Der Pariser Literaturwissenschaftler Dominique Rabaté, durch zahlreiche Arbeiten zur französischen Gegenwartsliteratur ausgewiesen, bietet mit Limites de l’empathie eine kritische Auseinandersetzung mit der heutigen, oft unreflektierten Verherrlichung von Empathie und Identifikation. Rabaté, selbst als Professor auch Lehrender an der Universität, stellte fest, dass seine Studenten Identifikation häufig als die primäre Qualität eines Textes ansehen und sogar als Bedingung für dessen Erfolg betrachten, indem sie sagen: „Ich identifiziere mich“ als Kompliment an das Werk. Diese Haltung motivierte ihn, die Mechanismen hinter diesen Konzepten genauer zu untersuchen.
Rabaté betont, dass die Frage der Empathie zwar alt ist – die Fähigkeit, sich in die Emotionen oder Gedanken anderer hineinzuversetzen – aber das Wort in den letzten zwanzig Jahren eine enorme Popularität erfahren hat. Er verweist auf Neurologie und kognitive Wissenschaften, die Spiegelspezifische Neuronen entdeckt haben, welche unsere Reaktion auf Emotionen anderer erklären. Die heutige Gesellschaft ist geprägt von Begriffen wie „Ressentiment“ und „Wohlwollen“, was zu einer Ausweitung des Empathiebegriffs führt, als ob alles in persönlichen, intersubjektiven Beziehungen spiele.
In diesem Kontext sei bspw. an den Tagungsband Empathie et Esthétique erinnert, herausgegeben von Alexandre Gefen und Bernard Vouilloux, der aus den Akten eines 2010 an der Universität Bordeaux abgehaltenen Kolloquiums entstanden ist. Das Buch versammelt etwa zwanzig Beiträge, die die Anwendung und Relevanz des Empathiebegriffs im ästhetischen Bereich, insbesondere in der Literaturwissenschaft, untersuchen. Demnach entstand der Empathiebegriff Ende des 19. Jahrhunderts an der Schnittstelle von Ästhetik und Psychologie und hat in den letzten Jahren ein starkes Wiederaufleben in der phänomenologischen/kognitiven Philosophie und Sozialpsychologie erfahren. Einige Artikel untersuchen Empathie als Studienobjekt in ihren theoretischen oder historischen Grundlagen, während andere die Befragung von Emotionen als hermeneutisches Werkzeug zur Analyse von Werken nutzen. 1 Der Band beleuchtet, wie der Empathiebegriff, der Ende des 19. Jahrhunderts an der Schnittstelle von Ästhetik und Psychologie entstand, in den letzten fünfzehn Jahren ein starkes Wiederaufleben in der phänomenologischen, kognitiven Philosophie und Sozialpsychologie erfahren hat. Diese Forschungen haben seit den 2000er Jahren einen wichtigen Strom in der Literaturtheorie und -kritik inspiriert, der sich primär mit der Rolle der Emotionen (von Lesern, Zuschauern und Schöpfern) im Bezug zu Kunstwerken beschäftigt. Der Sammelband selbst verfolgt dabei eine doppelte Position: Einige Artikel untersuchen Empathie als Studienobjekt in ihren theoretischen oder historischen Grundlagen, während andere die Befragung von Emotionen als hermeneutisches Werkzeug zur Analyse von Werken nutzen.
Zentrale Thesen und Konzepte
Identifikation und Desidentifikation
Für Rabaté ist die Literatur nicht primär ein Ort der sofortigen Empathie, sondern vielmehr ein Medium, das uns dazu anregt, die Grenzen unserer eigenen Empathie zu erkunden. Er argumentiert, dass Identifikation immer untrennbar mit einem Prozess der „Desidentifikation“ verbunden ist. Um sich mit anderen zu identifizieren, muss man sich gewissermaßen von sich selbst lösen („se déprendre de soi“). Dieser Prozess ist befreiend und verhindert, dass man auf eine soziale Identität oder Zuschreibung reduziert wird. Identifikation ist für ihn immer prozessual und dynamisch.
Die Komplexität der Identifikation
Rabaté hinterfragt die naive Annahme, sich „ganz und gar“ in eine Figur hineinversetzen zu können. Er hebt hervor, dass Leser in einem Text an vielen Stellen präsent sind und sich nur partiell identifizieren. Die Dynamik der Identifikation ist komplex, unklar und ambivalent.
Das Impersonelle
Er schlägt vor, dass die Literatur uns dazu herausfordert, in eine „unpersönliche“ Dimension einzutreten, die weder dem Leser noch dem dargestellten Charakter allein gehört. Dies ist ein „Eintritt in das Impersonelle“. Diese Dimension erinnert uns daran, dass wir nicht immer wissen, wer derjenige ist, der in uns liest.
Der Prozess der Desidentifikation ist für Rabaté entscheidend, weil er glaubt, dass Kunst und Literatur uns zwar Prozesse der Wiedererkennung und des Aufbaus eines Selbstbildes mit anderen ermöglichen, uns aber auch in Beziehung zu etwas setzen, das er das „Impersonelle“ nennt. Dies ist etwas, das weder dem Anderen noch dem eigenen Ich gehört, sondern eine Art Universalität oder Verallgemeinerung darstellt. Er kritisiert, dass viele moderne Kunsttheorien eine hundertprozentige Immersion in das Werk fördern und dabei den notwendigen ästhetischen Rückzug und die Verbindung zum Impersonellen vernachlässigen. Dieser Prozess der Desidentifikation ist auch befreiend, da er uns von sozialen Identitätszuweisungen befreit.
Ethik und Grenzen der Empathie
Rabaté betont die ethische Bedeutung der Erkenntnis, dass der Andere der Andere bleibt. Man kann nicht vollständig die Motivationen und Gedanken des anderen verstehen. Er warnt vor Illusionen einer rein transitiven, einfachen Kommunikation. Diese Grenzen der Empathie sind auch der Titel seines Buches.
„Empathie zweiten Grades“ oder „verzögerte Empathie“
Bei der Auseinandersetzung mit extremen Fällen wie der Darstellung des Bösen (z.B. Joseph Mengele oder Serienmörder) in der Literatur plädiert Rabaté für eine andere Form der Empathie. Anstatt direkter Empathie mit dem Täter, spricht er von Empathie für den Erzähler, der sich mit der Schwierigkeit dieses Verständnisses auseinandersetzt. Ein Paradebeispiel hierfür ist Emmanuel Carrères L’adversaire über Jean-Claude Romand, wo die Empathie nicht für Romand, sondern für Carrère selbst gilt, der mit seiner eigenen Verstrickung und Distanz ringt.
Anwendung: ästhetische Distanz
Rabaté unterlegt seine theoretischen Überlegungen mit konkreten Fallstudien: Olivia Rosenthals Werk beispielsweise erkundet die Identifikation mit Tieren und die Suche nach sexueller Singularität. Patrick Modianos Werke zeigen das Schwanken und die Unschärfe der Identifikation, wobei die Charaktere oft nicht genau wissen, wer sie sind, was die Literatur nicht als Identitätsgeber, sondern als Reflexionsfläche für Identitätsunsicherheit fungieren lässt. Pascal Quignard geht noch einen Schritt weiter und fordert eine Ablehnung der Identifikation, da er die Literatur als Ort der befreienden Desidentifikation sieht, die den Leser von sozialen Zuschreibungen löst.
Rabaté kritisiert die Tendenz in der zeitgenössischen Ästhetik, Immersion und hundertprozentiges Eintauchen in das Werk zu fördern. Er erinnert an die notwendige ästhetische Distanz und eine Öffnung für das „Impersonelle“. Er sieht einen „Rückfluss des kritischen Denkens über Kulturprodukte“ zugunsten einer vermeintlichen Freiheit ihrer Nutzung und eines Bedürfnisses nach Nähe und persönlicher Bestätigung. Literatur solle nicht nur „feel good“-Effekte erzielen.
Dominique Rabaté sieht die Frage der Identifikation als ein breites Phänomen, das über die Literatur hinausgeht und alle fiktionalen Aktivitäten betrifft, einschließlich Kinderspiele, Kino, Theater und Videospiele. Er glaubt nicht an eine absolute Trennung der Literatur von anderen Künsten oder an eine ästhetische Hierarchie innerhalb der Literatur. Populäre Kultur, wie Harry Potter oder Star Wars, kann ebenfalls existenzielle Fragen aufwerfen und als Vergleichsfeld dienen, um die spezifischen Wirkweisen der Literatur zu verstehen.
Insgesamt bietet Rabaté mit Limites de l’empathie ein wichtiges Korrektiv zur gegenwärtigen „Empathie-Mode“, indem er die Nuancen, Komplexitäten und ethischen Implikationen dieser oft missverstandenen Konzepte beleuchtet. Er erinnert uns daran, dass die literarische Lektüre uns letztlich lehrt, dass wir nicht immer wissen, wer derjenige ist, der in uns liest, und dass die Auseinandersetzung mit der Literatur eine Möglichkeit ist, die „Plastizität der Identifikation“ oder die „moralische Plastizität“ zu erfahren.
Anmerkungen- Vgl. Mathilde Bombart, „La lecture au risque de l’empathie“, Acta fabula, https://doi.org/10.58282/acta.8660.>>>