Inhalt
Zwei Frauen
Marie-Ève Lacasses Roman La vie des gens libres (2025) ist ein so stilles wie hochkomplexes Erzählwerk über das Nachleben der Schuld, die Erfahrung von Stigmatisierung und das Ringen um ein neues Selbstbild. Im Zentrum stehen zwei Frauen, Clémence Thévenin – vormals Clémence Robert, Ärztin, Straftäterin, Häftling – und Laura Rolin, alleinerziehende Mutter, Medizinerin im prekären Übergang. Beide verbindet weder biografisch noch sozial ein direkter Kontakt, und doch legt Lacasse durch subtile narrative Parallelführung und symbolische Spiegelungen eine Art doppelter Frauenbiografie vor, die sich zu einer kollektiven Reflexion über die Möglichkeit weiblicher Freiheit verdichtet.
Der Roman ist vieles zugleich: ein gesellschaftskritischer Text über Klassenverhältnisse, ein psychologisches Kammerspiel über Schuld und Einsamkeit, ein poetisches Mosaik aus inneren Monologen und konkreten Beobachtungen. In seiner politischen Tiefenstruktur lässt sich La vie des gens libres auch als kritische Untersuchung des französischen Justiz- und Gesundheitssystems lesen. Dabei treten Fragen nach sozialer Teilhabe, nach Solidarität unter Frauen und nach der symbolischen Ordnung von Reinheit und Makel ins Zentrum. Was bedeutet es, „frei“ zu sein – und wer gehört zur „vie des gens libres“?
Marie-Ève Lacasse ist eine Autorin und Journalistin, die bereits mehrere Romane veröffentlicht hat. Peggy dans les phares (Flammarion, 2017) erzählt die Geschichte von Peggy, einer jungen Frau, die im Kanada der 1970er Jahre aufwächst. Sie fühlt sich anders als die anderen und versucht, ihren Platz in der Welt zu finden, während sie mit den Erwartungen ihrer Familie und der Gesellschaft ringt. In poetisch-essayistischer Form wird von der intensiven, oft schmerzvollen Liebesbeziehung zwischen Peggy Roche und Françoise Sagan aus Sicht einer Ich-Erzählerin erzählt, die Peggy bewundert und gleichzeitig verloren an deren Seite lebt. Auch hier steht Freiheit im Zentrum. In Peggy dans les phares zeigt sich das Gefühl des Nicht-Dazugehörens in der ständigen Selbstverkleinerung der Erzählerin gegenüber Peggy und ihrem mondänen Umfeld – sie bleibt immer am Rand der exzentrischen, literarisch-künstlerischen Welt Sagans, ausgeschlossen von deren Ritualen, Drogenexzessen und Affären, verzweifelt versuchend, durch Beobachtung und Nachahmung doch noch Teil davon zu werden.
Autobiographie de l’étranger (Flammarion, 2020), ebenfalls bei Flammarion erschienen, befasst sich mit der Thematik des Fremdseins und der Entwurzelung. Es ist eine Reflexion über das Gefühl, ein Außenseiter zu sein, sei es in Bezug auf Herkunft, Kultur oder persönliche Erfahrungen. Das autofiktionale Werk, in dem Marie-Ève Lacasse sich als Fremde in der Welt beschreibt bildet eine intime Reflexion über Herkunft, Zugehörigkeit, Sprache, Mutterschaft und queere Identität. In Autobiographie de l’étranger wird das Gefühl des Fremdseins als ontologischer Zustand beschrieben – die Autorin fühlt sich nirgendwo „zu Hause“, weder in ihrer kanadischen Herkunft noch in der französischen Gegenwart, weder in heterosexuellen Normen noch in gesellschaftlichen Erwartungen an Mutterschaft oder Weiblichkeit, sondern lebt in einer permanenten Grenzexistenz, die sie mit Sprache und Literatur zu bewältigen versucht.
Les Manquants (Seuil, 2023) erzählt in polyphoner Weise von Thomas, der seit zwei Jahren verschwunden ist. Und gegen dieses Nichts muss etwas unternommen werden: die Polizei alarmieren oder nicht, darüber reden oder schweigen, eine Geschichte erfinden. Hier zeichnet sich eine Tendenz des Werks von Lacasse ab. Thomas‘ Abwesenheit wirft bei den zurückgebliebenen Frauen Fragen nach Erinnerung, Verantwortung und Identität auf. In Les Manquants liegt die Idee von Freiheit im paradoxen Recht auf Verschwinden – Thomas’ „liberté de disparaître“ stellt die zurückgebliebenen Frauen vor die Frage, ob Freiheit auch Verantwortungslosigkeit bedeuten darf; zugleich erleben sie selbst eine Form von Emanzipation, indem sie gezwungen sind, sich neu zu definieren, jenseits der bisherigen Rollen.
Implizite Korrelationen
Im Zentrum des Romans stehen Clémence Thévenin und Laura Rolin. Die erste Figur ist gezeichnet vom Bruch: Als ehemalige Starärztin in der Reproduktionsmedizin ist Clémence tief gefallen. Sie hat einen Skandal verursacht („les bébés Ino-Syntex“) und war Zielscheibe der Presse – als „Docteur Frankenstein“ öffentlich stigmatisiert, symbolisch exekutiert. Ihre Rückkehr in die Gesellschaft erfolgt nach drei Jahren Haft, doch die gesellschaftliche Amnestie bleibt ihr verwehrt. Clémence ist eine paria, eine unberührbare, deren Vergangenheit unauslöschlich an ihr haftet.
Dehors, le plaisir de l’air qui s’engouffre dans ses poumons, un air de septembre chargé d’humus, la fait hoqueter de surprise. Au loin, les arbres scintillent comme de l’or ; le cri d’un oiseau lui arrache une larme. Le spectacle de la route, de l’herbe séchée, le ciel gris, les voitures indifférentes qui croisent son chemin, tout cela, c’est la splendeur. Elle marche un moment, sans but, en écoutant le bruit des moissonneuses. Clémence Thévenin ne mesure que maintenant le prix exorbitant de sa liberté, de celle qui nous est donnée si facilement, dès la naissance, et que l’on peut vous prendre si violemment. Marcher dehors, sans surveillance et sans but, c’est l’anomalie.
Draußen lässt sie die frische Luft, die in ihre Lungen strömt, überrascht nach Luft schnappen. In der Ferne glitzern die Bäume wie Gold; der Schrei eines Vogels entlockt ihr eine Träne. Der Anblick der Straße, des trockenen Grases, des grauen Himmels, der gleichgültigen Autos, die ihren Weg kreuzen, all das ist Pracht. Sie geht eine Weile ziellos umher und lauscht dem Geräusch der Mähmaschinen. Erst jetzt wird Clémence Thévenin bewusst, wie exorbitant hoch der Preis ihrer Freiheit ist, die uns von Geburt an so leicht gegeben wird und die einem so gewaltsam genommen werden kann. Draußen spazieren zu gehen, ohne Aufsicht und ohne Ziel, ist eine Anomalie.
Laura Rolin hingegen steht am Beginn eines anderen, subtileren Zerfalls: Als junge Mutter einer gehörlosen Tochter kämpft sie mit dem Spagat zwischen individueller Entfaltung, sozialem Aufstieg und erdrückender Mutterschaft. Auch sie war einst eingebunden in ein medizinisches Milieu, das sie nun, nach beruflichem Abstieg und Trennung, nur schwer wieder betritt. Ihre soziale Abwertung ist weniger dramatisch, aber ebenso wirksam: Laura droht durch strukturelle Erschöpfung zu verschwinden.
Lacasse führt diese beiden Biografien durch einen losen narrativen Wechsel parallel. Die beiden Frauen begegnen sich nicht direkt – außer in Lauras Gedanken, die Clémences Entlassung aus den Nachrichten entnimmt. Doch ihre Geschichten sind mehr als bloß vergleichbar: Sie sind aufeinander bezogen durch implizite Korrelationen. Beide tragen Lasten, die gesellschaftlich weiblich konnotiert sind: Mutterschaft, Schuld, Pflege, Fürsorge, Disziplin. In der einen Figur ist diese Last explizit kriminalisiert worden, in der anderen verwirklicht sie sich in stiller Selbstausbeutung.
Stille Subversion
Formal folgt der Roman einer polyphonen Struktur: Kurze Kapitel, Perspektivwechsel, innere Monologe, poetische Beschreibungen wechseln einander ab. Die Erzählhaltung ist nahe an den Figuren, aber nicht strikt personalisiert. Es handelt sich um eine vermittelnde, empathische Erzählinstanz, die zwischen Subjektivität und Beobachtung oszilliert. Dabei gelingt Lacasse ein ständiges Changieren zwischen Konkretheit (Wohnungssuche, Crèches, Gerichtsdokumente) und lyrischer Verdichtung (Wahrnehmungen von Luft, Licht, Geräuschen, Körpern).
Die Sprache ist durchzogen von Metaphern, aber nie allegorisch überhöht. Sie bleibt materialistisch und körperlich. Wiederkehrend sind poetische Bilder der Reinigung, der Haut, des Atems, des Lichts und der Stille – Zeichen eines Wunsches nach Wiedergeburt, nach Selbstauslöschung und Neuwerdung. In der Schilderung von Clémences Dusche etwa, wo sie sich „bis zum Blut“ reinigen möchte, wird dieses Motiv schmerzhaft konkret: Hygiene als symbolische Katharsis. Auch Lauras Tanztraining wird zum Ausdruck radikaler Selbstdisziplinierung – ein Ort, an dem der Körper der Norm geopfert wird, um nicht innerlich zu zerbrechen.
So entsteht eine Poetik des Übergangs, der Schwebe zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Schuld und Neubeginn, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Der Stil ist zurückhaltend, fast demütig, aber nie sprachlos. Er entspricht dem, was Clémence am Ende des Romans ersehnt: eine leise, würdige Existenz am Rand der Gesellschaft, „une existence tranquille“, fern vom Skandal, fern von Ruhm.
Scham als soziales und existenzielles Grundmotiv
Ein zentrales Thema des Romans ist die Scham als struktureller Affekt. Scham durchzieht Clémences gesamte Existenz nach der Haft. Sie ist auch durch Entblößung hervorgerufen, die Erfahrung, von allen gesehen worden zu sein – als Täterin, als Frau, als gescheiterte Mutter, als geschädigter Körper. Die Scham ist körperlich: Sie lebt in der Haltung, im Blick, im Gang und der Stimme.
Clémence empfindet diese Scham als unauslöschlich. Selbst ihre Reinigung, die radikale Vernichtung ihrer Vergangenheit durch das Wegwerfen aller Kleider, Schmuckstücke, Erinnerungsobjekte, ändert nichts an der inneren Prägung. „La prison l’a eue“, heißt es einmal nüchtern – die Haft hat sie „bekommen“, ganzkörperlich, ganzseelisch. Auch Laura erlebt Formen der Scham, etwa gegenüber ihrer tauben Tochter, wenn sie deren Behinderung nicht akzeptieren kann. Diese Scham ist keine „moralische“, sondern eine strukturelle – das Gefühl, den gesellschaftlichen Maßstäben an Mutterschaft, Weiblichkeit, Erfolg, Leistungsfähigkeit nicht zu genügen.
Elle essaie de se concentrer sur ses calculs, mais elle a faim. Frisson de la culpabilité. Corps guerrier, régime sec. Elle danse mieux quand son corps est léger et que ses muscles sont tendus, quand son corps se réveille seul à cinq heures, quand les choses sont régulières, strictes et contrôlées. C’est plus simple. À l’école de danse, ça sent le vomi dans les toilettes. Encore aujourd’hui, elle note ses kilos dans un carnet, vieille habitude depuis l’enfance. Quand il y en a un de moins, elle se sent voler, et c’est un secret parce que ce n’est pas très féministe, ce n’est pas très courageux. Elle a toujours honte de tout, c’est ça le programme de sa vie, avoir honte et s’en vouloir. À la fin de la journée Laura saute dans un bus, elle travaillera plus tard quand Lili sera couchée. Encore deux heures de liberté avant de retrouver sa fille, chaque seconde compte. Elle arrive pile à l’heure pour le cours, fait valser ses affaires dans le vestiaire, enfile ses collants et son body, attrape ses demi-pointes usées et se fait un chignon à la va-vite. Dans le studio, ses doigts se ferment délicatement sur la barre, son corps se redresse. Premières notes du piano. Premières images de Clémence Robert au procès. Sa façon si outrancière d’expliquer son vœu de « rendre service », de faire de la médecine « pour l’avenir, pour l’humanité ».
Sie versucht, sich auf ihre Berechnungen zu konzentrieren, aber sie hat Hunger. Ein Schauer der Schuld überkommt sie. Ein Körper wie eine Kriegerin, eine strenge Diät. Sie tanzt besser, wenn ihr Körper leicht ist und ihre Muskeln angespannt, wenn ihr Körper um fünf Uhr morgens von selbst aufwacht, wenn alles regelmäßig, streng und kontrolliert ist. Das ist einfacher. In der Tanzschule riecht es in den Toiletten nach Erbrochenem. Auch heute noch notiert sie ihr Gewicht in einem Notizbuch, eine alte Gewohnheit aus ihrer Kindheit. Wenn ein Kilo weniger draufsteht, fühlt sie sich leicht, und das ist ein Geheimnis, denn es ist nicht sehr feministisch, nicht sehr mutig. Sie schämt sich immer für alles, das ist ihr Lebensprogramm: sich schämen und sich Vorwürfe machen. Am Ende des Tages springt Laura in einen Bus, sie wird später arbeiten, wenn Lili im Bett ist. Noch zwei Stunden Freiheit, bevor sie ihre Tochter wiedersieht, jede Sekunde zählt. Sie kommt pünktlich zum Unterricht, wirft ihre Sachen in die Umkleidekabine, zieht ihre Strumpfhosen und ihren Body an, schnappt sich ihre abgetragenen Spitzenschuhe und macht sich schnell einen Dutt. Im Studio legen sich ihre Finger sanft um die Stange, ihr Körper richtet sich auf. Die ersten Klänge erklingen vom Klavier. Die ersten Bilder von Clémence Robert vor Gericht. Ihre übertriebene Art, ihren Wunsch zu erklären, „Gutes zu tun“, Medizin zu studieren „für die Zukunft, für die Menschheit“.
In beiden Fällen ist die Scham tief mit dem Körper verbunden: Clémence hat das Gefühl, gezeichnet zu sein, „enlaidie“, gealtert. Laura erlebt ihren Körper in der Tanzklasse als widerspenstig, deformiert, nie schön genug. Die weibliche Existenz im Roman ist so stets auch eine Geschichte des verformten, verletzten Körpers – der Körper als Träger der Schande, als Oberfläche der Geschichte.
Die Ambivalenz der Freiheit
Der Titel La vie des gens libres ist bewusst doppeldeutig. Er klingt zunächst wie eine Beschreibung jener, die „frei“ sind – im Gegensatz zu Häftlingen, zu Ausgeschlossenen, zu Armen. Doch im Verlauf des Romans wird klar: Die Freiheit der „gens libres“ ist keine gegebene Tatsache, sondern ein fragiles Konstrukt. Freiheit ist hier nie selbstverständlich, sondern immer durch Angst, Scham, Geld, Status, Vergangenheit vermittelt.
Clémence erlebt ihre Entlassung aus dem Gefängnis nicht als Befreiung, sondern als Übergang in eine andere Form der Unsicherheit: Sie ist „libre“, aber nicht rehabilitiert. Ihre Bewegungen im öffentlichen Raum bleiben zögerlich, sie fürchtet die Blicke, die Wiedererkennung, den Rückfall. Auch Laura, obwohl sie nie eingesperrt war, lebt in einem strukturellen Unfreiheitsmodus: Die Knappheit von Zeit, Geld, Zuwendung, Care-Arbeit fesselt sie ebenso wie gesellschaftliche Urteile.
Die vermeintlich freie Gesellschaft erscheint in diesem Roman als Raum rigider Normierungen. Die „vie des gens libres“ ist eine Lebensform, die bestimmte Bedingungen verlangt: Reinheit, Unauffälligkeit, Funktionalität. Wer aus dem Raster fällt – sei es durch Skandal, Armut, Krankheit oder Mutterschaft – wird markiert, ausgeschlossen, pathologisiert. Der Roman macht so deutlich, dass „Freiheit“ immer eine soziale Kategorie ist – und eine ökonomische.
Avec son nouveau job, elle sortira peut-être de la précarité, mais elle aura aussi moins de liberté. Elle le sait et danse encore plus et encore mieux, comme si c’était la dernière fois. Elle ressent la force du groupe, derrière elle, dans la glace, en cadence, en rythme. Il n’y a pas d’individualité dans ce type de danse. Pour être dans le corps du ballet, dans la ligne bien dressée et malléable, souple et puissante de la chorégraphie, il faut disparaître. Le meilleur outil du chorégraphe, cet architecte, c’est un corps docile. Il voit la danse de loin, c’est-à-dire depuis la loge royale. Les cheveux doivent être tirés en chignon pour que rien ne dépasse. Le corps doit être maigre car rien, là non plus, ne doit appeler autre chose que le trait. C’est pour cela que le corps est toujours de face, légèrement torsadé, la poitrine ouverte, la tête vers celui qui commande. Il faut être invisible et visible, là et pas là, comme le chat de Schrödinger, comme tout ce qui se passe dans la vie de Laura Rolin. Une équation impossible.
Mit ihrem neuen Job wird sie vielleicht aus ihrer prekären Lage herauskommen, aber sie wird auch weniger Freiheit haben. Das weiß sie und tanzt noch mehr und noch besser, als wäre es das letzte Mal. Sie spürt die Kraft der Gruppe hinter sich, im Spiegel, im Takt, im Rhythmus. In dieser Art von Tanz gibt es keine Individualität. Um Teil des Balletts zu sein, in der gut trainierten und formbaren, geschmeidigen und kraftvollen Linie der Choreografie, muss man verschwinden. Das beste Werkzeug des Choreografen, dieses Architekten, ist ein gefügiger Körper. Er sieht den Tanz aus der Ferne, nämlich von der Königsloge aus. Die Haare müssen zu einem Dutt zusammengebunden sein, damit nichts herausschaut. Der Körper muss schlank sein, denn auch hier darf nichts von etwas anderem ablenken als von der Bewegung. Deshalb ist der Körper immer frontal, leicht gedreht, die Brust geöffnet, der Kopf demjenigen zugewandt, der die Anweisungen gibt. Man muss unsichtbar und sichtbar sein, da und nicht da, wie Schrödingers Katze, wie alles, was im Leben von Laura Rolin passiert. Eine unmögliche Gleichung.
La vie des gens libres lässt sich durchaus auch als kritische Auseinandersetzung mit dem französischen Justizsystem lesen. Die Haft wird nicht als Ort der Besserung dargestellt, sondern als Zerstörungsmaschine: psychisch und sozial, auch körperlich. Clémence betont mehrfach, dass die Haft sie „gebrochen“ habe – ohne dass damit Gerechtigkeit wiederhergestellt wäre. Der Diskurs der „réinsertion“ erscheint als Floskel, ein institutionelles Placebo.
Besonders deutlich wird diese Kritik in der Darstellung des Übergangs: Die „libération“ ist kein Akt der Emanzipation, sondern ein Sprung ins Nichts. Keine Institution, keine Begleitung, keine gesellschaftliche Integration sind vorgesehen. Die Scham bleibt privat, die Schuld öffentlich. Lacasse hinterfragt damit die Idee, dass Strafe zur gesellschaftlichen Wiedereingliederung führe – sie zeigt vielmehr die Persistenz sozialer Ächtung und die Fragilität individueller Resilienz.
Der Roman demonstriert auch, wie eng medizinische, juristische und mediale Diskurse verwoben sind. Clémence wird nicht nur juristisch verurteilt, sondern medial hingerichtet. Das Gericht ist nicht das Ende, sondern der Beginn des sozialen Todes. Auch hier wird eine strukturelle Gewalt sichtbar, die über die Haft hinaus wirkt.
Solidarität in der weiblichen Erfahrung
Zwischen Clémence und Laura entwickelt sich keine direkte Freundschaft. Dennoch evoziert der Text ein latentes Potenzial weiblicher Solidarität. Diese Solidarität ist nie plakativ und nie politisch vereinnahmt. Sie zeigt sich in kleinen Gesten: im Blick der Mutter auf Clémence im Zug, im geteilten Schweigen, in der identifikatorischen Wut Lauras, wenn sie sich fragt, warum Clémence nach all dem noch „frei“ ist.
Der Roman entwirft keine utopische Schwesterlichkeit, sondern eine fragile Möglichkeit gegenseitigen Verstehens. In den Zwischenräumen der Narrative, in den Spiegelungen der Figuren, in der Wiederholung weiblicher Kämpfe, die nie kollektiviert werden, liegt das subversive Potenzial. Lacasse schreibt keine Parabel auf feministische Einheit, sondern legt die Differenzen offen – Altersunterschiede, Klassenunterschiede, Milieuversätze – und zeigt dennoch, dass die Systeme, in denen beide Frauen leiden, strukturell verbunden sind.
Der Hinweis auf andere Frauen – Nachbarinnen, Pflegerinnen, Sozialarbeiterinnen – stärkt dieses Bild: Die Welt der weiblichen Arbeit, der Sorge, des Durchhaltens zieht sich wie ein unsichtbares Netz durch den Roman. Clémence ist umgeben von Reinigungskräften; Laura wird unterstützt durch die Mitarbeitenden der crèche, der PMI, der Tanzschule. Diese Allianzen bleiben prekär, aber sie sind real.
Leitmotive und metaphorische Strukturen
Lacasse arbeitet mit einem dichten Netz an Motiven. Besonders zentral sind:
Reinigung und Wasser: Das Motiv der Dusche, des Waschens, des Reinigens kehrt wieder. Es verweist auf die Unmöglichkeit der moralischen Säuberung – die Schuld bleibt. Doch zugleich birgt es das Begehren nach Neuanfang.
Körper, Haut und Kleidung: Der Körper ist Träger der Geschichte. Kleidung steht für soziale Rollen – Clémences Entscheidung, alle alten Kleidungsstücke zu vernichten, ist ein Akt der symbolischen Entkleidung ihrer alten Identität.
Stimme, Stille und Sprache: Beide Frauen erleben die Sprache als prekär – Clémence, weil sie stumm geworden ist durch die Scham, Laura, weil ihre Tochter nicht hört. Die Kommunikation ist erschwert, gebrochen, aber nicht unmöglich.
Bewegung, Tanz und Disziplin: Die Bewegung – Gehen, Tanzen, Flüchten – wird zur Metapher des inneren Kampfs. Tanz bei Laura steht für Selbstbeherrschung; Clémences Gehen durch Bordeaux für ihr tastendes Wiedereinfinden.
Kindheit, Mutterschaft und Tochter: In beiden Biografien spielen Kinder eine zentrale Rolle – Clémences entfremdeter Sohn, Lauras gehörlose Tochter. Mutterschaft ist kein Ort der Erfüllung, sondern eine Zone von Verletzung, Reue, Sorge und Hoffnung.
Diese Motive strukturieren die Figurenpsychologie, die Raumwahrnehmung und die Erzählzeit. Lacasse setzt diese Metaphern nie plakativ ein – sie entstehen aus dem Stoff und sind nicht über ihn gestülpt.
Ein ephemerer Ort der Ruhe
Der Roman endet nicht mit einer Auflösung, sondern mit einer neuen Form der Stabilität: Clémence zieht in ein kleines Haus in Libourne, umgeben von Fremden, anonym, ohne Besitz und ohne soziale Funktionen. Doch in dieser Reduktion liegt ein Moment der Freiheit: keine Erwartungen mehr, keine Rolle zu spielen. Clémence ist niemand, darin liegt ihre Chance.
Der Schluss ist ambivalent: Clémence bleibt von Schuld und Scham gezeichnet, aber sie beginnt, ihre Gegenwart anzunehmen. Die alten Kleider sind vernichtet, der neue Ort noch leer, aber nicht feindlich. Die Nachbarschaft begegnet ihr freundlich, die Kinder singen, die Luft ist frisch. In der Szene, in der sie einer älteren Verstorbenen imaginär den Raum streitig macht, erscheint erstmals eine zarte Transzendenz: der Wunsch nach Versöhnung – mit der Vergangenheit, mit dem Tod, mit sich selbst.
Gleichzeitig bleibt das Ende offen: Die neue Existenz ist fragil, temporär, bedroht von Erinnerungen, von Armut, von Einsamkeit. Doch es ist kein Nihilismus, sondern ein Modus leiser Hoffnung – und ein Plädoyer für eine radikale Form der Würde, jenseits von Status, Anerkennung und Macht. La vie des gens libres ist ein Roman über die Grauzonen des Menschlichen – Schuld ohne Bewährung, Freiheit ohne Erlösung, aber auch Mutterschaft ohne Verklärung. Marie-Ève Lacasse gelingt ein leises Werk, das keine großen Gesten braucht, um zu erschüttern. Es zeigt, wie das Leben der „freien Menschen“ ein trügerisches Ideal ist – und wie in den Rissen dieses Ideals eine andere Art von Leben entstehen kann.