Inhalt
Je ne sais pas ce que ça peut vouloir dire
Heine/Silcher, Lorelei, air populaire, in Jean-Jacques Schuhl, Ingrid Caven, Gallimard, L’Infini, 2000.
Je suis tellement triste
Un conte des très anciens temps
Ne s’en va pas de ma tête
Ich weiß nicht was soll es bedeuten
Daß ich so traurig bin
Ein Märchen aus uralten Zeiten
Das geht mir nicht aus dem Sinn
Die Figur der Caven ist hier gleichsam eine moderne Lorelei, ein weibliches Trugbild, das zugleich fasziniert und Untergang verheißt. Die Erwähnung der Nacht am Meer 1943 und die Sacrée nuit führen in eine mythisch überhöhte Szenerie, in der Krieg, Unschuld und Perversion ineinander greifen. Ingrid Caven wurde als „zweite Marlene Dietrich“ oder als „neue Piaf“ bezeichnet und in die „sehr deutsche Tradition der Marlene, Zarah Leander, Marianne Oswald“ gestellt. Sie verkörpert eine Mischung aus „Raffinement und Verkommenheit“ wie im Berlin der 1930er Jahre. Sie wird als „Deutschland und Anti-Deutschland zugleich“ wahrgenommen, ein „leises Echo der späten zwanziger Jahre“, und eine Erbin von Brecht-Sängerinnen wie Lotte Lenya. Caven selbst nimmt diese Zuschreibung wahr und sieht sie im Zusammenhang mit ihrer Erziehung in den Ruinen des Zweiten Weltkriegs und einer daraus resultierenden „Sehnsuchtskraft“. Ingrid Caven ist weniger eine Person als eine Kunstfigur, ein wandelnder Mythos. Schuhl gestaltet sie als Sängerin, Schauspielerin, Muse. Ihr Habitus erinnert an die Avantgarde der Jahrhundertmitte, an Brecht’sche Verfremdung ebenso wie an die Coolness amerikanischer Popikonen. Immer wieder wird ihre Präsenz beschrieben: der Marlboro-Light-Rauch, der glitzernde Auftritt in der Citadelle von Jerusalem, die kontrollierte Geste der Hand. Die Erzählung ästhetisiert diese Figur bis ins kleinste Detail: Kleidung, Gestus, Stimme. Caven verkörpert eine schillernde Oberfläche, die zugleich Tiefe simuliert. Diese Oberfläche ist ein Kunstprodukt, und der Roman selbst reflektiert dies, indem er immer wieder ihre Erscheinung mit Bühnenauftritten, Filmszenen und Modeinszenierungen vergleicht.
Schuhls Caven-Roman zelebriert den „metaphysischen Glamour“ („glamour métaphysique“) und die verblasste Eleganz („fané“) einer vergangenen Epoche. Es fängt die „Flamboyanz“ der 70er Jahre ein, aber auch den Zerfall und die Nostalgie. Er findet Schönheit und Poesie in den „obskuren und uninteressanten Dingen“ („choses obscures et sans intérêt“). Schon in seinen früheren Kultbüchern Rose poussière (1972) und Télex n°1 (1976) nutzte Jean-Jacques Schuhl bereits die Collage-Technik und die Faszination für seine Zeit. Ingrid Caven kann als Fortsetzung und Vertiefung dieser Auseinandersetzung mit der Geschichte und dem Verhältnis von Realität und Fiktion gelesen werden. Für Schuhl ist die „Bühne wahrer, lebendiger, als das, was man Leben nennt“ („plus vraie, plus vivante que ce qu’on appelle la vie“). Seine Literatur transformiert reale Biografien und historische Fakten in eine „poetische Form“. Es ist ein „roman vrai“, in dem alles exakt klingt und auf unveröffentlichten Dokumenten basieren mag, aber gleichzeitig geträumt erscheint.
Jean-Jacques Schuhls Roman Ingrid Caven (Gallimard, L’Infini, 2000), ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, ist mehr als eine bloße biografische Annäherung an die Künstlerin und Partnerin des Autors. Er lässt sich als eine kulturgeschichtliche Diagnose einer Epoche, ihrer prägenden Themen und der Faszination an einer spezifischen deutschen Mythologie aus französischer Perspektive lesen. Dies umfasst zentrale historische Marker wie den Krieg und die „Stunde Null“, Figuren einer „deutschen Mythologie“ wie Rainer Werner Fassbinder und die Rote Armee Fraktion, sowie das omnipräsente Motiv der „Sehnsucht“. Gleichzeitig ist der Roman in seiner Ästhetik Ausdruck eines dezidierten Literaturverständnisses von Jean-Jacques Schuhl selbst, der seine eigene Rolle und die des Verlegers Philippe Sollers in der literarischen Produktion und Rezeption reflektiert. Die Selbstinszenierung des Autors als „Schriftsteller-Geist“ wird dabei zum integralen Bestandteil des Werkes. Ingrid Caven ist weniger eine traditionelle Biografie als vielmehr eine virtuose Collage aus Erinnerungsbruchstücken, Zitaten, Anekdoten, Beobachtungen und Gedankenfetzen. Es ist ein „roman liquide, woolfien, tout en fondus-enchaînés-déchaînés, et bâti « à sauts et à gambades » mentales, c’est la radiographie ultraprécise du cerveau de l’auteur“, 1 eine Erzählweise, die den Leser aktiv herausfordert, die Verbindungen zwischen scheinbar disparaten Fragmenten selbst herzustellen. Diese unkonventionelle Struktur ist ein Schlüssel zur Ästhetik des Romans und seiner Darstellung der „deutschen Mythologie“.
Ingrid Caven ist ein Montage-Roman: Zitate, Gespräche, Erinnerungsfetzen, Hotelinventare, Songtexte fließen ineinander. Die Szene am Grand Hôtel in Taormina evoziert Romy Schneider, Poiret, Filmpläne und nie realisierte Projekte. Die Medien verschränken sich: Musik wird beschrieben wie Film, Film wie Theater, Theater wie Fotografie. Diese Intermedialität erzeugt eine schwebende Atmosphäre, in der Realität und Fiktion sich durchdringen. Schuhl setzt wie ein Filmemacher Bild an Bild, Cut an Cut, lässt Szenen abrupt abbrechen und neu ansetzen. Der Roman gleicht einer Collage, einem musikalischen Arrangement. Die Erzählung ist durchzogen von Filmzitaten, Modenamen, Songtiteln. In einer Passage klingt Schönbergs Pierrot lunaire an, in einer anderen taucht Mozarts Name neben Rouge Kirchner auf. Diese Intermedialität hat auch eine poetologische Funktion: Sie verweist auf die Materialität von Kunst, auf die Austauschbarkeit von Medien in einer postmodernen Kultur.
Zeitdiagnose und Kaleidoskop der Nachkriegszeit
Schuhls Ingrid Caven entfaltet sich als ein „deutsches Mythen-Potpourri“, das die Geschichte und Kultur Deutschlands in einem einzigartigen Licht darstellt und die deutsche Vergangenheit aus einer französischen Faszination heraus beleuchtet. Im Zentrum steht Ingrid Caven, die zur „zentralen Figur eines deutschen Märchens“ stilisiert wird. Der Roman beginnt mit einer zutiefst einprägsamen Szene aus der Kindheit der Protagonistin:
Nuit de Noël 1943, du côté de la mer du Nord. La main de la petite fille caresse distraitement le pompon de fourrure blanche à la boutonnière de son manteau en lapin de Sibérie. Capuche rabattue sur le visage, l’air très sérieux pour ses quatre ans et demi, elle est seule, enfoncée dans la banquette, couvertures en peaux de loup sur les genoux. Le traîneau, capote batissée, tiré par deux chevaux, file à grande vitesse sur la neige.
Jean-Jacques Schuhl, Ingrid Caven, Gallimard, L’Infini, 2000.
Heiligabend 1943, an der Nordsee. Die Hand des kleinen Mädchens streicht gedankenverloren über den weißen Pelzknopf an ihrem sibirischen Kaninchenmantel. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sieht sie für ihre viereinhalb Jahre sehr ernst aus. Sie sitzt allein, tief in die Sitzbank versunken, Wolfsfelldecken über den Knien. Der Schlitten mit dem zugemachten Verdeck, gezogen von zwei Pferden, rast mit hoher Geschwindigkeit über den Schnee.
Diese Weihnachtsnacht 1943 bildet einen grundlegenden biografischen Ankerpunkt. Die scheinbar idyllische Szenerie eines verschneiten Schlittenritts wird jedoch bald durch die Realität des Krieges gebrochen, als die „sapins de Noël“ – die poetische Umschreibung für englische Bomber – die Bomben auf Kiel ankündigen. Diese Verbindung von „Märchen“ (féerie) und „Horror“ („l’horreur n’est jamais loin“) ist ein wiederkehrendes Motiv, das die Zerbrechlichkeit von Illusionen angesichts der Kriegsrealität verdeutlicht. Cavens Vater, ein Marineoffizier, versorgt das Gut Bornhoeft mit Arbeitskräften aus russischen und polnischen Kriegsgefangenen. Die Kindheit auf dem Gut Bornhoeft, das von Kriegsgefangenen mit Arbeitskräften versorgt wird. Zu diesen Momentaufnahmen gehört, wie der Vater Klavier spielt, während Kiel brennt. Die Nachkriegszeit in Saarbrücken, die Zerstörung und der Wiederaufbau. Der Großvater, ein ehemaliger Spartakist, dessen Leben von Musik geprägt ist und der nach dem Bankrott von 1923 verarmt. Solche Passagen etablieren Ingrids soziales und historisches Umfeld und die Prägung durch Krieg und familiäre Brüche.
Auch die Beschreibungen von Bornhoeft, Eckernförde und den holsteinischen Landschaften knüpfen an das Nibelungenlied und romantische Naturmythen an. Das Kind im Pelzmantel, das von den maritimen Festungen singt, ruft eine archetypische Bildwelt hervor: Wald und Meer, Pferdeschlitten und „sapins de Noël“, die im Bombenhagel aufglühen. Die deutsche Geschichte wird so nicht nur als historischer Hintergrund verhandelt, sondern als Reservoir an Symbolen: Goethe erscheint als Ikone auf dem 500-DM-Schein, dessen Bild von Fassbinder mit Kokain beschmiert wird – eine Ikonoklasmusgeste, die nationale Mythen zerstört und zugleich neu besetzt.
Die „Stunde Null“ und der Wiederaufbau aus den Ruinen prägen die Nachkriegszeit. Das Auffinden eines Klaviers in den Ruinen symbolisiert die Möglichkeit der Schönheit inmitten der Zerstörung. Die Ketten des Viehwaggons, mit denen Ingrid und ihre Familie flüchten, sind untrennbar mit dem Trauma der Shoah verbunden. Ingrid, die später ein Stück Kette als Schmuck trägt, verweist auf diese tief eingeschriebene Erinnerung:
C’est le rock…! s’imaginait-elle. Ça avait déjà servi, comme le wagon : la récupération, le recyclage, c’est l’apanage des guerres, leur poésie en somme, cette façon qu’ont les choses de servir deux fois et à des buts distincts… Et là? Une chaîne? Le wagon du retour vers le salut. Et à l’aller? Mystère.
Jean-Jacques Schuhl, Ingrid Caven, Gallimard, L’Infini, 2000.
„Das ist Rock …!“, stellte sie sich vor. Es war schon einmal benutzt worden, genau wie der Wagon: Wiederverwertung, Recycling, das ist das Privileg der Kriege, ihre Poesie, diese Art, wie Dinge zweimal und für unterschiedliche Zwecke dienen können … Und hier? Eine Kette? Der Waggon auf dem Weg zurück in die Rettung. Und auf dem Hinweg? Ein Rätsel.
Hier wird deutlich, dass das Kriegstrauma nicht nur eine historische Tatsache ist, sondern sich auch in materiellen Objekten und in der Psyche manifestiert. Hinter der Glamour- und Drogenszenerie blitzen immer wieder die Narben der Nachkriegszeit auf: die Erinnerung an Springer-Hochhaus-Attacken, die Begegnungen mit Baader und Meinhof, die Verstrickung in politische und künstlerische Avantgarden. Die dekadente Szene ist voll von Hotelzimmern, Bars, Koks, Mode, Gewalt. Sie ist ein Spiegel einer Gesellschaft, die ihre Vergangenheit nicht bewältigt hat und ihre Gegenwart in Exzess und Selbstinszenierung verliert. Das Bild der Nachkriegszeit ist dabei nicht nur düster: In den Passagen über das zerstörte Saarbrücken oder Hamburg wird auch eine fast zärtliche Aufmerksamkeit für das Alltägliche spürbar: für die Minenarbeiter mit ihren Lampen, für die improvisierte Musik im Wohnzimmer.
Ingrids schwere Hautallergie in ihrer Kindheit, die ihren Körper zu einem „chaotischen Körper“ macht und sie isoliert, ist eine direkte Folge des Traumas und symbolisiert die Wunden und die Fragmentierung der Nation. Ihre Haut wird zur „Karapax“ (Panzerung) und ihr Gesicht zur „Maske“. Dies zwingt sie, sich einen „neuen, gut artikulierten Körper zu erschaffen, zu fabrizieren, zu erfinden“, wobei Künstlichkeit zu einer Überlebens- und Selbstermächtigungsstrategie wird. Die Erkenntnis durch Dora Maars verzerrtes Porträt – „Je connais! c’est ça! c’est ça! c’est ce que je ressens exactement! Je suis faite, dedans, comme ça exactement!“ – ist ein Moment der Selbstakzeptanz und des künstlerischen Verständnisses ihrer „Anomalie“. Der Maler hat ihren „Monstern“ eine Form gegeben. Die Maske, das Make-up, der Puder „Rose Poussière“ werden in minutiösen Beschreibungen zu poetischen Tropen. Caven verwandelt sich in eine Leinwand, auf die Ronaldo, der Maskenmagier, seine Kunst aufträgt. Sie wird als Projektionsfläche für kollektive Fantasien inszeniert, und Schuhl lässt uns Zeuge einer Poetik der Oberfläche werden: Die Ästhetik ist hier nicht Täuschung, sondern die einzige Wahrheit der Figur.
Sehnsucht durchzieht den Roman wie ein unterirdischer Fluss. Es ist die Sehnsucht nach einer verlorenen Kindheit, nach dem Mythos Deutschland, nach Liebe und künstlerischer Reinheit. Fassbinder wird in einer Szene beschrieben, wie er nach einem Kokainrausch einen Zustand „frischer Leichtigkeit“ erreicht, der das deutsche Spleen-Gefühl aufhebt. Die Lorelei-Strophe am Beginn klingt immer wieder nach, wie ein Leitmotiv. Caven sehnt sich nach Paris und Berlin zugleich, nach den Metropolen der Moderne, aber auch nach einer versunkenen Provinz. Das Motiv der „Sehnsucht“ wird im Roman unübersetzt verwendet und dient dazu, die Seelenlage der Fassbinder-Generation und Ingrids selbst zu beschreiben. Es wird als ein „wichtigstes Lebensgefühl“ dargestellt, wo „Verzückung dicht neben dem Entsetzen liegt“. Diese Sehnsucht, die aus der Kriegszeit und Cavens Kindheitserfahrungen resultiert, wird als „deutsche Kraft“ bezeichnet. „Sehnsucht“ wird auch als ein „germanischer Zug“ in der Ausdrucksweise wahrgenommen, vergleichbar mit dem Fatalismus von Marlene Dietrich. Der Produzent Mazar assoziiert „Sehnsucht“ explizit mit einer deutschen Tendenz zum frühen, kaltblütigen Suizid mit der Verlobten. Er bemerkt auch, dass seine Schwester Anne-Marie von der „Sehnsucht“ ergriffen ist, da sie „verliebt in das ist, was nicht da ist“.
So wird Ingrids Blick als „sehr traurig, verschleiert und leer wie bei manchen Hunden, voller Sehnsucht, der eines Replikanten aus Blade Runner“ beschrieben. Ihr blonder Humor wird als „temperiert von einer romantischen Sehnsucht“ charakterisiert. Der Roman fängt allgemein die „Sehnsucht, die Melancholie und die Fragmentierung einer Epoche“ ein, in der die Grenzen zwischen Realität und Illusion zunehmend verschwimmen. Es ist ein wiederkehrendes Element in einem „Patchwork“ von Krieg, Kunst, Kitsch und Tod, das oft einen „melancholischen Ton“ hat. Ein weiterer wichtiger Kontext ist die Funktion von „Sehnsucht“ als Antrieb oder als Gefühl, dem man zu entfliehen versucht. Rainer Fassbinder versucht, seinen „deutschen Spleen“ oder die „Sehnsucht“ verschwinden zu lassen, indem er Kokain konsumiert, um eine „sofortige Frische“ und ein „ewiges Jetzt“ zu erreichen. Dies deutet darauf hin, dass die „Sehnsucht“ eine schmerzhafte oder unerträgliche Sehnsucht sein kann, die eine Flucht oder Linderung erfordert. Interessanterweise wird Ingrids Blick auch als eine „Sehnsucht ohne übermäßige Illusion“ beschrieben, die bereits ihr eigenes Ende kennt, was eine realistische oder resignierte Form der Sehnsucht andeutet. Zudem wird „Sehnsucht“ in Anspielung auf die Loreley-Legende erwähnt, worin ein Seefahrer von einer „plötzlichen Sehnsucht“ ergriffen wird, einer „unwiderstehlichen Anziehung“ durch den fernen, schönen Gesang, die ihn ins Verderben führt. Dies unterstreicht die verführerische und potenziell zerstörerische Natur der „Sehnsucht“. Schließlich wird „Sehnsucht“ auch in einem philosophischen und existenziellen Kontext in einem Gedicht im Cabaret Voltaire als Frage gestellt: „C’est quoi Sehnsucht-Désir? C’est quoi Étoile?“ Die Verbindung von individueller Psyche und kollektiver deutscher Geschichte, von Schönheit und Horror, von Verlangen und Vergeblichkeit, kann inspirieren, aber auch zur Zerstörung führen. Diese Sehnsucht ist zugleich eine, die sich selbst unterminiert: Sie bleibt unstillbar, immer gebrochen. Sie ist auch die Sehnsucht des Autors nach einer Kunst, die das Fragmentarische bewahrt und dennoch Schönheit stiftet. Die Szene mit dem Klavierstimmer am Morgen – „wenn das Ohr noch unberührt ist“ – ist ein emblematisches Bild dieser Sehnsucht nach Reinheit.
Neue Dekadenz: die Künstlerwelt der 60er und 70er Jahre
Der Roman inszeniert zugleich die turbulenten 1960er und 1970er Jahre, eine Ära des Radikalismus, der Experimentierfreude und einer neuen Form der Dekadenz. Die Künstlerfiguren sind dabei nicht nur biografische Referenzen, sondern werden zu Symbolen für bestimmte Aspekte der Epoche. Rainer Werner Fassbinder, der reale Regisseur, tritt hier als Mit-Schöpfer der Caven-Figur auf. Er ist Liebhaber, Mentor, Manipulator. Sein Leben erscheint als eine einzige Inszenierung, bis hin zu seiner eigenen Totenfeier, die wie ein makabres Theater inszeniert ist. Fassbinder wird zum Symbol eines Künstlers, der zwischen radikaler Authentizität und kalkulierter Pose schwankt. Seine Präsenz im Roman ist zugleich eine Hommage und eine Dekonstruktion: Er ist der große Regisseur, aber auch eine Figur unter anderen in diesem Mosaik.
Fassbinder wird als „Tyrann“ oder „Diktator“ beschrieben, der seine Schauspieler kontrollierte und seine Ehe mit Caven als eine Form der „Tyrannei“ und des „Einsperrens“ bezeichnet wurde. Obwohl homosexuell, war er von 1970 bis 1972 mit Ingrid Caven verheiratet und blieb bis zu seinem Tod eng mit ihr befreundet. Der Akt des Schreibens wird als „malefische Prophezeiung“ und magischer Akt des Besitzanspruchs interpretiert. Das Zitat von Oscar Wilde „Each man kills the thing he loves“ vertieft die Tragik und Komplexität ihrer Beziehung und Fassbinders künstlerische Haltung bis zum letzten Moment, als er – bereits vom Tod gezeichnet – Ingrid mit ausgestreckter Zunge küssen wollte, Bild einer letzten Inszenierung, „triste et ridicule“. Seine Besessenheit, sein Drogenkonsum, insbesondere Kokain („Allègement, un vide sous la calotte crânienne, il a décollé vers.. le présent perpétuel, le présent sans nuages.“), und sein Wunsch, alles „wie im Kino“ zu inszenieren, spiegeln eine Zeit wider, in der Kunst und Leben auf extreme Weise verschmolzen. Fassbinder, der alle seine Emotionen im Kino lernte, wird als „Kind der Stunde Null“ und Vertreter eines Deutschlands dargestellt, in dem „Untergang und Neubeginn ganz nah beieinander liegen“.
Fassbinder ist im Roman jedoch nicht primär als historische Person präsent, sondern als ästhetisches Prinzip. Er steht für eine bestimmte Poetik des Exzesses, der radikalen Darstellung und der kompromisslosen Subjektivität. Fassbinder steht für ein beschädigtes Deutschland, für das Theater der Eitelkeiten, für das Leiden an der Form, für die Ambivalenz von Wahrheit und Maske. Ingrid Caven, der Roman, trägt seine Signatur – und widerruft sie zugleich. Die poetische Kraft des Romans liegt genau in dieser Ambivalenz: im Schwebezustand zwischen Liebeserklärung und Exorzismus. Seine Filme, seine Ästhetik des Abgründigen, des Theatralischen und zugleich Dokumentarischen wirken wie ein Schatten über dem Text. Er verkörpert eine Haltung des Alles-Zeigens, eine Lust am Dekorativen wie am Schmutzigen, an der Fiktion wie an der Wahrheit. Jean-Jacques Schuhl übernimmt viele dieser Strategien in die Struktur seines Romans: die Sprengung linearer Erzähllogik, das montierende Verfahren, die Gleichzeitigkeit von Ironie und Pathos. So wird Fassbinder zur ästhetischen Chiffre für das ganze Romanprojekt – und Caven zu seiner Muse, Projektionsfläche, Darstellerin und Widerstandszone in einem.
Fassbinder stellt die Brücke zur Filmkunst dar – und überhaupt zur intermedialen Struktur des Romans. Ingrid Caven ist ein zutiefst medienreflexives Werk: Film, Fotografie, Theater, Musik, Fernsehen und Literatur überblenden sich. Fassbinder, als Regisseur, Autor, Schauspieler und mythologisierte Figur, bildet ein Epizentrum dieses Medienkonvoluts. Der Roman übernimmt filmische Verfahren – etwa Jump Cuts, Nahaufnahmen, Licht-/Schattenspiele – in seine Prosa. Die Erinnerung an Fassbinder evoziert Szenen wie aus Filmen: Nacht, Rauch, Zigaretten, Auftritte, Partys, Masken, Nervenzusammenbrüche. Die Inszenierung des Selbst wird bei ihm wie bei Caven zur Frage von Bild und Fake, Echtheit und Inszenierung, Körper und Rolle.
Der Roman ist zugleich eine Reflexion über sein eigenes Werden. Schüler der Postmoderne, legt Schuhl offen, dass es keine reine Biografie geben kann: Auf einem Blatt Papier, neben Fassbinders Totenbett gefunden, stehen bruchstückhaft „Kapitel“ der Caven-Legende – ein Skript, eine Skizze, ein Mythos im Entstehen. Ein Schlüsselmoment ist Fassbinders letztes Manuskript, ein „zerknüllter Zettel“ mit 18 Stichpunkten zu Ingrid Cavens Leben, von denen 14 authentisch und 4 erfunden waren und die mit „Tod + ein Lächeln“ endeten. Schuhl interpretiert dies als ein „kryptisches Liebesgedicht“ oder eine Bitte, Cavens Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Die Punkte 14 bis 18 des Manuskripts sind dabei rein imaginär und prophezeien einen tragischen Tod Ingrids. Dieses fragmentierte Schreiben thematisiert die Unmöglichkeit, Leben linear zu erzählen. Stattdessen entsteht eine Poetik der Sprünge, der Splitter, des Andeutens. Immer wieder greift die Erzählung in sich selbst zurück: der Erzähler (ein Alter Ego Schuhls) tritt als Figur auf, zweifelt an seiner Erinnerung, spielt mit der Chronologie. In einer Metareflexion fragt er, ob es überhaupt möglich sei, Ingrid Caven zu „erzählen“, oder ob sie nicht immer schon ein Kunstprodukt sei. Diese Selbstbezüglichkeit macht den Roman zu einem poetologischen Essay in erzählerischer Form.
Yves Saint Laurent verkörpert als Modeschöpfer die Symbiose von Kunst und Kommerz. Seine Kreationen, insbesondere das berühmte schwarze Kleid, das er Ingrid auf den Leib schneidet, inszenieren sie als „Königin“. Seine „Todtchic“-Eleganz deutet auf eine tiefere, melancholische Schicht hinter der glänzenden Oberfläche des Glamours hin. Die Lilien, die ihre Suite überfluten, als „Yves saluait sa reine!“, sind eine metaphorische Überfülle, die fast erdrückend wirkt. Andy Warhol als „Papst des Pop Art“ und Meister der Reproduktion wird im Roman ebenfalls gezeigt. Die Szene, in der Fassbinder Kokain auf ein Goethe-Porträt auf einem 500-DM-Schein verschmiert, ist eine Metapher für die Entwertung von Hochkultur durch Rausch und Popkultur und verweist auf die zunehmende Entkörperlichung und Warenförmigkeit von Identität und Kreativität. Der Filmproduzent Mazar repräsentiert die Exzesse, den Hedonismus und die Selbstzerstörung im Filmgeschäft der 70er Jahre. Seine Philosophie „Écouter, c’est acheter, parler, c’est vendre“ fasst die kapitalistische Mentalität der Zeit zusammen, in der alles, auch menschliche Beziehungen, zu einer Ware wird.
Qui ça ne fascinait pas alors ? Et même les plus puissants, les plus riches. Et ça sentait toujours un peu le soufre autour de lui, ça les attirait tous alors, les femmes surtout. Mais le directeur de chez Pathé l’avait prévenu : « Jean-Pierre, je ne vous permettrai jamais de devenir le patron du cinéma français. »
Jean-Jacques Schuhl, Ingrid Caven, Gallimard, L’Infini, 2000.
Wer war damals nicht fasziniert von ihm? Selbst die Mächtigsten und Reichsten. Und es roch immer ein wenig nach Schwefel um ihn herum, das zog sie alle an, vor allem die Frauen. Aber der Direktor von Pathé hatte ihn gewarnt: „Jean-Pierre, ich werde niemals zulassen, dass Sie der Chef des französischen Kinos werden.“
Dieses Zitat spricht zwar nicht direkt über „Vergessen“, aber es beschreibt die Faszination für Dekadenz und Abgründe in den 1970er Jahren, verkörpert durch Mazar. Diese Faszination kann als eine Form der Ablenkung von, oder sogar als Verarbeitung von, den tieferen, verdrängten Traumata der Nachkriegszeit gesehen werden. Die „bleiernen Jahre“ der Bundesrepublik waren eine Zeit, in der politische Gewalt und gesellschaftliche Exzesse (auch Drogenkonsum wie bei Fassbinder) die Oberfläche bildeten, unter der oft unaufgearbeitete historische Lasten schlummerten. Fassbinder selbst versuchte, die „Sehnsucht“ durch Kokain verschwinden zu lassen, was eine direkte Flucht vor einem als schmerzhaft empfundenen Gefühl oder einer Erinnerung ist.
Obwohl Schuhl Fassbinders Einfluss anerkennt und sein Buch eine Hommage an Caven ist, die Fassbinder gerne als Film realisiert hätte, ist er kein einfacher Biograf. Er möchte nicht die „Maske herunterreißen“ und die „Wahrheit dahinter enthüllen“, sondern zeigen, dass „jede Wahrheit eine andere Wahrheit verbirgt“. Sein Ziel ist es, ein „romaneskes“ Werk zu schaffen, das über die Realität hinausgeht und sich durch seine „barocke, verspielte und vielstimmige“ Seite auszeichnet. Schuhl, der sich als „blasser hugenottischer Jude und abgehalfterter Snob“ beschreibt, betrachtet Fassbinder und Caven als Archetypen einer „deutschen Mythologie“. Er verwebt Fakten und Fiktion und nutzt Fassbinders Notizen als Ausgangspunkt für seine eigene kreative Auseinandersetzung. Die Szene von Fassbinders Beerdigung wird als „makabre Groteske“ beschrieben, was die komplexe und oft widersprüchliche Darstellung Fassbinders im Roman unterstreicht.
Die Baader-Meinhof-Terrorismuswelle wird direkt thematisiert, wobei Ingrid selbst in deren Dunstkreis gerät. Dies zeigt die politische Zerrissenheit und die damit einhergehende gesellschaftliche Anspannung der 70er Jahre und die Verflechtung von Kunst, Aktivismus und Gefahr. Jean-Jacques Schuhl erzählt die Rote Armee Fraktion (RAF) und die linke Gewalt der 1970er Jahre in seinem Roman als einen zentralen Bestandteil des Zeitgeistes der Epoche und als eine Realität, die das Leben der Protagonistin und anderer Figuren direkt beeinflusst. Ingrid Caven frequentierte dieselben Studenten- und Schauspieler-Cafés wie Baader-Meinhof-Gruppe. Im Jahr 1968, nach dem Attentat auf Rudi Dutschke („Rudy le Rouge“), hatte Ingrid ihre Partituren weggeworfen und das Springer-Gebäude angegriffen, was ihre Verbindung zu den politischen Protesten und der linken Szene dieser Zeit unterstreicht. Schuhl erwähnt, dass Rainer Werner Fassbinder und Ingrid Caven Nachrichten auf ihrer BMW-Windschutzscheibe fanden, die von der Gruppe stammten und ein Treffen forderten: „Attention !! Urgent! Voulons te voir. Appellerons demain à 20 heures pour prendre rendez-vous. Vous conseillons d’être là. Ne faites pas état de ce message.“ Rainer hatte große Angst, entführt zu werden, und Ingrid bot sogar an, an seiner Stelle zu gehen, da sie weniger bekannt und somit weniger gefährdet war. Die Angst vor Entführung durch die Baader-Meinhof-Gruppe führt Rainer und Ingrid dazu, nach New York zu fliehen. Ein Mitglied der Gruppe (oder ein „Bote“) trifft Ingrid und droht ihr mit einer Spritze, was die bedrohliche und beinahe surreale Natur dieser Begegnungen hervorhebt. Ingrid empfindet die Situation als ein „Script“ aus einem B-Movie.
Die RAF-Terrorismuswelle wird als direkter Bestandteil der „politischen Realität der 70er Jahre“ dargestellt. Das Buch fängt die „Sehnsucht, die Melancholie und die Fragmentierung einer Epoche“ ein, in der die Grenzen zwischen Realität und Illusion zunehmend verschwimmen. Fassbinder ist für Schuhl Teil eines „deutschen Mythos“, der in der Nachkriegszeit entstand und Elemente wie Krieg, Kunst und Kitsch, Sehnsucht und Tod, sowie die „bleiernen Jahre Deutschlands“ umfasst. Die Flugzeugentführung von Mogadischu durch die Baader-Meinhof-Gruppe wird als ein dramatisches Ereignis erwähnt, das die „brutalité terroriste“ in die luxuriöse und entspannte Atmosphäre eines Pariser Hotels bringt und die „Histoire“ mit der Welt der Haute Couture vermischt.
Der Roman thematisiert das „Verdrängen und die schwierige Aufarbeitung der deutschen Geschichte“, einschließlich der Traumata des Krieges, die in die Nachkriegsgesellschaft übergingen und sich in neuen Formen der Gewalt manifestierten. Charles, das Alter Ego des Autors, äußert Sorgen über Ingrids Verbindung zu einem „poseur de bombes“ (Bombenleger) der Baader-Gruppe, auch wenn Ingrid dies bestreitet und ihn als einen Chemie-Studenten darstellt, der „reingelegt“ wurde. Die Erzählung beschreibt, wie „alles sich vermischt“ („tout se mélange“), wenn es um die Komplexität von Gut und Böse in Kriegszeiten und ihren Nachwirkungen geht, was auch auf die moralischen Grauzonen der 70er Jahre mit ihren politischen Extremen zutrifft. Die RAF und die linke Gewalt der 1970er Jahre werden in Ingrid Caven nicht nur als historische Fakten, sondern als prägende Kräfte dargestellt, die die psychologische Landschaft der Charaktere beeinflussen, insbesondere Ingrids Leben, ihre Ängste und ihre Fluchtbewegungen. Sie sind Teil des umfassenden „deutschen Mythen-Potpourris“ und der „bleiernen Jahre“, die Schuhl in seinem Roman kunstvoll verwebt.
Künstlichkeit, Fragmentierung und die Suche nach dem „unfassbaren“ Leben
Jean-Jacques Schuhls literarische Haltung ist von einer bewussten Unnahbarkeit geprägt. Er gilt als „écrivain fantôme“, der in 40 Jahren nur vier Bücher veröffentlichte, wobei Ingrid Caven nach 24 bis 25 Jahren des Schweigens erschien. Sein Alter Ego, der Erzähler Charles, beschreibt sich selbst ironisch als „blassen hugenottischen Juden und abgehalfterten Snob“ oder „ghost writer, der vom Ruhm anderer profitiert“. Dies unterstreicht seine Distanz zum traditionellen Schriftstellertum und zum literarischen „Betrieb“. Auch der Text schwankt zwischen Intimität und Distanz: Caven ist zugleich nah – wir sehen ihr beim Schminken zu – und fern, als Ikone. Diese Ambivalenz ist zentral für die Poetik des Romans: Er zeigt, wie Legenden entstehen, ohne ihre Künstlichkeit zu verschleiern.
Ingrid nutzt die Künstlichkeit, um Grenzen zu überschreiten und Konventionen zu brechen. Ihr Gesang vermischt verschiedene Genres und Stile. Sie kann eine Phrase im „Althochdeutsch“ beginnen und in „Jiddisch“ beenden, die Genres konjugieren und den Ton innerhalb eines Liedes wechseln. Die Musik selbst wird als eine Form von Ordnung und Schönheit beschrieben, die im Kontrast zu ihrem „chaotischen Körper“ steht. Die Partitur mit ihren „mysteriösen Hieroglyphen“ und „kabalistischen Zahlen“ bietet eine Welt der Stabilität und „Wollust“.

Die Künstlichkeit ist ein zentrales und vielschichtiges Prinzip in Ingrid Caven. Sie ist weniger eine oberflächliche Maskerade als vielmehr eine tief verwurzelte Strategie des Überlebens, der Neuerfindung und des künstlerischen Ausdrucks. Ingrids Körper wird zur Maske und Konstruktion, Make-up zu einer fundamentalen Selbsttransformation:
Le fond de teint, pour commencer : très clair, porcelaine, poudre libre translucide. Maintenant les yeux, fermés : paupières supérieures : fond brun estompé vers l’extérieur, puis violet, bleu clair, bleu foncé. La feuille de musique vient là derrière dans la tête, les notes, les mots, les cinq lignes : violon — cello — Ingrid — piano, chacun sa ligne, deux pour le piano : main droite, main gauche, elle : instrument parmi les autres.
Jean-Jacques Schuhl, Ingrid Caven, Gallimard, L’Infini, 2000.
Zunächst die Grundierung: sehr hell, porzellanfarben, durchscheinender loser Puder. Nun die Augen, geschlossen: obere Augenlider: brauner Grundton, nach außen hin verblassend, dann violett, hellblau, dunkelblau. Das Notenblatt kommt hinter den Kopf, die Noten, die Worte, die fünf Linien: Geige – Cello – Ingrid – Klavier, jeder hat seine eigene Linie, zwei für das Klavier: rechte Hand, linke Hand, sie: ein Instrument unter vielen.
Die Musik wird für Caven zu ihrem „anderen Körper“, einer Quelle der Ordnung und des Friedens angesichts des körperlichen Chaos.
Das Make-up wird zu einer fundamentalen Form der Selbsttransformation der Künstlerin mit schweren Hautproblemen durch Allergien. Der Maskenbildner Ronaldo, der sie mit einem „Hauch von Nichts“ verwandelt, wird als „Magier“ beschrieben. Das Auftragen von Make-up ist ein ritueller Akt. Caven denkt dabei an das deutsche Wort „Maske“, das sie mit Theatralik verbindet. Die Schminke, insbesondere das „Maquillage de cinéma“, wird zu einem „leichten Schleier“, der sie „unsichtbar“ macht und in eine andere Welt entführt.
Ingrids gesamte Existenz, insbesondere ihr öffentliches Auftreten, ist eine Form der Performance. Charles bemerkt, dass ihre Anmut auf der Bühne nicht natürlich sei, sondern „neu erschaffen“: „Animée, inventée à chaque instant sous les projecteurs comme l’est une marionnette, sauf qu’elle était vivante et très vivante et qu’elle passait d’ailleurs d’un état à l’autre vite en mélangeant la femme et le pantin, et le pantin c’était elle aussi.“ Die Distanz und „Einsamkeit“, die ihr ihre Krankheit in der Kindheit verlieh, wird auf der Bühne zu einem Vorteil, der ihr eine einzigartige „Distanz“ ermöglicht. Dies erlaubt ihr, das Leben als „Spiel“ zu sehen. Das Motiv des „Doubling“ und der Kopie ist wiederkehrend, etwa wenn ihre Stimme für einen Pornofilm synchronisiert wird, was die Entkörperlichung der Kunst und den Verlust der Intimität thematisiert. Der Roman spielt mit der Idee des „Walzers der Ruinen“ („Valse de rimes, valse de ruines“), einem zentralen Bild, das die Fragmente und Brüche ihrer Lebensgeschichte mit einer tänzerischen, fast leichten Ästhetik verbindet, die das Chaos in eine Form bringt.
Der Roman inszeniert die Bühne als einen Ort, an dem Wirklichkeit und Illusion verschmelzen. Ingrid Caven betritt die Rampe, die Zuschauer applaudieren, die Musik klingt, doch das Eigentliche geschieht in der Schwebe zwischen Schauspiel und Wahrheit. Auch die Beerdigung Fassbinders ist eine Performance ohne Hauptdarsteller, ein Fake, der realer wirkt als der Tod selbst. Schuhl thematisiert die Welt als Theater, das Leben als Auftritt, die Identität als Maskenspiel. Die minutiösen Beschreibungen des Make-up-Rituals vor dem Auftritt zeigen, wie aus einem verletzlichen Körper eine Bühnenfigur geformt wird. Hier kulminiert die Poetik des Romans: Kunst als Transformation, als Spiel mit dem Schein. In dieser Perspektive ist der Fake nicht Lüge, sondern Bedingung von Wahrheit.
Die unkonventionelle, fragmentarische Form des Romans als „virtuose Collage“, „Patchwork“ oder „Montage“ spiegelt Schuhls Abneigung gegen traditionelle Biografien wider, die das „Modell einfrieren“. Die „elliptische Erzählweise“ und „häufige Abschweifungen“ erfordern vom Leser ein hohes Maß an Engagement und Geduld. Schuhl möchte keine „Maske herunterreißen“ und die „Wahrheit dahinter enthüllen“, sondern zeigen, dass „jede Wahrheit eine andere Wahrheit verbirgt“. Das Buch ist „ein Nicht-Roman, der gleichzeitig ein wahrer Roman ist“.
Der „Ereignis-Charakter“ und die Verleihung des Prix Goncourt
Schuhls Rückkehr nach 25 Jahren des Schweigens wurde in der Pariser Literaturszene als Ereignis gefeiert. Die Thematisierung des Lebens von Ingrid Caven als Fassbinder-Muse und Kultfigur der 70er Jahre zog zusätzlich Aufmerksamkeit auf das Buch. Eine entscheidende Rolle für den kommerziellen Erfolg spielte der Verleger Philippe Sollers. Der Roman wurde in der Gallimard-Kollektion „L’Infini“ unter Sollers’ Leitung veröffentlicht. Sollers hatte über zwanzig Jahre auf das Buch gewartet und verteidigte es energisch als „Meisterwerk des Herbstes“. Seine „Marketing-Meisterschaft“ und die geschickte Nutzung medialer Netzwerke wurden als entscheidend für den Goncourt-Gewinn angesehen. Es wurde sogar vom „Sollers’schen Goncourt“ gesprochen. Sollers wurde als „Pate der Literatur“ oder „Bookmaker“ bezeichnet, der verstand, wie das „Spiel“ der Literaturpreise funktioniert. Jean-Jacques Schuhl selbst bezeichnete den Goncourt als einen „Banküberfall“ auf das literarische Establishment, bei dem Philippe Sollers als Outlaw fungierte. Obwohl Juror Michel Tournier das Buch als „schwierig“ und kommerziell nicht als Bestseller einstufte, garantierte der Gewinn des Prix Goncourt im Jahr 2000 den Verkauf von Hunderttausenden von Exemplaren. Trotz seiner komplexen Form wurde die Wahl von Ingrid Caven von der Jury als „Qualitätsentscheidung“ für eine „anspruchsvolle Literatur“ gewertet. Der Präsident der Goncourt-Jury, François Nourissier, bezeichnete es als „wunderbare biografische Oper“.
Sollers‘ intensive Unterstützung führte dazu, dass professionelle Magazine wie Livres Hebdo titelten: „Schuhl mit Sollers’s Goncourt“. Er wurde als „Pate der Literatur“ oder „Bookmaker“ bezeichnet, der geschickt seine medialen Netzwerke nutzte. Ein Artikel in der Journal du dimanche, der Schuhl kurz vor der Preisvergabe als Favoriten nannte, wurde als Zeichen von Sollers‘ Einfluss interpretiert. Der Erfolg von Ingrid Caven galt daher nicht nur als Erfolg des Autors, sondern auch als Beweis für die Wirksamkeit von Sollers‘ Taktik und Einfluss im oft als elitär und taktikbehaftet wahrgenommenen französischen Literaturbetrieb. Diese Situation, in der ein Verleger so eng mit dem Erfolg eines Preises verbunden ist, erweitert die autopoetologische und metafiktionale Dimension des Romans Ingrid Caven um die Reflexion über die äußeren Kräfte, die die Wahrnehmung und den „Wert“ eines literarischen Werkes bestimmen. Während Sollers selbst behauptete, dass „die Manöver von einem sehr schönen Buch manövriert wurden“ und es sich um einen „Goncourt der Literatur“ handelte, indem er jegliche Einmischung in die Jury ablehnte, wurde es als Zeichen für Sollers‘ Fähigkeit gedeutet, ein so „unklassifizierbares“ und lange „verschollenes“ Werk zu einem preisgekrönten Erfolg zu machen. In diesem Sinne wurde der Prix Goncourt für Ingrid Caven zu einem Beweis für Sollers‘ Fähigkeit, die Literatur als ein Spiel zu inszenieren, bei dem die „Verfälschung“ (im Sinne der Inszenierung) Teil der Wahrheit des Kunstwerks wird.
Et voilà !
Der Roman schließt mit Ingrids Verbeugung auf der Bühne, ihre Hand öffnet sich über dem Nichts, und sie scheint zu sagen: „Et voilà!“. Dieses „Et voilà!“ ist eine Geste der Akzeptanz, das Ende einer Performance, ohne falsches Pathos oder illusionäre Versprechen. Ingrids Auftritt löst sich in einem fast ätherischen Zustand auf:
C’est fini! Elle salue. D’abord elle s’incline lentement, recueillie. Elle se redresse, un sourire, puis, dans un large mouvement du bras, rend grâce, désigne les spectateurs qui maintenant applaudissent, certains debout, les quatre musiciens, pianiste, basse, saxo, violon, la feuille blanche illuminée sur le piano, sa main s’ouvre sur ce qui est autour d’elle, tout autour, aussi le vide, elle semblait dire : Et voilà!
Jean-Jacques Schuhl, Ingrid Caven, Gallimard, L’Infini, 2000.
Es ist vorbei! Sie verbeugt sich. Zuerst neigt sie langsam den Kopf, andächtig. Sie richtet sich auf, lächelt, dann bedankt sie sich mit einer ausladenden Armbewegung, zeigt auf die Zuschauer, die nun applaudieren, einige stehen auf, die vier Musiker, Pianist, Bass, Saxophon, Geige, das beleuchtete weiße Blatt auf dem Klavier, ihre Hand öffnet sich zu dem, was um sie herum ist, auch zur Leere, sie scheint zu sagen: Und das war’s!
Dieser Schluss unterstreicht die Idee der Performance als Existenzform. Ingrid Caven, die ihre schmerzhaften Erfahrungen nicht kapitalisiert, sondern in Bewegung und Ausdruck transformiert, verkörpert die Fähigkeit, über das Trauma zu triumphieren. Ihre „geheimnisvolle Distanz“ und die „Haltung, aber auch die Flexibilität und das Vertrauen in den Zufall“ sind dabei entscheidend. Das Ende offenbart sie als „fugitif hiéroglyphe animé“, bei dem die Geschichte verblasst und dem flüchtigen Moment auf der Bühne Platz macht.

Die Frage, wie wir Ingrid Caven heute lesen sollen, führt uns zu einer Reflexion über Erinnerung, Identität und die Medialität. Der Roman konstatiert eine „brutale Amnesie“ der Gesellschaft, die die Kontinuität der Geschichte unterbricht und eine Welt schafft, in der alles zu Remakes und Repliken wird. Schuhls Werk bietet eine Möglichkeit, sich dieser Vergangenheit, die oft verdrängt wird, neu zu nähern. Der Roman ermöglicht einen Blick auf diese oft unausgesprochenen oder fragmentierten Geschichten. Die Verflechtung von Kunst, Trauma und Identität in Ingrids Leben wird zu einem Spiegel für die eigene Auseinandersetzung mit der Geschichte, ohne dabei in starre Kategorisierungen zu verfallen. Die Fähigkeit des Romans, Geschichte ohne Fixierung zu „repräsentieren“, ist ein essenzieller Aspekt für diesen Generationenblick. In Schuhls kaleidoskopischer Erzählweise, die das Groteske mit dem Erhabenen, das Tragische mit dem Spielerischen verbindet, finde ich eine Form, die der Komplexität der Erinnerung und der Zeit gerecht wird.
Insgesamt kann Ingrid Caven als eine grundlegende Reflexion über die französische Faszination an einem bestimmten Deutschland verstanden werden – einem Deutschland, das von den Wunden des Krieges gezeichnet ist, aber auch eine unerschütterliche Fähigkeit zur Neuerfindung und künstlerischen Expression besitzt. Es ist die Anziehungskraft der deutschen „Sehnsucht“, des „Wunderkinds“ Fassbinder, der Ambivalenz der Nachkriegsgesellschaft, die Schuhl in diesem Roman auf brillante Weise einfängt. Das Buch wird somit zu einem literarischen Akt der Erinnerung und Neuinterpretation, der über nationale Grenzen hinauswirkt und die komplexen Verflechtungen von Kunst, Leben und Geschichte in den Blick nimmt. Es ist ein „Walzer der Ruinen“, der die Brüche und Widersprüche des Zeitgeistes in einer einzigartigen literarischen Form zum Ausdruck bringt.
Jean-Jacques Schuhls Roman Ingrid Caven ist eine Erkundung von Erinnerung und Vergessen, die sich durch die gesamte Erzählung zieht und sowohl individuelle Traumata als auch kollektive historische Erfahrungen beleuchtet. Der Roman stellt dar, wie Erinnerungen oft fragmentiert, verdrängt oder neu interpretiert werden, und wie das Vergessen sowohl eine Form der Flucht als auch der Gefahr sein kann. So beginnt der Text mit prägenden Kindheitserinnerungen der Protagonistin Ingrid Caven, die von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs gezeichnet sind. Diese frühen Erfahrungen bleiben in ihr eingeschrieben, auch wenn sie nicht immer bewusst zugänglich sind. Das Loreley-Zitat von Heinrich Heine am Anfang des Romans setzt den Ton für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Ein besonders eindringliches Motiv im Roman ist die Kette, die Ingrid einmal auf der Bühne findet und sich um das Handgelenk wickelt. Diese Kette ist später untrennbar mit den Viehwaggons verbunden, die ihre Familie zur Flucht nutzte und die auch für den Transport von Menschen („mis à nu“) verwendet wurden. Dies führt das Konzept der kollektiven und persönlichen Erinnerung ein, die sich in materiellen Objekten manifestiert, und die Verbindung zur Gräueltat der Shoah.
Il n’y avait pas que le p’tit train, il y avait un rêve que j’avais fait et qui me revenait régulièrement en tête : je suis dans notre salle de bains à Sarrebruck… Ce rêve, je ne le raconte jamais, il est trop transparent : il établit subrepticement un lien entre nous trois et des êtres qui avaient été mis à nu bien ailleurs. J’ai presque honte de mon rêve.
Jean-Jacques Schuhl, Ingrid Caven, Gallimard, L’Infini, 2000.
Es gab nicht nur den kleinen Zug, es gab auch einen Traum, den ich hatte und der mir regelmäßig wieder in den Sinn kam: Ich bin in unserem Badezimmer in Saarbrücken… Von diesem Traum erzähle ich nie, er ist zu durchsichtig: Er stellt heimlich eine Verbindung zwischen uns dreien und Menschen her, die ganz anderswo bloßgestellt worden waren. Ich schäme mich fast für meinen Traum.
Dieser wiederkehrende Traum ist ein starkes Bild für das unbewusste Trauma und die Verdrängung der Shoah in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Ingrids Unterbewusstsein stellt eine direkte Verbindung zwischen der Intimität ihres Badezimmers und der Entmenschlichung der Opfer in den Konzentrationslagern her. Die Scham Ingrids über die „Transparenz“ des Traums spiegelt die allgemeine Schwierigkeit wider, sich den Gräueln der Geschichte zu stellen. Der Roman thematisiert eine gesellschaftliche Tendenz zum Vergessen, insbesondere der schwierigen Aspekte der Vergangenheit, um einen Neuanfang zu ermöglichen oder die Realität zu verharmlosen.
Oui, on pouvait commencer enfin à oublier… les ruines, les gravats, les ténèbres, les brumes de l’enfance et celles de l’horreur avec. Fini le noir et blanc. Premiers technicolors, premières robes de jeune fille… Oui, on pouvait commencer enfin à oublier…
Jean-Jacques Schuhl, Ingrid Caven, Gallimard, L’Infini, 2000.
Ja, endlich konnte man anfangen zu vergessen … die Ruinen, den Schutt, die Dunkelheit, den Nebel der Kindheit und den Nebel des Grauens. Vorbei war die Schwarz-Weiß-Zeit. Die ersten Technicolor-Filme, die ersten Mädchenkleider … Ja, endlich konnte man anfangen zu vergessen …
Das Aufkommen von Technicolor-Filmen und die Hinwendung zu Konsum und Leichtigkeit symbolisieren einen Versuch, die graue und traumatische Vergangenheit des Krieges hinter sich zu lassen und sich einer helleren, neuen Ära zuzuwenden. Das „Vergessen“ wird hier als eine bewusste Strategie des Überlebens und der Neuerfindung dargestellt.
Une terrible mutation s’était faite en vingt ans… tout ça, on l’avait oublié, ça n’existait plus, une brutale amnésie, ça ne raccordait plus, comme après une apocalypse.
Jean-Jacques Schuhl, Ingrid Caven, Gallimard, L’Infini, 2000.
In zwanzig Jahren hatte eine schreckliche Veränderung stattgefunden … all das war vergessen, existierte nicht mehr, eine brutale Amnesie, es passte nicht mehr zusammen, wie nach einer Apokalypse.
Schuhl beschreibt hier eine „brutale Amnesie“ der Gesellschaft, die die Kontinuität der Geschichte unterbricht. Die digitale Ära und die schnelle Entwicklung der Medien führen dazu, dass frühere Konzepte (wie der „Leinwand“ als „Leinentuch“) ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren. Diese Amnesie ist nicht nur ein passives Vergessen, sondern ein aktives „Nicht-mehr-Wissen“ oder „Nicht-mehr-Verbinden“ von Vergangenheit und Gegenwart, was eine fragmentierte Realität schafft.
Trotz aller Versuche des Vergessens oder Verdrängens kehren Erinnerungen – oft unerwartet und schmerzhaft – zurück: „Du hattest es vergessen, aber es war dir eingeschrieben. Memories are made of this“. (Tu l’avais oublié mais c’était là inscrit en toi. Memories are made of this.“) Ingrid drückt hier eine Erschöpfung von der Last der Vergangenheit und der Angst vor der Zukunft aus. Sie zieht es vor, im „Heute“ zu leben, selbst wenn es „hässlich“ ist, weil es lebendig ist. Dies zeigt eine Form des bewussten Abwendens von der Erinnerung, um im Hier und Jetzt zu funktionieren. Es ist keine Verdrängung im Sinne des Verschwindens, sondern eine Priorisierung des Gegenwärtigen: „Sie hat genug von Erinnerungen, von der Kindheit und von der Zukunft, vom Tod. Sie bevorzugt das Heute, einfach so, wie es ist, auch mit all seiner Hässlichkeit, denn diese Hässlichkeit ist schöner als die schöne, vergangene Vergangenheit…“ („Elle en a marre des souvenirs, l’enfance, et de l’avenir, la mort, elle préfère l’aujourd’hui, juste ça, quel qu’il soit, même avec sa laideur, c’est une laideur plus belle que le beau passé mort…“)
Ingrid weigert sich, ihre traumatischen Erfahrungen zu „kapitalisieren“ oder dramatisch auszuschlachten. Stattdessen nutzt sie ihre Kunst (Sprechgesang, Maske, Bewegung) als Mittel, um im „Jetzt“ zu sein und sich nicht von der Vergangenheit gefangen nehmen zu lassen. Ihr „kleiner Schritt zur Seite“ symbolisiert die Fähigkeit, das Trauma zu umgehen und sich der Performance zu widmen, statt sich als Opfer zu präsentieren. Es ist eine aktive Form des „Nicht-Geisel-Seins“ der Geschichte, die aber die Präsenz des Vergangenen nicht leugnet, sondern transformiert:
Elle n’a pas capitalisé dessus, n’a pas tiré de chèque sur ses malheurs, ne la fait pas au caractère, au dramatique : elle est dans le mouvement, là, juste là, maintenant. Jamais elle ne songeait à ce long chemin parcouru. Elle a connu la guerre, l’infirmité, le terrorisme, tous ceux proches d’elle, morts de l’épidémie, spectres, fantômes, mais juste là maintenant, la chose la plus importante au monde, c’est un petit pas glissé, une note tenue en Sprechgesang, le maquillage, die Maske, bien pris dans la lumière, un léger maniérisme de la main : faire un petit pas de côté, à côté, ne pas rester l’otage du passé.
Jean-Jacques Schuhl, Ingrid Caven, Gallimard, L’Infini, 2000.
Sie hat daraus kein Kapital geschlagen, hat ihr Unglück nicht ausgenutzt, macht keine große Sache daraus, dramatisiert nicht: Sie ist mitten im Geschehen, genau hier, genau jetzt. Nie hätte sie daran gedacht, wie weit sie gekommen ist. Sie hat Krieg, Behinderung, Terrorismus erlebt, alle, die ihr nahestanden, sind an der Epidemie gestorben, Gespenster, Geister, aber genau jetzt ist das Wichtigste auf der Welt ein kleiner Schritt, eine Note im Sprechgesang, das Make-up, die Maske, gut ins Licht gesetzt, eine leichte Manierismus der Hand: einen kleinen Schritt zur Seite machen, nicht in der Vergangenheit gefangen bleiben.
Die metaphorische Beschreibung von „verschwundenen Jahren“ als „Zeitspalten“ oder „versunkene Kontinente“ unterstreicht die Vergänglichkeit und Brüchigkeit der Erinnerung im modernen Zeitalter. Sie zeigt, wie schnell ganze Perioden aus dem kollektiven Bewusstsein verschwinden können, als ob sie nie existiert hätten, was die Arbeit des Historikers oder Erzählers umso dringlicher macht.
Chef! chef! Je n’y comprends rien, sept années ont disparu des radars. Volatilisées. Sept années de perdues, glissées dans une faille du temps qui s’est refermé sur elles comme sables mouvants, ces continents engloutis dont parlent les légendes, l’Atlantide…
Jean-Jacques Schuhl, Ingrid Caven, Gallimard, L’Infini, 2000.
Chef! Chef! Ich verstehe nichts, sieben Jahre sind von der Bildfläche verschwunden. Verflüchtigt. Sieben verlorene Jahre, in einen Spalt der Zeit gerutscht, der sich wie Treibsand über sie geschlossen hat, wie die versunkenen Kontinente aus den Legenden, Atlantis…
Erinnern und Vergessen in Ingrid Caven reichen von der individuellen Verarbeitung von Kriegstraumata bis zur kollektiven Amnesie einer Gesellschaft, die das Vergangene verdrängt oder in Kitsch verwandelt. Der Roman selbst ist ein Akt des Erinnerns und Bewahrens, ein „Palimpsest“, das Schichten von Geschichten und Perspektiven übereinanderlegt, um die Komplexität der deutschen Geschichte und die Identität ihrer Protagonistin im Lichte einer sich ständig wandelnden Gegenwart zu beleuchten. Er fragt nach der Macht der Kunst, das Unsagbare zu vermitteln und das Verschwindende festzuhalten, und nach der Verantwortung, sich der „eingeschriebenen“ Vergangenheit zu stellen.
Der Roman endet nicht mit einer klaren Auflösung, sondern mit einem Verblassen und der Akzeptanz der Flüchtigkeit. Die letzten Passagen, die Ingrids Auftritte in New York beschreiben, beleuchten den Kontrast zwischen ihrer kleinen, langsamen Person und der elektrischen Nervosität der Stadt. Das Buch mündet in die Reflexion über die „Apokalypse ohne Drachen“, eine subtile, diffuse Form der Zerstörung durch Überinformation, Gleichgültigkeit und das Verschwimmen der Realität in einer medialisierten Welt.
Ingrid Caven ist ein Roman, der sich jeder eindeutigen Kategorisierung entzieht. Er ist Biografie und Fiktion, Dokument und Mythos, Theater und Roman in einem. Seine Poetik liegt in der Schwebe: zwischen Tiefe und Oberfläche, zwischen deutscher Geschichte und internationaler Popkultur, zwischen Sehnsucht und Ironie. Er zeigt eine Welt, in der jede Figur zugleich echt und erfunden ist, in der die Vergangenheit als Glamour-Gespenst wiederkehrt und in der die Bühne des Lebens niemals leer bleibt. Ingrid Cavens Performance wird zu einem „fugitif hiéroglyphe animé“, bei dem die Geschichte verblasst und dem flüchtigen Moment auf der Bühne Platz macht. Schuhl arbeitet mit Andeutungen, Sprüngen und Fragmenten. Das letzte Bild verweist zurück auf die vielen vorherigen Maskierungen, Ketten, Bühnenlichter. Es ist nicht klar, ob wir eine reale Aufführung erleben oder ein inneres Bild, einen Traum, ein Zitat. Der Schluss macht sichtbar, dass Wahrheit und Fake, Realität und Kunstfigur sich in Ingrid Caven unauflöslich verschränkt haben. Was bleibt, ist eine Schwebe: zwischen der verletzlichen Frau und der schillernden Diva, zwischen Nachkriegsdeutschland und internationalem Jetset, zwischen Leben und Kunst.
Anmerkungen- Jean-Paul Enthoven, „L’ange boiteux“, Le Point, 14. Januar 2010, 92.>>>