Frankreichs Glasvitrine und Algeriens Schädel: Clara Breteau

Das Etwas auslöschen, das in ihm schäumt

Der Roman L’avenue de verre der Autorin Clara Breteau erzählt von sich selbst in der Gestalt der Autorin und Dozentin Anna, die die Schichtungen des Schweigens und die Abwesenheit ihres algerischen Vaters untersucht. Ihr Vater, ein Einwanderer aus den Aurès-Bergen in Algerien, arbeitete zeitlebens als Fensterputzer in Tours. Die titelgebende „Avenue de verre“ symbolisiert die Geschäftswelt und zugleich eine gläserne „Vitrine der Nation“. Annas Vater, „Johnny“ genannt, versuchte durch seine Arbeit, die Spuren der Existenz (Regen, Fingerabdrücke) zu tilgen. Anna interpretiert diese ständige Reinigung und Glättung der Oberflächen als einen Versuch, „das Etwas auszulöschen, das in ihm schäumt“, und die traumatischen Erfahrungen des Krieges zu verdrängen. Da er der Tochter seinen algerischen Nachnamen (Baloul) verwehrte und eine doppelte Existenz führte, fühlt sich Anna als das Kind eines „papa de verre“ (Glas-Papas), einer transparenten, verschwindenden Gestalt. Die Glashaut der Stadt spiegelt so die koloniale Realität wider, in der Algerien in einen „Glaskäfig“ verwandelt wurde, um die Bevölkerung zu isolieren.

Der definitive Bruch in der Familie ereignet sich, als der Vater Anna und ihrem Bruder auf Anweisung des „conseil de famille, là-bas, en Algérie“ mitteilt, sie seien nicht länger seine Kinder, was Anna als „Radiergummi, ein als Klangbuchstaben ausgestoßenes Nichts“ („une gomme, le néant jeté en lettres sonores“) empfindet. Als Reaktion darauf entwickelt Anna zwanghafte Rituale, hört auf zu wachsen und will sich „aus den Spiegeln löschen“ (s’effacer des miroirs). Anna reflektiert im folgenden Auszug über den Beruf ihres Vaters als Fensterputzer, den sie zunächst als eine Tätigkeit des Auslöschens von Spuren und der Herstellung von Klarheit (wie ein Optiker) verstand.

Une grande vague de mousse envahit à nouveau le carreau. Elle garde des impressions de gestes, les rayonnages dans le magasin deviennent flous. Anna avait longtemps cru que ce métier, c’était effacer des traces – de pluie, de doigts, d’insectes écrabouillés, de souffles, quand les gens viennent coller leur visage trop près contre la vitre. Être laveur de carreaux, c’était fabriquer de la transparence, comme d’autres fabriquent du pain. Il y avait quelque chose là-dedans de l’opticien, de celui qui aide à y voir clair. Et pourtant, lorsqu’elle le regarde travailler, Anna voit aussi l’envers caché de ses mains, tout ce temps qu’elles passent à voiler les surfaces, à les rendre soudain tout opaques et brumeuses.

Eine große Schaumwelle überflutet erneut die Fliese. Sie hinterlässt Spuren von Gesten, die Regale im Laden verschwimmen. Anna hatte lange geglaubt, dass es bei diesem Beruf darum ginge, Spuren zu beseitigen – von Regen, Fingern, zerquetschten Insekten, Atem, wenn Menschen ihr Gesicht zu nah an die Scheibe drücken. Fensterputzer zu sein bedeutete, Transparenz zu schaffen, so wie andere Brot backen. Darin lag etwas vom Optiker, von dem, der hilft, klar zu sehen. Und doch, wenn sie ihm bei der Arbeit zusieht, sieht Anna auch die verborgene Kehrseite seiner Hände, all die Zeit, die sie damit verbringen, Oberflächen zu verschleiern, sie plötzlich undurchsichtig und neblig zu machen.

Die Interpretation kehrt sich jedoch um, als Anna die eigentliche Ambivalenz des Prozesses erkennt: Bevor die Klarheit entsteht, muss die Oberfläche erst bedeckt, opak und neblig werden. Dies spiegelt das tiefere Thema der Erzählung wider: Der Versuch, die Vergangenheit des Vaters und die kolonialen Traumata transparent zu machen, beinhaltet notwendigerweise Phasen der Verdunkelung und des Schweigens. Das Glas ist nicht nur ein Medium der Sichtbarkeit, sondern auch ein Schleier.

Annas langwierige Recherche, um die Leerstellen in ihrer Herkunft zu füllen, führt zur Erkenntnis, dass das Schweigen ihres Vaters ein tief verwurzeltes Trauma des Algerienkrieges maskierte. Ein Online-Kommentar offenbart, dass Annas Großvater Hadj, ein marabout aus dem Chaoui-Land, 1962 als Harki vom FLN getötet wurde. Dieses gewaltsame Ende kontrastiert stark mit der lebenslangen Obsession des Vaters, Spuren zu löschen. Anna realisiert, dass ihr Erbe nicht aus einem festen Ort, sondern aus einem nomadischen Territorium und einer „doppelten Abwesenheit“ im Sinne des Soziologen Abdelmalek Sayad besteht. 1 Obwohl Anna weder den Namen ihres Vaters trägt noch seine Muttersprache spricht, identifiziert sie sich durch subtile Zeichen wie ihre spitzen Eckzähne. Ihre Bemühungen, ein eigenes Kind zu bekommen, das „in vitro“ (im transparenten Behälter) gezeugt werden soll, bindet sie ironischerweise an die Avenue de verre. Anna entscheidet sich schließlich, den Heilernamen Hadj als zweiten Vornamen ihres Sohnes zu wählen, um so das Heilpotenzial der Vergangenheit gegen die immer wiederkehrende Gewalt zu mobilisieren und eine Brücke zwischen den Generationen zu schlagen, selbst wenn die Wahrheit in einem Akt des Schweigens und der „Auslöschung“ liegt.

Clara Breteaus, Les modes de vie autonomes: une voie d’émancipation poétique et politique, 2023.

Breteau spricht in „Les modes de vie autonomes“ über ihre Herkunft, die sowohl französisch als auch algerisch ist, und wie dies Einfluss auf ihre Arbeit und ihr Interesse an Autonomie und Kultur hat. Sie entdeckt, dass die Geschichte ihrer algerischen Vorfahren und ihrer französischen Vorfahren, insbesondere aus ländlichen und widerständigen Kontexten (z. B. Brackonieure, Paysans), eine tiefe, wenn auch lange ignorierte, Quelle ihrer Motivation darstellt. Diese persönliche Geschichte ist verbunden mit der kolonialen Vergangenheit, die sie zunächst ausgeblendet hatte, die sich aber in ihrem akademischen und existenziellen Streben manifestiert. Breteau hebt hervor, dass viele Menschen in Frankreich aufgrund dieser kolonialen Geschichte in einem komplizierten, widersprüchlichen und teilweise verschlüsselten Verhältnis zur Ökologie und zum Territorium stehen. Sie betont, dass es nicht nur eine äußere Kolonisation gab, sondern auch eine innere Kolonisation in Frankreich selbst, die zu einem anhaltenden Trauma führt. Die Autonomiebewegungen und ihre Kultur sind für sie eine Art Wiederentdeckung und Sichtbarmachung dieses organischen, vernakulären und poetischen Bezugs zum Territorium, der durch die kapitalistische und staatliche Politik systematisch zerstört und unsichtbar gemacht wurde.

Kamel Daoud ohne Körper, Kriegerköpfe in Metallschränken

Dans une exposition à l’Institut du Monde arabe, « Son œil dans ma main », l’écrivain algérien Kamel Daoud décrit sa sensation de ne plus avoir de corps, d’être tout transparent, effacé par la génération des pères fondateurs statufiés, fiers et grands. Mais qu’est-ce que c’est alors, se demande Anna, qu’être l’enfant d’une ombre, d’un corps qui disparaît, et subsiste tout léger, flottant comme un drapeau sur des barreaux d’échelle, au guidon d’un scooter ? Qu’est-ce que ce papa de verre que l’on a façonné et donné à Anna, et qu’elle regarde aujourd’hui, comme on contemple une figurine, sans trop savoir qu’en faire ?

In einer Ausstellung im Institut du Monde Arabe mit dem Titel „Son œil dans ma main“ (Sein Blick in meiner Hand) beschreibt der algerische Schriftsteller Kamel Daoud sein Gefühl, keinen Körper mehr zu haben, völlig transparent zu sein, ausgelöscht von der Generation der stolzen und großen Gründerväter, die zu Statuen geworden sind. Aber was bedeutet es dann, fragt sich Anna, das Kind eines Schattens zu sein, eines Körpers, der verschwindet und nur noch leicht, wie eine Fahne auf den Sprossen einer Leiter oder am Lenker eines Rollers, schwebend zurückbleibt? Was ist dieser Papa aus Glas, den wir geschaffen und Anna gegeben haben und den sie heute betrachtet, wie man eine Figur betrachtet, ohne recht zu wissen, was man damit anfangen soll?

Dieser kurze, aber wirkungsvolle Auszug fasst die Existenzkrise des Vaters und die Schwierigkeit der Tochter, ihn zu greifen, zusammen. Durch die Referenz auf Kamel Daoud wird der Vater in einen breiteren Kontext des algerischen Generationskonflikts gestellt: Er fühlt sich transparent und ausgelöscht durch die Last seiner eigenen Vätergeneration. Für Anna resultiert daraus das Problem, Kind eines Schattens zu sein. Der „papa de verre“ (Vater aus Glas) ist das zentrale Bild für seine Zerbrechlichkeit, Unsichtbarkeit und seine Künstlichkeit als Figur in Annas Leben. Sie betrachtet ihn wie eine geformte Figur, mit der sie nichts anzufangen weiß. Dies unterstreicht die Lücke in Annas Familiengeschichte und ihre Identitätssuche, die sich aus der Abwesenheit eines substanziellen Vaters ergibt.

Anna besucht die Archives d’outre-mer (Übersee-Archive), deren Name das Wort „kolonial“ vermeidet. Sie sieht die Nationalarchive mit riesigen, silbernen „X“ verziert, was die staatliche Verewigung der Anonymität symbolisiert. Die Kolonisierung wird als „gigantesque campagne de prestidigitation“ (gigantische Zauberkampagne) entlarvt, mit der Magier wie Robert-Houdin 1856 nach Algerien geschickt wurden, um die Magie der Marabouts wie Hadj zu entzaubern und Frankreichs Überlegenheit zu beweisen. Schließlich stößt Anna auf den stärksten Beleg für die Grausamkeit:

Die Köpfe Dutzender algerischer Widerstandskämpfer, die während der französischen Kolonialzeit getötet und enthauptet wurden, sind im Musée de l’Homme in Paris aufbewahrt, dies stellt ein zentrales Element in Annas postkolonialer „Enquête“ dar: Sie stößt auf das Wissen über die Köpfe durch einen Computerbildschirm. Dort sieht sie eine Aufnahme von zwei grauen Metallschränken aus den 1960er Jahren in einem kleinen Büro im Untergeschoss des Museums, wo die Köpfe gelagert sind. Anna bemerkt die Banalität und Tarnung dieses Lagerortes: Die grauen Schränke ähneln denen, in denen ihr französischer Großvater seine Pastellzeichnungen von „Köpfen“ und „Multi-Köpfen“ versteckte, da diese sein Umfeld etwas beunruhigten.

Zu den aufbewahrten Köpfen gehört auch jener des Anführers Bouziane. Bouziane war ein Stammesführer aus der Region von Annas Großvater Hadj. Seine Enthauptung und die seines jungen Sohnes im Jahr 1849 nach dem Massaker von Zaatcha hatte die Stämme der Aurès-Region traumatisiert. Diese Aufbewahrung ist Teil eines gigantischen Komplexes von 24.000 menschlichen Überresten, darunter 18.000 Schädel, die aus kolonialen Missionen des 19. Jahrhunderts stammen. Insgesamt wurden 68 algerische Köpfe identifiziert. Die Szene verdeutlicht für Anna, dass die Köpfe von Bouziane und seinem Sohn „die aufgetauchten Köpfe des kolonialen Eisbergs“ sind.

Die Köpfe wurden eilig aus der öffentlichen Schaustellung entfernt, nachdem eine Kontroverse entstanden war. Sie waren zuvor jahrelang, ähnlich wie Perücken tragende Mannequin-Büsten in irgendeinem Ramschladen, im Schaufenster des Musée de l’Homme ausgestellt worden. Anna interpretiert dies als eine Form des Staatsgeheimnisses und der institutionellen Auslöschung, da die Köpfe in der Tristesse versteckt werden, um die Grausamkeit der kolonialen Eroberung zu kaschieren. Anna liest, dass die Kriegsdoktrin Frankreichs unter General Bugeaud in den 1840er Jahren eine Strategie der „völligen Zerstörung“ (”destruction totale”) beinhaltete, einschließlich der Massakrierung so vieler Menschen wie möglich (Kämpfer oder nicht), um Terror zu verbreiten. Die physische Aufbewahrung der Köpfe dient somit als unwiderlegbarer Beweis für diese „exterminatorische Doktrin“.

Die Berichterstattung, die Anna liest, erwähnt, dass 24 der 68 Köpfe im Jahr 2020 nach Algerien zur Bestattung überführt wurden. Dieser Rückführungsakt erfolgte jedoch nur für fünf Jahre in Form einer Hinterlegung (dépôt). Wenn kein spezielles Gesetz verabschiedet wird, um die endgültige Rückgabe zu regeln, würden die Köpfe von Bouziane und seinem Sohn, die in ihrem mit der algerischen Flagge bedeckten Sarg begraben sind, symbolisch wieder in die „unterirdischen Hände Frankreichs“ (mains souterraines de la France) zurückfallen. Die Gewalt der Kolonie dringt so bis in die Grabstätten und zeigt die fortwährende Macht des Staates über die Toten.

Das NICHTS auf der Heiratsurkunde

Breteaus Roman ist eine Auseinandersetzung mit der postkolonialen Erinnerungspolitik Frankreichs und der Komplexität transgenerationeller Traumata, eingebettet in eine vielschichtige Poetik der Transparenz und des Verschwindens. Die Poetik des Romans ist wie ausgeführt wesentlich von der Metaphorik des Glases und der Transparenz geprägt, welche als Chiffre für Verleugnung und die Assimilation in die Konsumgesellschaft dienen. Die Titulierung des Vaters als „Papa de verre“ oder „ombre“ unterstreicht seine erzwungene Unsichtbarkeit. Sein Beruf als Fensterputzer symbolisiert die Eliminierung von Spuren, ob von Schmutz oder des verborgenen berberischen Alphabets. Glas fungiert dabei als täuschender Spiegel und Barriere. Es reflektiert die marginalisierte Existenz des Vaters und symbolisiert gleichzeitig das koloniale Gefängnis (bocal – Einmachglas), in das die algerische Gesellschaft während der Kolonialzeit eingeschlossen wurde, um den „Fisch aus dem Wasser zu holen“ („vider le bocal“).

Zentral ist das semantische Feld des Mangels und der Verleugnung: das familiäre Schweigen (silence) über die Kriegserfahrungen, der Versuch des Vaters, seine Herkunft durch einen neuen Namen (Johnny) und ein instinktives Lächeln als postkoloniale Maske zu kaschieren, sowie die offizielle administrative Feststellung „NÉANT“ (Nichts) auf dem Heiratsdokument der Großeltern. Diese Leerstelle bildet den Ausgangspunkt für Annas Suche. Die Wiederkehr des Saharasandes aus Hadjs Herkunftsland bricht diese glatte Metaphorik auf: Er wird als „neue Haut“ der Welt und als „physische Manifestation der Rückkehr der algerischen Geschichte“ interpretiert, der die Scheiben poliert und ihnen „einen Teil ihres ursprünglichen Körpers zurückgibt“.

Der Vater war darauf bedacht, Anna und ihrem Bruder den algerischen Nachnamen Baloul (der im Kolonialkontext „der Idiot“ bedeuten konnte) zu verweigern. Er zog das „X“ des unbekannten Vaters vor, um sie vor Rassismus zu schützen, aber auch, um sein Doppelleben und seine andere Familie zu verbergen, wodurch er zum „père bicéphale“ (zweiköpfiger Vater) wurde. Um zu überleben, nutzte der Vater die koloniale Zerstörung der Identität, die Algerier zu „fils de personne“ (Söhne von Niemand) machen sollte, und tarnte sich als „Personne“ (Niemand), ähnlich Odysseus. Er nahm die Identität „Johnny“ nach Johnny Hallyday an, dessen Musik Leichtigkeit versprach und das algerische Trauma in eine französische Rocker-Identität überführte. Er identifizierte sich mit Hallydays Lied „Fils de personne“.

Il y a quelque temps, en fouillant des papiers, Anna a découvert l’acte de mariage de ses grands-parents algériens. En dessous de dates et de noms qu’elle ne connaissait pas, dans la rubrique réservée aux annotations en marge, un mot a accroché son regard, écrit sur la page par l’officier de l’état civil en majuscules immenses : « NÉANT ». C’est une convention administrative mais Anna y voit tout à coup de la franchise, une lucidité désarmante éclairant un instant le vernis du langage. Car de cette union un jour de juin 1934 rien n’est parvenu jusqu’à elle. Pas une syllabe prononcée, pas un gramme de tissu, pas un fragment de coquille d’œuf éclatée à la carabine. Rien d’autre qu’une empreinte de papier et cette déclaration superbe, « NÉANT », qui écrase le couple de tout son poids, lui et sa descendance.

Vor einiger Zeit entdeckte Anna beim Durchstöbern von Papieren die Heiratsurkunde ihrer algerischen Großeltern. Unterhalb von Daten und Namen, die sie nicht kannte, fiel ihr in der Rubrik für Randbemerkungen ein Wort ins Auge, das der Standesbeamte in riesigen Großbuchstaben auf die Seite geschrieben hatte: „NÉANT” (NICHTS). Es handelt sich um eine administrative Konvention, aber Anna sieht darin plötzlich Offenheit, eine entwaffnende Klarheit, die für einen Moment den Lack der Sprache durchbricht. Denn von dieser Verbindung an einem Tag im Juni 1934 ist ihr nichts überliefert worden. Keine einzige Silbe, kein Gramm Stoff, kein Fragment einer mit dem Gewehr zerschossenen Eierschale. Nichts außer einem Abdruck auf Papier und dieser großartigen Erklärung „NICHTS“, die mit ihrem ganzen Gewicht auf dem Paar und seinen Nachkommen lastet.

Dieser Auszug thematisiert die Institutionalisierung der Abwesenheit und die Folgen des Kolonialismus auf ziviler Ebene. Anna entdeckt das Wort „NÉANT“ (Nichts) auf der Heiratsurkunde ihrer algerischen Großeltern. Obwohl es sich um eine administrative Konvention handelt (vermutlich für „Rien à Signaler“ oder „nichts Vermerktes“), symbolisiert es für Anna die existenzielle Wahrheit: Von der gesamten Vergangenheit und dem Erbe dieses Paares ist nichts bei ihr angekommen – keine Geschichten, keine materiellen Spuren. Das Wort „NÉANT“ lastet mit seinem vollen Gewicht auf dem Paar und seiner Nachkommenschaft. Dies korrespondiert mit Kateb Yacines Vorstellung, dass die Kolonialherrschaft die Auslöschung der Erinnerung und der sozialen Strukturen (NÉANT) aktiv betrieb. Anna ist die lebende Widerlegung dieses „NÉANT“, aber sie spürt die prämonitiven Auswirkungen der Auslöschung.

Die Erzählstränge sind entlang von Annas „enquête“ organisiert, die sich nicht auf die lineare Chronologie stützt, sondern auf die Sammlung fragmentarischer und mikroskopischer Spuren. Die Erzählung springt zwischen Annas Gegenwart (akademische Karriere, Kinderwunsch, Mutterschaft), der Geschichte ihrer Eltern (doppeltes Leben des Vaters, gemischte Ehe) und dem tiefen historischen Trauma der Kolonialzeit (Hadj, Zaatcha-Massaker, Musée de l’Homme).

Die Zeitstruktur ist somit nicht-linear und unbeherrschbar („undomptable“). Die Suche ist ein Boomerang, der Anna zu ihrem Ursprung zurückführt. Die narrative Technik des Sammelns von Beweismaterial, oft durch Umwege – sei es durch die Analyse des gläsernen Musée de l’Homme oder der Archive – betont die Schwierigkeit, die offizielle Geschichtsschreibung zu durchdringen. Anna versucht, den fehlenden roten Faden zu wiederherzustellen („réparer le fil“).

Doppelte Abwesenheit: Frankreich und Algerien

Der Roman ist ein postkolonialer Roman, der die tiefgreifenden Auswirkungen des Algerienkriegs und der Kolonisierung auf die nachfolgenden Generationen analysiert. Das Verhältnis zwischen Frankreich und Algerien ist durch Gewalt, Verrat und systematische Auslöschung gekennzeichnet. Die algerische Herkunft der Protagonistin ist durch die „double absence“ definiert – weder wirklich in Frankreich integriert (trotz französischem Namen) noch in Algerien verwurzelt. Mohamed Dibs Konzept des „fils de personne“ (Sohn von Niemand) wird durch das Tragen des Spitznamens „Johnny“ durch den Vater (in Anspielung auf Hallydays Lied „Fils de personne“) in der französischen Gesellschaft manifest.

Die Erinnerungspolitik wird als ein Kampf gegen das institutionelle Verleugnen des Staates (déni) und das generationenübergreifende Schweigen der Betroffenen dargestellt. Die Suche wird erst durch ein graffiti-artiges Internet-Kommentar über Hadjs Tod als Harki in Gang gesetzt. Der Roman macht die physische Präsenz der kolonialen Gewalt sichtbar, etwa durch die in Frankreich aufbewahrten Köpfe enthaupteter algerischer Widerstandskämpfer (darunter Bouziane, dessen Trauma sich in Hadjs Heimatregion abspielte).

Quand son père était couché, trente kilos en moins, la peau jaune et le ventre gonflé, il répondait aux questions d’Anna en lui disant qu’il n’avait rien à se reprocher. Puis il se taisait. La mort dans ses draps ne changeait rien. Elle le ramenait, disait-il, là-bas, près des siens. Et elle lui cousait la bouche, plus serré encore. Les rares choses qu’il lui avait dites sur la guerre au fil des ans surnageaient dans la tête d’Anna : des histoires de mitraillettes, de mort qui colle aux trousses. Des slogans, pas vraiment des histoires : « Marche ou crève », « La vie est une jungle ». Ils dérivaient dans le vide comme des vêtements sans corps.

Als ihr Vater im Bett lag, dreißig Kilo leichter, mit gelber Haut und aufgeblähtem Bauch, beantwortete er Annas Fragen, indem er ihr sagte, dass er sich nichts vorzuwerfen habe. Dann schwieg er. Der Tod in seinen Laken änderte nichts. Er würde ihn zurückbringen, sagte er, dorthin, zu seinen Lieben. Und er würde ihm den Mund noch fester zunähen. Die wenigen Dinge, die er ihr im Laufe der Jahre über den Krieg erzählt hatte, schwebten in Annas Kopf: Geschichten von Maschinenpistolen, vom Tod, der einem auf den Fersen ist. Slogans, nicht wirklich Geschichten: „Gehen oder sterben“, „Das Leben ist ein Dschungel“. Sie schwebten in der Leere wie Kleider ohne Körper.

Dieser Auszug beleuchtet das traumatische Schweigen des Vaters, insbesondere im Angesicht des Todes. Als er krank und dem Tode nahe ist, verstärkt sich sein Schweigen. Die Metapher der zugenähten Lippen veranschaulicht, wie der Tod ihn physisch und emotional wieder in die Heimat und zu seiner Familie „dort drüben“ zurückzieht und ihm jede Erzählung unmöglich macht. Die einzigen Überbleibsel seiner Kriegserfahrung sind leere, generische Slogans wie „Marche ou crève“ oder „La vie est une jungle“. Diese Floskeln sind für Anna bedeutungslos, sie schweben wie körperlose Kleider in der Leere. Der Text macht deutlich, dass der Vater keine wirkliche Geschichte weitergegeben hat, sondern nur die Quintessenz eines Überlebenskampfes.

Die Kommunikation ist dominiert von Verschleierung und Schweigen. Das Schweigen ist eine Überlebensstrategie des Vaters, der sein gefährdetes Leben als Personne (Niemand, eine Anspielung auf Odysseus) tarnte. Anna muss diese Lücken durch unautorisierte Quellen (Gerüchte, Anekdoten, den Radiosender als „Sonde“) und die Sprache des Körpers (ihre Canini, die Zahnwurzel) entschlüsseln.

Der Roman hat klare Züge eines Sozialromans, indem er die Klasse und Herkunft der Migranten kritisiert. Der Vater ist ein Analphabet und Arbeiter, der ständig unter dem Druck steht, mobil und unsichtbar zu sein, um zu überleben. Die Avenue de verre steht metonymisch für die französische Konsumgesellschaft, die die Arbeitskraft der Migranten nutzt, während sie deren Geschichte auslöscht. Die fortwährende soziale Gewalt zeigt sich in dem Plakat, das „Karim“ als Fensterputzer darstellt, der scheinbar „um Hilfe ruft“.

Das kabylische Lied

Acht Jahre nach dem Tod des Vaters bedeckt ein Sahara-Sandsturm Tours und die Avenue de verre. Der Sand, der Hadjs Herkunftsland entstammt, erweckt die Erinnerung („rallumé leur mémoire“) und bricht die Illusion der französischen Transparenz.

Der Schluss des Romans in Kapitel 39 bietet Heilung auf persönlicher Ebene, während der gesellschaftliche Konflikt ungelöst bleibt. Anna wird Mutter, wobei die Empfängnis außerhalb der Laboratorien und Glasapparaturen erfolgt – eine symbolische Befreiung aus dem „bocal“ der Unsichtbarkeit und medizinisch kontrollierten Existenz, in die sie sich durch ihren Kinderwunsch bereits hineingezwungen sah. Der entscheidende Akt ist die Heilung der familiären Linie: Anna gibt ihrem Sohn den zweiten Vornamen Hadj, nach dem Großvater, der als Heiler bekannt war. Dies ist ein Akt des Talisman-Schaffens, der die Wahrheit über den gewaltsamen Tod zwar nicht wiederherstellt, aber das Trauma in eine Kraft umwandelt, die ihre eigenen Antidota absondert.

Die letzte Szene, in der Anna am Grab des Vaters das Kabyle-Lied „A Vava Inouva“ in einer unbekannten Sprache singt und die Texte auf der nassen Oberfläche zurücklässt, ist ein mächtiges rituelles Ende. Das Lied, das von der verschlossenen Tür und der Angst vor dem Oger handelt, erkennt die fortwährende Bedrohung der kolonialen Gewalt an. Das Lied, im Berberischen gesungen, schützt sie vor den anderen Trauernden und bildet eine Brücke zwischen Vater und Tochter. Die Tatsache, dass das Glas auf der Windschutzscheibe des Autos das Wasser mit der Tinte vermischt und neue Wörter bildet, kann man so deuten, dass die Geschichte zwar durch Anna in die Welt zurückgeschrieben wird, aber stets im Fluss und unvollendet bleibt.

Algérie d’hier, romans d’aujourd’hui: avec Clara Breteau et Éric Fottorino, Bonheur des livres, 2025.
Anmerkungen
  1. Das Konzept der „double absence“ übernimmt Breteau aus Sayads gleichnamigem Werk La Double absence: des illusions de l’émigré aux souffrances de l’immigré (Paris: Seuil, 1997).>>>

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