Alles ist verschmutzt
… denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.Rainer Maria Rilke, „Archaischer Torso Apollos“.
Claudine Galeas Roman Les choses comme elles sont nimmt die Kindheit und Jugend einer namenlosen Protagonistin in Marseille und ihrer Umgebung in den 1960er und 70er Jahren zum Ausgangspunkt einer Erkundung der Kindheit, der familiären Dynamiken und der Auswirkungen historischer Ereignisse auf die individuelle Entwicklung. Im Kern ist es die Geschichte der „Petite“, die sich von einem neugierigen Kind zu einer rebellischen Jugendlichen und schließlich zu einer jungen Frau an der Schwelle aller Möglichkeiten entwickelt. Der Roman zeichnet eine existenzielle Familiengeschichte von großer Härte, geprägt von „schwarzen Löchern“, die unaussprechlich, aber unauslöschlich sind. Gleichzeitig wird die sprachliche Dichte der durchlebten Epochen in Marseille und die bitteren Nachwehen der Geschichte von einem Ufer zum anderen des Mittelmeers erzählt. Galeas Fresko verbindet eine lyrische Schreibweise mit der Distanz einer Untersuchung der dunklen Zonen der nationalen Erzählung Frankreichs.
Elle était comme un rêve. Une fleur posée sur la route. Une fleur éclatante de blancheur. Elle-même était la fleur. […] Un jour de blancheur comme il n’y en aurait plus jamais.
Sie war wie ein Traum. Eine Blume, die auf der Straße lag. Eine strahlend weiße Blume. Sie selbst war die Blume. […] Ein Tag voller Weiß, wie es ihn nie wieder geben würde.
Die Erzählung beginnt mit einem Moment der strahlenden kindlichen Reinheit, der sich jedoch als trügerisch erweist. Die „Petite“ erlebt einen jähen Bruch mit ihrer idealisierten Welt, als die makellose Reinheit ihres Kommunionskleides durch den Schmutz der Welt befleckt wird. An ihrem Kommuniontag empfindet sich die kleine Protagonistin als eine strahlend weiße Blume, ein Sinnbild kindlicher Reinheit. Dieses Gefühl, eine „Göttin“ zu sein, die von Bewunderung umgeben ist, wird jedoch abrupt beendet. Die Feststellung, dass die Sohlen ihrer neuen weißen Schuhe schmutzig geworden sind, zerstört diese Illusion. Der Fleck auf der vermeintlich unberührten Weiße ihrer Kleidung und ihres Selbstbildes offenbart ihr die Präsenz von Schmutz und Unvollkommenheit in der Welt: „Regarde, papa, regarde, tout est sali. […] Je ne suis plus blanche“. Das Erschrecken darüber, nicht mehr „weiß“ zu sein, markiert den symbolischen Verlust ihrer kindlichen Unschuld und die erste schmerzhafte Berührung mit der ungeschönten Realität. Dieses erste Erlebnis der Ernüchterung legt den Grundstein für ihre spätere Suche nach Wahrheit und ihre aufkeimende Rebellion gegen die oberflächlichen Erscheinungen.
Ihr Aufwachsen ist geprägt von der angespannten Beziehung ihrer Eltern, der „Mère-Ritou“ (Mutter-Ritou) und des „Père-Élios“ (Vater-Élios), die in einer Atmosphäre der Vermeidung und versteckter Konflikte leben. Das Kommunizieren zwischen der „Mère-Ritou“ und dem „Père-Élios“ ist oft angespannt und von Schweigen oder lauten Auseinandersetzungen gekennzeichnet. Die Protagonistin spürt, dass ein tiefes, ungelöstes Trauma in der Vergangenheit ihrer Mutter liegt, zu dem sie keinen Zugang hat.
Ça a commencé il y a longtemps, à l’intérieur de la Mère-Ritou, dans le trou noir, la Petite n’avait pas accès à cet endroit-là et le Père-Élios n’y avait peut-être pas accès non plus, ça a commencé en un temps et un endroit où la Petite n’avait pas sa place, un temps et un endroit qui ne lui appartenaient pas, auquel elle ne pouvait pas réfléchir, mais elle pouvait sentir, ça se passait dans son ventre, sous sa peau, la Petite sentait que quelque chose, là-bas, en un lieu et en un temps dont la Mère-Ritou ne parlait jamais, s’était déréglé.
Es begann vor langer Zeit, im Inneren der Mutter-Ritou, im schwarzen Loch. Die Kleine hatte keinen Zugang zu diesem Ort, und vielleicht hatte auch Vater-Elios keinen Zugang. Es begann zu einer Zeit und an einem Ort, an dem die Kleine ihren Platz nicht hatte, zu einer Zeit und an einem Ort, die ihr nicht gehörten, an die sie nicht denken konnte, aber sie konnte es spüren, es geschah in ihrem Bauch, unter ihrer Haut, die Kleine spürte, dass dort, an einem Ort und zu einer Zeit, von denen Mutter Ritou nie sprach, etwas aus dem Gleichgewicht geraten war.
Die Erzählerin identifiziert den Ursprung des familiären Unglücks in einem „schwarzen Loch“ in der Vergangenheit der Mère-Ritou, einem Trauma, zu dem weder die Petite noch der Père-Élios Zugang haben. Sie empfindet, dass an diesem unerreichbaren Ort in der Zeit etwas „durcheinandergeraten“ ist, wie eine Uhr, deren Zeiger stehen geblieben sind, was die gegenwärtigen Spannungen und die „schiefe“ Denkweise der Mutter erklärt. Diese Metapher des „schwarzen Lochs“ verweist auf verborgene, ungelöste Traumata, die das Familienleben durchdringen und die emotionale Atmosphäre bestimmen. Die Kindheit der Protagonistin ist untrennbar mit diesen familiären und historischen Schatten verbunden, die eine offene Kommunikation verhindern und eine Atmosphäre der Bedrückung schaffen. Die „Petite“ muss lernen, sich in dieser Umgebung zurechtzufinden, was oft bedeutet, sich anzupassen oder zu verbergen.
Die Petite sucht Trost und Sinn in Büchern und ihrer Fantasie, schafft sich eine imaginäre Schwester und verbringt Zeit mit dem Vater, der ihr Geheimnisse erzählt und ihr hilft, die Welt auf ihre Weise zu entschlüsseln. Zugleich enthüllt die Erzählung die allgegenwärtige Stigmatisierung und Ignoranz, die die Petite bereits im jungen Alter wahrnimmt, sei es in Bezug auf „alte Jungfern“ oder die anfängliche Unkenntnis über Geld und soziale Realitäten. Tiere spiegeln die familiären Dynamiken wider, von fürsorglicher Eigenart bis zu brutaler Realität des Verlusts. Als Antwort auf die familiäre Enge und die unaufgelösten Konflikte entwickelt die „Petite“ eine tiefe „Liebesgeschichte mit den Wörtern“. Sie flüchtet sich in imaginäre Welten, erfindet Geschichten und nutzt die Sprache, um die Realität zu gestalten oder zu analysieren. Wörter werden zu ihren Werkzeugen, um die Welt zu verstehen, sich zu orientieren und letztlich zu rebellieren.
Les mots sont très clairs, très nets, j’entends le son de chaque consonne. Il y a une consonne pour une voyelle dans ces mots. Ça fait un bruit net et sec. C’est puissant. […] C’est là que je comprends. Que les mots sont puissants. Je les entends. Ils frappent. Ils sonnent. Ils se découpent dans le noir.
Die Wörter sind sehr klar, sehr deutlich, ich höre jeden einzelnen Konsonanten. In diesen Wörtern gibt es einen Konsonanten für jeden Vokal. Das klingt klar und trocken. Es ist kraftvoll. […] Da verstehe ich es. Dass Wörter kraftvoll sind. Ich höre sie. Sie klopfen an. Sie klingeln. Sie zeichnen sich in der Dunkelheit ab.
Die Protagonistin beschreibt, wie die Worte, auch die beleidigenden und rohen („suce, salope“), eine Klarheit und Präzision annehmen, die sie im Gedächtnis behält. Sie empfindet die Macht der Worte, ihre Fähigkeit, in der Dunkelheit der Erinnerung hervorzustechen und die Realität zu beeinflussen. Für sie sind diese Worte nicht nur Schall, sondern mächtige Werkzeuge, die das Unsichtbare sichtbar machen und ihr helfen, die Essenz einer traumatischen Erfahrung zu fassen. Diese Faszination für die greifbare Kraft der Sprache wird zu einem Motiv für ihre spätere Suche nach Wahrheit und Emanzipation. Es ist durch die Auseinandersetzung mit Wörtern, dass sie lernt, die komplexen Realitäten, die sie umgeben, zu entschlüsseln und zu benennen.
Pisten der Lektüre
Changer la vie
Im Verlauf des Textes eskaliert der familiäre Konflikt der Petite in der Adoleszenz, resultierend aus der ungeklärten Verschwörung um das verschwundene Schiff ihres Vaters, der Sainte-Anne. Diese familiären Probleme und „unschicklichen Geheimnisse“ wirken sich unausgesprochen auf die Tochter aus. Die politische und historische Umbruchszeit Frankreichs, insbesondere der Algerienkrieg und die Ereignisse des Mai 1968, bilden einen weiteren Hintergrund für die wachsende Spannung und die Suche nach einem Sinn. Die Petite erlebt die elterlichen Auseinandersetzungen über Politik und Vergangenheit, die oft in emotionalen oder physischen Ausbrüchen enden. Ihre eigene Rebellion manifestiert sich im Wunsch nach einer Veränderung des Lebens („changer la vie“), im Akt des Stehlens als Befreiungsversuch und in einer verstörenden sexuellen „Erfahrung“ mit einem Jungen, die sie als einen Akt der Erkenntnis und des Experimentierens interpretiert, der sie gleichzeitig abstößt und ermächtigt. Der Roman gipfelt in der Auflistung unzähliger „Vies“ (Leben), die die Protagonistin in ihrer Vorstellungskraft durchlebt – von der Tänzerin bis zur Politikerin, von der Metzgerin bis zur Fliegerin:
- Mannequin bei YSL, eine Star-Ikone, die jedoch aufgrund einer Verletzung ihre Karriere beendet.
- Institutrice (Lehrerin), was sie schnell wieder aufgibt, da ihr die Erwachsenen und deren fehlende Träume missfallen.
- Serveuse de bar (Barfrau), die den Geruch von Sägemehl und Kaffee mag, aber am Ende des Tages selbst trinkt.
- Strip-teaseuse, die ihre Formen liebt, aber von der Art, wie Männer sie ansehen, angewidert ist und sie anspuckt.
- Vendeuse en boulangerie (Bäckereiverkäuferin), die von der Auswahl an Gebäck überfordert ist und zunimmt.
- Libraire (Buchhändlerin), ein Traum, der sich als Verkaufsjob entpuppt, bei dem sie keine Zeit zum Lesen hat.
- Eine Frau, die ihren Körper gegen Geld anbietet und dabei Schmerzen erleidet.
- Actrice, die Rollen nicht versteht und sich als schlecht empfindet.
- Vendeuse de pralines (Pralinenverkäuferin) am Strand, die die Menschenmassen hasst und lieber im Meer schwimmt.
- Nez de parfumerie (Parfüm-Nase), die ihre Fähigkeit verliert, wenn sie an ihre Chefin denkt.
- Danseuse de claquettes (Stepptänzerin), die von Fred Astaire inspiriert ist, aber nicht die Beine einer Ginger Rogers hat.
- Alpiniste (Alpinistin), die schnell und agil ist, aber beim Blick in die Tiefe Schwindel bekommt.
- Joueuse de bridge (Bridge-Spielerin), die das Adrenalin des Spiels liebt, aber erkennt, dass Leidenschaften tödlich sein können.
- Éleveuse de chèvres (Ziegenzüchterin), die die Natur liebt, aber das Gemecker der Ziegen nicht so sehr wie das Zirpen der Zikaden.
- Nadia Comaneci, ein Jugendtraum, der durch ihre Mutter, eine Kommunistin, kompromittiert wird.
- Pianiste, ihr größter, noch nicht begonnener Traum.
- Championne de natation (Schwimmweltmeisterin), die das Schwimmen genießt, aber erst spät die Techniken lernt.
- Avocate (Anwältin), die ihre Mitschülerinnen gegen Jungen verteidigt, aber feststellt, dass sie damit ihren Lebensunterhalt nicht verdienen könnte.
- Femme de ménage (Putzfrau), die die verborgenen, schmutzigen Ecken putzt, was ihre Arbeitgeberinnen nicht bemerken.
- Diseuse de bonne aventure (Wahrsagerin), die „Horrorprophezeiungen“ – die Wahrheit – erzählt.
- Orlando, eine transgeschlechtliche Existenz nach Virginia Woolf, die sich jedoch nicht mit einem männlichen Geschlechtsteil anfreunden kann.
- Conductrice d’autocar (Busfahrerin) in den Bergen, die die Landschaft liebt, aber von ihren Fahrgästen genervt ist.
- Alexandra David-Néel, eine Entdeckerin ohne unerforschte Gebiete mehr.
- Flic (Polizistin), die Fälle löst, aber die Hierarchie verabscheut.
- Novice en monastère (Novizin im Kloster), die die Schönheit und Geheimnisse des Klosters mag, aber ihre weibliche Natur nicht verleugnen will.
- Soumise puis maîtresse SM (Unterwürfige und dann SM-Domina), was sie als „biographische Logik“ bezeichnet.
- Postière (Postbotin), die die verborgenen Leben der Menschen durch ihre Briefe entdeckt, aber aus diesem kleinen Mikrokosmos entfliehen muss.
- PDG de grande entreprise (CEO eines Großunternehmens), die ihren Stil nicht anpasst und von Kollegen nicht ernst genommen wird.
- Journaliste, enquêtrice (Journalistin, Ermittlerin), eine weitere biographische Manifestation.
- Bouchère (Metzgerin), die das Zerlegen von Fleisch liebt und von der Präzision eines erfahrenen Metzgers fasziniert ist.
- Croque-mort (Bestatterin), die sich jedoch nicht in eine Serie wie „Six Feet Under“ einfügen kann.
- Hôtesse de l’air (Flugbegleiterin), die die Welt bereist, aber frustriert ist, wenn sie von Reisenden auf Hindernisse stößt.
- Promeneuse de chiens (Hundeführerin), die sich mit einer „Promeneuse d’enfants“ vergleicht und einen Tausch vorschlägt.
- Femme politique (Politikerin), die nach Macht strebt und bereit ist, dafür Freunde, Eltern und Kinder aufzugeben.
- Chanteuse de rock (Rocksängerin), die gefeiert wird, aber die Bühne verlässt, um „andere Transporte“ zu finden.
- Chat-à-la-fenêtre (Fensterkatze), die das Beobachten liebt, aber die Kälte und den Regen eines holländischen Sommers nicht mag.
- Coureuse cycliste (Radrennfahrerin), die Weltmeisterin wird, aber für einen Mann fällt und durch männliche Privilegien am Tour de France gehindert wird.
- Riche héritière (Reiche Erbin), die Villen und Wohnungen auf der ganzen Welt besitzt, aber feststellt, dass Geld die Zeit nicht aufhalten kann und die Orte ihre Magie verlieren.
- Mère de famille nombreuse (Mutter einer Großfamilie), die sich fragt, was aus ihrem Leben wird, wenn die Kinder erwachsen sind.
- Cinéaste, raconteuse d’histoires, créatrice de fictions (Filmemacherin, Geschichtenerzählerin, Schöpferin von Fiktionen), die erst mit sechzig Jahren anfängt.
- Valses de Vienne (Wiener Walzer), die bekennen, dass Geständnisse ihren Preis haben, aber Drehungen unvergesslich sind.
- Ébéniste (Möbeltischlerin), ein kreativer Beruf, der Präzision und Detailarbeit erfordert.
- Danseuse chez Pina Bausch (Tänzerin bei Pina Bausch).
- Cantate sous les doigts de Jean-Sébastien Bach (Kantate unter den Fingern von Johann Sebastian Bach).
- Camille Claudel, aber fünfzig Jahre später, damit sie dem Bildhauer und ihrer Mutter ein „Fuck you“ entgegenschleudern kann.
Viele dieser imaginären Leben enden in Enttäuschung und Scheitern oder offenbaren unerwartete Nachteile. Doch gerade in dieser Vielfalt und der wiederkehrenden Vorstellung, „Fuck you“ zu allen einschränkenden Autoritäten und Konventionen sagen zu können, manifestiert sich ihre unstillbare Suche nach Identität, Freiheit und Selbstverwirklichung. Das imaginäre Erschaffen und Bewohnen dieser „Vies“ wird so zu ihrem persönlichen Weg, die „trous noirs“ (schwarzen Löcher) ihrer Familiengeschichte zu überwinden und eine eigene, „wahre“ Geschichte durch die Macht der Worte zu schaffen und zu durchleben. Diese vielseitigen Identitäten sind ein Ausdruck ihres fortwährenden Strebens nach Selbstfindung und Emanzipation aus den Fesseln einer belasteten Vergangenheit und familiären Prägungen, wobei die Kunst und die Imagination als Flucht und Überlebensstrategie dienen. Das himmlische Blau des Deckengemäldes im Flur der Villa, das ihr Vater gemalt hat, wird zu einem Symbol für Schönheit, Trost und das Unaussprechliche, das in dieser Familie überdauert.
Obwohl viele dieser „Leben“ in Enttäuschung oder Scheitern enden, verdeutlichen sie ihre Weigerung, sich auf eine einzige, vorgegebene Existenz festlegen zu lassen. Sie demonstrieren ihre innere Rebellion und ihren Wunsch, alle Facetten ihres Seins zu erkunden, selbst wenn dies bedeutet, die Erwartungen anderer radikal abzulehnen. Dies ist eine Fortsetzung ihrer kindlichen Imagination, die nun zu einer bewussten Strategie der Selbstfindung wird.
Das „trou noir“ als vererbtes Trauma
Das wiederkehrende Motiv des „schwarzen Lochs“ symbolisiert die ungelösten Traumata und unaussprechlichen Geheimnisse in der Familiengeschichte, insbesondere den Verlust des Vaters der Mère-Ritou auf dem Schiff Sainte-Anne. Diese tiefen Wunden prägen Generationen und werden, oft unbewusst, an die Protagonistin weitergegeben, die ihren eigenen Umgang damit finden muss.
Der Begriff „trou noir“ (schwarzes Loch) ist in Claudine Galeas Roman Les choses comme elles sont ein zentrales Bild, das weit über seine ursprüngliche Bedeutung hinausgeht und sowohl konkrete traumatische Ereignisse als auch tiefe psychologische Zustände und unausgesprochene familiäre Geheimnisse symbolisiert. Im Kern des „trou noir“ steht Henriettes (Mère-Ritous) Lebenstrauma. Es begann am 18. März 1950 mit dem spurlosen Verschwinden des Frachtschiffs Sainte-Anne, auf dem ihr Vater Paul als Mechaniker arbeitete. Für Henriette war dies ein „trou noir“, das sie verschlang und tief in ein immenses Leid stürzte. Die Ungewissheit um das Schicksal des Schiffes und seiner 15-köpfigen Besatzung – Gerüchte über eine Beschlagnahmung durch Franco-Behörden in Barcelona, mysteriöse Postkarten und ein mutmaßlicher Verkehr – machten die Angelegenheit zu einem „secret-défense“, das bis heute unzugänglich ist. Dieses ungelöste Geheimnis und Trauma prägte Henriette, führte zu einer „enormen Einsamkeit“ und „monströsem Kummer“, aus dem sie Wut, einen Wunsch nach Zerstörung und aggressives, provokatives Verhalten schöpfte. Ihr „trou noir“ manifestierte sich auch in Ohnmachtsanfällen („trous noirs“) und war die Ursache für die Zerrüttung ihrer Ehe mit Christian. Es war ein Ort, an dem „die Logik verrückt spielte“, ein festgefrorener Moment in der Zeit, der sie „von innen auffraß“. Für Christian (Père-Élios) selbst repräsentierte der Algerienkrieg und der „Verlust seines Landes“ ebenfalls einen „gouffre“ (Abgrund), und er verband Henriettes „trous noirs“ mit ihren Fehlgeburten und der Vorstellung von „Kindern, die in das schwarze Loch fallen“.
Die „Petite“ ist sich der „schwarzen Löcher“ und „unbeschreiblichen Geheimnisse“ bewusst, die in ihrer Familie existieren. Sie spürt, dass das „trou noir“ der Mère-Ritou die Quelle des Unglücks und der dysfunktionalen Dynamik in der Familie ist. Obwohl sie keinen rationalen Zugang dazu hat, fühlt sie es in ihrem Körper. Dieses „trou noir“ markiert den Beginn des „Zerfalls ihrer Kindheit“, des Schwindens der Magie und der Zunahme familiärer Spannungen und des „parlermentir“ (Sprechen-Lügen) ihrer Eltern. In einem traumatischen Erlebnis im Kino, als ein Junge sie sexuell bedrängt, wird der Zustand des „Schwarzseins“ und der Dunkelheit als ihr „innerer Bildschirm“ beschrieben, der das Gesehene überlagert und das Geschehen in einem „trou noir“ verschluckt. Sie beschreibt sich danach als „leer“ und gleichzeitig „kochend“. Die Petite versteht, dass das Verbergen dieser Geheimnisse dazu führt, dass man sich „ins Geheimnis begibt“ und „sich selbst ins Loch steckt“, wo man „grübelt“ und „von innen aufgefressen wird“. In ihrer eigenen Entwicklung versucht die Petite zunächst, vor diesen „Löchern“ und Konflikten zu fliehen, etwa durch den Diebstahl im Supermarkt, den sie als Befreiung ansieht und in dem sie sich wünscht, die Mutter zu „töten“. Später versucht sie, durch Nicht-Essen und „Verschwinden“ dem Einfluss ihrer Mutter zu entkommen, symbolisiert durch einen Körper, der transparent wird und ins „Himmelsblau des Plafonds“ fliegen möchte. Letztendlich, als sie selbst „in das Loch hinabgestiegen“ und „den Boden berührt“ hat, findet sie den Weg heraus. Sie „suchte alles, was sie wusste, verstand und fühlte“, um die Geschichte ihrer Familie und Epoche zu erfassen und „kam wieder an die Oberfläche“. Das Himmelsblau der Zimmerdecke, die ihr Vater bemalt hatte, symbolisiert ihren Weg aus dem „trou“ und den Beginn „ihres Lebens“ und „ihrer Leben“.
Die Macht und die Grenzen der Sprache und des Erzählens
Die Protagonistin sucht in Claudine Galeas Roman Les choses comme elles sont von frühester Kindheit an nach Verständnis und Kontrolle durch die Macht der Sprache. Sie entwickelt eine „Liebesgeschichte mit den Wörtern“, lernt eifrig, Schilder und Werbung zu entschlüsseln, und verschlingt Bücher, in denen sie das Ideal des „vie de famille“ (Familienleben) zu finden hofft. Für die Petite besitzen Geschichten eine magische Kraft und sind wahr, weil sie möglich sind. Doch diese Suche stößt immer wieder an die Grenzen der Sprache und der Erwachsenenwelt. Die Kommunikation zwischen ihren Eltern, der Mère-Ritou und dem Père-Élios, ist oft angespannt, von Schweigen oder Türenschlagen geprägt. Die Petite entdeckt früh das „parlermentir“ (Sprechen-Lügen) ihrer Eltern, eine Form des Verbergens und der Verzerrung der Wahrheit, die sie intuitiv erfasst. Die Mère-Ritou, gefangen in ihrem eigenen „trou noir“ kann der Tochter weder Antworten geben noch eine authentische familiäre Realität bieten. Diese unausgesprochenen Geheimnisse und die „Unfähigkeit“ der Erwachsenen, die Dinge wirklich zu benennen, treiben die Protagonistin dazu an, ihre eigene, „wahre“ Geschichte zu schaffen und durch die Worte zu leben. Besonders deutlich wird dies im Kapitel „Faire l’expérience“, wo sie trotz des Ekels bei einer traumatischen sexuellen Begegnung die „Macht der Worte“ des Jungen erkennt und diese als „wahr und lebendig“ in ihrer Erinnerung festhält, da sie ihr „Wissen“ vermitteln. Dieser Akt des Verstehens durch die Erfahrung und die Sprache, auch wenn sie schmerzhaft ist, wird zu ihrem persönlichen „Bildschirm“, auf dem sie die Welt neu ordnet. Letztlich ist es ihr Drang, das Leben zu ändern („changer la vie“), und ihre Fähigkeit, imaginäre „Vies“ zu erschaffen, sowie ihre Entschlossenheit, „die Dinge so, wie sie sind“, aus dem „Bauch des Meeres“ zu schreiben, die sie aus dem Kreislauf des Traumas befreien und ihr ermöglichen, die Welt durch ihre eigenen, selbst geschaffenen Worte zu bewohnen.
Die Emanzipation als Akt der (Selbst-)Zerstörung und des Neubeginns
Die Protagonistin im Roman Les choses comme elles sont ist von Anfang an eine Figur, die nach Freiheit und Selbstbestimmung strebt. Dieses tief sitzende Bedürfnis äußert sich in einer konsequenten Rebellion gegen elterliche Autorität und gesellschaftliche Normen. Schon als Kind wehrt sie sich gegen die kontrollierenden und oft widersprüchlichen Erwartungen ihrer Mère-Ritou, deren „praktische“ Denkweise und Abneigung gegen „Imagination“ die Protagonistin als einengend empfindet. Das Verbergen von Wahrheiten und das Schönreden der Realität durch die Mutter treibt die Protagonistin dazu an, ihre eigene, „wahre“ Geschichte zu finden und zu schreiben.
Die „Petite“ widersetzt sich den Erwartungen ihrer Mutter und der Gesellschaft, die sie in eine bestimmte Rolle zwängen wollen. Sie träumt von langen Haaren, obwohl ihre Mutter sie kurz schneidet, und sehnt sich nach Abenteuern statt nach einem „praktischen“ Leben. Die Szene, in der sie Fahrradfahren lernt, ist ein prägnantes Beispiel für ihre aufkeimende Autonomie.
ô miracle, le vélo rouge avance droit et solide dans la cour, elle amorce un virage sans difficulté et, revenant vers le Père-Élios, un sentiment tout neuf de puissance et de liberté dans tout son corps, elle accélère et tourne devant le Père-Élios qui applaudit et dit, Continue continue ma fille, et Sa-Fille fait un deuxième puis un troisième puis un quatrième tour de vélo, accélérant, freinant, prenant des virages de plus en plus serrés et rapides, et le Père-Élios crie, Bravo, bravo, et Sa-Fille lâche même un instant le guidon, oh juste une demi-seconde, pour lui montrer qu’elle chevauche telle une reine son vélo rouge flambant neuf.
oh Wunder, das rote Fahrrad fährt gerade und stabil durch den Hof, sie nimmt ohne Schwierigkeiten eine Kurve und kehrt zu Père-Élios zurück. Mit einem ganz neuen Gefühl von Kraft und Freiheit in ihrem ganzen Körper beschleunigt sie und dreht sich vor Père-Élios, der applaudiert und sagt: Weiter, weiter, meine Tochter, und Seine-Tochter dreht eine zweite, dann eine dritte und eine vierte Runde mit dem Fahrrad, beschleunigt, bremst, nimmt immer engere und schnellere Kurven, und Vater-Élios ruft: Bravo, bravo, und Seine-Tochter lässt sogar für einen Moment den Lenker los, oh, nur eine halbe Sekunde, um ihm zu zeigen, dass sie wie eine Königin auf ihrem brandneuen roten Fahrrad schwebt.
Das Erlernen des Fahrradfahrens ohne Stützräder, eine Tätigkeit, die sie mit ihrem Père-Élios teilt und die von der Mère-Ritou missbilligt wird, wird zu einem Schlüsselmoment der Befreiung. Als sie es schafft, das rote Fahrrad alleine zu lenken, nimmt sie ein völlig neues Gefühl von Macht und Freiheit wahr. Das Fahrrad wird zum Symbol ihrer Autonomie und ihres Triumphs über die einschränkenden Kräfte in ihrem Leben. Ihre Fähigkeit, schnell und sicher Kurven zu fahren und sogar kurz den Lenker loszulassen, drückt ihren aufkeimenden Wunsch aus, ihr eigenes Leben wie eine Königin zu gestalten, abseits der Kontrolle ihrer Mutter. Dies ist eine körperliche und emotionale Manifestation ihres Strebens nach Selbstbestimmung.
Ihre Versuche der Emanzipation sind oft radikal und schmerzhaft: So weigert sie sich im Kapitel „Disparaître“, zu essen, um für die Mère-Ritou „unsichtbar“ zu werden und sich deren Einfluss zu entziehen. Dieser Akt des Verschwindens ist ein symbolischer Ausdruck ihres Wunsches nach Loslösung und einem glamourösen, selbstbestimmten Leben als Model bei YSL. Ein weiterer Ausdruck ihrer Rebellion ist der Akt des Stehlens einer Jeans im Supermarkt im Kapitel „Voler“. Dieser Diebstahl wird als eine „Befreiung“ und ein Akt der „Rache“ interpretiert, der ihren Wunsch symbolisiert, die „alte Ordnung“ zu zerstören, um sich aus der Enge des elterlichen Zuhauses und der gesellschaftlichen Zwänge zu befreien. Ihre inneren Fantasien gehen bis zum Wunsch, die Mutter zu „töten“, um der erdrückenden Situation zu entkommen. Diese Handlungen, gepaart mit ihrer wachsenden „Sauvagerie“ und dem Slogan „Changer la vie“ (Das Leben ändern), veranschaulichen ihren kompromisslosen Drang, die dysfunktionale familiäre Realität zu überwinden und eine neue, eigene Identität jenseits der „trous noirs“ der Vergangenheit zu finden.
Die Kindheit als Spiegel nationaler und historischer Brüche
Claudine Galeas Les choses comme elles sont ist insofern ein politischer Roman, als er die intime Erzählung eines weiblichen Heranwachsens mit den Verwerfungen der französischen Geschichte verschränkt – insbesondere mit der kolonialen Vergangenheit und deren Nachwirkungen. Die Biographie des Vaters, des „Père-Élios“, führt zurück zu den französischen Kriegen in Indochina und Algerien, deren Traumata sich im Schweigen, in den Sprachbrüchen und der emotionalen Ferne des Vaters niederschlagen.
Besonders eindringlich zeigt der Roman die verdrängte Geschichte des französischen Kolonialismus in Algerien – und dessen bleibende Einschreibung in Körper, Sprache und Familienstrukturen. Der Vater, ein „Français d’Algérie“, trägt die Spuren dieses Kolonialverhältnisses: seine Herkunft aus Philippeville, sein Einsatz im Kolonialkrieg, seine affektive Verschlossenheit und sein Schweigen über Erlebtes verweisen auf die verdrängten Traumata einer ganzen Generation. Seine Biographie steht exemplarisch für die ambivalente Position der „Pieds-Noirs“, die sich zugleich als Franzosen und Vertriebene sahen, aber kaum in das französische Selbstbild nach 1962 passten. Der Roman verhandelt diese koloniale Vergangenheit nicht frontal, sondern durch ihre Brüche und Leerstellen: in den verschwundenen Briefen, im Schweigen zwischen den Figuren, im melancholischen Blick des Vaters. Das Kind spürt die Schatten dieser Geschichte – ihre Unnennbarkeit und ihre Macht – und beginnt, durch Sprache und Imagination einen Gegenraum zu eröffnen. So entwirft der Roman ein poetisches Archiv des Postkolonialen, das zeigt, wie tief koloniale Gewalt in die privaten Erzählungen eingreift – selbst dann, wenn sie nicht ausgesprochen wird. Ein prägnantes Beispiel für das Eindringen dieser nationalen Geschichte in das Familienleben ist der Streit um die Puppe „Bamboula“: Die rassistischen Äußerungen der Mère-Ritou über Afrika und Biafra provozieren eine explosive Auseinandersetzung über Kolonialismus und die „pieds-noirs“, die die tief verwurzelten politischen Differenzen und persönlichen Wunden des Paares schon in der Kindheit der Protagonistin sichtbar machen.
Diese kollektiven Gewalterfahrungen werden nicht als Hintergrundrauschen, sondern als strukturierende Kräfte der familiären und gesellschaftlichen Ordnung gezeigt – sie hinterlassen Spuren in der Sprache, in den Körpern und in den affektiven Beziehungen der Figuren. Der Roman betreibt so eine subtile Dekonstruktion der französischen Nachkriegsgesellschaft, die sich auf eine offizielle Geschichtserzählung stützt, in der Schuld und Scham keinen Platz haben. Zugleich verweigert sich Galeas Prosa jeder heroischen oder linearen Narration. Stattdessen zeigt sie die sozialen und symbolischen Ordnungen, in denen Geschlecht, Herkunft und Klasse unnachgiebig wirken – etwa in der Figur der Mère-Ritou, die einer repressiven Pädagogik verpflichtet ist, oder in den sprachlich markierten Stigmata der „vieilles filles“ und der aus Algerien stammenden Familie des Vaters. Der politische Impuls liegt in der Form selbst: in der Zersplitterung der Chronologie, in der Montage von Stimmen und Bildern, im Wechsel von lyrischer Innerlichkeit und dokumentarischer Härte. Der Roman ist so auch eine Kritik an den hegemonialen Erzählweisen der Nation, die Ausschlüsse erzeugen, Differenzen tilgen und Geschichte glätten. Die kindliche Figur durchbricht diese Strukturen durch ihre Lust am Erzählen, am Widerspruch, an der Wahrheitssuche – sie verkörpert die poetisch-politische Subversion des Textes.
Les choses comme elles sont ist auch ein Roman über die Generation 1968 – nicht als Chronik der Revolte, sondern als intime Tiefenbohrung in ihre Voraussetzungen und Nachwirkungen. Die Kindheit und Jugend der Erzählerin entfaltet sich in den 1960er Jahren in einer autoritären, normierten und sprachlich disziplinierten Welt, in der Gehorsam, Geschlechtertrennung und Schweigen herrschen. Die Schule, das Elternhaus und die sozialen Rituale stehen exemplarisch für eine Vor-68er Gesellschaft, in der die Unterdrückung nicht nur politisch, sondern körperlich, sprachlich und affektiv wirkt. Indem der Roman die Rebellion des Kindes – ihr Fragen, Erfinden, Schreiben – als Gegengeste zu dieser starren Ordnung inszeniert, schreibt er sich in die Geschichte der Subjektivierung ein, die im Mai 1968 öffentlich eruptiert. Die politische Revolte kündigt sich hier im Privaten an, in der Unwilligkeit, die Welt als gegeben zu akzeptieren – und in der poetischen Kraft, sie anders zu denken. So wird Galeas Roman zum „anderen“ Roman über 1968: kein Mythos der Barrikaden, sondern die stille, radikale Vorbereitung im Innersten eines Kindes, das die Ordnung der Dinge ins Wanken bringt.
Nicht zuletzt ist Les choses comme elles sont ein feministischer politischer Roman, weil er weibliche Subjektwerdung jenseits normativer Rollen entwirft und dabei das Sprechen über das Unsagbare zum zentralen Akt der Selbstermächtigung macht. Die „Petite“ entwickelt sich zur jungen Frau, die sich der patriarchalen Gewalt, der Mutter-Tochter-Verstrickung und den gesellschaftlichen Erwartungen widersetzt, indem sie Fragen stellt, Geschichten erfindet und in den Brüchen der Sprache ihren eigenen Raum sucht. Das Politische liegt nicht in programmatischen Aussagen, sondern im poetischen Widerstand gegen die Zumutungen eines Systems, das Gewalt naturalisiert und Erinnerung auslöscht. Galeas Roman ruft zur Sichtbarmachung der verdrängten Realitäten auf, unversöhnlich, poetisch und politisch zugleich.
Fazit: Das Leben schreiben, um es zu verändern
Der Romantitel Les choses comme elles sont ist poetisch-nüchterne Setzung und Widerrede zugleich: Er benennt die Realität in all ihrer Härte, Uneindeutigkeit und Verstörung, ohne sie zu glätten oder zu beschönigen. Claudine Galea schreibt gegen familiäres Verschweigen, gegen historische Amnesie und gegen sprachliche Beschwichtigung an, um jene „choses“ sichtbar zu machen, die im Verborgenen wirken: Gewalt, Tabus, Begehren, Kriegstraumata, koloniale Verflechtungen. Der Titel markiert so den Anspruch einer radikalen, fast kindlich unbestechlichen Wahrnehmung, die nichts auslässt – nicht die beschmutzte weiße Sonntagskleidung des kleinen Mädchens, nicht das schweigende Leiden der Mutter, nicht die Lüge der nationalen Erzählung. Zugleich birgt Les choses comme elles sont eine ironische Brechung: Es ist eben gerade der literarische Blick, der enthüllt, dass die Dinge nicht einfach „sind“, sondern gemacht, verschwiegen, erzählt, beschwiegen werden – und dass es der Sprache bedarf, um diese „Wahrheit“ aufzubrechen.
Les choses comme elles sont ist eine bemerkenswerte Erzählung über die Komplexität des Aufwachsens in einer von Schweigen und unaufgelösten Traumata geprägten Familie. Claudine Galea gelingt es, die Kindheit als einen Ort extremer Sensibilität darzustellen, an dem selbst die kleinsten Ereignisse tiefe Spuren hinterlassen und die Weichen für die spätere Persönlichkeit stellen. Die „Petite“ ist eine Figur, die sich gegen die Last der Vergangenheit und die engen Grenzen der Gegenwart auflehnt, angetrieben von einer immensen Neugier und einem tiefen Gerechtigkeitssinn. Der Roman zeigt, wie persönliche Geschichten untrennbar mit historischen Ereignissen verwoben sind, insbesondere dem Algerienkrieg und seinen Nachwirkungen, die als unterschwellige Spannungen das Familienleben der Protagonistin durchziehen. Die „schwarzen Löcher“ der Familie – das Verschwinden des Vaters der Mère-Ritou, die Fehlgeburten, und die unaufgearbeiteten politischen Konflikte – sind nicht einfach Lücken, sondern aktive Kräfte, die das Verhalten der Charaktere und ihre Beziehungen zueinander bestimmen.
Ein zentrales Thema ist die Macht der Sprache und des Schreibens als Mittel zur Bewältigung und Umgestaltung der Realität. Die Protagonistin lernt, die „Dinge so, wie sie sind“, nicht nur als Fakten zu akzeptieren, sondern die dahinterliegenden verborgenen Wahrheiten und Gefühle durch Worte ans Licht zu bringen. Das Schreiben wird zur ultimativen Form ihrer „enquête“ (Untersuchung) und ihres Mottos „Changer la vie“ (Das Leben ändern). Sie strebt danach, die verhärteten Narrative aufzubrechen und eine neue, eigene Geschichte zu schaffen. Die wiederkehrenden Symbole wie der blaue Himmel als Ort der Schönheit und Zuflucht, das Meer als Zeichen für Verlust und Freiheit und das Fahrrad als Ausdruck der Autonomie verankern diese Suche nach Emanzipation in der physischen und emotionalen Landschaft des Romans.
Das Motto von Dominique Fourcade zu Beginn des Romans ist ein poetologischer Schlüssel zum gesamten Text von Claudine Galea:
demandant à l’écriture parmi tout ce que je lui demande sans cesse de me permettre d’être présent à l’instant du début de l’abîme précisément pour être à même de ramasser la peau de leurs voix à l’ombre de leurs gestes
vom Schreiben – unter all dem, was ich diesem unablässig abverlangte – die Erlaubnis zu fordern, im Moment des sich auftuenden Abgrunds gegenwärtig zu sein, um genau hier die Haut ihrer Stimmen aus dem Schatten ihrer Gesten aufsammeln zu können
Fourcade formuliert eine radikale Erwartung an das Schreiben: Es soll ermöglichen, im Moment des Ursprungs der Katastrophe oder des Verstummens, präsent zu sein – nicht rückblickend, sondern im unmittelbaren Jetzt der Erschütterung. Dieser Anspruch spiegelt sich in Galeas Romanstruktur wider: Die Erzählung bewegt sich nicht linear, sondern tastet sich an jene Bruchstellen heran, an denen Erinnerung, Trauma und Geschichte beginnen, sich einzuschreiben. Der Ausdruck „ramasser la peau de leurs voix à l’ombre de leurs gestes“ bringt eine paradoxe Bewegung ins Bild: Stimmen haben hier eine „Haut“, eine Materialität, die geborgen werden muss – sie sind verletzlich, flüchtig, aber auch spürbar. Die Geste des Auflesens aus dem Schatten der Gesten, verweist auf das Schreiben als Akt des Wiederhörbarmachens von andernfalls verlinkenden Stimmen. Galeas Roman ist dieser Versuch, durch literarische Form jene Stimmen zu bergen, die unter der Gewalt der Geschichte verschüttet sind.
Die Protagonistin wandelt sich von einem Kind, das von Traumata umgeben ist, zu einer jungen Frau, die aktiv nach ihrer eigenen Wahrheit sucht und ihre innere „Sauvagerie“ – ihre ungezügelte, authentische Natur – als Stärke annimmt, um ihre eigene Stimme zu finden. Die symbolische Flucht zum Meer am Ende des Romans repräsentiert nicht nur eine körperliche Befreiung, sondern auch den Beginn einer lebenslangen Reise zur Selbstfindung und zur Schaffung multipler „Vies“. Les choses comme elles sont führt insofern vor, dass die vollständige Emanzipation und das „Ändern des Lebens“ nicht in der Flucht vor der Vergangenheit oder dem Vergessen der „schwarzen Löcher“ liegt, sondern in der mutigen literarischen Auseinandersetzung mit dem Unaussprechlichen und der Transformation von Schmerz in Ausdruck und somit in Freiheit. Die Erzählerin wird zur Seismographin ihrer eigenen Familiengeschichte, die durch den Akt des Schreibens über das Individuelle hinausgeht und zu einem Zeugnis der komplexen Verstrickungen von persönlichem Leid und kollektiver Geschichte wird.