Inhalt
- Zum Sachstand: Ausschluss aus den nationalen Begnadigungen
- Hohnhaus‘ Arbeit zu Sansal
- Gang der Argumentation
- Der entleerte Mythos: Le Serment des barbares
- Revolutionsgeschichte als Familiengeschichte: L’Enfant fou de l’arbre creux
- Narrative Gegenmodelle: Postrevolutionäre Utopie in Le Village de l’Allemand
- Totalitarismuskritik und postkoloniale Allegorie: 2084 – La fin du monde
- Schluss – Synthese und Ausblick
- Würdigung im Licht von Boualem Sansals Verhaftung
Zum Sachstand: Ausschluss aus den nationalen Begnadigungen
Die Situation des algerisch-französischen Schriftstellers Boualem Sansal bleibt weiterhin kritisch. Am 1. Juli 2025 bestätigte ein algerisches Berufungsgericht das Urteil der ersten Instanz und verurteilte den 80-jährigen, schwer kranken Autor erneut zu fünf Jahren Haft ohne Bewährung. Ihm wird vorgeworfen, die „nationale Einheit“ Algeriens verletzt zu haben. Diese Anklage basiert auf Aussagen Sansals in einem Interview mit einem französischen Medium im Oktober 2024, in dem er sich zum Westsahara-Konflikt und den historischen Grenzverläufen Algeriens äußerte. Sansal selbst beruft sich auf die Meinungsfreiheit. Die Staatsanwaltschaft hatte ursprünglich sogar zehn Jahre Haft gefordert, was in seiner Verfassung einem Todesurteil gleichgekommen wäre. Sansal war am 16. November 2024 bei der Einreise in Algerien festgenommen und seitdem festgehalten worden.
Die Hoffnung auf eine Begnadigung durch den algerischen Präsidenten Abdelmadjid Tebboune, insbesondere zum algerischen Unabhängigkeitstag am 5. Juli 2025, zerschlug sich. Tebboune begnadigte zwar über 6500 Häftlinge, schloss jedoch Personen, die wegen „Verletzung der nationalen Einheit“ verurteilt wurden, explizit aus. Die algerische Zeitung El Moudjahid, die als Sprachrohr des Regimes gilt, kommentierte, dass Algerien sich nichts „diktieren“ lasse und keine Ultimaten akzeptiere. Sie stellte in Frage, warum Paris von dem erst im vergangenen Jahr eingebürgerten Sansal „besessen“ sei, während über 2000 andere Franzosen in ausländischen Gefängnissen schmachteten.
Der Fall Sansal hat die diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien erheblich belastet, die ohnehin seit Langem angespannt sind. Frankreich äußerte sein „Bedauern“ über das Urteil und forderte eine „schnelle, humanitäre und würdige Lösung“. Beobachter sehen Sansal als ein „Pfandstück“ oder „Geisel“ in diesen Spannungen, wobei Algerien Frankreichs Interventionen als Einmischung ablehnt. Auch die Verurteilung des französischen Sportreporters Christophe Gleizes zu sieben Jahren Haft wegen „Verherrlichung von Terrorismus“ hat die Beziehungen zusätzlich belastet.
Die anhaltende Beschäftigung mit Boualem Sansals Werk bleibt in diesem Kontext umso relevanter. Sansal gilt als kritischer Geist, der die offiziellen Narrative seines Landes in Frage stellt und unbequeme Wahrheiten über Korruption, Unterdrückung und Islamismus anspricht. Seine Bücher, die in Algerien verboten sind, wie 2084. Das Ende der Welt, warnen vor den Gefahren des religiösen Fundamentalismus. Sein Prozess wird weithin als Angriff auf die Meinungsfreiheit und die Literatur selbst wahrgenommen. Sansal, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2011, steht exemplarisch für den Mut, sich gegen tyrannische Mächte zu stellen. Sein Werk, das er als „Kampfanzug“ bezeichnete, fordert uns auf, nicht zu schweigen.
Tribune: Europäische Sache
Die in Le Monde am 16. Mai 2025 veröffentlichte Tribune mit dem Titel „La libération de Boualem Sansal est une cause européenne“ (Die Befreiung von Boualem Sansal ist eine europäische Sache) ist der Aufruf eines Kollektivs französischer und deutscher Persönlichkeiten und Intellektueller, die Inhaftierung des algerisch-französischen Schriftstellers als Angriff auf die Meinungsfreiheit zu verurteilen. Die Verfasser betonen, dass Sansal seit dem 16. November 2024 in Algier inhaftiert ist, einzig aufgrund seiner Texte und Gedanken. Am 27. März wurde der Autor vom Gericht in Dar El-Beïda, in der Nähe von Algier, zu fünf Jahren Haft verurteilt, weil er „die nationale Einheit, Sicherheit und Stabilität des Landes beeinträchtigt“ habe, insbesondere wegen seiner Äußerungen zur Westsahara. Es wird hervorgehoben, dass Sansal 80 Jahre alt ist und an Krebs leidet.
Der Kern der Tribune ist die Forderung, dass Europa die Freiheit der Meinungsäußerung als seinen zentralen Wert durch die Verteidigung Sansals bekräftigen muss. Sansals Werk wird als ein Kampf gegen Lügen, Unwissenheit, Verschleierung, Schweigen und Vergessen beschrieben, mit dem primären Ziel, die Wahrheit zu sagen. Sein Buch Le Village de l’Allemand (2008) stellt Verbindungen zwischen der Shoah, der „décennie noire“ (den 1990er Jahren) in Algerien und dem Aufkommen des radikalen Islamismus in französischen Vorstädten her. Die Unterzeichner bekräftigen, Sansal zu verteidigen und seine Freilassung immer wieder zu fordern, um die Freiheit und den Ideenaustausch am Leben zu erhalten. Sie betonen, dass Sansal, unabhängig davon, ob man seine Bücher mag oder seine Ideen teilt, ein Schriftsteller ist, der für seine Schriften und Gedanken im Gefängnis sitzt.
Sansals Fall wird als eine „europäische Sache“ dargestellt, da seine internationale Ausstrahlung die rein französische Dimension übersteigt. Er ist Mitglied der Deutsch-Französischen Akademie in Paris, wird in Deutschland gelesen und anerkannt und erhielt 2011 in Frankfurt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, eine der renommiertesten Auszeichnungen in Deutschland. Die Mobilisierung seines Verlegers und literarischer Kreise für seine Freilassung hat die Unterstützung einflussreicher Persönlichkeiten in Deutschland sowie zahlreicher Nobelpreisträger, darunter Svetlana Alexievitch, Orhan Pamuk, Herta Müller und Elfriede Jelinek, erhalten. Das Europäische Parlament hatte bereits am 23. Januar 2025 eine Resolution verabschiedet, die seine sofortige und bedingungslose Freilassung sowie die Verurteilung der Angriffe auf die Meinungsfreiheit in Algerien fordert.
Die Tribune appelliert an die Regierungen Frankreichs, Deutschlands sowie die Institutionen der Europäischen Union, ihren algerischen Gesprächspartnern gegenüber die Forderung nach Sansals Freilassung im Namen der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit, die unser gemeinsames Erbe bilden, aufrechtzuerhalten. Die Unterzeichner sehen in einem gemeinsamen Eingreifen Frankreichs und Deutschlands für Sansals Freilassung eine symbolische und starke Geste und einen Ausdruck einer gemeinsamen Sache. Sie erinnern an Sansals Worte bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels: „Allein der Wunsch nach Freiheit wird vor Hass und Groll retten.“
Die Tribune wurde von einem Kollektiv unterzeichnet, das folgende Persönlichkeiten umfasst:
- Matthias Fekl, Präsident der Deutsch-Französischen Akademie in Paris
- Detlev Ganten, Professor für Molekulare Medizin
- Tina Hassel, Journalistin
- Anselm Kiefer, Künstler
- Wolf Lepenies, Soziologe
- Christine de Mazières, Richterin
- Hélène Miard-Delacroix, Historikerin
- Patricia Oster-Stierle, Professorin für Literatur
- Volker Schlöndorff, Filmemacher
- Gesine Schwan, Präsidentin der Deutsch-Französischen Akademie in Berlin
- Stephan Schwarz, Unternehmer
- Ulrich Wickert, Journalist und Schriftsteller.
Hohnhaus‘ Arbeit zu Sansal
Rebecca Hohnhaus’ Studie Vom Mythos der algerischen Revolution: Geschichte, Narration und Aufklärung in Boualem Sansals Werk (Transcript Verlag, 2023), entstanden vor der Festnahme des Autors, untersucht das Werk des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal im Spannungsfeld von Geschichte, Literatur und Aufklärung. Die Dissertation wurde im Juli 2021 an der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig eingereicht und im Januar 2022 verteidigt, betreut von Alfonso de Toro. In der Einleitung formuliert Hohnhaus zentrale Leitfragen: Wie wird die algerische Geschichte – insbesondere die algerische Revolution und ihre ideologischen Nachwirkungen – in Sansals Werk dargestellt? Welche narrative Strategien setzt Sansal ein, um historische Mythen zu dekonstruieren? Und in welchem Sinne lässt sich seine Literatur als „aufklärerisch“ verstehen?
Hohnhaus ordnet Sansals Werk in einen doppelten Kontext ein: einerseits in den postkolonialen Diskurs, andererseits in eine aufklärerisch-humanistische Traditionslinie. Sie betont, dass Sansals Texte eine Form der literarischen Gegenöffentlichkeit zur offiziellen Geschichtsschreibung Algeriens darstellen, insbesondere zur verklärenden Darstellung des antikolonialen Befreiungskampfs. Dabei greift sie auf verschiedene methodische Ansätze zurück: postkoloniale Theorie (u.a. Fanon, Bhabha), narratologische Kategorien sowie auf philosophiegeschichtliche Konzepte der Aufklärung (vor allem Kant und Adorno/Horkheimer).
Der Forschungsstand zu Sansal wird als lückenhaft charakterisiert – es gibt zwar erste Arbeiten zu Einzelaspekten seines Werks, aber keine umfassende literaturwissenschaftliche Monographie, die dessen politische und epistemologische Dimensionen in den Blick nimmt. Hohnhaus möchte diese Lücke schließen, indem sie systematisch aufzeigt, wie Sansals Romane historische Narrative unterwandern, nationale Identitätsmythen zerlegen und so eine aufklärerische Kraft entfalten.
Gang der Argumentation
1 Einleitung
Dieses Kapitel (S. 11-22) führt in Rebecca Hohnhaus‘ Dissertation ein und beleuchtet die Motivation und den Fokus ihrer Studie über Boualem Sansals Werk. Es stellt die Vernachlässigung der Aufklärungsrezeption in der Sansal-Forschung fest und positioniert Sansals Romane als „kritische Literatur der Aufklärung“, die sowohl die algerische Vergangenheit aufklärt als auch die Konstruktionsbedingungen von Geschichte selbst hinterfragt. Der Text betont Sansals Beitrag zur Diskussion um Literatur und Aufklärung im postkolonialen Kontext und wie er durch seine Romane die algerische Realität „entlarvt“ und seine eigene Wahrheit dabei relativiert, da Wahrheit für ihn niemals absolut ist, um ein erneutes Erstarren zum Mythos zu verhindern. Es wird herausgestellt, dass Sansals Werk umfassend (1999-2020) analysiert wird, um seine Themenvielfalt, wiederkehrende Motive und Brüche aufzuzeigen.
2 Vorüberlegungen
In diesem Kapitel (S. 23-46) legt Hohnhaus die theoretischen Grundlagen ihrer Argumentation dar, indem sie das komplexe Verhältnis von Aufklärung, Geschichte und Narration untersucht. Sie betont, dass Aufklärung als Selbstreflexivität verstanden werden muss, um sich von bloßem Erkenntnisfortschritt oder Indoktrination abzugrenzen. Die Geschichtsphilosophie der Aufklärung habe durch Teleologie, Universalismus und Fortschritt die Zeit mobilisiert, doch diese Kategorien bargen auch die Gefahr der „Verblendung statt Aufklärung“, indem sie Geschichte totalisierten und zu neuen Mythen erstarren ließen. Die „Historisierung der Aufklärung“ (insbesondere durch Denker wie Nietzsche) und die „Entgrenzung der Geschichtswissenschaft“ (durch die Annales-Schule und Hayden White) zeigten, dass Geschichte ein Konstrukt ist und Erkenntnis subjektiv und vorläufig bleibt, was eine beständige Reflexion auf die Konstruktionsbedingungen von Geschichte erfordert. Diese kritische Selbstbefragung ermöglicht es, die emanzipatorische Kraft historischen Denkens zu bewahren. Fünf zentrale Elemente – anthropozentrische Weltsicht, Geschichte und Bewegung, Perspektive der Freiheit, Geschichte als Konstrukt und Metageschichte/Selbstreflexion – werden extrahiert, die für Sansals Geschichtskonzeption relevant sind.
3 Die Versiegelung der Zeit in Algerien
Dieses Kapitel (S. 47-72) überträgt die theoretischen Vorüberlegungen auf den algerischen Kontext und analysiert, wie die Zeit nach der Unabhängigkeit „versiegelt“ wurde. Die „ökonomischen und politischen Transformationen im kolonialen Algerien“ führten zur Zerstörung traditioneller Strukturen und zur Diskriminierung der muslimischen Bevölkerung durch den statut musulman, was eine unvollständige Kapitalisierung und Modernisierung zur Folge hatte. Die „algerische Unabhängigkeit oder die Selbstkolonialisierung des algerischen Volkes“ manifestierte sich in der Ideologie des FLN, die eine homogene arabisch-islamische Nation erzwang und die Geschichtsschreibung monopolisierte, wodurch jede individuelle Ausdrucksmöglichkeit unterdrückt wurde. Die Problematik der Ölrente führte zu Abhängigkeit und verhinderte nachhaltige Modernisierung. Der Übergang „vom algerischen Nationalismus zum islamischen Puritanismus“ und die Einführung des Code de la famille zementierten die rechtliche Ungleichheit, legitimiert durch eine strikte, starre Interpretation religiöser Texte (taqlīd). Auch wenn der Hirak als „Rückkehr der Geschichte“ interpretiert werden kann, bleiben ökonomische und gesellschaftliche Hindernisse für eine vollständige Emanzipation bestehen. Das Kapitel schließt damit, dass die Geschichte Algeriens durch diese Mechanismen zum Mythos erstarrt ist und der Aufklärung dient, sie aber dem algerischen Volk zurückgegeben werden muss.
4 Schreiben gegen den Stillstand
Dieses umfangreiche Kapitel (S. 75-198) bildet das Herzstück der Arbeit und untersucht, wie Sansal literarisch auf den Stillstand in Algerien reagiert und dabei „Aufklärung in doppeltem Sinn“ leistet. Es wird analysiert, wie Sansal „Zeiträume und Geschichte“ in seinen Romanen verortet, oft durch eine starke Referentialität zu Algerien. Die „Konstitution des Zeitraums“ erfolgt durch Detektivgeschichten und Reisen, die in die Vergangenheit führen. Der „Mikrokosmos“ bestimmter Orte (z.B. Gefängnis Lambèse, Bar des Amis) spiegelt den „Makrokosmos“ der algerischen Geschichte wider, während der „soziale Raum: Algerien als Gefängnis“ Orte der „Isolation und der Produktion von Nicht-Wissen“ zeigt, die jedoch auch „Keimzellen des Widerstandes“ sein können. Sansals narratives Arrangement zeichnet sich durch die „Fragmentierung des Zeitraums“ aus, mittels Analepsen, detaillierter Beschreibungen und Autor-Kommentaren, die die Leser zur Reflexion anregen. Er betont „Kontinuitäten und Wiederholungen“ in der Geschichte, indem er Nazismus und Islamismus parallelisiert und in Dystopien eine „Totalität und Stillstand“ darstellt (z.B. 2084). Gleichzeitig zeigt er durch das „Prinzip der Metamorphose“ (z.B. in Le train d’Erlingen) die Wandlungen totalitärer Kräfte und die Möglichkeit der Versöhnung durch Rückbesinnung auf gemeinsame humanistische Ursprünge (z.B. in Abraham). Die „Figurencharakterisierung oder die Frage nach den Subjekten der Geschichte“ stellt das Problem von „Autonomie und religiösem Fatalismus“ (insbesondere das mektoub-Prinzip) in den Vordergrund, das zur „Entmenschlichung und historischen Immobilität“ führt. Dem setzt Sansal die „Rolle des Individuums“ entgegen, verkörpert durch „bewegliche Figuren: die Detektiv:innen“, die Grenzen überschreiten und Erinnerungen reaktivieren. Demgegenüber stehen „unbewegliche Figuren“, die als „Repräsentanten des Systems: Der autoritäre Charakter“ oder als „’Anormale‘, Monster und übernatürliche Wesen“ die Grenzen des Rationalen aufzeigen und zur Selbstreflexion anregen. Sansal nutzt „Selbstreflexion zur Überwindung der Stagnation“, indem er metafiktionale und metahistorische Verfahren (Paratexte, Binnenmetafiktion) einsetzt. Seine Texte beanspruchen „Wahrheit und Wahrsprechen“, wobei Sansal als „Parrhesiast und Zeuge“ auftritt, der subjektiv, aber glaubwürdig die algerische Regierung der Lüge bezichtigt und zur kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte aufruft.
5 Anmerkungen zur öffentlichen Wirkung des Werkes
Dieses Kapitel (S. 199-212) befasst sich mit der Rezeption von Boualem Sansals Werk und der Rolle der Leser bei der Sinnkonstitution. Es stellt fest, dass Sansal trotz seines Wunsches, ein breites Publikum zu erreichen, unterschiedlich in Frankreich, Deutschland und Israel im Vergleich zu Algerien und der arabischen Welt wahrgenommen wird. In Europa wird er für sein Engagement gelobt und erhielt u.a. den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, riskiert jedoch in Frankreich die Instrumentalisierung durch rechtsextreme Medien und wird in Deutschland für seine Warnungen vor dem Islamismus wenig kritisiert. Sein Besuch in Israel führte zu positiver Resonanz. In Algerien hingegen stößt er auf vehemente Ablehnung und Anschuldigungen des „Hochverrats“ und des Opportunismus, insbesondere von Rachid Boudjedra und Abdellali Merdaci. Dies ist oft auf die ideologische Verhaftung seiner Kritiker zurückzuführen, die Sansals Kritik an der algerischen Identität als Verrat empfinden und seine französischsprachigen Texte als „désocialisiert“ betrachten. Trotzdem wird Sansal als „Brückenbauer“ zwischen Orient und Okzident verstanden. Das Kapitel schließt mit der Kritik, dass Sansal sich in der Öffentlichkeit zu sehr als Einzelkämpfer stilisiert und dadurch die Sichtbarkeit anderer algerischer Widerstandskämpfer in seinem Werk verringert.
6 Conclusio
Das abschließende Kapitel (S. 213-214) fasst die zentralen Erkenntnisse der Studie zusammen: Die Existenz eines historischen Bewusstseins ist entscheidend für die Entwicklung einer freiheitlichen Gesellschaft, da nur so erkannt werden kann, dass Institutionen und Werte einem Wandel unterliegen. Sansal entlarvt, wie die algerische Regierung die Ideale von Fortschritt und Universalismus missbraucht hat, um das Volk nach der Befreiung erneut in Gefangenschaft zu halten. Seine Romane durchbrechen diesen Stillstand durch narrative Strategien, die Geschichte als menschliches Konstrukt zeigen und den Menschen als souveränen Akteur wieder ins Zentrum rücken, wodurch sie zu einem Medium der Selbstaufklärung werden. Obwohl Sansal hauptsächlich ein europäisches Publikum erreicht, zeigt der Hirak, dass das Bedürfnis nach Veränderung in Algerien groß ist und Sansals individualistisches Grundverständnis das Rüstzeug für einen demokratischen Aufbruch liefert, der einer laizistischen, pluralen und demokratischen Gesellschaft den Weg ebnet. Die Studie schließt mit der Hoffnung, dass Sansal zukünftig auch die Geschichten der Akteure im „Hier und Jetzt“ aufgreift, um ihr freiheitliches Potenzial sichtbar zu machen.
Der entleerte Mythos: Le Serment des barbares
Rebecca Hohnhaus versteht Boualem Sansals Debütroman Le Serment des barbares (1999) als Schlüsselwerk für Sansals Auseinandersetzung mit der algerischen Geschichte und als modellbildend für sein späteres literarisches Schaffen. Hohnhaus beleuchtet, wie Sansal in diesem Werk den von der Front de Libération Nationale (FLN) etablierten „Mythos der algerischen Revolution“ dekonstruiert. Nach der Unabhängigkeit Algeriens hatte der FLN die Geschichtsschreibung monopolisiert, indem er Narrative eines homogenen Volkes und einer von der Landbevölkerung vollzogenen Revolution propagierte und dabei wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte der Kolonialzeit ausblendete. Diese selektive Darstellung führte zu einer „Versiegelung der Zeit“ und zum Stillstand der Geschichte in Algerien.
Sansal widersetzt sich dieser kohärenten, offiziellen nationalen Narration durch eine multiperspektivische und fragmentarische Erzählstruktur. Die zeitliche Anordnung der Motive ist „brüchig, holprig und unrhythmisch“, wodurch der Roman das „Kontinuum der Geschichte aufsprengt“ und bisher unsichtbare Zusammenhänge sichtbar macht.
Die Wahl des Kriminalromans im Genre des néo-polar ist dabei ein zentrales erzählerisches Mittel. Es geht nicht primär um die klassische Aufklärung eines Mordfalls oder die Überführung des Täters, da die „letzte Wahrheit“ im Dunkeln bleibt und der Inspektor Si Larbi sogar stirbt, ohne den Fall zu lösen. Vielmehr dient der Mordfall um Si Moh und Abdallah Bakour als Anlass, gesellschaftliche Missstände zu beleuchten. Inspektor Larbi führt eine „historische Untersuchung“ durch, die bis in die Zeit des algerischen Unabhängigkeitskrieges (1954-1962) zurückreicht und verborgene Geschichten reaktiviert. Dadurch werden verschiedene Stimmen, Erinnerungen und Traumata des Landes zur Sprache gebracht, die unter der offiziellen FLN-Ideologie unterdrückt oder verschleiert wurden. Die Darstellung der algerischen Realität als „opak und unsagbar“ – etwa durch die chaotische Beschreibung des Krankenhauses oder die Kriminalisierung der Figuren – unterstreicht die Notwendigkeit, jenseits der offiziellen Geschichtsschreibung nach der Wahrheit zu suchen.
Hohnhaus zeigt, dass der Roman ein tiefes Bewusstsein für die Diskontinuitäten und Leerstellen der Geschichte schafft. Sansals Ansatz vereint dabei sowohl aufklärerische als auch postkoloniale Impulse. Er knüpft an die Idee der „Aufklärung durch Geschichte“ an, indem er verborgene Wahrheiten ans Licht bringt und gleichzeitig die Konstruktionsbedingungen von Geschichte selbst kritisch beleuchtet. Indem er die menschliche Verantwortung betont und dem „religiösen Fatalismus“ (mektoub) entgegentritt, der die algerische Gesellschaft in Passivität gehalten hat, positioniert er den Menschen wieder als „Subjekt der Geschichte“. Sein Werk leistet so einen wichtigen Beitrag zur Selbstreflexion im historischen Diskurs und zur Mobilisierung der Zeit.
Revolutionsgeschichte als Familiengeschichte: L’Enfant fou de l’arbre creux
Hohnhaus‘ Lektüre von Boualem Sansals semiautobiografischer Erzählung L’Enfant fou de l’arbre creux (2000) liest den Vater-Sohn-Konflikt als prägnante Allegorie für die vielschichtige Beziehung des Individuums zur algerischen Revolutionsgeschichte. Hohnhaus beleuchtet, wie Sansal durch diesen narrativen Ansatz die fortwirkende, autoritäre Nachwirkung des revolutionären Mythos in der algerischen Gegenwart darstellt und dieser eine kritische, emanzipatorische Subjektivität entgegensetzt.
Die Geschichte selbst, die Sansals zweiter Roman ist, behält das aus Le serment des barbares etablierte Setting einer Detektivgeschichte bei, verlagert den Fokus jedoch von der Suche nach einem Verbrecher auf die Suche nach der eigenen Identität. Der Protagonist Pierre, ein in Frankreich aufgewachsener Informatiker, kehrt nach Algerien zurück, um seine Mutter zu finden und landet unschuldig im Todestrakt des Gefängnisses Lambèse. Dieses Gefängnis, das sowohl während der Römerzeit als auch unter französischer Kolonialherrschaft und heute als Hochsicherheitsgefängnis diente, wird bei Sansal zum Mikrokosmos der algerischen Geschichte und des Gefangenseins der Zeit. In dieser „Zelle“ – die symbolisch für die Erstarrung der algerischen Gesellschaft steht – scheint die Zeit stillzustehen, und ein Tag gleicht dem anderen.
Hohnhaus interpretiert die Figur des Vaters im übertragenen Sinne als Verkörperung des algerischen Revolutionsmythos, der von der Front de Libération Nationale (FLN) zur Legitimation ihrer Macht etabliert wurde. Diese offizielle Geschichtsschreibung, die alle widersprechenden Narrative aus dem kollektiven Gedächtnis tilgte, führte zu einer „Versiegelung der Zeit“ und einer Lähmung der Gesellschaft. Die autoritären Strukturen des Staates, verstärkt durch eine strikte arabisch-islamische Homogenisierungspolitik und die Abhängigkeit von der Ölrente, führten dazu, dass das algerische Volk nach der Befreiung erneut in eine Form der „Selbstkolonialisierung“ geriet.
Dem gegenüber steht der Sohn, Pierre, der eine kritische Subjektivität verkörpert, die sich von dieser Fremdbestimmung emanzipieren will. Als „bewegliche Figur“ – ein zentrales Konzept bei Sansal – durchläuft Pierre eine sowohl geographische als auch historische Reise ins Unbewusste. Seine Interaktion mit seinem Zellengenossen Farid, einem jungen Algerier, der trotz seiner eigenen Verbrechen als Opfer des Systems dargestellt wird, ist entscheidend für Pierres Verständnis der desaströsen Zustände in Algerien und seine Befreiung. Die Gespräche zwischen den beiden im Gefängnis Lambèse werden zur „Keimzelle des Widerstandes“, indem sie verdrängte Erinnerungen und die Wahrheit über die algerische Gesellschaft ans Licht bringen. Sansal greift hier auf Elemente des magischen Realismus zurück, etwa durch Stimmen aus dem „Jenseits“, um das Unsagbare und Unbegreifliche der algerischen Realität darzustellen und die Grenzen der rationalen Erkenntnis aufzuzeigen.
Die Analyse von Hohnhaus überzeugt durch ihre Verknüpfung von narrativen Strukturen und politisch-psychologischen Mechanismen der Geschichtsvermittlung. Sansals Wahl des Néo-Polar-Genres erlaubt es ihm, gesellschaftliche Missstände zu beleuchten, anstatt nur ein Verbrechen aufzuklären, und die Leser im Ungewissen zu lassen, was die Möglichkeit zur Weltveränderung offen hält. Der Roman zeigt, wie die staatliche Geschichtsschreibung „Nicht-Wissen“ produziert und die Wahrheit konfisziert. Durch die „doppelte Aufklärung“ – Aufklärung über die algerische Vergangenheit und Aufklärung über die Konstruktionsbedingungen von Geschichte selbst – hinterfragt Sansal die absolute Wahrheit und betont die Subjektivität jeder Geschichtsdarstellung. Das Postskriptum von L’Enfant fou de l’arbre creux dient als expliziter metaästhetischer Kommentar, der die Lesenden zur Selbstreflexion über die Notwendigkeit einer Neuschreibung der Geschichte einlädt und die „unwahrscheinlichen“ Elemente des Textes als Dimensionen des Wahren legitimiert.
Sansal bricht in diesem Werk mit dem fatalistischen Prinzip des mektoub (Schicksalsglaube), das die algerische Bevölkerung in Passivität gehalten hat, und setzt dem die menschliche Handlungsfähigkeit und Verantwortlichkeit entgegen. Das Ziel ist es, die Menschen zu „Subjekten der Geschichte“ zu machen, die die Fähigkeit besitzen, ihren eigenen Weg zu wählen und die „Erstarrung der Geschichte“ zu durchbrechen.
Narrative Gegenmodelle: Postrevolutionäre Utopie in Le Village de l’Allemand
Die Analyse von Boualem Sansals Roman Le Village de l’Allemand (2008) bietet Einblicke in die komplexen narrativen Strategien und philosophischen Anliegen Sansals, insbesondere in Bezug auf die Geschichtsdarstellung Algeriens und die Konfrontation mit totalitären Ideologien.
Hohnhaus arbeitet heraus, dass Sansal in Le Village de l’Allemand den Fokus von der Geschichte des nachkolonialen Algeriens auf weitere historische Schauplätze verlagert, um die Grundlagen der algerischen Nation aus neuen Blickwinkeln zu beleuchten. Der Roman untersucht die Beziehung des Islams zum Nationalsozialismus und rückt damit neben Algerien auch Deutschland und die Pariser Banlieue in den Mittelpunkt. Für Sansal ist die Gefahr des Nationalsozialismus mit dem Sieg der Alliierten 1945 nicht gebannt; vielmehr habe sich eine Ideologie verbreitet, die in ihren fundamentalistischen Ausprägungen erschreckende Ähnlichkeiten zur Weltanschauung der Nazis aufweist.
Die Geschichte handelt von Hans Schiller, einem deutschen SS-Offizier, der nach Kriegsende in Algerien untertauchte und dort als „moudjahid“ (Freiheitskämpfer) und „cheikh Hassan“ hohes Ansehen genoss, während seine NS-Vergangenheit vom algerischen Staat vertuscht wurde. Diese Kooperation Algeriens mit Nazis – ein Vorwurf, der in Algerien zu grosser Empörung führte – wird von Sansal im Roman und in Interviews hartnäckig behauptet. Er baut die Parallele weiter aus, indem er Islamisten als Nachfolger der Nationalsozialisten darstellt, die nicht nur Algerien in den Bürgerkrieg stürzten, sondern auch Teile europäischer Grossstädte kontrollieren. Malrichs Tagebucheinträge beschreiben die Cité als Konzentrationslager und bezeichnen den Imam als „Führer“ und seine Gefolgschaft als „kapos“, wodurch die strukturelle Ähnlichkeit von islamistischen und faschistischen Ideologien betont wird. Beide Lager seien sich in ihrer Funktionsweise sehr ähnlich, da sie alles als Bedrohung sehen, was ihrer ethnozentristischen Logik entzieht, wie Heimatlose, Kosmopoliten und Liberale.
Moralischer Universalismus gegen identitäre Ideologien: Sansals Intention bei dieser brisanten Parallelisierung ist laut Hohnhaus nicht die Relativierung der deutschen Schuld oder die Infragestellung der Singularität des Holocaust. Vielmehr geht es ihm um die Demaskierung der algerischen Geschichte, in der die Judenvernichtung nicht einmal erwähnt wird. Die Debatte in Le Village de l’Allemand klärt zunächst darüber auf, dass der Holocaust stattgefunden hat, und warnt vor der Möglichkeit einer Wiederholung der Katastrophe, sollte die Thematik weiterhin verleugnet und tabuisiert werden. Sansal nutzt Vergleiche, um die Zivilisation zur Selbst- und Fremdvernichtung zu erfassen und auf zukünftige Wahrscheinlichkeiten zu spekulieren. Er stellt einen Zusammenhang zwischen Fatalismus, Entmenschlichung und historischer Immobilität her und entlarvt den Schicksalsglauben (mektoub) als Ideologie, die den politischen und ökonomischen Stillstand stabilisiert, indem sie die Menschen zur Passivität anhält.
Sansal setzt dem von heteronomen Mächten unterworfenen Kollektiv das autonome, aufgeklärte Individuum entgegen. Figuren wie Rachel und Malrich verkörpern diesen selbstreflexiven Typus. Rachel stellt sich der Verantwortung an der deutschen Schuld und verarbeitet seine Erfahrungen als Nachkomme eines NS-Verbrechers, indem er eine zusätzliche Strophe zu Primo Levis Text „Se questo è un uomo“ verfasst. Malrich erkennt, dass Geschichte ein Produkt von Menschen ist und diese für ihre Taten verantwortlich gemacht werden müssen, wodurch er sich dem fatalistischen Prinzip des mektoub widersetzt. Indem er die Tagebücher veröffentlicht, bricht er das Schweigen der deutschen Täter und der algerischen Kollaborateure. Diese Betonung der menschlichen Handlungsfähigkeit und Verantwortung ist ein zentraler Aspekt von Sansals aufklärerischem Impetus. Hohnhaus stellt jedoch fest, dass Sansal gelegentlich die Brüche der europäischen Aufklärung, wie den französischen Imperialismus und die Missachtung seiner Ideale in den Kolonien, auszublenden scheint und Frankreich verklärend darstellt. Sein Fokus liegt stattdessen auf der Heuchelei der algerischen Regierung und ihrer Reproduktion rassistischer Ausschlussmechanismen.
Doppelte Tagebuchperspektiven und epistemische Unsicherheit: Der Roman ist durch zwei Ich-Erzähler, die Brüder Rachel und Malrich, strukturiert, deren Perspektiven sich fortlaufend durchkreuzen. Diese fragmentarische Anordnung erzeugt „paralleles dangereuses“. Die unterschiedlichen Reflexionsgrade der Brüder – Rachel, der tief recherchiert und sensibel artikuliert, und Malrich, der impulsiv ist – zeigen die Subjektivität der Geschichtsschreibung und die Grenzen des Verstehens. Sansal bricht mit dem Konzept einer absoluten Wahrheit, indem er die Wahrheit seiner Geschichten relativiert und historisiert. Die Tatsache, dass Sansal die letzte Wahrheit, also die Auflösung des Falles, im Ungewissen lässt, verweist auf die Grenzen der Erkenntnis in einem Land, in dem die Wahrheit von politischen Fiktionen konfisziert wurde. Die Darstellung des „Unfassbaren“ und „Unsagbaren“ durch „Umkreisen“ des Realen ist charakteristisch für Sansals néo-polar, der den Fokus auf das Suchen und Fragen legt, nicht auf die endgültige Lösung.
Geschichte durch dialogische Auseinandersetzung zugänglich machen: Das Genre des Kriminalromans, insbesondere des néo-polar, dient Sansal als Mittel, um gesellschaftliche Missstände zu untersuchen und verborgene Wahrheiten aufzudecken. Die „Detektive der Geschichte“ in Sansals Romanen müssen auf inoffizielle und ungesicherte Quellen zurückgreifen, um die staatliche Geschichtsschreibung zu korrigieren. Die Figuren sind „beweglich“, indem sie durch die Geschichte reisen und somit „verdrängte Erinnerungen“ wiederbeleben, was eine Aufarbeitung algerischer Traumata initiiert. Der Roman selbst ist eine Art Dialog zwischen den beiden Brüdern und ihren unterschiedlichen Herangehensweisen an die Vergangenheit. Sansal integriert metafiktionale Elemente – wie Vorworte, Nachworte und Kommentare – die die Konstruktionsprozesse des Textes offenlegen und die Leser zur Reflexion über den Wahrheitsstatus der dargestellten Geschichte anregen. Er versteht sich als „Parrhesiast“, der die Wahrheit ausspricht, auch auf persönliches Risiko hin, und als „Zeuge“ seiner Zeit, dessen subjektive Wahrheit die Grundlage für die Demaskierung der staatlichen Lügen bildet.
Totalitarismuskritik und postkoloniale Allegorie: 2084 – La fin du monde
In ihrer Analyse positioniert Hohnhaus Boualem Sansals dystopischen Roman 2084: La fin du monde (2015) als einen Höhepunkt seines aufklärerischen Schreibens. Sansal verlagert hier den Fokus seiner Geschichtsbetrachtung von der spezifisch algerischen Vergangenheit auf eine universellere und abstraktere Ebene, um die Gefahren totalitärer Tendenzen in einem globalen Kontext zu beleuchten.
In Analogie zu George Orwells 1984 (1949) entwirft Sansal das düstere Szenario eines totalitären Reiches der Religion, Abistan, das unverkennbar Züge des islamistischen Algeriens trägt. Hohnhaus arbeitet heraus, dass Sansal in 2084 strukturelle Merkmale eines anti-utopischen Systems detailreich ausbuchstabiert: Dies umfasst die Isolation, Autarkie und Statik des Gemeinwesens, eine konsequente Manipulierung des Geschichtsbildes, den Vorrang des Kollektivs vor dem Individuum sowie eine strikte Homogenisierung der Gesellschaft, die gleichzeitig ein Klassen- und Kastensystem etabliert. Hinzu kommen patriarchalische Familienstrukturen, die Ausgrenzung von „Kranken“, drakonische Strafen für abweichendes Verhalten, totale Überwachung und ständige ideologische Indoktrination durch die sogenannten „nadirs“ (Teleschirme), ein technokratischer Verwaltungsapparat und eine repressive Sprachpolitik.
Ein zentrales Thema des Romans ist der „Stillstand der Zeit“. In Abistan kennen die Menschen weder ihre Geschichte noch können sie sich eine Zukunft vorstellen; sie drehen sich im Kreis. Dies wird narrativ durch einen nicht-fragmentierten, weitestgehend linearen und gleichmäßigen Erzählstil unterstrichen, der auf Auslassungen oder Beschleunigungen verzichtet. Jedes Kapitel beginnt mit einer prophetischen Zusammenfassung dessen, was sich ereignen wird, wodurch die Geschehnisse determiniert und ein Gefühl der Ausweglosigkeit erzeugt werden.
Hohnhaus betont die entscheidende Rolle von Sprache, Erinnerung und Aufklärung in diesem Roman. Die in Abistan gesprochene Sprache, die „abilang“, ist eine Karikatur des Koranischen Arabisch, die formal und funktional imitiert wird. Sie wird als „champ de forces“ beschrieben, die nicht nur alle Lebensbereiche durchdringt, sondern den Körper der Gläubigen bis auf die chromosomale Struktur vereinnahmt und zerstört. Die Starrheit der „abilang“ verhindert jeglichen Ausdruck neuer oder komplexer Sachverhalte, wodurch eigenständiges Denken effektiv unterbunden und die Menschen zum Schweigen verdammt sind. Dieser Zustand spiegelt Sansals Kritik an der arabischen Hochsprache wider, die er als „Sitz des Sakralen“ und als „katechontisch aufgeladen“ betrachtet, weil sie „die Zeit aufhält“ und profane Ausdrücke nicht speichert.
Die Erinnerung an die Vergangenheit ist in Abistan beinahe vollständig getilgt. Das System produziert aktiv „Nicht-Wissen“, um seine Kontrolle zu festigen. Selbst das vermeintlich „offene“ Ghetto der Renegaten, das abseits der Hauptstadt liegt, wird von Hohnhaus als eine Erfindung des Apparats interpretiert, der seine eigene Opposition schafft, um sie besser kontrollieren zu können. Dies führt dazu, dass der Stillstand in 2084 als absolut erscheint, da „jeglicher Ausweg versperrt“ ist.
Hohnhaus zeigt jedoch, dass Sansal hier nicht bloß politische Kritik übt, sondern die Voraussetzungen kritischer Subjektivität in einer postreligiösen Dystopie literarisch durchspielt. Der Protagonist Ati verkörpert eine solche kritische Subjektivität. Obwohl er ein Teil des totalitären Systems ist, beginnt er, sich zu bewegen, Fragen nach Freiheit und den Grenzen des Reiches zu stellen und handelt somit dem alles durchdringenden Stillstand zuwider. Auch wenn er letztendlich als Marionette eines gegnerischen Clans erscheint, ist sein Handeln ein Akt des Widerstands gegen den fatalistischen Schicksalsglauben (mektoub). Für Sansal ist die Autonomie des Menschen von entscheidender Bedeutung, da sie dem Fatalismus entgegenwirkt, der den Menschen entmenschlicht und jeder Verantwortlichkeit enthebt. Hohnhaus betont, dass Aufklärung für Sansal im doppelten Sinn erfolgt: Sie deckt unterdrückte Wahrheiten auf und hinterfragt gleichzeitig die Bedingungen ihrer eigenen Entstehung.
Die Allegorie in 2084 wird zum Mittel einer transkulturellen Aufklärung. Indem Sansal Islamismus und Nationalsozialismus parallelisiert, macht er auf die universelle Gefahr totalitärer Ideologien aufmerksam, die derselben Grammatik folgen und das Individuum einem kollektiven Zweck unterordnen. Hohnhaus interpretiert diesen Vergleich nicht als Relativierung der Shoah, sondern als Warnung vor der Wiederholung historischer Katastrophen. Sansal appelliert an seine Leser, die Zeichen der Zeit ernst zu nehmen. Die Lichtmetaphorik, die in dem Phänomen „Démoc“ (Demokratie) als „Wesen aus Licht und Vernunft“ aufscheint, unterstreicht die aufklärerischen Ideale, die dem totalitären System entgegenstehen.
Schluss – Synthese und Ausblick
Rebecca Hohnhaus verortet in ihrem abschließenden Kapitel, der Conclusio (S. 271–282), Boualem Sansals literarisches Schaffen als eine „kritische Literatur der Aufklärung“. Sie zeigt auf, wie Sansals Werk sich entschieden gegen ideologische Verhärtungen wendet – sowohl des postkolonialen Nationalismus als auch des religiösen Dogmatismus.
Sansal dekonstruiert den in Algerien von der Front de Libération Nationale (FLN) etablierten „Mythos der Revolution“. Nach der Unabhängigkeit monopolisierten die algerischen Machthaber die Geschichtsschreibung, indem sie eine kohärente, nationale Narration eines homogenen Volkes und einer von der Landbevölkerung vollzogenen Revolution propagierten. Diese ideologische Vereinnahmung führte zu einer „Versiegelung der Zeit“ und einem Stillstand der Geschichte in Algerien. Sansal schreibt gegen diesen Stillstand an, indem er die „constantes nationales“ als Mythen entlarvt, die lediglich der Sicherung der Machtposition der Elite dienen.
Gleichzeitig kritisiert Sansal den religiösen Dogmatismus, insbesondere den islamischen Fatalismus (mektoub), der die Menschen entmündigt und passiv macht. Er verweist auf die Gefahr, dass die Religion den Platz der Geschichte einnimmt und autonomes Denken unterdrückt wird. Für Sansal ist der Islamismus eine der größten Bedrohungen unserer Zeit. In seinem Roman 2084 führt er die Gefahr einer islamistischen Weltdiktatur drastisch vor Augen, um die Konsequenzen der „Versiegelung der Geschichte“ in einer religiös-autoritären Gesellschaft zu zeigen.
Hohnhaus hebt mehrere zentrale Qualitäten von Sansals Werk hervor:
Narrative Polyphonie
Sansal setzt einer kohärenten, offiziellen nationalen Narration eine multiperspektivische und fragmentarische Erzählstruktur entgegen. Die zeitliche Anordnung der Motive ist „brüchig, holprig und unrhythmisch“, was das „Kontinuum der Geschichte aufsprengt“ und bisher unsichtbare Zusammenhänge sichtbar macht. Durch Analepsen (Rückblenden) kehrt der Erzähler immer wieder in die Vergangenheit zurück, um historische Tiefendimensionen zu schaffen. Die Detektivgeschichte in Le Serment des barbares dient als Anlass, verschiedene Stimmen, Erinnerungen und Traumata des Landes zur Sprache zu bringen, die unter der offiziellen Ideologie unterdrückt oder verschleiert wurden. Sansal nutzt dabei auch intertextuelle Referenzen, um seine Texte in einen größeren historischen und kulturellen Kontext zu stellen. In 2084 karikiert er islamisch-arabische Gesellschaften durch hyperbolische Darstellungen, um die Absurdität und Gefahr des totalitären Systems zu unterstreichen.
Ethische Reflexivität
Sansal schafft ein Bewusstsein für die Diskontinuitäten und Leerstellen der Geschichte. Seine Romane fungieren als Instrumente der Aufklärung im doppelten Sinn: Sie klären über die algerische Vergangenheit auf und entlarven die staatliche Geschichtserzählung als Lüge. Gleichzeitig betonen sie die Autonomie des Menschen als „Subjekt der Geschichte“. Sansal stellt sich gegen den religiösen Fatalismus (mektoub) und fordert die Menschen auf, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Er agiert als „écrivain engagé“ und „Parrhesiast“ (Wahrsprecher), der die Wahrheit aufdeckt und dabei persönliche Risiken eingeht. Hohnhaus hebt hervor, dass Sansal trotz seines Engagements für die demokratischen Grundwerte bewusst die Rolle eines „Einzelkämpfers“ einnimmt, der als „Brückenbauer“ den Graben zwischen Orient und Okzident überwinden möchte.
Epistemologische Skepsis
Sansal zeigt, dass Geschichtsschreibung das Ergebnis narrativer und damit subjektiver Konstruktionsprozesse ist. Er relativiert die „letzte Wahrheit“, indem er bewusst Fragen offenlässt und auf die Grenzen der Erkenntnis verweist. Dies tut er, indem er die Konstruktionsbedingungen von Geschichte selbst kritisch beleuchtet und die Fiktionalität seiner eigenen Werke durch metatextuelle Reflexionen sichtbar macht. Wahrheit wird bei Sansal nie als absolut gedacht, da die Geschichte sonst Gefahr läuft, wieder zum Mythos zu erstarren. Er betont, dass „die Wahrheit in der Bewegung“ liegt und das „Fragen als Wurzel der Freiheit“ dient. Sansals Ansatz vereint dabei postkoloniale wie aufklärerische Impulse, indem er kritische Fragen an die europäische Aufklärung stellt, aber gleichzeitig deren emanzipatorisches Potenzial für den postkolonialen Kontext aktualisiert.
Die Studie von Rebecca Hohnhaus leistet damit nicht nur einen wichtigen Beitrag zur bisher eher punktuellen Sansal-Forschung, indem sie dessen gesamtes Werk (1999-2020) im nationalen und internationalen Vergleich umfassend analysiert. Sie trägt auch maßgeblich zur Diskussion um Literatur und Aufklärung im postkolonialen Kontext bei, indem sie Sansals Schreiben nicht allein als politisch brisant, sondern als literarisch und erkenntnistheoretisch subversiv bewertet.
Würdigung im Licht von Boualem Sansals Verhaftung
Die Festnahme Boualem Sansals im Juli 2023 durch die algerischen Behörden – offiziell wegen „staatsfeindlicher Umtriebe“, de facto wegen seiner scharfen Kritik an der Regierung und ihrer islamistischen Vergangenheit – verleiht der Studie von Rebecca Hohnhaus eine bedrückende Aktualität. Ihre Untersuchung belegt, wie gefährlich literarische Aufklärung in autoritären Kontexten sein kann. Hohnhaus’ Analyse liefert das intellektuelle Rüstzeug, um Sansals Engagement nicht nur als ästhetische Praxis, sondern als Form des Widerstands zu begreifen. In diesem Licht erscheint ihre Monographie nicht nur als akademische Arbeit, sondern auch als Appell an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ihre Beschäftigung mit einem verfolgten Schriftsteller weiterzuführen.
Rebecca Hohnhaus legt mit ihrer Studie eine differenzierte, theoretisch fundierte und politisch relevante Untersuchung vor, die Sansals Werk als literarisches Projekt der Aufklärung lesbar macht. Ihre Lektüren sind präzise, ihre Argumentation überzeugend, ihre Verbindung von Literaturwissenschaft und politischer Theorie beispielhaft. Angesichts der aktuellen Repression gegen Sansal gewinnt ihre Arbeit eine existenzielle Dimension: Sie verteidigt die Freiheit des Denkens durch das Denken selbst.
Die Ereignisse rund um Sansals Festnahme und Verurteilung lassen einige von Hohnhaus‘ Argumenten in neuem Licht erscheinen:
Bestätigung der Regimekritik und des Kampfes gegen Mythen
Hohnhaus betont Sansals Rolle als Kritiker des algerischen Regimes und der Mythen der Unabhängigkeitspartei, die er literarisch demaskiert. Seine Verurteilung wegen „Verletzung der nationalen Einheit“ aufgrund von Äußerungen zur historischen Grenzziehung zwischen Algerien und Marokko ist eine brutale Bestätigung dafür, dass das Regime seine Worte als direkte Bedrohung ihrer offiziellen Geschichtserzählung und damit ihrer Machtbasis empfindet.
Wahrsprechen als gefährliche Aufgabe (Parrhesia)
Hohnhaus charakterisiert Sansal als „Parrhesiast“ – jemanden, der den Mut zum Wahrsprechen besitzt, selbst unter persönlichem Risiko, und dessen subjektive Wahrheit die bestehende Ordnung stören soll. Seine Inhaftierung für bloße Meinungsäußerungen unterstreicht die existenzielle Gefahr, die das Wahrsprechen in autoritären Systemen darstellt, und macht ihn zu einem lebenden Beispiel für diesen „Mut zum Glück und zur Besiegung des Fatums“. Die Parallelen zu Alexander Solschenizyn, die Jean-François Colosimo zieht, heben diese prophetische Rolle hervor.
Die Rolle der internationalen Rezeption
Hohnhaus stellt fest, dass Sansal in Frankreich, Deutschland und Israel gefeiert, in Algerien und der arabischen Welt jedoch abgelehnt oder zensiert wird. Die massive internationale Solidarität, Proteste und Appelle aus Frankreich und Deutschland für seine Freilassung – die vom algerischen Regime als „Diktate“ abgetan werden – veranschaulicht diese Rezeptionsspaltung auf dramatische Weise. Die Behauptung Algeriens, Paris sei „besessen“ von Sansal, während 2000 andere Franzosen in ausländischen Gefängnissen säßen, ist ein direkter Ausdruck dieser Kluft und der Haltung des Regimes.
Gefahr der Instrumentalisierung und „Einzelkämpfer“-Rolle
Hohnhaus erörtert die Gefahr, dass Sansals anti-islamistische Haltung von bestimmten politischen Lagern instrumentalisiert werden könnte, und sein Hang zum „Einzelkämpfer“ dazu führen könnte, dass er Gleichgesinnte im eigenen Land nicht wahrnimmt. Die Darstellung des algerischen Regimes, er sei ein „Spielball der Mächtigen“, oder dass er von der „französischen extremen Rechten verehrt“ werde, bestätigt diese Vulnerabilität. Auch der Bericht, dass ihm nahegelegt wurde, seinen „jüdischen Anwalt“ zu wechseln, zeigt, wie das Regime seine Person und seine internationalen Verbindungen zu instrumentalisieren versucht.
Dehumanisierung und Stillstand
Sansals fortgesetzte Haft trotz seines hohen Alters und schwerer Krankheit und die Verweigerung einer Begnadigung, die anderen gewährt wurde, beleuchtet die von Hohnhaus beschriebene „Entmenschlichung der Geschichte“ und den „Stillstand“. Das Regime zeigt keine Gnade, was als „besonders perfides Merkmal autokratischer Willkür“ wahrgenommen wird, und unterstreicht damit die von Sansal kritisierte autokratische und fatalistische Denkweise.
Authentizität des Erzählten
Sansal hat immer betont, dass seine Geschichten „wahr“ seien und reale Erfahrungen widerspiegeln. Seine Inhaftierung wegen seiner Worte bekräftigt seine literarische Arbeit nicht nur als Fiktion, sondern als gefährlich reale Darstellung der Zustände in Algerien, die das Regime zu verbergen versucht.
Die Festnahme von Boualem Sansal ist somit kein isoliertes Ereignis, sondern eine eindringliche, traurige Bestätigung der Analysen von Hohnhaus, die die tiefgreifenden Konflikte zwischen Sansals aufklärerischem, kritischem Werk und der repressiven Realität seines Heimatlandes aufzeigt. Es ist, als ob die algerische Regierung mit seiner Verhaftung ein Schlusskapitel von Sansals „Buch“ über Algerien schreiben wollte, ein Kapitel, das seine schärfsten Kritiken an Zensur und Stillstand in Algerien auf grausame Weise real werden lässt.