, dass Kindheit nicht nur ein passives Erleiden, sondern auch ein aktives Gestalten der Welt ist – insbesondere, wenn die direkte Kommunikation versagt. Die allmähliche Entdeckung der Wahrheit durch Gespräche mit der Mutter und das Finden einer eigenen Sprache symbolisieren die Befreiung von der Last des Tabus. Der Text selbst wird so zur Verkörperung dieser Befreiung und zur Konstruktion einer neuen, selbstbestimmten Erzählung. Somit ist der Roman Nos insomnies nicht nur die Geschichte einer Kindheit, sondern auch ein Plädoyer für die transformative Kraft des Erzählens und die Überwindung des Schweigens. Die Poetik der Kindheit in diesem Werk verdankt sich der Fähigkeit der Erzählerin, durch literarische Arbeit die „Geheimnisse” nicht nur aufzudecken, sondern ihnen eine eigene, bedeutungsvolle Form zu verleihen. Dadurch wird sie aus der Passivität der Beobachtung zur aktiven Schöpferin ihrer eigenen Realität. Das Buch ist der Beweis dafür, dass „eine Sprache noch erfunden werden musste“, um das Unfassbare zu benennen und zu verstehen.


Neue Artikel und Besprechungen


rentrée littéraire
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.