Inhalt
Jour de ressac (2024) als Schreibbewegung
Elle s’était certainement formée au large, chargée de force durant sa course, de plus en plus rageuse à mesure qu’elle prenait de la vitesse, et devait avoir la crête encore haute quand elle s’est fracassée contre la digue, sa gerbe d’écume s’élevant à deux ou trois mètres, un geyser de toute beauté, mais au lieu de m’écarter à temps d’un bond latéral, j’ai levé la tête une fraction de seconde vers les milliers de gouttelettes qui scintillaient dans l’air, vers ce dôme où convergeaient les eaux de la mer et du ciel, si bien que le corps de la vague, son soubassement marin, s’est abattu sur moi, splash ! J’ai été étonnée de sa puissance, et qu’elle m’envoie valdinguer contre le garde-corps côté port de plaisance de manière si brutale, comme si je recevais une gifle en plein visage, comme si j’écopais d’une énorme claque de flotte.
Maylis de Kerangal, Jour de ressac, Ed. Verticales, 2024.
Sie hatte sich sicherlich vor der Küste gebildet, während ihres Laufs an Kraft zugelegt und war mit zunehmender Geschwindigkeit immer wütender geworden. Ihre Kämme mussten noch hoch gewesen sein, als sie gegen den Deich prallte und zwei bis drei Meter hohe Gischtfontänen in die Luft schleuderte – ein wunderschöner Geysir. Aber anstatt mich rechtzeitig mit einem Seitensprung in Sicherheit zu bringen, hob ich für den Bruchteil einer Sekunde den Kopf, um die Tausenden von Tropfen zu betrachten, die in der Luft glitzerten, diese Kuppel, in der das Wasser des Meeres und des Himmels zusammenflossen, sodass der Körper der Welle, ihr mariner Unterbau auf mich niedersauste, Klatsch! Ich war erstaunt über ihre Kraft und darüber, dass sie mich so brutal gegen das Geländer auf der Seite des Yachthafens schleuderte, als hätte ich eine Ohrfeige bekommen, als hätte ich eine riesige Ohrfeige mit Wasser bekommen.
Die Erinnerung kommt in Wellen: Maylis de Kerangals Roman Jour de ressac (2024) befasst sich mit der Darstellung von ausgelöschten, zerstörten und vergessenen Spuren von Erinnerung und Geschichte, wobei er diese Prozesse sowohl auf narrativer als auch auf poetisch-metaphorischer Ebene beleuchtet und dabei eine ausgeprägte introspektive Dimension der Erzählerin einbezieht. Die Protagonistin der Geschichte ist eine Ich-Erzählerin, deren Leben unerwartet durch einen Anruf der Kriminalpolizei in Le Havre aus der Bahn geworfen wird. Dieser Anruf zwingt sie, sich nicht nur mit der Gegenwart eines mysteriösen Todesfalls auseinanderzusetzen, sondern auch tief in ihre eigene Vergangenheit und die Geschichte ihrer Heimatstadt einzutauchen. Die Erzählerin fühlt sich, als sei sie „plötzlich an die okkulten Ströme angeschlossen, die die reale Welt bewegen“, sie spürt, dass die verborgenen, „zurückströmenden“ Aspekte der Vergangenheit und der Stadt nun für sie sichtbar werden.
Die Eröffnungsszene Jour de ressac setzt die Handlung in Gang: Ein Anruf aus Le Havre reißt die Protagonistin, eine Synchronsprecherin, aus ihrem alltäglichen Leben, mit der beunruhigenden Feststellung eines Polizisten: Der Körper eines „nicht identifizierten Mannes“ sei in Le Havre auf öffentlicher Straße aufgefunden worden und dass sie möglicherweise Auskunft geben könne. Sie wird aufgefordert, am nächsten Tag zum Verhör zu erscheinen. Dieser Anruf zerreißt die Zeit, macht Morgen und Nachmittag „unversöhnlich“ und führt zu einer sofortigen körperlichen und psychischen Erschütterung. Der „Boden rollt unter [ihren] Füßen“, eine „Flut von Fragen“ formt sich in ihr, die sie nicht aussprechen kann. Die Protagonistin erlebt eine „Zeitspaltung“, in der sich der Tag in zwei „divergierende“ und „auseinandergerissene“ Hälften teilt. Ihre Körperreaktionen – die schwindende Stabilität, das Gefühl der Geschwindigkeit und die Suche nach einem „fixen Punkt, an dem sie die Augen aufhängen konnte“ – spiegeln die innere Dissonanz und den plötzlichen Bruch ihrer Realität wider. Die Vorstellung, dass jemand aus ihrem Umfeld anonym gestorben sein könnte, wird durch das Bild von Louis Kahn konkret – einem berühmten Architekten, der anonym in New York starb und erst Tage später identifiziert wurde. Diese Erinnerung führt die Erzählerin erneut zurück zum Symbol Le Havre – einem Ort der Herkunft, aber auch des Unbekannten, der Möglichkeit eines verborgenen Lebens und Todes. Die narrative Dissonanz entsteht auch durch die neutrale und faktische Sprache des Polizisten, die im krassen Gegensatz zu den emotionalen und assoziativen Gedankengängen der Protagonistin steht, die Le Havre sofort mit ihrer eigenen Jugend und einer „ersten Liebe“ assoziiert. Diese anfängliche Konfrontation ist der Impuls für ihre „eher melancholische und innere Untersuchung“. Der Anruf ist das strukturierende Ereignis, das die Protagonistin von einer Phase der Unruhe und Ungewissheit in eine konkrete Bewegung treibt. Der Fundort des Toten, „auf öffentlicher Straße, in Le Havre“, wird zu einem immer wiederkehrenden Motiv und einer Kristallisationsfigur, die das Rätsel des Unbekannten mit der eigenen Vergangenheit der Protagonistin unauflöslich verbindet.
Jour de ressac ist weniger ein konventioneller Kriminalroman als vielmehr eine poetologische Reflexion über die Funktionsweise von Erinnerung und die Art und Weise, wie die Vergangenheit im Präsens nachhallt. Der Text bildet ein Gewebe aus Erinnerungsarbeit, Stadt- und Küstenpoetik, Trauerarbeit und detektivischer Spurensuche. Der ressac – die Rückbrandung, das Brechen der Wellen am Ufer – bildet die zentrale Metapher des Textes. „Mich hat eine riesige Welle erwischt.“ („Je me suis pris une énorme vague.“) Diese Formulierung ist umgangssprachlich, fast lakonisch, doch sie birgt eine grundlegende Metaphorik. Die Erinnerung kommt in Wellen, rollt heran, bricht sich, zieht sich zurück – und hinterlässt ein nasses, flirrendes Bild. Diese Brandungswucht steht für die affektive Struktur des ganzen Romans: Die Erzählerin wird nicht erinnernd aktiv, sondern passiv getroffen – wie von einer Naturgewalt. Die Erzählerin wird getroffen von dem, was sie erinnert, von der Vergangenheit, die unaufgefordert, ja gewaltsam in die Gegenwart einbricht. Der Text bewegt sich wie eine Rückwelle durch das Bewusstsein der Erzählerin. In dieser Ohnmacht gegenüber der Vergangenheit liegt zugleich der Impuls des Schreibens: das Bedürfnis, der Gewalt der Erinnerung eine Sprache zu geben, ohne sie zu glätten. Die Welle bleibt unkontrollierbar – sie ist nicht Motiv, sondern poetologisches Prinzip. Das Schreiben selbst folgt dem Rhythmus der Brandung: Es rollt an mit Erinnerungsbildern, prallt auf gegen das Jetzt, zieht sich zurück in die tieferen Schichten des Ichs. Der Roman stellt kein geschlossenes Erinnerungsbild her, sondern überlässt sich der Dynamik des ‚Nach-Wirkens‘ – einem ressac der inneren Landschaft. Wie die Gischt, die sich an den Mauern bricht, schlagen im Text Fragmente des Erinnerten gegen die Sprache – feinsprühend, manchmal zerstäubt, manchmal heftiger.
Maylis de Kerangals Roman Jour de ressac fügt sich als jüngstes Werk in ein OEuvre ein, das sich konstant mit Topographien, der Materialität der Welt und menschlichen Beziehungen zu ihr auseinandersetzt. Zugleich ist der Text wie das vorangegangene Buch Canoës aber stärker subjektiv-introspektiv, die Autorin spricht von einer neuen Werkphase. In einem Gespräch mit Florence Bouchy in Le Monde des livres (22.9.2024) bewertet Maylis de Kerangal ihren neuen Roman als einen Wendepunkt in ihrem Schaffen. Anders als in ihren bisherigen, stark dokumentarisch geprägten Romanen (wie Naissance d’un pont oder Réparer les vivants) verlegt sie den Fokus diesmal auf eine subjektive, träumerische Dimension des Schreibens. Das Buch ist in der Ich-Form geschrieben und spielt in der Stadt ihrer Kindheit und Jugend, die zur „Matrix der Rêverie“ wird – einem inneren Landschaftsraum, der gleichermaßen real wie imaginär erscheine. Für de Kerangal geht es dabei weniger um klassische Handlung als um das Sichtbarmachen verborgener Verbindungen, Resonanzen und Bedeutungszusammenhänge – um eine Poetik der Analogie. Das Schreiben in der ersten Person markiert eine neue Offenheit. Auch wenn die Erzählerin nicht mit ihr selbst identisch sei, so gesteht de Kerangal doch ein, dass sie in dieser Figur eine Art doppelten Selbst erkenne. Das Schreiben werde so zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Ursprung – jedoch ohne nostalgische Rückwendung oder autofiktionale Intention. Vielmehr möchte sie ein echtes literarisches Werk schaffen, das sich aus autobiografischen Motiven speist, aber über sie hinausweist. Jour de ressac ist für die Autorin ihr persönlichster Roman, da er aus dem „eigenen Vorrat“ schöpft. Dabei versteht sie den Vergangenheitshorizont nicht als abgeschlossen, sondern als beweglich und dialogisch.
Die Titelbewegung des „ressac“ (Brandung, Rückströmung) dient in Maylis de Kerangals Roman nicht nur als atmosphärische Metapher, sondern als grundlegende poetologische Figur, die die Erzählung durchdringt. Der Roman entfaltet sich in Zyklen der Erinnerung, die wie Wellen wiederholt anbranden und die Protagonistin unablässig in die Vergangenheit zurückziehen, um sie neu zu befragen. Diese Wellenbewegung manifestiert sich in zahlreichen „seriellen Figuren“. Die wiederholte und variierte Erwähnung des „Körpers auf öffentlicher Straße, in Le Havre“ ist ein solches Leitmotiv, das die Protagonistin immer wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückführt. Die Telefonanrufe, die sie erhält und tätigt, tragen ebenfalls zu diesem Rhythmus bei. Auch die Fragen des Polizisten Zambra – „Warum hatten Sie schließlich darum gebeten, den Körper zu sehen?“ – kehren in ihrem Inneren wieder. Stimmen hallen nach, nicht nur die des Polizisten, sondern auch die ihrer Familie und natürlich die von Craven in ihren Gedanken. Diese Wiederholungen schaffen einen rhythmischen Fluss, der das Leseerlebnis prägt und die zyklische Natur der Erinnerung betont.
Die Schreibbewegung selbst ist ein Ausdruck der „Rückströmung“ und einer „semiotischen Rückkopplung“. Jede neue Information, jede Begegnung (mit Zambra, dem Baggerfahrer Patrice Hauchecorne, der Kinomitarbeiterin, Virginia oder Rym, der Gerichtsmedizinerin), wirft die Protagonistin auf die ursprüngliche Frage zurück und zwingt sie, ihre Erinnerungen neu zu ordnen und zu interpretieren. Die Erzählung ist kein linearer Fortschritt zur Lösung eines Rätsels, sondern eine spiralförmige Bewegung, die die Bedeutung durch die fortwährende Neuverbindung und Neuinterpretation verdichtet. Die Art und Weise, wie die Protagonistin ständig „Szenarien“ entwirft und wieder verwirft, oder wie ihre Gedanken zu Blaise und Maïa abschweifen, während sie über den Toten nachdenkt, unterstreicht diese nicht-lineare, assoziative Denkweise.
Die Analyse von Tempus und Rhythmus offenbart eine überlagerte Zeitstruktur. Der Roman ist überwiegend im Präsens erzählt, was eine unmittelbare „Gleichzeitigkeit“ der Ereignisse und der inneren Gedanken schafft. Doch dieses Präsens wird immer wieder durchbrochen von detaillierten Rückblenden in die Vergangenheit, oft ausgelöst durch sensorische Eindrücke oder assoziative Sprünge. Diese „stockende Linearität“ spiegelt die Funktionsweise des Gedächtnisses wider, das selten chronologisch, sondern oft sprunghaft und fragmentiert arbeitet. Die langen, verschachtelten Sätze, die durch Kommata unterbrochen werden und Gedanken, Beobachtungen und Empfindungen miteinander verknüpfen, tragen ebenfalls zu diesem organischen, wellenförmigen Rhythmus bei. Das Gefühl der Desorientierung und des „Rollens“ des Bodens nach dem Anruf ist ein initialer Ausdruck dieser gestörten Linearität.
Maylis de Kerangals Prosa in Jour de ressac ist durch eine bemerkenswerte Dichte gekennzeichnet, die sich in ihren stilistischen Charakteristika, dem Umgang mit Sprache als Material und einer ausgeprägten Intermedialität manifestiert. Stilistisch prägen den Text lange, verschachtelte Sätze, die reich an Einschüben und detaillierten Beschreibungen sind. Nominalstil trägt teilweise zur Verdichtung bei, indem er oft ganz auf Verben verzichtet und stattdessen Substantive und Partizipialkonstruktionen aneinanderreiht, um Eindrücke, Beobachtungen und Gedankengänge unmittelbar zu erfassen. Beispiele hierfür finden sich in den detaillierten Beschreibungen der Stadt, des Toten oder der Erinnerungen. Listen sind ein wiederkehrendes Element, das die Fülle der Welt abbildet, sei es der Inhalt der Handtasche der Protagonistin, die Aufzählung verschiedener Schiffstypen oder die Namen der bombardierten Städte. Diese Stilmittel erzeugen eine intensive, immersive Leseerfahrung, die das Gefühl der Überwältigung und der Fülle der Wahrnehmungen der Protagonistin widerspiegelt. Sprache selbst wird in diesem Roman als „Material“, ja als „Gischt“ begriffen – als etwas Greifbares, Formbares und doch Widerständiges, das sich beständig neu zusammensetzt. Der Text ist eine „widerständige Oberfläche“, die das Verschwinden und die Komplexität des Vergangenen nicht glättet, sondern in ihrer Vielschichtigkeit abbildet. Die Rekonstruktion von Le Havre als „Palimpsest“ findet ihr sprachliches Äquivalent in der Art und Weise, wie Erinnerungen und Eindrücke übereinandergeschichtet werden, wie alte und neue Bedeutungen durch die Sprache miteinander verwoben werden.
Eine starke „Intermedialität“ prägt den Roman. „Visuelle Rhythmen“ und „filmische Schnitte“ sind allgegenwärtig, was nicht zuletzt der Profession der Protagonistin als Synchronsprecherin geschuldet ist. Sie denkt in Bildern und Szenen, vergleicht reale Situationen mit Filmausschnitten („wie in Los Angeles District“) oder beschreibt Ereignisse als „Filmszene“. Die Beschreibungen des Toten, der wie ein „Maske“ wirkt, oder die Fähigkeit der KI, das „Gesicht der Schauspieler“ zu verändern, zeigen die tiefgreifende Verbindung zur visuellen Medienwelt. Auch „auditive Einflüsse“ sind von zentraler Bedeutung: Das Klingeln des Telefons, das Rauschen des Meeres, die Geräusche der Stadt, die Stimmen der Menschen und die Reflexion über die eigene Stimme durchziehen den Text. Die Fähigkeit der Gerichtsmedizinerin Rym, eine Autopsie „ohne Mimik“ zu erzählen, aber „solide an Sprache festhaltend“, unterstreicht die Macht der verbalen Beschreibung.
Schließlich spielt das Verhältnis von „Schrift und Wasser“ eine metaphorische Rolle, die eine „Gegenüberstellung von Stabilität und Verflüssigung“ darstellt. Während die schriftlichen Aufzeichnungen (Polizeiberichte, Kinoticket, Pässe) eine vermeintliche „Stabilität“ und Identifizierbarkeit versprechen, verkörpert das Wasser (Meer, Wellen, Regen, Gischt) die „Verflüssigung“ von Identität und Erinnerung. Doch das Vergangene ist eben kein „fossiler Stoff“, sondern „evolviert im Laufe der Zeit, geschmeidig, plastisch“. Die physische Präsenz ihrer Handynummer auf einem Ticket – eine scheinbar stabile, schriftliche Spur – wird zum Ausgangspunkt einer Reise, die die Flüssigkeit und Komplexität der menschlichen Erfahrung offenbart.
Das Fremde im Eigenen
Jour de ressac variiert die Motivik des Fremden im Eigenen und verknüpft dies mit Fragen der Autobiographie, Anonymität und Unheimlichkeit. Die Erzählerin positioniert sich als ein komplexes „Suchsubjekt“: Sie ist weder klassisches Opfer noch herkömmliche Ermittlerin, sondern agiert als eine Art „Medium“, das zwischen verschiedenen Realitäten und Zeitebenen vermittelt. Ihre Rolle als „Stimme“ für Dokumentarfilme und Hörbücher prädestiniert sie für diese Aufgabe, da sie gewohnt ist, „fremde Stimmen“ zu verkörpern und in andere „hineinzuschlüpfen“. Autobiographische Reibungspunkte sind im gesamten Text präsent. Le Havre ist der Ort ihrer Kindheit und ihrer „ersten Liebe“, und ihre Rückkehr dorthin ist somit eine Reise zu den Quellen ihrer eigenen Identität. Ihr Beruf als Synchronsprecherin ist untrennbar mit ihrer Identität verbunden und wird durch die Möglichkeit des Stimmklonens durch KI bedroht, was die Frage nach der Einzigartigkeit der menschlichen Stimme und somit der Identität aufwirft. Die Wahrnehmung durch andere – etwa ihre Mutter, die sie bei der Rückkehr aus Le Havre „verändert“ findet, oder Blaise, der ihre Neigung zu „Geschichten“ kennt – spielt eine Rolle in ihrer Selbstwahrnehmung. Ihre eigene Unsicherheit darüber, ob sie ihre Tochter Maïa bei der Geburt wiedererkannt hätte, oder die Schwierigkeit, geliebte Menschen allein anhand von Merkmalen eindeutig zu identifizieren, unterstreichen die Fluidität der Identität.
Das Motiv der Anonymität dient als urbanes Grundprinzip und prägt eine Schreibweise des Unbekannten. Der tote Mann am Strand ist ein „individu non identifié“, dessen Abwesenheit von persönlichen Spuren seine Isolation betont. Die Protagonistin reflektiert über die Tatsache, dass Erwachsene „häufig weglaufen“, „hungrig nach Einsamkeit“ und „absichtlich ihre Papiere vergessen, um zu vergessen, wer sie sind“. Dies steht im Gegensatz zur leichteren Identifizierbarkeit von Kindern und hebt die Anonymität und das potenzielle Verschwinden im urbanen Raum hervor. Auch die Identifizierung der Ertrunkenen aus dem Ärmelkanal ist „lang und schmerzhaft“, da die Körper oft unkenntlich sind.
Die Motivik des Verschwindens und Entgleitens durchzieht den Roman auf mehreren Ebenen. Craven selbst ist der erste, der durch „Ghosting“ verschwindet, sein unerklärliches Fernbleiben lässt die Protagonistin bis heute zweifeln, ob ihre gemeinsame Geschichte „real“ war oder sie sich „eine Geschichte erzählt“ hat. Diese Unsicherheit des Realen erstreckt sich auch auf die Bedeutungsebene, da die Protagonistin das Gefühl hat, dass ihr „etwas entgleitet“. Sprache selbst kann entgleiten; so verliert die Protagonistin beim Synchronsprechen den „Sinn dessen, was [sie] liest“, und die Künstliche Intelligenz kann die menschliche Stimme bis zur Ununterscheidbarkeit „simulieren“. Die Namen von zerstörten Orten in Le Havre und anderen Städten können ihre ursprüngliche Funktion verlieren und „dysfunktional“ werden, obwohl ihre „Remanenz“ im Raum verbleibt. Die Fleischmaske („Masque de chair“) ist die ultimative Form des Verschwindens, da es die Identität eines vertrauten Wesens durch eine unbekannte Hülle ersetzt. All diese Verschiebungen und Verluste tragen zur unheimlichen Atmosphäre des Romans bei, in der das Vertraute plötzlich fremd und das Eigene unsicher wird.
Berührungen und Resonanzen
Maylis de Kerangal entfaltet ihren Text in einer dichten, evokativen Prosa, die von poetischen Bildern und einem reichhaltigen Vokabular geprägt ist. Die Sprache ist von sensorischen Details durchdrungen: der „seltsame Gestank“ der Raffinerie, die „Brandung des Meeres“, die „noch stärker rauschte“, das „metallische Klirren von Fallleinen“ oder der „Geruch von Salpeter und Schimmel“. Metaphern und Vergleiche sind allgegenwärtig und verleihen der Erzählung Tiefe und emotionale Resonanz: die Welle als „Ohrfeige mitten ins Gesicht“, die Stadt als „toter Esel“, der Hafen als „Tor Europas für all ihren Dreck“.
Der Roman Jour de ressac ist durchdrungen von einer aufmerksamen Körperwahrnehmung und Leiblichkeit, die als primärer Erzählträger fungiert und sinnliche Erfahrung zur Erkenntnisform erhebt. Physische Empfindungen wie Kälte, die Welle, die Beschaffenheit der Haut und die Details der Kleidung dienen als Ankerpunkte für die Erinnerung und das Verständnis der Protagonistin. Ihr Körper reagiert unmittelbar auf die äußeren Impulse, und diese Reaktionen sind oft die ersten Zeichen einer tieferen, unbewussten Erkenntnis. Die „große Wellen-Szene“ auf der Digue Nord ist hierfür ein Epiphanie-Moment und ein fundamentaler Bruch. Die Protagonistin, während eines Sturms am Hafen, wird von einer riesigen Welle erfasst, die sie „gegen das Geländer schleudert“. Diese physische Konfrontation ist so intensiv, dass die Welle für sie zu einer „Person“ wird: „Sie war nicht nur eine Kraft, oder ein Rhythmus, ein elementares Bruchstück der natürlichen Welt, nicht nur eine lebendige Entität: eine Person, wirklich“. Diese anthropomorphe Erfahrung ist ein Wendepunkt, der die Grenzen zwischen Mensch und Natur, Subjekt und Objekt, verschwimmen lässt und eine neue, tiefere Form der „Beziehung“ („relation“) und des Verständnisses ermöglicht. Es ist ein „Sturz“, der nicht nur physisch, sondern auch erkenntnistheoretisch ist und die Protagonistin in die Tiefen ihrer eigenen Empfindungen und Erinnerungen stürzt.
Die Protagonistin reflektiert immer wieder über die Sinnlichkeit als Form der Erkenntnis. Der Geruch des Salzes und der zerfallenden Algen auf der Digue, die „schwarzen Nägel“ des Toten, die an die eines Mechanikers erinnern, oder die „drei Muttermale, die ein gleichschenkliges Dreieck im Ellbogen bilden“, als „Erkennungszeichen“ von Craven – all diese Details sind keine bloßen Beobachtungen. Sie sind „Hinweise“ („indices“), die die Protagonistin auf eine unbewusste Ebene der Erkenntnis führen, in der das Physische der Schlüssel zum Verstehen des Unsichtbaren und Unfassbaren wird. Der „Sturz“ in diese sinnliche Erfahrung ist der Weg, auf dem sich die Vergangenheit als lebendig erweist: „Das Vergangene war kein fossiler Stoff, es entwickelte sich in der Zeit, geschmeidig, plastisch, es entwickelte sich unendlich, es lud sich im Laufe des Lebens auf, das Vergangene blieb lebendig“.
In Jour de ressac wird Sinnlichkeit nicht als unmittelbare, lustvolle Präsenz inszeniert, sondern als gebrochene, reflektierte Erfahrung, die stets durch das Medium der Erinnerung, der Sprache und des Verlusts gefiltert ist. Der Text evoziert eine verkörperlichte Wahrnehmung – etwa in der Erfahrung der Welle („je me suis pris une énorme vague“) – doch diese Körperlichkeit ist nie rein, sondern wird von einem Bewusstsein der Vergänglichkeit und des Entzugs durchdrungen. Die Sinneseindrücke – Geräusche, Farben, Hautkontakte – erscheinen häufig wie Nachbilder: spürbar, aber nicht greifbar; real, aber zugleich vergangen. Dadurch reflektiert Jour de ressac eine Sinnlichkeit des Nachspürens, eine poetische Epiphanie der Spur, in der das sinnlich Erlebte nur in der Bewegung des Schreibens, im Rückprall des Erinnerns (ressac), aufscheint. Sinnlichkeit wird so zur Reflexionsfigur einer verlorenen Unmittelbarkeit, zum Ort, an dem Körper, Sprache und Erinnerung sich berühren, ohne zu verschmelzen.
Maylis de Kerangals Romane, insbesondere Jour de ressac und Canoës (Vergleiche meinen Artikel vom 25. Oktober 2021), bieten eine aufmerksame Erkundung der menschlichen Stimme. Während Jour de ressac die Stimme primär durch die Linse der professionellen Synchronsprecherin und Erzählerin betrachtet, weitet Canoës diese Untersuchung auf ihre breitere Natur, Materialität und ihre vielfältigen Kräfte aus, die Identität, Erinnerung und menschliche Verbindung prägen.
Canoës bietet eine breite, philosophische und existentielle Untersuchung der Stimme. Das Buch ist darauf ausgelegt, „die Natur der menschlichen Stimme, ihre Materialität, ihre Kräfte zu ergründen und eine Art Stimmwelt zu komponieren, erfüllt von Echos, Vibrationen und nachklingenden Spuren“. Die Erzählerin sucht dabei ihre eigene Stimme inmitten der vielfältigen Frauenstimmen, die das Werk bevölkern. Es geht um die Stimme als ursprüngliches Geräusch, das sich durch Rauschen und Störungen kämpft, um ihre Rolle bei der Anpassung an neue Umgebungen und Gemeinschaften, wodurch die persönliche Identität verschwimmt, und um ihre Funktion als dauerhafter Träger von Erinnerung und Trauer, der die Endgültigkeit des Todes herausfordert. Der Roman beleuchtet auch den Kampf, die eigene authentische Stimme zu finden oder zu bewahren, anstatt sie an äußere Anforderungen anzupassen, wie am Beispiel von Zoé gezeigt wird.
Je ne reconnais plus la voix de Sam. Dès nos retrouvailles à l’aéroport… j’ai perçu une variation, si légère cependant, si ténue que je ne m’y suis guère arrêtée… Mais les jours suivants, la modification impalpable du premier soir s’est précisée, elle est devenue un grain, infime certes mais qui me perturbe. À présent, quand Sam dans mon dos s’adresse à ceux d’ici, il m’arrive de me retourner pour m’assurer que c’est bien lui qui s’exprime, là, car sa voix converge progressivement vers les leurs, bascule peu à peu dans leur communauté, trouve à s’y enchevêtrer, à s’y fondre, comme s’il prenait place dans l’orchestre local ; elle adopte peu à peu leur tonalité, épouse leur rythme et leur puissance — Sam parle sensiblement plus fort et plus lentement qu’en France. Ce mimétisme vocal ne modifie pas seulement sa parole, il brouille toute sa personne.
Maylis de Kerangal, Canoës, Ed. Verticales, 2021.
Ich erkenne Sams Stimme nicht mehr. Seit wir uns am Flughafen wiedergetroffen haben, habe ich eine Veränderung wahrgenommen, die jedoch so geringfügig und kaum wahrnehmbar war, dass ich ihr keine weitere Beachtung schenkte. Aber in den folgenden Tagen wurde die unfassbare Veränderung des ersten Abends deutlicher, sie wurde zu einem kleinen, wenn auch winzigen, aber dennoch beunruhigenden Detail. Wenn Sam jetzt hinter meinem Rücken mit den Leuten hier spricht, drehe ich mich manchmal um, um mich zu vergewissern, dass er es wirklich ist, denn seine Stimme nähert sich allmählich der von ihnen, verschmilzt nach und nach mit ihrer Gemeinschaft, vermischt sich mit ihr, als würde er sich in das lokale Orchester einfügen; Sie nimmt nach und nach ihre Tonlage an, passt sich ihrem Rhythmus und ihrer Kraft an – Sam spricht deutlich lauter und langsamer als in Frankreich. Diese stimmliche Nachahmung verändert nicht nur seine Sprache, sondern seine gesamte Person.
Die Stimme als ein Instrument der Anpassung dient der Identität und beeinflusst sie tiefgreifend. Die Erzählerin bemerkt, wie Sams Stimme sich an die Umgebung und die Stimmen der Einheimischen anpasst, lauter und langsamer wird. Diese „stimmliche Mimikry“ ist nicht nur eine Veränderung der Aussprache, sondern verwischt die ganze Person („brouille toute sa personne“), was neue Gesichtsmuskeln, Haltungen und Gesten hervorbringt. Die Stimme wird als ein fließendes Element der Identität dargestellt, das sich unbewusst anpasst und die Wahrnehmung des gesamten Individuums verändert.
L’absence de Rose est-elle trop présente dans ma vie? Occupe-t-elle une place trop importante? Lise se demande parfois à voix haute si l’enveloppe spectrale de la voix de ma femme ne serait pas devenue une passion morbide, elle affirme que je suis sous l’emprise de son fantôme, évoque un déni de réel, a même fini par conclure l’autre jour que je cherchais à garder les morts en vie — et j’ai aimé cette expression, je reconnais qu’elle est juste. Pourtant, c’est elle qui continue de porter les espadrilles de sa mère… Bien que cela me bouleverse, je l’encourage: ces mouvements, ces actes qui continuent de tisser les liens entre les vivants et les morts, au-delà des cimetières… ces gestes concrets qui demandent de se hisser en secret à hauteur d’absence me semblent toujours plus affranchis, et surtout plus antalgiques, que la pénible abstraction du deuil.
Maylis de Kerangal, Canoës, Ed. Verticales, 2021.
Ist Roses Abwesenheit in meinem Leben zu präsent? Nimmt sie einen zu wichtigen Platz ein? Lise fragt sich manchmal laut, ob die gespenstische Hülle der Stimme meiner Frau nicht zu einer morbiden Leidenschaft geworden ist. Sie behauptet, ich stünde unter dem Einfluss ihres Geistes, spreche von Realitätsverleugnung und kam neulich sogar zu dem Schluss, dass ich versuche, die Toten am Leben zu erhalten – und dieser Ausdruck hat mir gefallen, ich muss zugeben, dass er zutreffend ist. Dabei ist sie es doch, die weiterhin die Turnschuhe ihrer Mutter trägt… Obwohl mich das sehr bewegt, ermutige ich sie: Diese Bewegungen, diese Handlungen, die weiterhin eine Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten herstellen, über Friedhöfe hinaus… Diese konkreten Gesten, die es erfordern, sich heimlich auf die Höhe der Abwesenheit zu erheben, erscheinen mir immer befreiender und vor allem schmerzlindernder als die schmerzhafte Abstraktion der Trauer.
Dieser Auszug thematisiert die Stimme als Gefäß der Erinnerung und Präsenz der Toten. Die aufgezeichnete Stimme der verstorbenen Rose wird zu einer spektralen Hülle („enveloppe spectrale“), die die Grenzen zwischen Leben und Tod verwischt, als „morbide Leidenschaft“ für die Lebende. Die Geschichte zeigt, wie die Stimme über den Tod hinaus bestehen bleiben und eine lebendige Verbindung herstellen kann, die den trauernden Angehörigen Trost spendet und die „schmerzhafte Abstraktion der Trauer“ überwindet, indem sie die Verstorbenen durch ihre Stimme „am Leben“ hält.
Die „Stimme“ in Jour de ressac ist ein zentrales Motiv der „Rückbindung“ an Erinnerung und Präsenz. Als Synchronsprecherin ist die Protagonistin beruflich auf die Stimme fixiert; sie muss „fremde Stimmen in Filmen nachsynchronisieren“ („doubler“). Ihre Arbeit besteht darin, ihre eigene Stimme zu verleihen und sie mit anderen Körpern und Identitäten zu verschmelzen, was zu einer ständigen Reflexion über Authentizität und die Flüchtigkeit des Selbst führt. Ihr Beruf wird zu einem zentralen Element ihrer eigenen Identität und ihres Erlebens der Welt. Doch ihre eigene Stimme gerät durch die Ereignisse aus dem Takt, und die Bedrohung durch künstliche Intelligenz, die Stimmen „synthetisiert“ und klont, symbolisiert den Verlust von Authentizität und die Flüchtigkeit der menschlichen Präsenz. Dennoch bleiben aufgezeichnete Stimmen, wie die von Jacqueline, ein greifbares Zeugnis der Vergangenheit. Die Erinnerung an die spezifische „Rauheit“ und „Geschwindigkeit“ von Carey Mulligans Stimme, die sie imitieren soll, verweist auf die tiefen Verknüpfungen von Klang und Identität.
[…] maintenant que j’y pense, c’est ce même jeu de dédoublement qui se produit quand je suis en postsynchro, dans une salle de projection, debout face à l’écran, équipée d’un micro ultrasensible, et que ma voix sort de la bouche d’une actrice étrangère, Susan Sarandon ou Liv Lisa Fries.
Maylis de Kerangal, Jour de ressac, Ed. Verticales, 2024.
[…] jetzt, wo ich darüber nachdenke, ist es dasselbe Spiel der Verdopplung, das sich abspielt, wenn ich in einem Tonstudio stehe, mit einem hochempfindlichen Mikrofon vor der Leinwand, und meine Stimme aus dem Mund einer fremden Schauspielerin kommt, Susan Sarandon oder Liv Lisa Fries.
Die Protagonistin erlebt, wie ihre eigene Stimme aus dem Mund einer fremden Schauspielerin kommt. Dies hebt die transformative Kraft der Stimme hervor, die über ihren physischen Ursprung hinausgeht und eine neue Identität annimmt, wodurch die Grenzen zwischen dem eigenen Selbst und dem „anderen“ verschwimmen. Es ist ein Akt der bewussten Verfremdung der eigenen Stimme.
J’aime revivre ce miracle, faire coïncider ma parole aux expressions d’un visage mais également aux gestes des mains, aux soulèvements imperceptibles du buste, jusqu’à toucher parfois le flux intérieur d’une personne – c’est ce que je vise dans le doublage, non pas l’accolement mécanique mais l’animation d’un être – et bientôt ce n’est plus moi qui double Carey mais elle qui me prête son apparence physique, elle dont j’endosse le masque et la légende, elle qui devient ma couverture.
Maylis de Kerangal, Jour de ressac, Ed. Verticales, 2024.
Ich liebe es, dieses Wunder immer wieder zu erleben, meine Worte mit den Gesichtsausdrücken, aber auch mit den Handgesten und den kaum wahrnehmbaren Bewegungen des Oberkörpers in Einklang zu bringen, bis ich manchmal den inneren Fluss einer Person spüre – das ist es, was ich in der Synchronisation anstrebe, nicht die mechanische Anlehnung, sondern die Belebung eines Menschen – und bald bin nicht mehr ich es, die Carey synchronisiert, sondern sie, die mir ihr Aussehen leiht, sie, deren Maske und Legende ich übernehme, sie, die zu meiner Hülle wird.
Die Protagonistin strebt danach, nicht nur Lippenbewegungen abzugleichen, sondern das innere Wesen einer Figur zu beleben („l’animation d’un être“), was sie als einen Wunderakt beschreibt. Die Stimme für sie ein mächtiges Werkzeug ist, das es ihr ermöglicht, sich so tief in eine andere Person einzufühlen, dass die Grenzen zwischen ihr und der von ihr gesprochenen Schauspielerin verschwimmen und die Schauspielerin ihrer Stimme sogar ihr physisches Aussehen zu leihen scheint. Es ist eine Form der Identifikation und des Eintauchens, bei der die Stimme zur „Maske“ oder „Hülle“ wird.
Mon corps, lui, s’est formé dans la lecture à voix haute. Cette pratique m’a fait les muscles, ceux qui actionnent le système respiratoire et font vibrer les cordes vocales, mais aussi ceux du ventre, du dos, des bras et des jambes, ceux du cou, elle a des conséquences sur l’élasticité de mes zygomatiques, sur le tonus de mon système oculomoteur, autrement dit elle ne cesse de modeler mon visage.
Maylis de Kerangal, Jour de ressac, Ed. Verticales, 2024.
Mein Körper hat sich durch Lesen mit lauter Stimme geformt. Diese Praxis hat meine Muskeln gestärkt, die, die das Atmungssystem steuern und die Stimmbänder zum Schwingen bringen, aber auch jene im Bauch, Rücken, Armen und Beinen sowie im Nacken. Sie wirkt sich auf die Elastizität meiner Jochbeinmuskeln und auf den Tonus meines okulomotorischen Systems aus, mit anderen Worten: Sie formt mein Gesicht kontinuierlich.
Hier wird die zunehmende physische und identitätsstiftende Rolle der Stimme im Leben der Protagonistin unterstrichen. Die Stimme ist nicht nur ein Ausdrucksmittel, sondern eine Kraft, die ihren Körper und ihre Identität aktiv formt. Beide Romane von Maylis de Kerangal untersuchen die Materialität und die transformative Kraft der Stimme. Sie zeigen, dass Stimmen nicht nur Klänge sind, sondern integrale Bestandteile der Identität, des Gedächtnisses und der zwischenmenschlichen Verbindung. In beiden Werken wird auch die Idee aufgegriffen, dass Stimmen sich verändern oder verloren gehen können – sei es durch das Versagen der Synchronstimme der Protagonistin in Jour de ressac, die Anpassung von Sams Stimme in Canoës oder die Erhaltung von Roses Stimme nach ihrem Tod.
In Jour de ressac manifestiert sich die Sorge vor der Generierung von Stimmen durch Künstliche Intelligenz (KI) als eine existenzielle Bedrohung für die Sprecherin und Synchronsprecherin. Diese Sorge geht weit über eine reine berufliche Sorge hinaus und berührt fundamentale Fragen der menschlichen Identität, Authentizität und der Verkörperung der Stimme. Die Protagonistin, die ihre Stimme für Dokumentationen, Hörbücher und Synchronisationen einsetzt, erlebt die direkte Konfrontation mit der KI-Technologie während eines Vorsprechens in London für die Serie „Lady Forger“. Ihre Leistung ist bereits angeschlagen, sie stolpert über Worte und verliert den Sinn des Gelesenen. Der Höhepunkt der Bedrohung wird erreicht, als der „vocal designer assistant“ ihr unmissverständlich mitteilt, dass die Zeit der menschlichen Synchronsprecher vorbei sei: „Synchronsprecher, das ist vorbei, vergiss das alles“ („les comédiens de doublage, c’est fini, faut oublier tout ça“). Synthetische Stimmen können die menschliche Sprache immer besser simulieren und die Stimmklonierung lässt jeden in jeder Sprache mit jedem Akzent sprechen („clonage vocal fait parler n’importe qui, dans n’importe quelle langue, avec n’importe quel accent“).
Ein zentrales Thema ist die Entkopplung der Stimme vom Körper. Die Protagonistin reflektiert, dass die Stimmen sich von den Körpern befreien („les voix… s’affranchissent des corps“). Ihre eigene Arbeit beschreibt sie als zutiefst körperlich: Ihr Körper hat sich durch das laute Lesen geformt, ihre Muskeln, ihr Atmungssystem und selbst ihr Gesicht sind davon betroffen. Sie strebt beim Synchronisieren nicht nur eine mechanische Lippensynchronität an, sondern die „animation d’un être“ (Belebung eines Wesens). Die Vorstellung, dass eine Stimme, die so eng mit ihrer physischen und emotionalen Existenz verbunden ist, einfach dupliziert und losgelöst werden kann, ist für sie zutiefst beunruhigend.
On va pas se mentir, vous n’êtes pas mauvaise, non, mais les voix de synthèse simulent de mieux en mieux la parole humaine, le clonage vocal fait parler n’importe qui, dans n’importe quelle langue, avec n’importe quel accent, je dis ça pour vous, on ressuscite aujourd’hui des voix légendaires qui peuvent encore rapporter beaucoup ; braquée, je lui réponds de manière absurde et sans à-propos que la profession ne va pas se laisser faire, que la voix est une donnée biométrique et qu’elle est protégée, mais je suis à côté de la plaque, je joue en défense, je sais que c’est plié et d’ailleurs – suis-je déjà devenue aphone ? – il ne m’écoute pas, n’en a rien à foutre, en roue libre à présent, ses pupilles dures dans sa face bien nourrie, avant de balancer tout à trac : au lieu de faire ouin-ouin, je vous conseille de vendre rapidement votre voix à une IA qui pourrait de ce fait en générer d’autres, plus complexes, plus intéressantes, vous vous fermez à l’avenir, vous êtes dans le déni, c’est tout votre problème, puis il évoque avec grande sincérité les comédiens qu’il adore, l’humain qu’il défendra toujours, mais la synthèse multilingue ça marche quand même bien. Je pourrais par exemple parler avec votre voix tout en conservant mes propres intonations, ou l’inverse. Manière d’encaisser je ricane, mes talons s’enfoncent dans la moquette bleu nuit, je gravis de nouveau les marches, mais enivré sans doute par ses propres paroles, il ajoute in extremis, comme s’il me jetait dans le dos une dernière poignée de terre, que pour le visage, ça marche aussi, faut pas se leurrer, l’intelligence artificielle joue de mieux en mieux avec la gueule des acteurs, elle peut vieillir un comédien sans user de prothèses, le rajeunir sans maquillage, le transformer en zombie, le faire passer d’un genre à l’autre, coller la tête de la vedette surbookée sur le corps d’un lambda disponible.
Maylis de Kerangal, Jour de ressac, Ed. Verticales, 2024.
Machen wir uns nichts vor, Sie sind nicht schlecht, nein, aber die synthetischen Stimmen imitieren die menschliche Sprache immer besser, durch Stimmklonen kann jeder in jeder Sprache und mit jedem Akzent sprechen, ich sage das nur zu Ihrer Information, heute werden legendäre Stimmen wieder zum Leben erweckt, die noch viel Geld einbringen können; Verwirrt antworte ich ihr absurd und unpassend, dass sich die Branche das nicht gefallen lassen werde, dass die Stimme ein biometrisches Merkmal sei und geschützt sei, aber ich bin völlig daneben, ich spiele defensiv, ich weiß, dass es gelaufen ist, und außerdem – bin ich schon stimmlos geworden? – Er hört mir nicht zu, es ist ihm egal, er ist jetzt völlig aus der Bahn, seine Pupillen starren aus seinem wohlgenährten Gesicht, bevor er unvermittelt sagt: Anstatt zu jammern, , rate ich Ihnen, Ihre Stimme schnell an eine KI zu verkaufen, die damit andere, komplexere, interessantere Stimmen generieren könnte. Sie verschließen sich der Zukunft, Sie leugnen die Realität, das ist Ihr Problem, dann spricht er mit großer Aufrichtigkeit über die Schauspieler, die er liebt, den Menschen, den er immer verteidigen wird, aber die mehrsprachige Synthese funktioniert trotzdem gut. Ich könnte zum Beispiel mit Ihrer Stimme sprechen und dabei meine eigene Intonation beibehalten oder umgekehrt. Um das zu verdauen, kichere ich, meine Absätze versinken im nachtblauen Teppich, ich steige wieder die Stufen hinauf, aber zweifellos berauscht von seinen eigenen Worten, fügt er in extremis hinzu, als würde er mir eine letzte Handvoll Erde in den Rücken werfen, dass es auch für das Gesicht funktioniert, man darf sich nichts vormachen, die künstliche Intelligenz immer besser mit den Gesichtern der Schauspieler spielt, sie einen Schauspieler ohne Prothesen altern lassen kann, ihn ohne Make-up verjüngen, ihn in einen Zombie verwandeln, ihn von einem Geschlecht in das andere verwandeln, den Kopf eines überbuchten Stars auf den Körper eines beliebigen Durchschnittsmenschen kleben kann.
Der Techniker steigert sich in einen Zynismus, der als Realismus maskiert wird: Sie solle lieber schnell ihre Stimme verkaufen, bevor sie wertlos werde. Die Grenze zwischen Mensch und Maschine, Original und Replik, beginnt zu verschwimmen – nicht nur stimmlich, sondern auch visuell: Die KI könne Gesichter manipulieren, Körper tauschen, Alter und Geschlecht verändern. Der Text inszeniert auf beklemmende Weise den Identitätsverlust im Zeitalter synthetischer Reproduzierbarkeit. Die Schauspielerin erlebt das Ende ihres Berufs als existenzielle Auslöschung – ihre Stimme, ihr Gesicht, ihr Können sind nicht mehr unverwechselbar, sondern simulierbar. Die Szene ist eine kritische Reflexion über die Entwertung menschlicher Kreativität durch technologischen Fortschritt, inszeniert als Moment radikaler Verunsicherung.
Trotz der erschreckenden Fähigkeiten der KI gibt es einen Hoffnungsschimmer, der von ihrer Tochter Maïa geäußert wird: „man hat es noch nicht geschafft, Gefühle zu klonen“ („on n’a pas encore réussi à cloner les sentiments“). Dies deutet darauf hin, dass die menschliche Stimme, obwohl technisch reproduzierbar, in ihrer Fähigkeit, tiefe Emotionen und einzigartige menschliche Präsenz zu vermitteln, (noch) unersetzlich bleibt. Die Autorin Maylis de Kerangal betont in Canoës ihr grundlegendes Interesse daran, „die Natur der menschlichen Stimme, ihre Materialität, ihre Kräfte zu ergründen“ und einen „Stimmwelt“ zu schaffen, die von Echos, Vibrationen und nachhallenden Spuren erfüllt ist. Die Sorge vor KI-Stimmen in Jour de ressac steht im direkten Zusammenhang mit dieser tiefen Untersuchung der menschlichen Stimme als einzigartigem Ausdruck des Seins. Die Sorge vor der Generierung von Stimmen durch KI in Jour de ressac spiegelt nicht nur die Angst vor dem beruflichen Niedergang der Protagonistin wider, sondern ist auch eine tiefere Reflexion über die Zerbrechlichkeit der menschlichen Identität in einer zunehmend digitalisierten Welt, in der Authentizität und die untrennbare Verbindung von Stimme und Körper infrage gestellt werden.
Das Motiv der „Maske“ in Jour de ressac bildet ein vergleichbares Element, das Fragen nach Identität, Authentizität, Erkennbarkeit des Selbst in einer sich wandelnden Welt aufwirft. Es manifestiert sich auf mehreren Ebenen, von der beruflichen Tätigkeit der Protagonistin bis zur existentiellen Unsicherheit angesichts des Todes und der technologischen Entwicklung. So wie die Tätigkeit der Synchronsprecherin bedeutet, sich Maske und Hintergrundgeschichte anderer Personen anzueignen („endosser le masque et la légende“), wie zum Beispiel Carey Mulligan, deren physisches Erscheinungsbild sie durch ihre Stimme belebt. Sie strebt dabei nicht nur eine mechanische Lippensynchronität an, sondern die „animation d’un être“ (Belebung eines Wesens), um den „inneren Fluss einer Person“ zu berühren. Nach einer missglückten Audition fühlt sie, dass sie Carey Mulligan „ihr Gesicht zurückgegeben“ hat, indem sie ihre eigene Stimme wiedererlangte.
Der Auszug oben weitet die Virtualisierbarkeit der Stimme auch auf das Antlitz aus: KI kann „einen Schauspieler ohne Prothesen altern lassen, ohne Make-up verjüngen, ihn in einen Zombie verwandeln, ihn von einem Geschlecht ins andere überführen, den Kopf des überbuchten Stars auf den Körper eines beliebigen Statisten kleben“. Die Maske ist nicht mehr nur eine künstlerische Hülle, sondern wird zu einer manipulierbaren, von der eigentlichen Person losgelösten Entität. Das Thema der Maske wird unmittelbar mit dem gefundenen Leichnam am Strand von Le Havre verbunden. Der Erzählerin fällt auf, dass der Körper ein „ein starrer Schleier auf den Schläfen und Augenlidern, eine transparente Membran, die dem Ganzen das Aussehen einer Maske verlieh“, sei.(„voile rigide sur les tempes et les paupières, une membrane transparente qui donnait à l’ensemble l’aspect d’un masque“). Der tote Mann hat kein „visage“ (Gesicht im Sinne von Person), sondern nur eine „face“ (Oberfläche). Die Erzählerin reflektiert, dass der erste Akt des Todes darin besteht, das menschliche Gesicht zu „zerstören“, es auf eine Masse von Muskeln, Nerven und Knochen („massif de muscles, de nerfs et d’os“) zu reduzieren und jede Möglichkeit der Identifizierung zu vernichten. Sie erinnert sich an die Schwierigkeiten, Opfer der Anschläge vom 13. November zu identifizieren, deren Gesichter durch Leid unkenntlich wurden. Dies zeigt, wie der Tod eine „Maske“ der Anonymität über die Individuen legt.
Die Erzählerin erinnert sich an ein „vaguement cruel“ (vage grausames) Kinderspiel namens „masque de chair“ (Fleischmaske). Die Faszination dieses Spiels liegt in der Idee, dass man das Gesicht wechseln kann, wie Kriminelle, die sich durch plastische Chirurgie eine „neue“ Identität verschaffen, um ihr Leben ohne Erkennung fortzusetzen. Dieses Spiel wird mit der Fernsehserie Les Envahisseurs verknüpft, in der Außerirdische menschliche Gestalt annehmen und nur durch einen steifen kleinen Finger verraten werden. Die Protagonistin erlebt panische Angst, wenn ihr Bruder das Spiel mit ihr spielt und sagt: „je ne suis pas ton frère“ (ich bin nicht dein Bruder). Diese Szene evoziert die Furcht vor „inconnus hostiles aient pu prendre l’apparence d’êtres familiers, que des clones dépourvus du moindre affect, des profanateurs d’identité, des taupes ennemies aient pu noyauter notre cellule aimante, que des sosies s’apprêtent à subvertir la quiétude de notre demeure sans qu’il soit jamais possible de les démasquer, de les identifier“ (feindliche Unbekannte das Aussehen vertrauter Wesen angenommen haben könnten, dass Klone ohne jegliche Emotionen, Identitätsschänder, feindliche Maulwürfe unsere liebende Zelle unterwandert haben könnten, dass Doppelgänger die Ruhe unseres Hauses untergraben, ohne dass es jemals möglich wäre, sie zu entlarven, sie zu identifizieren). Manchmal ist die Erzählerin selbst die „Fleischmaske“.
Direkt auf den toten Mann auf dem Deich bezogen, fragt sie sich, „ob der Mann vom Norddeich die Fleischmaske eines vertrauten Wesens ist“ („si l’homme de la digue Nord est le masque de chair d’un être familier“). Dies verknüpft die kindliche Angst vor Identitätsverlust direkt mit dem zentralen Rätsel der Erzählung. Das Thema der Maske wird auch durch die allgemeine Schwierigkeit der Identifizierung untermauert. Die Protagonistin selbst fühlt, dass ihre Identität in administrativen Formularen „abstrakt“ wird und von ihrer Person „entkoppelt“ ist. Sogar die Gesichter von geliebten Menschen wie ihrer Mutter oder Blaise können in der Erinnerung „entgleiten“ und sich in bloße „Fotos“ verwandeln, die sie in bestimmten Posen einfrieren. Der alte Lehrer Mr. Smith erkennt die Erzählerin nach Jahren wieder und erinnert sie an einen Vorfall des Schummelns in der Schule, wodurch ihre damalige Identität als „faussaire, menteuse“ (Fälscherin, Lügnerin) wieder zum Vorschein kommt – er sieht durch die Maske ihrer erwachsenen Persönlichkeit hindurch. Das Phantombild („portrait-robot“) des Toten, das sie zuerst nicht erkennt, dann aber doch wiederzuerkennen glaubt, verstärkt die Ambivalenz der Identität. Sogar die „faux papiers parfaitement exécutés des agents doubles“ (perfekt ausgeführte Falschpapiere von Doppelagenten) sind eine Form der Maske, die eine neue, aber falsche Identität schafft. Der Gebrauch des „Masken“-Motivs in Jour de ressac dient als Metapher für die Zerbrechlichkeit und Flüchtigkeit der menschlichen Identität in einer Welt, in der Technologien die Fähigkeit zur Manipulation von Erscheinungen perfektionieren und in der der Tod Gesichter in anonyme „Masken“ verwandelt. Die ständige Spannung zwischen dem authentischen Selbst und den Masken, die man trägt, sieht oder fürchtet, durchzieht den gesamten Text.
Der Tote als Zeichen
La jetée, au retour, ouvrait sur un paysage que saturait la bruine, un paysage qui s’étirait sur tout le front de mer, de la porte Océane au cap de la Hève, et portait vers l’extrémité ouest du littoral, jusqu’à cet endroit que l’on appelle à présent « le bout du monde ». Ainsi retournée, le vent dans le dos, et comme si la digue achevait de remplir son office, j’avais un autre point de vue sur ce qui m’arrivait, sur ce cadavre qui avait fait irruption dans ma vie : ce n’était pas un fait isolé, il prenait place dans un réseau de signes, il était un signe. C’est peut-être un fantôme, ai-je pensé, bien que je me tienne en général à distance de ce mot, me gardant de sa beauté nocturne, de son charme trouble, opaque, de sa séduction chromo – hou hou de pleine lune dans manoir anglais, ombres blafardes et vaporeuses, corbeau qui parle et bruits de chaînes –, mais plus le phare diminuait dans mon dos, flouté dans le brouillard, plus ce mot s’imposait, disait cette présence concrète et fuyante, et faisait voir ce mort qui était venu me livrer un message.
Le rivage s’est brusquement éclairé d’une lumière de vitrail dont chacun savait qu’elle ne durerait pas, la transparence verte et jaune des rayons sublimant la grisaille avant de fondre, le ciel d’autant plus noir qu’il venait de resplendir, et je me suis demandé si cette histoire, initiée la veille, alors que ma pizza me pesait encore sur l’estomac, n’avait pas pour dessein secret de me faire revenir au Havre, et à l’instant où je me formulais cette hypothèse, à cet instant exactement, comme si la réalité se synchronisait pile-poil à mes cogitations, je me suis pris une énorme vague.
Maylis de Kerangal, Jour de ressac, Ed. Verticales, 2024.
Der Pier öffnete sich auf dem Rückweg zu einer Landschaft, die vom Nieselregen durchtränkt war, einer Landschaft, die sich entlang der gesamten Küste von der Porte Océane bis zum Cap de la Hève erstreckte und bis zum westlichsten Punkt der Küste führte, bis zu dem Ort, der heute „das Ende der Welt” genannt wird. Als ich mich umdrehte, den Wind im Rücken, und als hätte der Deich seine Aufgabe erfüllt, hatte ich einen anderen Blick auf das, was mir widerfahren war, auf diese Leiche, die in mein Leben getreten war: Es war kein Einzelfall, sondern Teil eines Netzwerks von Zeichen, es war selbst ein Zeichen. Vielleicht ist es ein Geist, dachte ich, obwohl ich mich normalerweise von diesem Wort fernhalte, mich vor seiner nächtlichen Schönheit, seinem trüben, undurchsichtigen Charme, seiner chromolithografischen Verführungskraft hüte – Vollmondspuk in einem englischen Herrenhaus, blasse, nebelhafte Schatten, sprechende Raben und Kettengeräusche –, aber je mehr der Leuchtturm hinter mir verschwand, verschwommen im Nebel, desto mehr drängte sich dieses Wort auf, bezeichnete diese konkrete und flüchtige Präsenz und ließ den Toten erkennen, der mir eine Botschaft überbringen wollte.
Die Küste wurde plötzlich von einem Licht erhellt, das jeder als nicht von Dauer erkannte, die grüne und gelbe Transparenz der Strahlen ließ das Grau erstrahlen, bevor sie wieder verschwanden, der Himmel war umso schwärzer, als er gerade noch geleuchtet hatte, und ich fragte mich, ob diese Geschichte, die am Vortag begonnen hatte, als mir meine Pizza noch schwer im Magen lag, nicht insgeheim darauf abzielte, mich nach Le Havre zurückzubringen, und in dem Moment, als ich diese Vermutung äußerte, genau in diesem Moment, als hätte sich die Realität genau auf meine Gedanken abgestimmt, wurde ich von einer riesigen Welle erfasst.
Die Welle wird als ein synchronisierendes Ereignis dargestellt, das die innere Gedankenwelt der Erzählerin mit der äußeren Realität des Hafens verbindet. Die Ankunft der Welle erscheint nicht zufällig, sondern als eine Art Resonanz auf ihre Überlegungen, was dem Roman den Titel Jour de ressac gibt und das Thema der Synchronisation in den Vordergrund rückt. Der unbekannte Tote am Strand von Le Havre ist Objekt einer polizeilichen Untersuchung, er avanciert aber zugleich zu einem zentralen Zeichen („signe“), das als Katalysator für die Sinnbildung in der Protagonistin wirkt. Obwohl das Geschehen ja anfangs Elemente eines Detektivromans aufweist – der Anruf des Polizisten, die Besichtigung des Leichnams, die Suche nach Identifizierung –, kehrt der Roman diese poetologische Form um. Die Protagonistin wird nicht zu einer Ermittlerin im klassischen Sinne, sondern zu einem Medium, das die Spuren des Toten als Projektionsfläche für ihre eigenen Fragen nach Identität, Verlust und Erinnerung nutzt.
Die polizeilichen Ermittlungen können ihn keiner Vermisstenanzeige zuordnen oder in der Datenbank der gesuchten Personen finden. Obwohl seine Fingerabdrücke existieren, ist es schwierig, sie mit einer bekannten Identität abzugleichen, wenn keine anderen Daten vorliegen. Zambra, der Lieutenant, ist frustriert über die „Failles“ im Datenmanagement, die es unmöglich machen, verschwundene Personen systematisch mit unbekannten Leichen abzugleichen. Die Semiotik des Verschwindens ist im Roman omnipräsent. Die Körperstatur de Toten wird als „corpulence lambda“ beschrieben, was bedeutet, dass er „jeder sein könnte“. Seine Kleidung – Levi’s Jeans, I ♥ NY-T-Shirt, Nike-Trainingsjacke, schwarzer Parka – sind „Massenprodukte“, die millionenfach hergestellt und auf der ganzen Welt vertrieben werden. Dies macht ihn zu einer austauschbaren Figur, die in der Masse verschwindet. Die Erzählerin stellt fest, der Körper trage „starre Haut an den Schläfen und Augenlidern, eine durchsichtige Membran, die dem Ganzen das Aussehen einer Maske verlieh“ („voile rigide sur les tempes et les paupières, une membrane transparente qui donnait à l’ensemble l’aspect d’un masque“). Sie betont, dass der Tote kein „visage“ (Gesicht als Ausdruck der Persönlichkeit) hat, sondern nur eine „face“ (eine Oberfläche), was die Zerstörung des individuellen Ausdrucks im Tod hervorhebt. Der Tod „zerstört“ das menschliche Gesicht, reduziert es auf „ein massives Gebilde aus Muskeln, Nerven und Knochen“ und vernichtet jede Möglichkeit der Identifikation.
Trotz der Fotos erkennt die Erzählerin den Mann nicht. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass Gesichter geliebter Menschen in der Erinnerung „entgleiten“ können und zu bloßen „Fotos“ werden, die sie in bestimmten Posen einfrieren. Die Fotos des Toten verschmelzen in ihrer Erinnerung mit den Bildern von Craven, ihrer ersten Liebe. Die Frage, ob der Tote Craven ist, wird zu einer Reflexion über das Verblassen von Erinnerungen und die Schwierigkeit, ein Gesicht über die Jahre hinweg wiederzuerkennen. Sie fragt sich, wie man jemanden erkennt, dessen Gesicht sich „verändert, gealtert, unkenntlich geworden ist“. Dies ist besonders schmerzhaft, da Cravens Gesicht in ihrer Erinnerung schon verschwommen ist.
Sie blockiert bei der Identifikation, möglicherweise aus Angst, dass der Tote ihr „etwas sagen“ könnte oder dass er ein „bestimmter Toter“ für sie ist, nicht nur einer von Tausenden anonymen Körpern, die Tragödien miteinander verschmelzen lassen. Sie denkt an die Schwierigkeiten, Opfer der Attentate vom 13. November zu identifizieren, deren Gesichter durch das Leid unkenntlich wurden. Auch die schwarz-weiß Fotos erschwerten die Wahrnehmung seines Hauttons und seiner Herkunft. Der Tote ist eine „Leerstelle“, ein „nicht identifiziertes Individuum“, dessen Abwesenheit von persönlichen Merkmalen die Suche umso drängender macht. Einzig die gefundene Handynummer der Protagonistin auf einem Kinoticket dient als konkreter „Index“ oder als „Spur“, die eine unerklärliche Verbindung herstellt und die Protagonistin direkt betrifft. Dieses einzelne Zeichen löst eine Kaskade von Reflexionen aus und lässt die polizeiliche Ermittlung in den Hintergrund treten zugunsten einer „eher melancholischen und inneren Untersuchung“. Obwohl die Polizei ermittelt, fühlt sich die Erzählerin gezwungen, ihre eigene Untersuchung („enquête“) zu beginnen. Sie sammelt „Beweise“ und „Indizien“ am Strand. Die Frage nach dem Toten wird zu einem „Phänomen“, das sie „betrifft“. Sie betrachtet sich selbst als den „Geheimagenten ihrer eigenen Existenz“.
Das Motiv des Gespenstes („fantôme“) ist eine wiederkehrende Figur, die zwischen Realität und Fiktion, Subjekt und Allegorie schwebt. Die Protagonistin selbst denkt: „C’est peut-être un fantôme“. Zwar hält sie sich „in der Regel von diesem Wort fern“ und meidet dessen „nächtliche Schönheit“ und seinen „rätselhaften, undurchsichtigen Charme“, doch je tiefer sie in die Vergangenheit eintaucht, desto mehr drängt sich das Wort auf. Die Unsicherheit, ob der Tote Craven ist oder die „Fleischmaske“ („masque de chair“) eines anderen, verstärkt die unheimliche Dimension. Die Grenzen zwischen dem, was wirklich geschehen ist, und dem, was in der Erinnerung konstruiert oder sogar „erfunden“ wurde (insbesondere ihre Beziehung zu Craven), verschwimmen zunehmend. Die Identifizierung des Toten wird zu einer Identifikation mit einer Leerstelle, die ihrerseits eine „schlafende Zelle“ („cellule dormante“) in der Protagonistin aktivieren könnte.
Die gespenstische Atmosphäre eines latent Unheimlichen bleibt in der Erinnerung, in Schuld und Verlust gegenwärtig, ohne sich je vollständig fassen oder bewältigen zu lassen. Wie die Welle, die die Erzählerin erwischt, ist diese unheimliche Wiederkehr plötzlich, körperlich spürbar, aber nicht zu bannen – wie ein Echo aus einer anderen Zeit. Die Vergangenheit erscheint nicht linear, sondern als gebrochene Wiederholung (ressac), als referlement, das eher eine „Rückkehr ohne Rückhalt“ ist, ein sich wieder Schließen um eine Leerstelle. Die toten Figuren, die versunkenen Kindheitsszenen, die eingeschriebenen Schuldgefühle – sie leben in den Sprachwellen fort, die den Text durchziehen und das Subjekt heimsuchen. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Tod und der Anonymität schärft ihre Sinne. Sie nimmt Gerüche wahr, Details in der Landschaft und in den Stimmen. Der Tote wird zu einem „Geist“, der eine „Nachricht“ zu überbringen scheint. Er dient als leere Maske und ungedeutetes Zeichen, um die Erzählerin in eine tiefgehende Reflexion über die Natur der Identität, der Erinnerung und der menschlichen Verbundenheit zu stürzen. Seine Anonymität ist der Ausgangspunkt für eine Erkundung des Verborgenen, des Ungewissen und der tiefen Spuren, die Ereignisse und Beziehungen im Leben hinterlassen, auch wenn sie im Laufe der Zeit zu verschwimmen scheinen.
Der unbekannte Tote bleibt nicht der einzige im Buch: Rym, die Rechtsmedizinerin, beschreibt eine Obduktion, die sie an einem 27-jährigen Mann durchführte, der sich mit einem Gewehr in den Mund geschossen hatte. Der Schuss hatte seinen Kopf komplett zerstört, was die Leiche „nicht präsentabel“ machte. Rym betont, dass ein „gesichtsloser Körper“ die Obduktion für sie „erschwerte“. Dieser Fall kontrastiert die subjektive und emotionale Suche der Erzählerin mit der objektiven, wissenschaftlichen Arbeit der Rechtsmedizin und zeigt, dass auch hier Gesichter „verschwinden“ können.
In Jour de ressac werden neben dem unbekannten Toten am Strand und dem aus der Rechtsmedizin noch weitere Leichen oder Todesfälle erwähnt, die jeweils verschiedene Aspekte von Identität, Gedächtnis und Verlust beleuchten. Jacqueline, die Zeitzeugin der Bombardierungen von Le Havre im Jahr 1944, erzählt, dass ihr Freund, der im Zivilschutz tätig war, wahrscheinlich bei einer Explosion ums Leben kam und nie gefunden oder beerdigt wurde. Seine Familie wusste nicht einmal von ihrer Existenz. Dieser Fall steht für die Anonymität und den Verlust in Kriegszeiten, insbesondere das Schicksal von Verschwundenen, deren Tod nicht offiziell registriert oder deren Beziehung nicht anerkannt wird. Es zeigt, wie individuelle Leben und Schicksale in der kollektiven Katastrophe untergehen können. Das Buch beschreibt detailliert die massive Zerstörung und den Tod von Hunderten von Menschen in Le Havre während der Bombardierungen durch die Alliierten im September 1944. Die Stadt wurde zu einer „Kruste aus Trümmern“, die menschliche Überreste enthielt. Die Erzählerin und ihre Freundin Vanessa versuchten später, die Opfer zu zählen, stießen aber auf Schwierigkeiten bei der Kategorisierung von „Vermissten“ und „später Verstorbenen“ (z.B. durch Trauma oder Selbstmord). Kolonialarbeiter, die fern ihrer Heimat starben, wurden nicht gezählt, da niemand nach ihnen suchte. Dies ist ein zentrales Thema des Buches: Massentod, kollektives Trauma und die Unmöglichkeit, in extremen Katastrophen alle Individuen zu erfassen und zu identifizieren. Die Stadt selbst wird zur Verkörperung der Toten, und die Schwierigkeit der Identifizierung wird auf eine historische, städtische Ebene gehoben, was Le Havre als „geisterhafte Stadt“ erscheinen lässt.
Die Erzählerin erinnert sich an Presseberichte, wonach Angehörige der Opfer der Anschläge vom 13. November Schwierigkeiten hatten, ihre Liebsten im gerichtsmedizinischen Institut zu erkennen, und sie manchmal sogar mit Fremden verwechselten. Sie reflektiert, dass der Tod das menschliche Gesicht so verändern kann, dass es unkenntlich wird und jede Möglichkeit der Identifizierung zunichtemacht. Dies betont die traumatische und entstellende Natur gewaltsamer Todesfälle, die das Wiedererkennen erschwert und die psychologische Belastung der Hinterbliebenen hervorhebt. Die Erzählerin erinnert sich an eine Freundin, Clara, die ihr von einem Dokumentarfilm über Pier Paolo Pasolini erzählt, der ebenfalls an einem Novembermorgen 1975 tot an einem Strand (Ostia) gefunden (aber sofort identifiziert) wurde. Sie denkt zudem an den weltbekannten Architekten Louis Kahn, dessen Leiche 1974 in den Katakomben der Penn Station in New York gefunden wurde, erst nach drei Tagen konnte er identifiziert werden, da die Adresse auf seinem Pass unleserlich gemacht worden war.
Die Erzählerin liest einen Zeitungsartikel über einen Schiffbruch im Ärmelkanal im November 2021, bei dem 27 Menschen ums Leben kamen. Die Identifizierung der ertrunkenen Leichen (Afghanen, Iraker, Kurden, Ägypter, Iraner) war langwierig und schwierig, da Ante-mortem– und Post-mortem-Daten abgeglichen werden mussten. Ein 18-jähriger Mann wurde nie gefunden. Dies lenkt den Blick auf die Tragödie von Migranten auf See und die damit verbundenen, oft anonymen Todesfälle. Es zeigt die bürokratischen und zwischenmenschlichen Herausforderungen bei der Identifizierung von Menschen ohne feste soziale Verankerung und beleuchtet eine wiederkehrende, zeitgenössische Form des Todes, die oft unbeachtet bleibt. Die zahlreichen Erwähnungen von Toten und Todesfällen vertiefen das zentrale Thema des Buches: die Suche nach Identität und Bedeutung im Angesicht des Todes, die sich nicht nur auf den konkreten Fall des Mannes von der Digue Nord beschränkt, sondern sich über persönliche Beziehungen, historische Ereignisse und aktuelle globale Tragödien erstreckt. Es geht darum, wie Menschen mit Verlust umgehen, wie Erinnerung und Geschichte die Wahrnehmung des Todes prägen und wie schwer es sein kann, einen „unbekannten“ Toten in einen „bekannten“ zu verwandeln. Die Erzählerin selbst wird durch diese Begegnungen gezwungen, ihre eigene Beziehung zum Leben und zur Stadt Le Havre neu zu bewerten.
Maylis de Kerangal behandelt in ihren Romanen und Werken wiederholt das Thema der nicht identifizierten oder schwer identifizierbaren Leichen, oft im Kontext von Gewalt, Tragödie und dem Verschwindenlassen von Menschen. Das Meer selbst wird als Ort beschrieben, der von Wracks bewohnt, von Leichen bevölkert und von Geistern heimgesucht wird, eine allgemeinere Aussage über die vielen Menschen, die auf See ihr Leben verlieren und deren Körper oft nicht geborgen werden („Elle aussi est habitée d’épaves, peuplée de cadavres, hantée de fantômes.“ À ce stade de la nuit). In Un monde à portée de main finden sich in einer Reihung von chaotischen und gewaltsamen Bildern von Paula auch „rivages semés de cadavres“ (mit Leichen übersäte Ufer). Obwohl dies metaphorisch oder verallgemeinernd ist, verweist es direkt auf die Existenz nicht identifizierter Leichen an Küsten. Auch in anderen Werken von Kerangal tauchen unidentifizierte Leichen auf, etwa ca. 350 Todesopfer nach einem Schiffbruch vor Lampedusa in À ce stade de la nuit (éditions Guérin, 2014): Es gibt keine Dokumente, die die Namen und Identitäten vieler der an Bord befindlichen Passagiere belegen.
In Corniche Kennedy entdeckt ein Kommissar den nackten und gefolterten Körper einer Unbekannten, den niemand beansprucht hat („corps nu et torturé d’une inconnue que personne ne réclama jamais“). Es werden zwar körperliche Merkmale wie kaukasische Herkunft, Alter (neunzehn, zwanzig Jahre), blonde Haare, grüne Augen, Größe und Gewicht detailliert beschrieben, aber ihre Identität bleibt unbekannt und niemand sucht nach ihr. Dieses Ereignis verfolgt Kommissar Opéra über Jahre hinweg. Ein alter Mann wird hier ebenfalls nackt in der Brandung angespült, Hände und Füße sind abgeschnitten („vieil homme nu échoué dans le ressac, mains et pieds coupés“). Die Verstümmelung des Körpers erschwert eine Identifizierung und lässt auf eine gewaltsame Tat schließen, mit der Absicht, die Identität zu verschleiern. Es wird zudem von zufällig weggeforfenen Leichen gesprochen: Leichen, die einfach so von zwei kräftigen Schultern über das Geländer geworfen wurden, leblose Körper, die zwischen den Steinblöcken zerstückelt wurden („macchabées déversés là n’importe comment depuis deux paires d’épaules costaudes penchées au-dessus du parapet, corps inertes démantibulés entre les blocs de pierre“).
In Naissance d’un pont werden die 52 auf der Baustelle verstorbenen Arbeiter („52 ouvriers morts sur le chantier“), deren Namen zwar auf einer Gedenktafel verzeichnet sind, deren Körper aber im Damm lebendig eingemauert („emmuré vivant“) wurden, ein Mahnmal, ihre physische Existenz ist für immer verloren und untrennbar mit der Struktur verbunden, was einer Art dauerhaften Nicht-Identifizierung des Körpers gleichkommt, obwohl ihre Namen bekannt sind. Eine Mutter versucht, ihren Sohn im Beton des Dammes zu spüren. Die Analogie zu den in der Lava erstarrten Körpern in Pompeji verstärkt die Vorstellung von dauerhaft verlorenen oder unidentifizierbaren Körpern. Im Kontext der Gewalt zwischen Holzfällern und indigenen Völkern werden verstümmelte Leichen, an denen bronzäugige Luchse nagen („cadavres mutilés où viennent mordre des lynx aux yeux de bronze“), erwähnt, die am Waldrand entlang des Flusses an Pfählen befestigt erscheinen. Die Verstümmelung macht eine Identifizierung schwierig oder unmöglich für Außenstehende. Eine siebenjähriges indisches Mädchen, vergewaltigt und erdrosselt, wird im Fluss treibend gefunden, der Körper angeschwollen wie ein Weinschlauch („fillette indienne de sept ans violée et étranglée fut retrouvée flottant sur le fleuve, le corps gonflé comme une outre“). Obwohl Alter und Herkunft angegeben sind, impliziert die Formulierung „fut retrouvée“, dass ihre Identität zum Zeitpunkt des Auffindens nicht unmittelbar bekannt war und sie als anonymes Opfer einer Gräueltat erscheint.
In Seyvoz wird ein Toter aus dem Berg wieder ausgewürgt/ausgespuckt („régurgitée de la montagne“). Die Stelle beschreibt eine Erfahrung der Figur Tomi, die sich vom Körper löst und sich selbst aus der Vogelperspektive sieht, wie ein „verschwundener Alpinist“, der durch die Schneeschmelze wieder zum Vorschein kommt. Wie das Meer, so ist auch der Berg unberechenbare Natur, die das, was sie zuvor „verschlungen“ hatte, nun wieder „freigibt“. In Canoës wird von Olive Formoses Verlobtem, der bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben kam, berichtet, er habe kein Grab, denn es wurde nichts gefunden, was ihn identifizieren könnte, keine Überreste, nicht einmal eine Medaille, nicht einmal ein Zahn („il n’a pas eu de sépulture, on n’a rien retrouvé qui puisse l’identifier, aucun reste, pas même une médaille, pas même une dent“). Massengräber und vergessene Seen finden sich auch in Canoës: Die Erwähnung von Mohnblumen, die auf „charniers“ (Beinhäusern/Massengräbern) und „autour des tombes“ (um Gräber herum) wachsen, deutet auf Massengräber in diesem Bereich hin hin, bei dem die individuelle Identität verloren gehen kann. Die Abneigung der Erzählerin gegen Seen, die sie als „Fosse ennoyée“ (ertrunkene Grube) oder „porte des Enfers“ (Tor zur Unterwelt) bezeichnet, und ihre Assoziation von „lac“ mit „mort“ (See mit Tod) in einem Persönlichkeitstest, verstärkt die Vorstellung von im Wasser verlorenen und somit unidentifizierten Leichen.
Nicht nur im Roman Jour de ressac also sind die unidentifizierten Toten bedeutsam. Am Strand von Le Havre wird die Entdeckung einer nicht identifizierten männlichen Leiche zu einem zentralen Motiv, das ein verstörendes Echo der Vergangenheit hervorruft. Diese anonymen Toten am Ufer sind nicht nur Zeugen des aktuellen Drogenhandels in der Stadt, sondern lassen auch die Geister der über 2.000 Opfer der alliierten Bombardierungen von 1944 wiederauferstehen. Die Autorin betont, dass Le Havre buchstäblich auf den Trümmern und Überresten dieser Zerstörung wiederaufgebaut wurde, wobei die Schuttmassen, die einst das Niveau der Stadt um fast einen Meter anhoben, sogar menschliche Knochen, Zähne und Knorpel enthalten könnten. Somit wird der Strand zu einem symbolischen „Friedhof“, auf dem die Gegenwart unweigerlich mit einer traumatischen Vergangenheit verknüpft ist. Der unbekannte Tote ist so ein historisches Echo, als Gesandter aus der Tiefe der Zeit, der an die unsichtbaren, aber persistenten Spuren der Geschichte erinnert, die im Fundament der wiederaufgebauten Stadt selbst liegen.
Le Havre als Erinnerungslandschaft
Im Text „Chasseur-cueilleur. Une expérience du tâtonnement“ (2014) aus Un archipel legt Kerangal ihren Ansatz dar, Orte als „Material“ für ihre Fiktionen zu nutzen. Sie betrachtet Orte nicht als bloße „Kulissen“, sondern als „Behälter“, „Vorkommen“ und „Potenziale“, die ihren Romanen Form, Farbe, Geschwindigkeit und Temperatur verleihen. Ein zentrales Motiv sind die „Namen“ – Toponyme (Ortsnamen), Anthroponyme (Personennamen), Zoonyme (Tiernamen) –, die wie „Kieselsteine“ in ihren Sätzen wirken, diesen widerstehen und gleichzeitig eine tiefe, akkumulierte Erinnerung und Informationen in sich tragen. Beispiele hierfür sind „Coca“ (aus Naissance d’un pont) oder die Namen von Charakteren in Réparer les vivants. Kerangal konzipiert ihre Romane nach dem Vorbild der „Songlines“ der Aborigines. Diese gesungenen Wege sind sowohl topografische Beschreibungen als auch mythische Erzählungen, die Identität durch Bewegung und Erfahrung definieren, nicht durch Besitz. Dies findet sich auch in À ce stade de la nuit wieder, wo sie diese „Songlines“ als gesungene Wege zur Erkundung von Identität und Welt durch Bewegung erwähnt. Der Essay „Chasseur-cueilleur“ unterstreicht die Materialität der Sprache und die Bedeutung der sensorischen Erfahrung (Synästhesie) in ihrem Schreiben; es geht nicht darum, ein „Thema zu behandeln“, sondern dessen „Materialität zu manifestieren“. Das Schreiben wird als eine „Archäologie“ beschrieben, ein methodisches „Tasten“, um die innere Ökonomie und die unterirdischen Netzwerke eines Raumes zu enthüllen und dessen dritte Dimension zu suchen.
Die Protagonistin führt als Kind ein Schulprojekt über die Bombardierungen Le Havres von 1944 durch und interviewt eine Zeitzeugin namens Jacqueline. Jacquelines erschütternder Bericht über das Verstecken im Keller und das Wiederauftauchen in einer zerstörten Stadt, in der „nichts mehr da ist“, ist für die Protagonistin ein tief prägendes Erlebnis. Ihre spätere Wiederkehr nach Le Havre und die Suche nach der Identität des Toten sind untrennbar mit dieser traumatischen Geschichte der Stadt verbunden. Der Roman zieht explizit Vergleiche zwischen den Ruinen von Le Havre und anderen bombardierten Städten wie Hamburg, Dresden, Grosny, Beirut und Gaza.
Die Stadt Le Havre erlebte im September 1944 eine verheerende Zerstörung durch alliierte Bombardierungen. Am 5. September 1944 war Le Havre eine strategische Enklave mit rund sechzigtausend Zivilisten und elftausend deutschen Soldaten, die sich weigerten, sich zu ergeben. Gerüchte über das Vordringen der Alliierten kursierten, aber zunächst passierte nichts außer einem Mangel an Wasser und geschlossenen Geschäften. Dann erschienen rote Lichter am Himmel, die das Gebiet markierten, gefolgt von Hunderten von „kleinen schwarzen Kreuzen“, die sich als Flugzeuge herausstellten. Die Royal Air Force setzte 348 Flugzeuge, darunter Lancaster-Bomber und Mosquito-Jäger, ein, die zweitausend Tonnen Sprengbomben und dreißigtausend Brandbomben über dem Südwesten der Stadt abwarfen – eine Strategie, die als „Flächenbombardierung“ oder „Auslöschungsbombardierung“ bezeichnet wurde. Am 6. September wurden die Bombardierungen fortgesetzt, wobei die Stadtteile der Unterstadt in einem Flammenmeer gefangen waren, dessen Temperaturen Stahl schmelzen konnten. Die Gewalt dieser Angriffe, die bis zum 11. September andauerten, verschonte nichts und niemanden; der Tod war allgegenwärtig, „formlos und dämonisch“. Hunderte von Einwohnern Le Havres suchten im Jenner-Tunnel Schutz, wo 319 Menschen erstickten, als ein im Bau befindlicher Gang durch eine Bombe blockiert wurde. Hafen und Unterstadt wurden vollständig zerstört, doch die Besatzer kapitulierten nicht, was die Luftangriffe als sinnlos erscheinen ließ.
Nach diesen verheerenden Bombardierungen war Le Havre eine „formleere Sache“ und eine „Schutzkruste“. Die zerstörten Gebäude verwandelten sich in eine neue Substanz: eine kompakte Masse aus Dächern, Türen, Treppen, Wänden mit leeren Fenstern, vermischt mit Hausrat und sogar menschlichen Überresten. Dieser verdichtete Schutt erhöhte das Bodenniveau der Stadt um fast einen Meter, und noch einen Monat nach den Bombardierungen waren die Trümmer heiß. Die Erzählerin entdeckt, dass dieser Schutt aus der Bombardierung von 1944, der am Ufer aufgeschüttet und mineralisiert wurde, eine neue Sedimentationsschicht bildete. Dies bedeutet, dass die Menschen heute buchstäblich auf den „Ruinen der Ruinen der Stadt“ sitzen, einer doppelten Zersetzung, die möglicherweise noch Knochen, Zähne und Knorpel enthält. Die moderne Architektur nach dem Krieg wird als Füllung einer „großen Leere“ und als „materielle Spur des Verschwundenen“ beschrieben. Die Stadt widerstand trotz aller Wiederaufbauversuche und Modernisierungen ihrem eigenen Städtebau und existierte weiterhin „unter den Wolken und im Wind“. Die Vergangenheit blieb im Betongefüge des Perret-Viertels, wo die Erzählerin aufwuchs, größtenteils unsichtbar, doch die wenigen verbliebenen Merkmale der „Stadt von früher“ stimulierten ihren Forschungsdrang.
Die Stadt Le Havre erscheint als Brandungszone zwischen Vergangenheit und Gegenwart, eine Schwelle, an der Erinnerung auf Realität trifft. Im Interview mit Le Monde des livres bezeichnet Kerangal Le Havre im Roman als „paysage intérieur“, die Stadt solle nicht dokumentarisch beschrieben werden, sondern im Leser erstehen. Jedes der Bücher, die sie in den letzten vierundzwanzig Jahren veröffentlicht hat, verweist auf die normannische Stadt, bemerkte Kerangal. Die Ruinen der im Krieg zerstörten Stadt hallen unter der dünnen Schicht der Gegenwart nach – Le Havre erscheint so als „ville hantée“. Die Stadt wird zur Projektionsfläche für die Frage, was in uns weiterlebt von dem, was verschwunden ist.
Le Havre ist in Jour de ressac nicht nur zentraler Schauplatz; es ist semiotisch aufgeladene Oberfläche, in die sich die Vergangenheit und Gegenwart der Protagonistin einschreiben. Die Stadt wird als palimpsestische Landschaft beschrieben, in der sich Schichten der Zerstörung, des Wiederaufbaus und der persönlichen Geschichte überlagern. Denn die Transformationen der Stadt sind offensichtlich: Ein Universitätscampus, Hotels, umfunktionierte Docks und ein Yachthafen prägen das neue Bild. Die Protagonistin betont, dass die „Stadt, deren Kind ich bin“, diesen „Manipulationen“ gleichgültig gegenübersteht und „anderswo lebt, unter den Wolken und im Wind“. Diese „Persistenz“ des Alten, Unsichtbaren unter der modernisierten Oberfläche bildet den Kern ihrer Kindheitsrekonstruktionen. Sie sucht nach den „Daten, die in meiner Speicherkarte gespeichert sind, den vergrabenen Linien und den alten Einblicken, den sehr alten Bezugspunkten“. Diese tiefe Verwurzelung in der Stadt macht Le Havre zu einem persönlichen Widerstandsort gegen das Vergessen, auch wenn die physische Landschaft sich verändert hat.
In ihrer Rolle als „Stimme“ und Geschichtenerzählerin ist die Protagonistin eine Figur, die sich der Konstruktion von Identität durch Narration bewusst ist. Ihr Bezug zu Le Havre ist dabei ein autobiographischer Reibungspunkt, der die Grenzen zwischen der erzählten Geschichte und ihrer eigenen Realität verwischt. Die Protagonistin sucht in der Stadt nach Spuren ihrer selbst und ihrer Beziehungen, insbesondere der zu Craven, die in Le Havre ihren Ursprung hatte. Die Topographie spielt eine entscheidende Rolle für das Detektivische – nicht nur der polizeilichen, sondern vor allem ihrer eigenen inneren Untersuchung. Orte wie die Digue Nord, an der der Tote gefunden wurde, das Channel-Kino, das mit Cravens Ticket verbunden ist, der Boulevard de Strasbourg oder das Cap de la Hève werden zu Knotenpunkten, die Erinnerungen freisetzen und ihre Suche lenken. Jeder Ort ist mit spezifischen Details und emotionalen Resonanzen verbunden, die es der Protagonistin ermöglichen, ihre Vergangenheit neu zu „synchronisieren“.
Analogie als Werkprinzip bei Kerangal
Analogie, Korrespondenz und Resonanz, sie bilden die strukturelle und thematische Basis nicht nur von Jour de ressac. Kerangal erschafft Welten, die aus Verbindungen bestehen, aus Spiegelungen und tiefergehenden Echo-Beziehungen, die die Grenzen zwischen Menschen, Orten, Zeiten und sogar zwischen Realität und Fiktion verwischen, etwa in Réparer les vivants, wo die Organspende zu einem Symbol der tiefsten menschlichen Verbindung wird, die Leben rettet und Schicksale miteinander verknüpft. Die Anonymität der Spende wiederum führt zu einer Suche nach Verbindung, die über das Sichtbare hinausgeht. Kerangal nutzt Analogien, um das Unsichtbare greifbar zu machen, komplexe Zusammenhänge zu veranschaulichen und eine tiefere Identität zwischen scheinbar disparaten Elementen zu stiften. Es geht dabei oft um die Form und das Wesen der Dinge.
Über bloße Vergleiche hinaus enthüllt Kerangal tiefere, oft unbewusste Entsprechungen und Parallelen, die sich über verschiedene Bereiche – Zeit, Erfahrung, soziale Strukturen, physische Eigenschaften – erstrecken. Diese sind Verweise auf ein größeres, zusammenhängendes Ganzes. In Un monde à portée de main lernt Paula die Kunst der Illusionsmalerei (Trompe-l’œil). Ihre Arbeit, die darauf abzielt, die Realität zu täuschen und gleichzeitig perfekt nachzubilden, korrespondiert mit dem literarischen Schaffen. Paula fühlt eine tiefe Verbindung zu den prähistorischen Malern von Lascaux, die vor zwanzigtausend Jahren arbeiteten. Die Erkenntnis, dass „sie genau das taten, was wir jetzt tun“ („ils devaient faire exactement ce que nous sommes en train de faire“), erzeugt eine zeitenübergreifende Resonanz, die die zeitlose Natur der Kunst und der menschlichen Erfahrung betont. Kerangal beschreibt, wie das Malen sie zwingt, sich zu „verbrauchen“ („une dépense inconnue, de quoi brûler“), was eine Resonanz zwischen dem körperlichen Einsatz des Künstlers und der Intensität seiner Schöpfung herstellt. Die bereits erwähnte Idee der „Songlines“ aus der Aborigine-Kultur, die in À ce stade de la nuit und Un archipel thematisiert wird, ist ein aufschlussreiches Beispiel für Korrespondenzen.
Jede musikalische Phrase einer Songline macht so ein Wegsegment sichtbar, jedes Element der Landschaft erfasst eine Episode aus dem Leben des Vorfahren, einen Moment in der Geschichte einer menschlichen Gruppe.
Maylis de Kerangal, Jour de ressac, Ed. Verticales, 2024.
Chaque phrase musicale d’une songline fait ainsi voir un segment de sentier, chaque élément du paysage ressaisit un épisode de la vie de l’ancêtre, un moment de l’histoire d’un groupe humain.
Das Besingen der Namen aller Dinge – Tiere, Pflanzen, Felsen, Menschen – schafft eine topografische Karte, die gleichzeitig eine mythische Erzählung ist und die „DNA eines Clans beschreibt“ („Ces songlines qui résorbent l’ADN d’un clan, jouant comme des noms propres : ligne de chant figurant un parcours terrestre, récit mythique ou poème de remémoration, ces psalmodies cartographiques décrivent une identité.“). Also eine tiefe Korrespondenz zwischen Sprache, Landschaft und Identität.
Verwandt zu den genannten Konzepten ist die Idee des Kontakts als Beziehung zwischen Menschen, selbst wenn diese einander fremd sind. In Jour de ressac reflektiert die Erzählerin über ihre Verbindung zum Toten. Auch die Entwicklung von Gemeinschaften und Beziehungen wird bei Kerangal durch „Kontakte“ beschrieben: In Un monde à portée de main entstehen in der Kunstschule „unterirdische Verbindungen“ zwischen den Schülern, die ein dichtes und aktives Netzwerk bilden. Die physische Nähe in Wohngemeinschaften oder am Arbeitsplatz fördert diese „contiguïté de contacts“. – Die Erzählerin in Canoës bewahrt die Stimme eines Verstorbenen auf einem Anrufbeantworter, ein berührendes Echo des Wunsches, die Präsenz eines geliebten Menschen zu bewahren, was eine Form des emotionalen Kontakts über den Tod hinaus darstellt. – In Naissance d’un pont wird die Welt durch ein dichtes Netz von Analogien und Korrespondenzen erforscht. Kerangal verwendet die Brücke als zentrales Motiv, um die Vernetzung von Menschen, Orten und Ideen darzustellen, und ihre präzise und poetische Sprache fungiert als Brücke, die technische Realitäten mit tiefgreifenden menschlichen Erfahrungen und philosophischen Fragen verbindet. – Bei der Corniche Kennedy in Marseille (in Kerangals gleichnamigem Roman) handelt sich um eine Schnellstraße zwischen Land und Meer, eine Asphalt-Grenze, die sich lang und schmal an die Küste schmiegt und die Stadt umschließt. Sie ist tagsüber oft verstopft, nachts jedoch fließend und leuchtend, ihr fluoreszierender Verlauf schlängelt sich unter den Satelliten in der Stratosphäre. Die Straße wird zu einem eigenständigen, pulsierenden Akteur. Sie ist ein „magnetischer Schwellenwert am Rande des Kontinents, eine Kontaktzone und keine Grenze, da sie porös ist“. Dieser Ort ist „durchdrungen von Durchgängen und Treppen, die zu den alten Vierteln hinaufführen oder zu den Felsen hinabsteigen“. Kerangal unterstreicht die Rolle des Ortes als Schmelztiegel und Brennpunkt menschlicher Existenz und Interaktion.
In Canoës konzipiert die Autorin das Buch selbst als eine Analogie: „Ich habe Canoës wie einen Roman in Einzelteilen konzipiert: eine zentrale Novelle, ‚Mustang‘, und darum herum, wie Satelliten, sieben Erzählungen.“ [„J’ai conçu Canoës comme un roman en pièces détachées : une novella centrale, « Mustang », et autour, tels des satellites, sept récits.“]. Dies ist eine strukturelle Analogie, die die Vernetzung und das Gespräch der Texte untereinander betont. – In der Einleitung zu Un archipel erklärt Kerangal in ähnlicher Weise, dass ihre verschiedenen Texte „genau ein Archipel bilden: sie fügen eine Form zusammen; sie lassen eine Einheit erscheinen.“ („ces textes distincts, disparates, créent exactement un archipel : ils agencent une forme ; ils font apparaître une unité.“). Dieses Konzept unterstreicht, wie ihre Werke miteinander in „Spannungen, Widerhall, Korrespondenzen“ stehen („tensions, réverbérations, correspondances“), deren „gemeinsame Vibrationen“ die Landschaft als zentrales Motiv aktivieren. Das Schreiben selbst wird als ein Prozess beschrieben, in dem „das Gedächtnis immer eine Intelligenz ist, ein Geheimdienst, der in den Eingeweiden der Fiktion arbeitet, um deren Schönheit, aber auch deren Richtigkeit zu verdichten.“ („la mémoire est toujours une intelligence, un service secret œuvrant dans les soutes de la fiction pour en densifier la beauté mais aussi la justesse.“). Ein Buch wird so selbst zu einer „Vibration, einem Schrei, einem Geräusch“ („une vibration, un cri, une rumeur.“), dessen „Aura“ ein Landschaft ist, die man nach dem Lesen in sich trägt.
Maylis de Kerangals literarisches Können liegt in ihrer Fähigkeit, eine Welt zu erschaffen, in der alles mit allem verbunden ist. Ihre Romane sind keine isolierten Geschichten, sondern ein komplexes Netzwerk von Zeichen und Echos, die den Leser auf eine sensorische, emotionale und intellektuelle Reise mitnehmen. Durch die Verflechtung von Analogien, Korrespondenzen und Resonanzen schafft sie eine „lebendige Architektur“, die die Vergangenheit in der Gegenwart, das Intime im Universellen und das Konkrete im Abstrakten sichtbar und fühlbar macht. Ihre Literatur ist somit eine fortlaufende „Forschung in ständiger Bewegung, neugierig auf alles“ („recherche en mouvement constant, curieuse de tout“), die uns ermöglicht, die Welt in ihrer komplexen Schönheit und ihren unsichtbaren Verbindungen neu zu sehen und zu hören.
Jour de ressac
C’est devenu très actif, cette conviction que le travail de fiction, c’est moins fabriquer des scènes que mettre au jour les liens très secrets et ténus qui relient des signes entre eux. La question des analogies, des correspondances et, finalement, de la résonance, m’occupe beaucoup. Et ça s’est un peu radicalisé avec ce livre, parce que Le Havre me paraît une ville hantée : il y avait une autre ville avant les immeubles en béton de Perret, dont on entend peut-être encore les échos.
„J’ai laissé plus de place que d’habitude à la part rêveuse de mon écriture“, Maylis de Kerangal im Gespräch mit Florence Bouchy, Le Monde des livres 22.9.2024.
Diese Überzeugung, dass es bei der Arbeit an Fiktion weniger darum geht, Szenen zu erfinden, als vielmehr darum, die geheimen und subtilen Verbindungen zwischen Zeichen aufzudecken, ist sehr präsent geworden. Die Frage nach Analogien, Entsprechungen und letztlich nach Resonanz beschäftigt mich sehr. Und das hat sich mit diesem Buch noch etwas radikalisiert, denn Le Havre erscheint mir als eine Stadt, die von Geistern heimgesucht wird: Vor den Betonbauten von Perret gab es eine andere Stadt, deren Echos vielleicht noch zu hören sind.
Die Aussage von Kerangal, dass sie sich sehr mit der Frage der Analogien, der Korrespondenzen und letztlich der Resonanz beschäftige, ist ein interpretatorischer Schlüssel für Jour de ressac, wenn nicht sogar für den Großteil ihres Werks. Der Roman erkundet, wie scheinbar disparate Elemente – Menschen, Orte, Zeiten und Ereignisse – miteinander in Verbindung stehen, sich spiegeln und in Resonanz treten, oft auf unbewusster oder zutiefst persönlicher Ebene.
Das Buch ist durchzogen von direkten Vergleichen, die das Unsichtbare greifbar machen und die Identität verschiedener Entitäten miteinander verschmelzen lassen: Kerangal zitiert William Carlos Williams: „Aber ein einziger Mann – ähnlich einer Stadt“. Diese Analogie prägt die Erzählung und deutet an, dass Menschen komplexe, vielschichtige Gebilde wie Städte sein können, voller Geschichte und verborgener Verbindungen. Auch die Protagonistin beschreibt ihre Gedanken über den toten Mann, die die Form einer Stadt, einer ersten Liebe oder eines Containerschiffs annehmen. 1 Konzepte und Emotionen können sich in konkrete, oft unerwartete Formen verwandeln. Die Raffinerie bei Gonfreville-l’Orcher wird als „Gotham City“ beschrieben, „eine andere Stadt hinter der Stadt“. Das Lotsenboot „L’Hirondelle de la Manche“ wird als Lebewesen bezeichnet, das „wie ein Mann atmet“ und dem der Priester in der Tauffeier menschliche Eigenschaften und Vertrauen zuspricht. Die Welle, die die Protagonistin auf der Digue Nord erfasst, wird als „eine Person, für echt“ beschrieben, mit der sie eine „Beziehung“ hatte. Hier wird eine Naturkraft mit menschlichen Eigenschaften versehen, was die Grenzen zwischen Belebt und Unbelebt aufhebt.
J’ai fermé les yeux et de nouveau revu la vague, ce flot violent qui avait certainement charrié sa poignée de pierres et m’avait brassée comme si je n’étais moi-même qu’un fragment de silex parmi d’autres, et plus j’y pensais, plus je faisais revenir le moment où elle s’était brisée au-dessus de ma tête, sa charge d’atomes déversée sur les miens, ses molécules rencontrant les miennes, et plus cette vague m’apparaissait comme une personne. Pas seulement une force, ou un rythme, une fraction élémentaire du monde naturel, pas seulement une entité vivante : une personne, pour de vrai. Qu’elle soit non humaine n’avait aucune importance, je pouvais affirmer avec certitude que j’avais eu une relation avec elle : je l’avais appelée, elle était venue.
Maylis de Kerangal, Jour de ressac, Ed. Verticales, 2024.
Ich schloss die Augen und sah wieder die Welle vor mir, diese gewaltige Flut, die sicherlich ihre Handvoll Steine mit sich gerissen und mich umhergeworfen hatte, als wäre ich selbst nur ein Stück Feuerstein unter vielen, und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr kam mir der Moment wieder in den Sinn, als sie über meinem Kopf brach, ihre Ladung Atome auf meine fiel ihre Moleküle trafen auf meine, und je mehr ich daran dachte, desto mehr erschien mir diese Welle als eine Person. Nicht nur als eine Kraft oder ein Rhythmus, ein elementarer Teil der natürlichen Welt, nicht nur als ein lebendes Wesen: sondern als eine echte Person. Dass sie nicht menschlich war, spielte keine Rolle, ich konnte mit Sicherheit sagen, dass ich eine Beziehung zu ihr hatte: Ich hatte sie gerufen, und sie war gekommen.
Über bloße Vergleiche hinaus enthüllt der Text tiefere Entsprechungen und Parallelen, die oft zeitliche oder erfahrungsbezogene Grenzen überschreiten. Die „Theorie der sechs Händedrücke“ des ungarischen Autors Frigyes Karinthy wird explizit erwähnt, die besagt, dass jeder Mensch auf der Erde über maximal fünf Zwischenglieder mit jedem anderen verbunden ist. Die Protagonistin wendet diese Theorie auf sich und den toten Mann an: „Ich berühre den Mann am Strand.“ Dies stellt eine grundlegende Korrespondenz zwischen allen Menschen her, unabhängig von Zeit und Raum. Die Protagonistin ist als Synchronsprecherin Stimme für Dokumentarfilme und Hörbücher, sie „aktiviert den Körper einer anderen Frau“ durch ihre Stimme beim Synchronisieren und „leiht ihr Carey Mulligan ihre physische Erscheinung“. Ihre berufliche Praxis ist eine direkte Verkörperung der Idee, dass Identitäten und Präsenzen sich überlagern und austauschen können.
Die Auseinandersetzung mit dem Buch Automne allemand von Stig Dagerman ruft in der Protagonistin Bilder der Zerstörung Le Havres im Jahr 1944 hervor:
Délaissant l’idée de mon billet de retour, j’ai commencé à feuilleter, et donné quelques coups de sonde aléatoires histoire de me faire une idée, un récit pas gai à première vue, voire franchement sinistre : un journaliste suédois traverse les décombres du Reich à l’automne 1946, cet automne froid et pluvieux, cet automne lugubre où les flots de réfugiés noient la plaine allemande tandis que la pluie inonde le fond des caves de la Ruhr de cinquante centimètres d’eau. Les hommes et les lieux sont devenus méconnaissables, tout le monde cherche quelqu’un, un disparu qui peut-être est mort, ou peut-être erre quelque part dans un camp, on n’en sait rien et c’est ce qui rend dingue. Dès les premières lignes, j’ai ralenti, interpellée par l’écriture. Rien, aucune souffrance, n’est indescriptible, c’est ce que dit Dagerman, c’est même pour cela qu’il est venu en Allemagne : décrire – son usage du détail va jusqu’à faire entendre le bruit d’une femme qui croque une pomme dans un wagon silencieux bondé de gens affamés.
Maylis de Kerangal, Jour de ressac, Ed. Verticales, 2024.
Ich gab die Idee für mein Rückflugticket auf, begann zu blättern und las ein paar zufällige Stellen, um mir einen Eindruck zu verschaffen. Auf den ersten Blick war es keine fröhliche Lektüre, sogar ziemlich düster: Ein schwedischer Journalist durchquert im Herbst 1946 die Trümmer des Reichs, in diesem kalten und regnerischen Herbst, diesem düsteren Herbst, in dem Flüchtlingsströme die deutsche Ebene überschwemmen, während der Regen die Keller der Ruhr mit fünfzig Zentimetern Wasser füllt. Die Menschen und Orte sind nicht wiederzuerkennen, alle suchen jemanden, einen Vermissten, der vielleicht tot ist oder irgendwo in einem Lager herumirrt, man weiß nichts, und das macht einen wahnsinnig. Schon bei den ersten Zeilen wurde ich langsamer, gefesselt vom Schreibstil. Nichts, kein Leid ist unbeschreibbar, sagt Dagerman, und genau deshalb ist er nach Deutschland gekommen: um zu beschreiben – seine Detailgenauigkeit geht so weit, dass man das Geräusch einer Frau hört, die in einem stillen, mit hungernden Menschen überfüllten Waggon einen Apfel isst.
Die Ruinen deutscher Städte spiegeln sich in denen ihrer eigenen Heimatstadt wider, was eine tiefe historische und emotionale Korrespondenz schafft. Die Stadt Le Havre selbst wird als ein Ort beschrieben, der sich „verwandelt, sich metamorphosiert“, aber eine unsichtbare Essenz bewahrt, die die Protagonistin wiedererkennt. Diese Beschreibung der Stadt spiegelt die Idee wider, dass Identitäten – seien es die von Menschen oder Orten – trotz äußerer Veränderungen eine innere Kontinuität besitzen. Das „Maske-aus-Fleisch“-Spiel, das die Protagonistin als Kind spielte, thematisiert die Möglichkeit, dass vertraute Menschen zu „unbekannten Feinden“ werden können, die die Gestalt von Nahestehenden annehmen. Diese Idee findet eine beunruhigende Korrespondenz in der Frage, ob der unbekannte Tote am Strand eine „Maske aus Fleisch eines vertrauten Wesens“ sein könnte.
Alors, est-ce le crépuscule, la densification de l’atmosphère dans cette petite bagnole lancée à toute allure, la présence d’Olivier Zambra à mon côté, jeune lieutenant en charge des enquêtes décès au commissariat du Havre, ou bien est-ce le pollen immobile qui flottait entre nous, mais j’ai repensé au jeu du « masque de chair », ce jeu vaguement cruel auquel je me suis tant de fois livrée enfant, adolescente, une fois admise l’idée fascinante qu’il était possible de changer de visage, que les plus grands criminels de la planète pouvaient franchir l’océan et se terrer au Brésil afin de se faire greffer une face toute neuve dans une clinique de chirurgie plastique, une face vierge de toute histoire et de tout délit, afin de recommencer leur vie sans que personne, pas même leur mère, pas même leur chien, puisse les deviner sous ces visages inconnus.
Maylis de Kerangal, Jour de ressac, Ed. Verticales, 2024.
Ist es die Dämmerung, die dichte Atmosphäre in diesem kleinen Auto, das mit hoher Geschwindigkeit fährt, die Anwesenheit von Olivier Zambra an meiner Seite, einem jungen Leutnant, der für Todesfälle in der Polizeistation von Le Havre zuständig ist, oder ist es der still liegende Pollen, der zwischen uns schwebt, aber ich dachte an das Spiel „Maske aus Fleisch”, dieses etwas grausame Spiel, das ich als Kind und Teenager so oft gespielt hatte, nachdem ich die faszinierende Idee akzeptiert hatte, dass es möglich war, sein Gesicht zu wechseln, dass die größten Verbrecher der Welt den Ozean überqueren und sich in Brasilien verstecken konnten, um sich in einer Klinik für plastische Chirurgie ein neues Gesicht transplantieren zu lassen, ein Gesicht, das frei von jeder Geschichte und jedem Verbrechen ist, um ihr Leben neu zu beginnen, ohne dass jemand, nicht einmal ihre Mutter, nicht einmal ihr Hund, sie unter diesen unbekannten Gesichtern erkennen könnte.
Die Erfahrung der ukrainischen Studentinnen, deren Erinnerungen an die Kriegsereignisse verschwommen sind, aber deren „Gefühle ihr Kompass“ sind und „die wahre Textur der Vergangenheit wiedergeben“, stellt eine Korrespondenz zwischen emotionaler Wahrheit und faktischer Genauigkeit dar.
Der Roman thematisiert das Konzept der besondere Erkennungsmerkmale („signes particuliers“) , die zur Identifizierung von Leichen verwendet werden. Während die Polizei nach objektiven, unveränderlichen Merkmalen (Tätowierungen, Zahnkronen, Narben) sucht, denkt die Protagonistin bei der Beschreibung ihrer Liebsten an intime, verhaltensbezogene Signaturen (Blaises leicht hinkender Gang, Maïas Rümpfen der Nase). Dies weist auf eine Korrespondenz zwischen der äußeren und der inneren, gefühlten Identität.
Resonanz zeigt sich in den emotionalen und thematischen Echos, die Ereignisse und Charaktere miteinander verbinden, oft auf subtile, intuitive Weise: Der Anruf des Polizisten über den Leichenfund löst in der Protagonistin sofort eine tiefe Bewegung aus, sobald der Name „Le Havre“ fällt, da sie dort ihre Kindheit und Jugend verbrachte. Die Stadt ist nicht nur ein Ort, sondern ein Teil ihrer Identität. Eine Reihe von scheinbaren „Zufällen“ und „sensorischen Störungen“ – die Lachmöwen über dem Canal Saint-Martin, ein Flugblatt über Obdachlose, die Nachricht von Pasolinis Tod am Strand – verstärken das Gefühl der Protagonistin, dass „etwas vor sich ging“, das mit Le Havre und ihr selbst zu tun hatte. Diese Ereignisse sind keine isolierten Fakten, sondern wirken als ein „Netzwerk von Zeichen“, die in ihr widerhallen. Die Entdeckung ihrer Telefonnummer auf einem Kinoticket in der Tasche des Toten ist eine zentrale, unerklärliche Resonanz, die die gesamte Handlung in Gang setzt: Es ist ein konkretes Zeichen einer Verbindung, die die Protagonistin nicht erklären kann, aber fühlt.
Die Rückkehr zu vertrauten Orten in Le Havre (dem Kino Channel, dem früheren Treffpunkt der Jugendlichen in Le Ponant, oder der Digue Nord) löst eine Flut von Erinnerungen und ein Wiederauftauchen vergangener Erfahrungen aus. Der Akt des Gehens auf der Digue hilft, ihre Gedanken zu entwirren und „eine andere Formulierung“ für das Geschehen zu finden – „die Kunst, auf die eigenen Schritte zurückzukehren“. Die Protagonistin glaubt, dass der Polizist Zambra davon überzeugt ist, dass sie den Toten kennt oder dass „etwas sie verbindet, dass sie jemanden gemeinsam haben, vielleicht sogar mehrere Personen, die zwischen ihnen wie Relaisantennen, leitende Körper positioniert sind, so dass er und ich uns in einer Kontinuität von Kontakten berühren würden“. Dies deutet auf eine tiefere, nicht-offensichtliche Resonanz zwischen ihnen hin.
Die Erzählung betont die Widerstandsfähigkeit von Namen (von Orten, aber auch potenziell von Menschen), die selbst nach der Zerstörung noch existieren und die „Kartografie der Geisterstadt“ wiederbeleben können. Namen bergen diese Resonanz der Vergangenheit. Zugleich ist das Verständnis, dass Vergangenheit kein statisches Material sei, sondern sich „entwickelt, flexibel, plastisch“, und sich „im Laufe des Lebens auflädt“, wodurch sie „lebendig bleibt“, eine zentrale Idee der Resonanz. Dies erklärt, warum längst vergangene Ereignisse, wie ihre erste Liebe zu Craven, immer wieder in der Gegenwart aufbrechen und mit dem aktuellen Fall in Verbindung gebracht werden können.
Le passé n’était pas une matière fossile, il évoluait dans le temps, souple, plastique, il évoluait infiniment, il se rechargeait au cours de la vie, le passé restait vivant, l’autoroute s’enfonçait à présent dans les terres, elle gagnait l’intérieur du continent, la nuit au-dessus de Rouen était brune, vaguement dorée, elle absorbait les lueurs tel un papier buvard.
Maylis de Kerangal, Jour de ressac, Ed. Verticales, 2024.
Die Vergangenheit war kein fossiles Material, sie entwickelte sich im Laufe der Zeit, war flexibel, plastisch, entwickelte sich unendlich weiter, lud sich im Laufe des Lebens wieder auf, die Vergangenheit blieb lebendig, die Autobahn tauchte nun ins Landesinnere ein, sie drang ins Innere des Kontinents vor, die Nacht über Rouen war braun, vage golden, sie saugte das Licht auf wie Löschpapier.
Der Roman Jour de ressac liefert durch seine Analogien, Korrespondenzen und Resonanzen eine Untersuchung von Identität, Gedächtnis und den unsichtbaren Fäden, die Menschen und ihre Geschichten miteinander verbinden. Es ist keine lineare Detektivgeschichte, sondern eine Spurensuche, die nach den tieferen, oft emotionalen oder intuitiven Verbindungen sucht, die unser Verständnis der Realität prägen und die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart, Traum und Wirklichkeit verschwimmen lassen.
Un archipel
Archipel désigne un ensemble d’îles proches les unes des autres. Bien que partageant un même climat, et le plus souvent un même idiome et une même origine géologique – notamment volcanique –, les îles d’un même archipel sont de formes différentes et n’ont pas forcément la même histoire. Cependant, c’est un même nom qui les rassemble sur le fond bleu et carroyé des cartes géographiques, c’est sous un même nom qu’elles nous sont connues.
J’ai choisi d’intituler ce volume Un archipel car il m’a semblé, alors que Marie-Pascale Huglo, Stéphane Vachon et moi achevions de le composer, que ces textes distincts, disparates, créaient exactement un archipel : ils agencent une forme ; ils font apparaître une unité. Or, c’est précisément cette notion de composition qui m’intéresse, et l’idée qu’une écriture singulière puisse être rendue sensible dans ce choix d’écrits ponctuant quinze années d’écriture et de publication. De fait, de même que le motif de l’archipel stimule immédiatement l’idée de liaison, de dialogue et d’échange, de même ces textes inscrivent entre eux tensions, réverbérations, correspondances. Tous font revenir une même recherche, un même questionnement, une continuité de tentatives ; tous se parlent les uns aux autres. Échos, remous, sillages, leurs vibrations communes concourent dès lors à activer la notion de paysage, centrale dans mon travail.
Ce qui a lieu entre les textes, et circule sous la surface, autrement dit l’écriture, la relation au langage, est bien ce qui fait tenir cet archipel, qui le fait exister.
Maylis de Kerangal, Un archipel.
Archipel bezeichnet eine Gruppe von Inseln, die nahe beieinander liegen. Obwohl sie dasselbe Klima und meist dieselbe Sprache und denselben geologischen Ursprung – insbesondere vulkanischen Ursprungs – haben, sind die Inseln eines Archipels unterschiedlich geformt und haben nicht unbedingt dieselbe Geschichte. Dennoch vereint sie auf dem blauen, karierten Hintergrund von Landkarten ein und derselbe Name, und unter diesem Namen sind sie uns bekannt.
Ich habe diesen Band Un archipel genannt, weil mir, als Marie-Pascale Huglo, Stéphane Vachon und ich ihn fertigstellten, schien, dass diese unterschiedlichen, disparaten Texte genau einen Archipel bilden: Sie bilden eine Form, sie lassen eine Einheit entstehen. Genau dieser Begriff der Komposition interessiert mich, ebenso wie die Idee, dass eine einzigartige Schreibweise in dieser Auswahl von Texten, die fünfzehn Jahre des Schreibens und Veröffentlichens umfassen, spürbar wird. So wie das Motiv des Archipels sofort die Idee der Verbindung, des Dialogs und des Austauschs weckt, so schaffen auch diese Texte Spannungen, Resonanzen und Korrespondenzen untereinander. Alle kehren zu derselben Suche, derselben Fragestellung, einer Kontinuität von Versuchen zurück; alle sprechen miteinander. Echos, Strömungen, Spuren, ihre gemeinsamen Schwingungen tragen dazu bei, den Begriff der Landschaft zu aktivieren, der in meiner Arbeit eine zentrale Rolle spielt.
Was zwischen den Texten geschieht und unter der Oberfläche zirkuliert, also das Schreiben, die Beziehung zur Sprache, ist genau das, was diesen Archipel zusammenhält, was ihn existieren lässt.
Das Vorwort zu Un archipel kann als poetologisches Manifest gelesen werden, das die Komposition der Texte und die literarische Selbstauskunft miteinander verbindet. Es entfaltet ein metapoetisches Bild des Schreibens als Archipel – als Konstellation getrennter, aber durch tiefe Strömungen verbundener Inseln – und formuliert daraus ein Konzept von Literatur als Landschaft, als Denkbewegung und als dialogische Form. Die Sammlung ist nicht zufällig, sondern kompositorisch gebildet. Die „notion de composition“ steht im Zentrum: Durch die Anordnung ergibt sich eine Form, eine Spur von Sinn, eine manifeste Einheit – aber ohne Homogenität. Die Texte sind „distincts, disparates“, also jeweils eigenständig, verschieden geformt – wie die Inseln eines Archipels –, und doch gehören sie zueinander, teilen Klima, Sprache, Herkunft. Die Metapher des „fond bleu et carroyé des cartes géographiques“ evoziert ein kartographisches, erkenntnisgeleitetes Schreiben. Die Texte erscheinen wie vermessene Punkte in einer imaginativen Weltkarte. Die Archipel-Metapher ermöglicht es Kerangal, über Literatur als etwas Verteiltes, Vieldimensionales und dennoch Verbundenes zu reflektieren.
Kerangal betont, dass zwischen den Texten ein „dialogue“, ein „échange“, ein „questionnement“ besteht. Das sind keine expliziten Bezüge, sondern vielmehr Resonanzphänomene: „tensions, réverbérations, correspondances“ – die Texte sprechen in einem „intertextuellen“ Raum miteinander. „Echos, remous, sillages“ – die Begriffe stammen u.a. aus dem maritimen Vokabular und verweisen auf Bewegungen, Spuren und Nachwirkungen, auf ein kontinuierliches Schwingen zwischen den einzelnen Beiträgen. Diese Vorstellung geht über ein bloßes Nebeneinander hinaus. Die Sammlung ist nicht additiv, sondern relational strukturiert. Ihre ästhetische Kraft liegt in der Bewegung zwischen den Texten. Kerangals Vorwort ist ein poetologisches Manifest für eine relationale, prozesshafte, intertextuelle Literatur, die Landschaften aus Sprache und Denken formt. Die Archipel-Metapher erlaubt eine ästhetische Positionierung jenseits von Linearität, Hierarchie und Gattungstrennung. Stattdessen tritt eine fluid-dynamische Poetik in den Vordergrund, in der Fiktion, Essay, Reflexion und Weltaneignung miteinander verschmelzen.
Die Erzählung „Rouge“ aus Un archipel wird im Bild einer Hauptinsel verortet – nicht, um sie hierarchisch herauszustellen, sondern um eine Funktion hervorzuheben: „Rouge“ steht für den Ort der Kognition, für die Erkenntniskraft der Fiktion. Kerangal nutzte „Rouge“, um den kognitiven und initiatischen Anteil jeder Literatur deutlich zu machen. Sie beabsichtigte, durch diese Geschichte zu zeigen, wie Fiktion einen Zugang zur Welt ermöglicht – einer Welt, die immer unbekannt und weit entfernt ist. Für sie öffnet Fiktion Räume, erlaubt es ihr, „Körper hineinzuführen, Beziehungen zwischen Wesen und Dingen aufzubauen, Politisches zu erfassen, Soziales zu greifen, Gefühle zu etablieren“. „Rouge“ dient als Beispiel für diese Funktion. Kerangal beschreibt „Rouge“ als initiatische Literatur: Literatur als Einweihung, als Zugang zu einem „monde toujours lointain et inconnu“. Im Zentrum steht ein literaturtheoretisches Credo: „Literatur ist eine Form des Denkens, die mir zum Denken dient, und im Gegenzug ist das Denken in jeder Literatur zu Hause.“ („la littérature est une forme de pensée, qu’elle me sert à penser, et, en retour, que la pensée est chez elle dans toute littérature.“) Diese Formulierung verankert das Schreiben im Denken – und umgekehrt. Literatur ist keine Illustration von Ideen, sondern Modus der Erkenntnis, eine epistemische Praxis, die das Denken selbst beherbergt und hervorbringt.
Le jeune lieutenant Zambra n’a pas eu l’air de penser que je puisse être impliquée dans cette affaire, il a fait sa remarque sur Burn After Reading puis m’a tendu sa carte comme si nous entrions dans une relation professionnelle. En revanche, ce dont je suis certaine, c’est qu’il est persuadé que je connais l’homme mort à la digue, il pense que quelque chose nous relie, que nous avons quelqu’un en commun, peut-être même plusieurs personnes, positionnées entre nous telles des antennes-relais, des corps conducteurs, si bien que lui et moi nous toucherions dans une contiguïté de contacts. L’an dernier, j’ai enregistré pour les très chics studios Klang un drôle de livre, Voyage autour de mon crâne, du Hongrois Frigyes Karinthy, journaliste et poète à gueule d’aventurier, qui est aussi, maintenant que j’y pense, l’inventeur de la théorie des six poignées de main, soit la possibilité pour deux habitants de cette planète pris au hasard et ne se connaissant pas de se toucher selon une chaîne de relations individuelles n’excédant jamais plus de cinq maillons intermédiaires, théorie qui nous incite régulièrement, Blaise, Maïa et moi, dans une sorte de jeu mathématique qui est aussi une utopie politique, à évaluer les degrés qui nous séparent de Barack Obama ou d’un sicario du cartel de Medellín, d’un tuk tuk de Chennai, d’un mineur de Kiruna ou d’une jeune infirmière de Mayenne, ce qui autorise Blaise à prétendre qu’il touche Jane Goodall en quatre et le roi d’Angleterre en trois, Maïa qu’elle touche Beyoncé en cinq et la magnifique Ysaora Thibus du bout de son fleuret : nous serions insérés dans un réseau de connecteurs qui maillent tous les paysages du globe, par-delà l’arbitraire de la naissance et les classes sociales, les castes et les ghettos, nous serions les points de contact d’un étoilement vertigineux où chacun d’entre nous est relié à tous, autrement dit à tout vagabond aux pieds calleux, à tout soldat tondu en route vers le front de l’Est, à tout prisonnier détenu à l’isolement, à tout réfugié blotti sur le pont de l’Ocean Viking, à tout défunt enterré sous X au cimetière de Thiais par un matin de printemps vert tendre.
Je touche l’homme de la plage. Je le touche même si sa photo n’a guère suscité de vibration dans mon système nerveux central, dans les parages de mon gyrus fusiforme, là où sont traitées, stockées, encodées, puis mises en mémoire les informations faciales que j’archive depuis que je suis née, en bonne petite gorille que je suis ; même si elle n’a pas déclenché d’influx électrique sous mon crâne, dans cette région du cerveau où une poignée de millisecondes suffit pourtant à calculer un visage qui n’a pas été vu depuis des années, et ce, quels que soient son vieillissement ou ses altérations ; suffit pour aller le rechercher loin, loin, parmi ceux qui vivent tapis en moi telles des cellules dormantes, ressurgissant parfois par surprise dans le hall d’un cinéma, au coin d’une rue, en surimpression sur la vitre d’un train, mais qui le plus souvent traînent incognito dans mes rêves. Pourtant je le touche : mon numéro de portable a transité jusqu’à lui par des mains successives.
Maylis de Kerangal, Jour de ressac, Ed. Verticales, 2024.
Der junge Leutnant Zambra schien nicht zu glauben, dass ich etwas mit dieser Angelegenheit zu tun haben könnte. Er machte seine Bemerkung zu Burn After Reading und reichte mir dann seine Visitenkarte, als würden wir eine berufliche Beziehung eingehen. Ich bin mir jedoch sicher, dass er überzeugt ist, dass ich den toten Mann am Deich kenne, dass er glaubt, dass etwas uns verbindet, dass wir jemanden gemeinsam haben, vielleicht sogar mehrere Personen, die wie Relaisstationen oder leitende Körper zwischen uns stehen, sodass er und ich uns in einer Kontiguität von Kontakten berühren. Letztes Jahr habe ich für die sehr schicken Klang-Studios ein seltsames Buch aufgenommen, Voyage autour de mon crâne (Reise um meinen Schädel) des ungarischen Journalisten und Abenteurer-Dichters Frigyes Karinthy, der, jetzt wo ich darüber nachdenke, auch der Erfinder der Sechs-Handshakes-Theorie ist, also der Möglichkeit, dass zwei zufällig ausgewählte, sich nicht kennende Bewohner dieses Planeten sich über eine Kette von höchstens fünf Zwischenverbindungen berühren können, eine Theorie, die uns regelmäßig dazu anregt, Blaise, Maïa und mich zu einer Art mathematischem Spiel, das auch eine politische Utopie ist, dazu anregt, den Grad unserer Entfernung zu Barack Obama oder einem Auftragskiller des Medellín-Kartells, einem Tuk-Tuk-Fahrer in Chennai, einem Bergmann in Kiruna oder einer jungen Krankenschwester in Mayenne zu berechnen, was Blaise zu der Behauptung veranlasst, dass er Jane Goodall in vier und den König von England in drei Verbindungen erreicht, Maïa, dass sie Beyoncé in fünf und die wunderschöne Ysaora Thibus mit der Spitze ihres Floretts: Wir wären Teil eines Netzwerks von Verbindungen, das alle Landschaften der Welt miteinander verknüpft, jenseits der Willkür der Geburt und der sozialen Klassen, der Kasten und Ghettos. Wir wären die Berührungspunkte einer schwindelerregenden Sternkonstellation, in der jeder von uns mit allen verbunden ist, mit anderen Worten mit jedem Landstreicher mit schwieligen Füßen, jedem Soldaten mit rasiertem Kopf auf dem Weg an die Ostfront, jedem Gefangenen in Einzelhaft, jedem Flüchtling, der sich auf dem Deck der Ocean Viking zusammenkauert, jedem Verstorbenen, der an einem zartgrünen Frühlingsmorgen auf dem Friedhof von Thiais anonym begraben wurde.
Ich berühre den Mann am Strand. Ich berühre ihn, auch wenn sein Foto kaum eine Reaktion in meinem zentralen Nervensystem ausgelöst hat, in der Nähe meines Gyrus fusiformis, wo die Gesichtsdaten, die ich seit meiner Geburt wie ein braves kleines Gorillakind archiviere, verarbeitet, gespeichert, kodiert und dann abgelegt werden; auch wenn es keine elektrischen Impulse in meinem Schädel ausgelöst hat, in dieser Region des Gehirns, wo eine Handvoll Millisekunden ausreichen, um ein Gesicht zu berechnen, das man seit Jahren nicht gesehen hat, unabhängig von seinem Alterungsprozess oder seinen Veränderungen; es reicht aus, um ihn weit, weit weg zu suchen, unter denen, die wie schlafende Zellen in mir schlummern und manchmal überraschend in einem Kinofoyer, an einer Straßenecke, als Überbild auf einer Zugscheibe wieder auftauchen, aber meistens inkognito in meinen Träumen herumlungern. Und doch berühre ich ihn: Meine Handynummer ist durch mehrere Hände zu ihm gelangt.
Kerangals Schreiben selbst erweist sich auch in Jour de ressac als eine Form des „Kontakts“. Sie spricht in Un archipel von einer „écriture de contact et de captation“, einer Schrift, die das Berühren, Erleben und die Erfahrung selbst einschließt:
Écriture de contact. C’est pourquoi écrire les lieux, saisir les espaces, inscrire la géographie demande aussitôt de décrire. Autrement dit d’élaborer une écriture de contact et de captation, une écriture qui induit de toucher, d’éprouver, une écriture qui prend immédiatement dimension d’expérience. La langue qui prend corps n’a rien à voir avec l’examen minutieux d’un décor, n’a rien à voir avec la mimésis du réel qu’elle parcourt : son enjeu n’est pas le réel justement mais l’expérience du réel, autrement dit la vie elle-même. Bouche du coquillage posée contre l’oreille, boucle du lasso lancée pour saisir le cou du cheval sauvage : la phrase développe une forme qui tente de ramasser un champ, révèle l’espace tout autant qu’elle l’incarne. Progresse selon des lignes de force qu’elle fait surgir, sinue dans des temps emboîtés, suspend des laps de latence, balise des zones de prolifération. Dès lors, toute description est avant tout l’inscription d’un mou-vement dans la langue : déplacement, aventure, vagabondage, exploration, déroutage, rêverie – cette rêverie qui, comme l’écrit Michel Chaillou, toujours « apporte sa terre ».
Maylis de Kerangal, „Chasseur-cueilleur. Une expérience du tâtonnement“, in Un archipel. Fiction, récits, essais, Presses de l’Université de Montréal, 2022.
Schreibweise des Kontakts. Deshalb erfordert das Beschreiben von Orten, das Erfassen von Räumen und das Festhalten von Geografie sofort das Beschreiben. Mit anderen Worten: Es erfordert die Entwicklung einer Kontakt- und Erfassungsschrift, einer Schrift, die zum Berühren und Erleben anregt, einer Schrift, die sofort eine Erfahrungsdimension annimmt. Die Sprache, die Gestalt annimmt, hat nichts mit der minutiösen Untersuchung einer Kulisse zu tun, nichts mit der Nachahmung der Realität, die sie durchläuft: Ihr Gegenstand ist nicht die Realität, sondern die Erfahrung der Realität, mit anderen Worten das Leben selbst. Der Mund der Muschel am Ohr, die Schleife des Lassos, geworfen, um den Hals des wilden Pferdes zu fangen: Der Satz entwickelt eine Form, die versucht, ein Feld einzufangen, den Raum ebenso offenbart, wie sie ihn verkörpert. Er schreitet entlang der Kraftlinien voran, die er hervorbringt, schlängelt sich durch ineinander verschachtelte Zeiten, hält Latenzzeiten an, markiert Bereiche der Vermehrung. Von da an ist jede Beschreibung vor allem die Einschreibung einer Bewegung in die Sprache: Verschiebung, Abenteuer, Wanderschaft, Erkundung, Irrweg, Träumerei – jene Träumerei, die, wie Michel Chaillou schreibt, immer „ihre Erde mitbringt”.
Kontakt ist ein grundlegendes poetologisches Prinzip in Maylis de Kerangals Werk. Es bezeichnet die mannigfaltigen Verbindungen und Resonanzen, die die Welt, die Menschen, die Vergangenheit und die Sprache miteinander verweben, und ist essenziell für die Darstellung ihrer „Geographien“ und das Aufdecken „sinnstiftender Verbindungen“ in der Komplexität des realen und fiktionalen Raums und der Zeit. Schreibweise des Kontakts meint nicht bloß eine deskriptive Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern eine Schreibweise, die körperlich, affektiv und sinnlich erfahrbar wird – eine Sprache, die sich im Kontakt mit der Welt bildet und dabei selbst zur Erfahrung wird. Das Schreiben von Orten und Räumen ist hier nicht ein technischer Akt der Abbildung, sondern eine Tätigkeit, die Berührung verlangt. Das Schreiben fasst nicht nur Räume ins Wort, sondern fasst sie an: Es geht um ein taktiles Erfassen, ein Schreiben, das berührt und berührt wird. Der Begriff „contact“ verweist auf eine leiblich-sensorische Nähe zur Welt. Kerangal grenzt diese Schreibweise explizit von der klassischen Vorstellung ab, Sprache solle die Welt möglichst getreu abbilden („mimésis du réel“). Ihr geht es nicht um die Rekonstruktion eines Außen, sondern um die Vergegenwärtigung der Erfahrung. Was zählt, ist nicht das „Reale“ als objektive Entität, sondern das Erlebte, das Spürbare, das Subjektive. Die Muschel am Ohr suggeriert Horchen, Lauschen, das Empfangen von Geräuschen, Stimmen, Atmosphären, wie aus der Tiefe der Dinge selbst. Der Lasso-Wurf steht für einen aktiven Zugriff, eine dynamische Bewegung, ein riskantes Einfangen des Flüchtigen, des Wilden. Beide Metaphern verweisen auf eine Sprache, die sich zwischen Passivität und Aktivität bewegt – eine Sprache, die empfängt und ergreift.
Der Satz selbst wird als eine räumlich-zeitliche Bewegung verstanden: Er sammelt, entfaltet, durchquert, verschachtelt Zeiten, markiert Zwischenräume, erschließt Zonen des Werdens. Sprache erscheint hier als eine Art Topologie der Erfahrung, ein sich ausdehnendes, fließendes Medium. Schreiben wird zur Kartografie innerer und äußerer Bewegungen. Die Beschreibung ist selbst ein Prozess – nicht das Ergebnis einer abgeschlossenen Wahrnehmung, sondern eine Bewegung, ein Vagabundieren durch Räume, ein Abirren und Träumen. Besonders die letzte Formulierung – die „rêverie qui apporte sa terre“ (ein Zitat Michel Chaillous) – ist entscheidend: Die Imagination bringt ihre eigene Landschaft hervor, das Träumen erschafft Raum, macht Welt. Kerangals „écriture de contact“ ist ein Konzept von sprachlicher Welterzeugung durch leibliche und imaginative Nähe. Diese Form des Schreibens ist keine bloße Beschreibung der Welt, sondern eine Verkörperung von Welt in Sprache. Die Sprache lebt, fühlt, sucht, irrt, bewegt sich – und in dieser Bewegung schreibt sie nicht nur Orte, sondern schafft sie. Es handelt sich um eine poetische Poetik, in der Schreiben als existenzielle Erfahrung des Raums erscheint – ein Schreiben, das immer auch ein Leben ist.
Canoës
In Maylis de Kerangals Erzählungssammlung Canoës manifestieren sich die Prinzipien der Relationalität und Verbindung, der Analogie, Korrespondenz und Resonanz als tragende Säulen der Komposition und des thematischen Schwerpunkts. Die Satellitenstruktur der Sammlung ermöglicht ein dichtes Netz an internen Verweisen und Korrespondenzen, die das Gefühl der Verbundenheit der Erzählungen verstärken, z.B. wiederkehrende Motive wie das Kanu, die Farbe Rot, Zähne. Die Autorin selbst beschreibt das Werk als einen „Roman in Einzelteilen“ („roman en pièces détachées“), bestehend aus einer zentralen Novelle, „Mustang“, und sieben „Satelliten-Erzählungen“, die alle „miteinander verbunden sind“ („tous sont connectés“) und „miteinander sprechen“ („tous se parlent entre eux“). Dieser Ansatz spiegelt Kerangals allgemeine Kompositionsphilosophie wider, bei der disparate Texte eine Einheit bilden und eine „einzigartige und multiple Landschaft“ arrangieren können, vergleichbar dem Strukturprinzip von Un archipel.
Auch der Körper selbst ist Resonanzraum: Die körperlichen Empfindungen der Erzählerin – ihre Schwindelgefühle und Migräne, das Gefühl, wie ihre Zähne „ausgerissen“ werden könnten, oder die „Hitzeempfindung im Brustkorb“ („sensation de chaleur dans le thorax“) nach dem Berühren eines Steins – sind untrennbar mit ihren inneren und äußeren Erfahrungen verbunden. Der Körper wird zum Ort, an dem die Realität „einschlägt“ oder die eigene Stimme gesucht und gefunden wird. Die Sammlung ist dem „Ergründen der Natur der menschlichen Stimme, ihrer Materialität, ihrer Kräfte“ gewidmet, um eine Art „vokale Welt zu komponieren, erfüllt von Echos, Vibrationen und nachhallenden Spuren“ („monde vocal, empli d’échos, de vibrations, de traces rémanentes“). Die Erzählerin bemerkt, wie Sams Stimme sich an die Umgebung anpasst und „allmählich in deren Gemeinschaft übergeht“ („bascule peu à peu dans leur communauté“), wodurch sie sich „verweben und verschmelzen“ („trouve à s’y enchevêtrer, à s’y fondre“). Dies beschreibt die Relationalität des Individuums zu seiner Umgebung durch stimmliche Mimikry, die jedoch auch eine Entfremdung von der ursprünglichen Identität des Partners bedeutet. Die Sehnsucht, die Stimme des geliebten Verstorbenen im Ohr zu behalten, ist ein zentrales Thema in „un oiseau léger“, wodurch die Stimme über den Tod hinaus präsent bleibt und die Erinnerung lebendig hält. Maylis de Kerangal erforscht in Canoës die Relationalität nicht nur auf der Ebene der Charaktere und ihrer Beziehungen zueinander, sondern auch durch eine komplexe Komposition, die Erzählungen, Motive und sensorische Erfahrungen miteinander verknüpft. Die Prinzipien der Verbindung, Korrespondenz, Analogie und Resonanz sind in der Struktur und dem Stil des Buches tief verankert, um ein reiches und vielschichtiges „vokales Universum“ zu schaffen, in dem das Private und das Universelle, das Vergangene und das Gegenwärtige, in einem ständigen Echo und Widerhall stehen.
Die Resonanz ist der emotionale, sensorische und thematische Widerhall, der durch die Analogien und Korrespondenzen entsteht. Sie verbindet Ereignisse und Charaktere auf einer tiefen, oft intuitiven Ebene und lässt die Vergangenheit in der Gegenwart aufbrechen. In Canoës ist das zentrale Thema die „Natur der menschlichen Stimme, ihre Materialität, ihre Kräfte und eine Art Stimmwelt, voller Echos, Vibrationen, nachklingender Spuren, zu komponieren“ („sonder la nature de la voix humaine, sa matérialité, ses pouvoirs, et composer une sorte de monde vocal, empli d’échos, de vibrations, de traces rémanentes“). Ein besonders eindringliches Beispiel ist die Stimme der verstorbenen Mutter auf dem Anrufbeantworter, die „die Zeit auflöst, Grenzen implodieren lässt“ („l’irruption de la voix des morts dans le monde des vivants défait le temps, implose les frontières“). Diese präsente Abwesenheit lässt die Toten lebendig bleiben und zeigt die tiefe Resonanz des Gedächtnisses und der Gefühle. Die Autorin sucht bewusst nach „einer Stimme, die ihre eigene ist, eine gerechte und einzigartige Stimme, eine unersetzliche Stimme“ („donner à chaque texte une voix qui soit la sienne, une voix juste et unique, une voix insubstituable“), um ihre eigene Präsenz im Text zu finden.
Naissance d’un pont
Maylis de Kerangals Roman Naissance d’un pont knüpft aus Sicht kultureller Vernetzung und ökonomischer Globalisierung ein komplexes Netz aus Analogien, Korrespondenzen und Resonanzen. Der Roman nutzt die Konstruktion eines riesigen Brückenprojekts in der fiktiven kalifornischen Stadt Coca als Fokus, um die Art und Weise zu untersuchen, wie Ferne miteinander verbunden wird und wie sich verschiedene Strömungen – seien es Menschen, Kulturen, Ideen oder die Natur selbst – vermischen und miteinander in Resonanz treten. Der Roman beginnt mit einem Zitat von Jorge Luis Borges, das die Idee der universellen Verbindung des Menschen durch „dunkle Austausche“ in einer „porösen Welt“ hervorhebt, so dass jeder Mensch durch die weltweiten Wasserkreisläufe bereits im Ganges gebadet hat. Die Stadt Coca wird als Metapher für Globalisierung und Ort der Vermischung beschrieben, „polyphonique et omnivore“, die Menschen aus aller Welt anzieht: Koreaner, Tunesier, Kenianer, Chinesen, Iren, Russen, Amerikaner aus Kentucky und Detroit. Diese Vielfalt an Nationalitäten und Hintergründen ist eine direkte Manifestation globaler Vermischung, die zu einer „puissance effective du territoire“ führt. Informationen und Ideen zirkulieren global, so holt sich der Bürgermeister Inspiration für die Transformation Cocas aus Dubai, einer Stadt, die selbst eine Analogie für „l’audace et la maîtrise“ ist.
Der Architekt Ralph Waldo (die Namen im Buch wären einen eigenen Aufsatz wert, so wie hier die Anspielung auf Emerson) konzipiert die Brücke nicht als bloße Verbindung, sondern als „un troisième paysage“. Dies ist eine zentrale Analogie: Die Brücke transzendiert ihre Funktion und wird zu einer neuen Entität, die die zuvor getrennten „zwei Zonen“ (Coca und Edgefront, die Zivilisation und die Natur/Wildnis) verschmilzt und „ein neues Gemeinschaftsgebiet“ schafft. Diese „dritte Landschaft“ ist ein Symbol für die Fähigkeit des Menschen, die Welt neu zu formen und dabei gleichzeitig die vorherigen Elemente zu überwinden und zu integrieren. Der Bau der neuen Brücke bedroht die Existenz des alten Golden Bridge, was einen Konflikt zwischen Moderne und Tradition darstellt, in gewisser Weise vergleichbar dem alten und dem neuen Le Havre in Jour de ressac. Die alten Brücken und Orte werden zu „mémoire“, deren Zerstörung ein Empfinden des Verlusts in der Stadtbevölkerung hervorruft, obwohl der Bürgermeister dies als Fortschritt sieht. Die tiefen Bohrungen für die Fundamente der Brücke reichen bis in „le mille-feuille mnésique“ – die geschichtlichen Schichten der Erde. Dies schafft eine Korrespondenz zwischen der physischen Tiefe der Bauarbeiten und der Tiefe der Geschichte und des Gedächtnisses, das unter der Oberfläche liegt und oft schmerzhaft wieder ans Licht gebracht wird. Maylis de Kerangal hat in Naissance d’un pont durch die sorgfältige Verknüpfung von Analogien, Korrespondenzen und Resonanzen ein vielschichtiges Porträt der Globalisierung und der menschlichen Ambition schafft. Die Brücke, der Fluss und die Stadt Coca werden zu dynamischen Symbolen für die komplexen und oft widersprüchlichen Verbindungen, die ferne Orte und unterschiedliche Schicksale im globalen Zeitalter miteinander verweben und gleichzeitig tiefe, oft unbemerkte Resonanzen in den Individuen hinterlassen.
Seyvoz
Die Absicht, verborgene Verbindungen und tiefe Echos zwischen scheinbar disparaten Elementen der Realität freizulegen, wird in Seyvoz, einem Gemeinschaftsroman mit Joy Sorman, besonders deutlich, da das Werk zwei Erzählstränge und Zeitebenen verknüpft, die durch einen immensen Staudamm in den Alpen verbunden sind. Kerangal verwendet Analogien und Korrespondenzen auf mehreren Ebenen: Der Roman erzählt die Geschichte des imaginären Dorfes Seyvoz, das in den 1950er Jahren einem Staudamm weichen musste und unter den Wassermassen verschwand. Parallel dazu folgt die Handlung dem Ingenieur Tomi Motz in der Gegenwart, dessen Mission am Damm zu einem „vertige cauchemardesque“ (alptraumhaften Taumeln) wird. Der Damm ist nicht nur ein physisches Bauwerk, sondern eine Analogie für die Komplexität der Zeit selbst – er „verschlingt“ die Vergangenheit, während er die Gegenwart formt. Die Geschichte des untergegangenen Dorfes und die moderne Mission des Ingenieurs resonieren miteinander, indem sie Themen wie Verlust, Fortschritt und die menschliche Beziehung zur Landschaft aufwerfen. Das Verschwinden des Dorfes unter den Wassern spiegelt das Taumeln wider, das Tomi erlebt, und verknüpft die physische Erfahrung mit einer tiefen existenziellen Unsicherheit.
Ici les généalogies se dévident quasiment sans rupture de lignage depuis le XIIIe siècle – celle des hommes mais aussi celle des bêtes –, les registres municipaux semblent avoir été tenus par une main unique, la même main durant huit siècles, la même graphie soignée, quasi enfantine, qui atteste à elle seule la stabilité, la sédentarité, la continuité des présences humaines en cet endroit, et enchevêtre si peu de patronymes – Guillermoz, Brax, Colevert, Patrecamps, Bouc, Michélis – que l’hypothèse d’une forte consanguinité des alliances ne m’a jamais semblé farfelue. Dans ces archives claires, chaque vie se fait voir : une fille partie se marier dans la vallée voisine en 1507 laisse un trou béant et la mort d’un puîné dans une fratrie de neuf jette sur la page une ombre noire, le choléra de 1832 crée une fosse profonde et les conscrits morts durant la Grande Guerre un gouffre tel que le village dut sans doute sa survie à l’émergence du tourisme alpestre dans les années 20, et à l’arrivée de quelques étrangers entreprenants venus de Genève et de Lyon – hôtels, restaurants, sociétés de guide, photographes. Les mois d’hiver, les migrations saisonnières conduisent les jeunes vers l’Italie où ils trouvent à s’embaucher dans les usines de Turin, quand quelques-uns montent à Lyon ou à Paris suivant de très anciennes filières, et ils ont beau se frotter à la grande ville, au nombre, à d’autres cadences, aux lueurs de la nuit, en mars ils sont de retour à Seyvoz. À la lecture de ces cahiers, le vallon semble exercer une puissante attraction sur les siens, centrifuge, il est difficile de s’en arracher.
Maylis de Kerangal und Joy Sorman, Seyvoz.
Hier lassen sich die Stammbäume seit dem 13. Jahrhundert fast lückenlos zurückverfolgen – sowohl die der Menschen als auch die der Tiere. Die Gemeinderegister scheinen von einer einzigen Hand geführt worden zu sein, derselben Hand über acht Jahrhunderte hinweg, mit derselben sorgfältigen, fast kindlichen Handschrift, die allein schon von der Stabilität, der Sesshaftigkeit und der Kontinuität der menschlichen Präsenz an diesem Ort zeugt und so wenige Familiennamen vermischt – Guillermoz, Brax, Colevert, Patrecamps, Bouc, Michélis –, dass mir die Vermutung einer starken Blutsverwandtschaft in den Ehen nie abwegig erschien. In diesen übersichtlichen Archiven wird jedes Leben sichtbar: Eine Tochter, die 1507 in das benachbarte Tal heiratete, hinterlässt eine klaffende Lücke, und der Tod eines Jüngsten in einer neunköpfigen Geschwistergruppe wirft einen schwarzen Schatten auf die Seite, Die Cholera von 1832 hinterließ eine tiefe Grube, und die im Ersten Weltkrieg gefallenen Wehrpflichtigen eine solche Kluft, dass das Dorf sein Überleben zweifellos dem Aufkommen des Alpentourismus in den 1920er Jahren und der Ankunft einiger unternehmungslustiger Fremder aus Genf und Lyon zu verdanken hatte – Hotels, Restaurants, Reiseveranstalter, Fotografen. In den Wintermonaten treibt die saisonale Abwanderung die jungen Leute nach Italien, wo sie in den Fabriken von Turin Arbeit finden, während einige wenige nach Lyon oder Paris ziehen, wo sie sehr alten Traditionen folgen. Doch trotz der Großstadt, der Menschenmassen, des anderen Lebensrhythmus und der nächtlichen Lichter kehren sie im März nach Seyvoz zurück. Beim Lesen dieser Hefte scheint das Tal eine starke Anziehungskraft auf seine Bewohner auszuüben, eine Art Zentrifugalkraft, der man sich nur schwer entziehen kann.
Kerangal betrachtet Orte als „coffres, des gisements, des potentialités“ (Truhen, Lagerstätten, Potenziale). Die Erkundung der geologischen Schichten wird zu einer Metapher für die Entdeckung verborgener Geschichten und Erinnerungen. Die geologische und historische Schichtung der Landschaft (analog zu den „strata“ und „paysages“ in Kerangals Gesamtwerk) wird direkt auf die Familiengeschichten und die Tragödien des Dorfes übertragen. Das Konzept, dass „jeder Ort materielle Spuren und unsichtbare Netzwerke hinterlässt“, findet hier eine kraftvolle Korrespondenz in der Idee, dass die Landschaft selbst zum Archiv wird, in dem die Lebenslinien sichtbar und fühlbar bleiben, auch wenn sie physisch nicht mehr existieren. Die „songlines“ der Aborigines, die geografische Wege mit mythischen Erzählungen verbinden, sind eine explizite Analogie, die Kerangal in diesem Kontext verwendet, um zu zeigen, wie Orte die „DNA eines Clans“ tragen können.
Kerangal/Sorman weben in Seyvoz Referenzen zu anderen literarischen und filmischen Werken ein, um die diffuse Angst und das Gefühl der „unheimlichen“ Vertrautheit zu verstärken. Der Roman wird von einer „diffusen Angst“ umhüllt, genährt von alten Bildern, vom Hotel aus Shining bis zu den bergigen Kulissen von Twin Peaks, über die beängstigenden Einbrüche in die Vierte Dimension, ohne dabei vor allem Les Revenants zu vergessen, diese französische Serie, deren Kulisse der Tignes-Damm ist. Diese kulturellen Referenzen sind keine bloßen Verzierungen, sondern dienen als Analogie für die übernatürliche und beunruhigende Atmosphäre des Romans. Sie rufen bekannte Bilder des Unheimlichen und des Wiederkehrenden im Leser auf – und somit das Thema der Vergangenheit, die sich in die Gegenwart drängt, auf einer meta-fiktionalen Ebene verstärken. Kerangal nutzt diese Bezüge, um das „Dauerhafte der Erfahrungen“ zu betonen und die „Anmutung der Fremdheit“ in der Literatur zu erforschen.
Kerangal versteht „Empathie“ in der Literatur als eine „Schrift des Kontakts und des Erfassens“, die dazu anregt, zu berühren und zu erleben, und die die Textur der Welt annimmt, um absolut zeitgenössisch zu sein. In „Danseurs, plongeurs, descripteurs“ (aus Un Archipel) betont Maylis de Kerangal die zentrale Bedeutung von Beschreibung und Sprache in diesem kreativen Prozess. Kerangal beschreibt ihren Schreibprozess als eine Suche nach „dem Wort“. Diese Suche ist jedoch nicht darauf ausgelegt, eine einzelne Lösung zu finden, sondern einen Prozess in Gang zu setzen, der eine „Dauer“ entfaltet und die „Möglichkeit der Literatur“ eröffnet. Für Kerangal ist Beschreibung kein Verlassen der Fiktion, sondern ein Weg, um Zugang zu ihr zu erhalten, der es ihr ermöglicht, zu „imaginieren, zu erfinden“. Sie sieht den Akt des Beschreibens als eine „paradoxe Operation“, die einer „Torsion des Körpers, einer Art Tanz“ gleicht. Es geht darum, sich den „Oberflächen“ der Dinge zu widmen und den Satz selbst zu einer „Oberfläche“ zu machen, die die Textur der Welt annimmt, um „Sprache mit ihr aufzunehmen“. Diese „phänomenologische Annäherung, die auf eine verkörperte Schrift abzielt“, integriert alle ihre Wahrnehmungen und stellt die sensorische Erfahrung und Synästhesie in den Mittelpunkt ihrer literarischen Praxis.
Kerangal ist bekannt für ihre detailreiche, präzise und poetische Sprache, die technische und fachsprachliche Begriffe mit einer sensorischen Prosa verbindet. Dies ermöglicht es ihr, die Materialität der Welt greifbar zu machen. Ein Aspekt ihrer Poetik ist das Sammeln und Mobilisieren von Fachlexika. Sie beschreibt, wie diese spezialisierten Vokabulare ihr „fremd“ erscheinen und „ins Auge springen“, sich auf der Seite abheben „wie sich Eigennamen immer abheben“. Sie findet in ihnen eine „faszinierende, gebrochene Schönheit“, die von Erfahrungen und Wissen geprägt ist und geeignet ist, die Sprache des Romans zu „stören“ und ihr „Körnung“ zu verleihen. Über ihre poetische Natur hinaus dienen diese Lexika dazu, den Text der Herrschaft der Präzision zu unterwerfen. Kerangal formuliert, dass Präzision eine Form des Widerstands ist, die gegen die „Massenhaftigkeit der Imaginären“ und die „Standardisierung der Sprache“ kämpft, welche eine „Unaufmerksamkeit gegenüber den Leben selbst“ ausdrückt. Die Präzision offenbart die „unendliche Vielfalt der Welten“ und macht das Detail der Welt sichtbar, wie beispielsweise eine spezifische Blau-Nuance, die durch historische Herstellungsprozesse entsteht. Kerangal räumt ein, dass eine solche „zusammengesetzte, heterogene, sperrige Sprache“ als „aristokratische Position des Schreibens“ wahrgenommen werden könnte. Sie argumentiert jedoch, dass die „Banalität“ entsteht, wenn Dinge konturlos werden und die Wörter zu groß für die Dinge sind. Im Gegensatz dazu hilft die Präzision, zu differenzieren, zu spezifizieren und zu individualisieren. Beschreibung wird somit zu einem „politischen Akt“ der Benennung, der gegen die „Gewalt der Undifferenziertheit“ ankämpft und Leben sichtbar macht, wie in dem Beispiel der Identifizierung ertrunkener Migranten. Indem sie die Dinge bei ihrem „genauesten Namen“ nennt, hebt die Literatur das Existierende hervor.
So wird die Sprache selbst wird zum Schauplatz von Analogien und Korrespondenzen. Indem sie „ungebräuchliche Taxonomien, vergessene Vokabulare, stillgelegte Lexika, proletarische, veraltete, umgangssprachliche Glossare“ verwendet, dringt Kerangal in die „Katakomben der Sprache“ vor, um verborgene Bedeutungen und vergangene Welten wieder ans Licht zu bringen. Diese sprachliche „Archäologie“ ermöglicht eine tiefe Resonanz zwischen der Erzählebene und der Ebene der sprachlichen Materie, wodurch das Gefühl vermittelt wird, dass die Geschichte des Ortes in der Sprache selbst eingeschrieben ist. Ihre Prosa ist darauf ausgerichtet, eine „synesthésie“ zu erzeugen, bei der die Sinne miteinander verbunden werden – „Gerüche sehen, Farben hören, Klänge berühren“ – und die Welt nicht nur beschrieben, sondern erfahren wird.
In Seyvoz wird ihre Methode der Analogien, Korrespondenzen und Resonanzen konsequent eingesetzt. Sie verknüpft die physische Präsenz des Dammes mit der verdrängten Geschichte des Dorfes, lässt die Landschaft als lebendiges Archiv erstehen und verstärkt die emotionalen und existenziellen Themen durch intertextuelle Bezüge und eine Sprache, die selbst zu einem Instrument der Offenbarung wird. Das Ergebnis ist ein vielschichtiges Werk, das den Leser einlädt, über die sichtbare Oberfläche der Welt hinauszublicken und die tiefen, oft verborgenen Verbindungen zu entdecken, die sie zusammenhalten.
Kiruna
Maylis de Kerangals Roman Kiruna veranschaulicht Kerangals Bekenntnis zum Werkprinzip der Analogien, Korrespondenzen und Resonanzen im Rahmen eines Aufenthalts zum Thema Bergbau, das sie als Linse nutzt, um die Verflechtung von Mensch, Natur und Geschichte zu bearbeiten. Die Erzählerin begleitet eine Geologin, Alice, die das Innere der Erde erkundet. Ihre Tätigkeit, den Boden zu „entziffern“ und „interpretieren“, wird zu einer direkten Analogie für Kerangals eigene literarische Methodik.
S’il est en exploration, il intervient en amont dans le processus d’exploitation du minerai : il doit commencer par localiser le filon, travaille à déchiffrer un sol, à interpréter un relief, à identifier tout ce qui affleure de minéral. C’est une période de terrain, il s’agit de prospecter la zone, d’effectuer des prélèvements, de recueillir des fragments de roches, des échantillons de terres, puis de recouper ces indices et de mobiliser toutes les données dont on dispose pour élaborer une sorte de scénario géologique.
Maylis de Kerangal, Kiruna.
Wenn er in der Exploration tätig ist, greift er im Vorfeld des Erzabbaus ein: Er muss zunächst die Ader lokalisieren, den Boden untersuchen, das Relief interpretieren und alle Mineralvorkommen identifizieren. Es ist eine Zeit der Feldarbeit, in der das Gebiet erkundet, Proben entnommen, Gesteinsfragmente und Bodenproben gesammelt werden müssen, um dann diese Hinweise zu vergleichen und alle verfügbaren Daten zu nutzen, um eine Art geologisches Szenario zu erstellen.
Die Arbeit der Geologin, das „Entziffern eines Bodens“ und „Interpretieren eines Reliefs“, steht in direkter Korrespondenz zu Kerangals eigenem Schreibprozess. Sie selbst beschreibt ihre Herangehensweise als „archéologie“ und „tâtonnement“ (Tasten, Herantasten), bei dem sie „les plis du sol et m’enfoncer dans l’épaisseur du temps“ (die Falten des Bodens und sich in die Dicke der Zeit vertiefen) sondiert. Beide versuchen, verborgene „Szenarien“ und Bedeutungen ans Licht zu bringen. Die Mine dient als „Tor“ und lebendiger Organismus. Kerangal sucht sie nicht nur als physischen Ort auf, sondern als einen Zugang zu den tiefsten Strukturen der Erde und der menschlichen Existenz. Sie anthropomorphisiert die Mine, indem sie sie als einen Raum beschreibt, der „belebt“ sein könnte.
J’ai cherché une mine comme on cherche un point de passage dans le sous-sol terrestre, un accès aux formes qui le structurent, aux matières qui le composent, aux mouvements qui l’animent, à ce qu’il recèle de trésors et de ténèbres, à ce qu’il suscite comme convoitise et précipite comme invention. Je l’ai cherchée comme on cherche la porte de cet espace inconnu sur quoi s’appuient nos existences, espace dont je ne sais s’il est vide ou plein, s’il est creusé d’alvéoles, de grottes ou de galeries, percé de tunnels ou aménagé de bunkers, s’il est habité, s’il est vivant.
Maylis de Kerangal, Kiruna.
Ich habe nach einer Mine gesucht, wie man nach einem Durchgang in der Erde sucht, nach einem Zugang zu den Formen, die sie strukturieren, zu den Stoffen, aus denen sie besteht, zu den Bewegungen, die sie beleben, zu den Schätzen und der Dunkelheit, die sie birgt, zu dem, was sie an Begierde weckt und an Erfindungen hervorbringt. Ich habe sie gesucht wie man die Tür zu diesem unbekannten Raum sucht, auf dem unser Dasein ruht, einen Raum, von dem ich nicht weiß, ob er leer oder voll ist, ob er von Hohlräumen, Höhlen oder Gängen durchzogen, von Tunneln durchbohrt oder mit Bunkern versehen ist, ob er bewohnt ist, ob er lebt.
Dieser Auszug stellt eine Analogie her zwischen der Suche nach einer Mine und der Suche nach einem verborgenen, lebendigen Raum, der unsere Existenz trägt. Die Mine wird zu einem Resonanzkörper für die Verbindung zwischen menschlicher Geschichte, Begehrlichkeiten und dem unbekannten Inneren der Erde. Es ist, als würde Kerangal selbst wie eine Geologin in der Mine nach diesen verborgenen „Schätzen und Finsternissen“ graben. Der Roman legt die Geschichte Kirunas, die direkt mit dem Eisenerzabbau verbunden ist und die Stadt veranlasst, sich zu verschieben, in tiefere, ältere Schichten. Die Landschaft wird zu einem Archiv, das Informationen über vergangene Zeiten bewahrt.
Mais ces informations, issues de la cartographie géologique d’un sol, n’ont su recouvrir une autre donnée, essentielle, qui situe Kiruna dans un temps qui précéda la Suède et précéda la mine, un temps qui fait apparaître la Laponie… et les Sámis, dernier peuple autochtone d’Europe…
Maylis de Kerangal, Kiruna.
Diese Detailangaben, die aus der geologischen Kartografie eines Bodens stammen, konnten jedoch eine weitere wesentliche Information nicht abdecken, die Kiruna in eine Zeit vor Schweden und vor dem Bergbau versetzt, eine Zeit, in der Lappland entstand … und die Samen, das letzte indigene Volk Europas …
Hier wird die geologische Kartierung des Bodens zur Korrespondenz der Geschichte der Sami, des indigenen Volkes Lapplands, die zeitlich vor der Gründung Schwedens und der Mine existierten. Diese Schichtenbildung des Landes ist eine Analogie zur tiefen Zeit und zur unvergänglichen Präsenz der indigenen Geschichte, die unter der Oberfläche der modernen Stadt resoniert, mit dem Gedanken der geschichteten Landschaft, die „die DNA eines Clans“ aufnehmen kann. In Kiruna wird das Vokabular des Bergbaus und der Geologie integriert, was dem Text eine einzigartige Textur und Authentizität verleiht. Kiruna stellt verschiedene Dimensionen der Stadt (historisch, städtebaulich, wirtschaftlich, politisch, geografisch und menschlich) kaleidoskopartig dar. Die Ich-Erzählerin verbindet sich mit einem „mineur de Kiruna“ (einem Bergarbeiter aus Kiruna), was die universelle menschliche Verbundenheit über geografische und soziale Grenzen hinweg verdeutlicht.
Il est question d’une circulation sans entraves, d’une fluidité sans frein, de lignes souples, de chemins obliques, de pistes invisibles – celles de la pensée ou du rêve, par exemple. Non pas d’une utopie mais d’une réalité que nous expérimenterions collectivement et dont le roman serait le plan, la carte, le guide : nous serions insérés dans un réseau de connecteurs qui maillent tous les paysages du globe, par-delà l’arbitraire de la naissance et les classes sociales, les castes et les ghettos, nous serions les points de contact d’un étoilement vertigineux où chacun d’entre nous est relié à tous – danseurs et plongeurs, descripteurs, lecteurs.
Maylis de Kerangal, „Danseurs, plongeurs, descripteurs. La puissance politique de la description littéraire“, in Un archipel.
Es geht um ungehinderten Verkehr, um ungehinderten Fluss, um flexible Linien, um kreuzende Wege, um unsichtbare Spuren – zum Beispiel die des Denkens oder Träumens. Nicht um eine Utopie, sondern um eine Realität, die wir gemeinsam erleben würden und deren Roman der Plan, die Karte, der Leitfaden wäre: Wir wären in ein Netz von Verbindungen eingebunden, das alle Landschaften der Welt über die Willkür der Geburt und die sozialen Klassen, Kasten und Ghettos hinweg miteinander verknüpft, wir wären die Berührungspunkte einer schwindelerregenden Sternenkonstellation, in der jeder von uns mit allen verbunden ist – Tänzer und Taucher, Beschreiber, Leser.
Die Analogie der universellen Vernetzung unterstreicht Kerangals tiefes Interesse an unsichtbaren Verbindungen, die Individuen und Geschichten quer durch die Welt in Resonanz treten lassen, und erweitert das Verständnis von „Korrespondenz“ über die rein physische oder historische Ebene hinaus auf eine existenzielle. Kerangal spricht in „Danseurs, plongeurs, descripteurs“ über die Idee einer ungehinderten Zirkulation und Fließfähigkeit, die über physische Grenzen hinausgeht und eine Vernetzung der globalen Landschaften ermöglicht. Sie beschreibt, wie wir in ein Netzwerk von Konnektoren eingefügt sind, das alle Landschaften des Globus miteinander verbindet, „jenseits der Willkür der Geburt und der sozialen Klassen, der Kasten und der Ghettos“. Der Roman dient hier als Plan, Karte und Führer für diese kollektiv erfahrbare Realität. Der Roman wird in diesem Sinne zu einem Ort der Forschung und des Experimentierens, an dem man die Position des Anderen einnehmen und die Komplexität der Welt sichtbar machen kann.
Un monde à portée de main
Maylis de Kerangals Roman folgt der jungen Paula Karst, die an einem Institut in Brüssel die Kunst des Trompe-l’œil lernt. Durch Paulas Ausbildung und ihre Begegnungen untersucht der Roman, wie die menschliche Wahrnehmung, die Kunst und die Zeit miteinander in Verbindung stehen und wie scheinbar getrennte Ebenen der Realität miteinander in Resonanz treten. Kerangal nutzt in Un monde à portée de main Analogien, Korrespondenzen und Resonanzen auf mehreren Ebenen: Das Kernmotiv des Romans, die Täuschungsmalerei, dient als eine direkte Analogie zu Kerangals eigenem literarischen Schaffen. Es geht darum, Realität so präzise nachzubilden, dass sie eine Illusion erzeugt, die wiederum zur Wahrheit wird. Der Akt des Kopierens oder Reproduzierens ist für Kerangal keine mindere Form der Kunst, sondern ein Weg, das Original zu erreichen und dem Verlorenen eine Präsenz zu verleihen. „Es ist ein Paradox, aber um etwas Unechtes zu schaffen, braucht man etwas Echtes. Die richtigen Farben und Materialien auswählen.“ („C’est un paradoxe, mais pour faire du faux, il faut du vrai. Choisir les bonnes couleurs, les matières adéquates.“) Die Fähigkeit der Täuschungsmalerei, die Realität so präzise nachzubilden, dass sie täuschend echt wirkt, entspricht dem Kerangalschem Anspruch an ihre Prosa: durch höchste Präzision der Beschreibung eine tiefe Resonanz mit der Realität zu erzeugen. Die Autorin selbst formuliert so, dass sie ihre „eigene literarische Kunst in ein Spiegelbild setzt“, indem sie Paulas Beziehung zur Sprache und zur Realität durch ihr Notizbuch der Begriffe beschreibt. Das Fälschen oder Nachbilden von Kunstwerken ist nicht nur eine technische Übung, sondern eine existentielle Suche, die zur Wiederbelebung von Geschichte und Präsenz führt.
Der Roman taucht tief in die Materialität der Welt ein, insbesondere durch die Darstellung von Marmor und Holz, die Paula malt. Diese Materialien sind nicht nur statische Objekte, sondern tragen die Geschichte der Erde und der Zeit in sich. Dabei wird etwa der Marmor, „cerfontaine“, zu einer Analogie und Korrespondenz der Erdgeschichte. Paula lernt, dass die Farben und Muster des Marmors nicht zufällig sind, sondern die Ablagerungen von Millionen von Jahren tropischer Klimate, Korallenriffe und fossiler Bakterien widerspiegeln. Dies führt zu einer tiefen Resonanz zwischen der menschlichen Gegenwart (Paulas Arbeit) und der immensen, kaum vorstellbaren Zeit der Erdgeschichte. Der Boden und seine Zusammensetzung werden als ein „Chaos aus Zeit, Zufälligkeiten und Kräften“ beschrieben, auf denen unsere Existenz ruht. Auch Paulas Nachname „Karst“ selbst verweist auf eine geomorphologische Struktur aus Kalkgestein, die von Höhlen und unterirdischen Flüssen durchzogen ist, was ihre eigene „mineralische“ und „fossile“ Schönheit symbolisiert.
Ein weiterer zentraler Ort des Romans ist die Lascaux-Höhle, insbesondere deren Faksimile (Lascaux IV). Hier verschmelzen prähistorische Kunst, moderne Reproduktionstechniken und Paulas persönliche Entwicklung. Das Faksimile von Lascaux ist ein Ort, an dem sich Vergangenheit und Gegenwart, Original und Kopie, in Resonanz befinden. Die Arbeit des Kopisten, der sich „vor Lascaux zurücknehmen“ muss, ist eine Analogie zum Schreiben selbst, wo die Autorin versucht, die „Spuren einer Katastrophe zu sondieren“, eine „untergetauchte, aber eindringliche Erinnerung“ wieder zum Vorschein zu bringen und die „Zeitschichten, die in den Falten der Landschaft liegen,“ offenzulegen. Das Nachbilden der prähistorischen Malereien wird zu einer Möglichkeit, die ursprüngliche Empfindung zu berühren, die sowohl „archaisch als auch modern“ ist. Kerangal sieht in dieser Reproduktionsfähigkeit „etwas von unserer Fähigkeit zu zerstören und unserer Fähigkeit zu rekonstruieren, zu reproduzieren, neu zu erschaffen“.
Kerangal ist bekannt für ihre akribische Detailgenauigkeit und die Verwendung spezialisierter Vokabulare. In Un monde à portée de main wird dies durch Paulas Notizbuch deutlich, in dem sie das Fachvokabular der Malerei und der Geologie sammelt, vgl. dazu das unter dem Punkt Kiruna Gesagte. Paulas Anhäufen von Fachvokabular dient als Korrespondenz zu Kerangals eigener Herangehensweise: Sie sammelt Fachbegriffe, um ihrer Prosa Textur zu verleihen und sie präziser zu gestalten. Diese sprachliche Präzision dient als Widerstand gegen die „Massifizierung der Imaginationen“ und die „Standardisierung der Sprache“, die die „unendliche Vielfalt der Welten“ verarmen lassen. Durch die genaue Benennung und Beschreibung wird die Materie des Malens, aber auch die Materie der Welt, lebendig und erfahrbar. Die Sprache wird hier zu Paulas „Schiene und Kompass“ und zum Anker in der Realität, wenn die Illusion geschaffen wird. Der Roman zeigt, wie die Kunst des Trompe-l’œil, die geologische Geschichte der Materialien und die sprachliche Präzision zusammenwirken, um die tiefe Verbundenheit zwischen scheinbar disparaten Realitätsebenen aufzudecken. Durch Paulas Reise und ihre Arbeit wird die Welt nicht nur an ihrer Oberfläche, sondern in ihrer komplexen, geschichteten, und stets in Resonanz stehenden Materialität und Historizität wahrnehmbar. Es ist ein Buch, das die Welt „in Reichweite“ („à portée de main“) bringt, indem es die unsichtbaren Fäden sichtbar macht, die alles miteinander verbinden.
Zum Romanschluss von Jour de ressac
Im letzten Teil von Maylis de Kerangals Roman Jour de ressac verdichten sich die zentralen Themen der Identität, der Erinnerung und der konstituierenden Kraft des Erzählens zu einem Ausklang und Neubeginn. Die Geschichte des toten Mannes vom Strand, die Suche nach Craven und die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit führen die Protagonistin nicht zu einer simplen Antwort oder einer klaren Identifikation des Leichnams. Sie verzichtet bewusst darauf, Cravens besonderes Merkmal – die drei Muttermale am Ellbogen – überprüfen zu lassen. Dies ist eine bewusste Entscheidung, die die Ambivalenz aufrechterhält und die Erkenntnis zulässt, dass die Vergangenheit kein „fossiler Stoff“ ist, sondern „im Laufe des Lebens unendlich evolviert“ und „lebendig bleibt“. Der Roman akzeptiert die Fragmentierung und die Unlösbarkeit vieler Fragen als inhärenten Bestandteil der menschlichen Erfahrung und des Erinnerungsprozesses. Die Wiedergewinnung von Sinn geschieht nicht durch die Identifizierung des Toten, sondern durch die narrative Reise selbst. Die Protagonistin, eine „Suchsubjekt“, findet ihre eigene Identität und ihre Rolle in der Welt neu, indem sie die verschiedenen „Geschichten“, die sie umgeben und betreffen, miteinander verknüpft. Das Verknüpfen der Polizeimeldung mit ihrer persönlichen Geschichte, die Begegnungen mit unterschiedlichen Charakteren wie dem Baggerfahrer Patrice, dem Polizisten Zambra, der Kinomitarbeiterin, Virginia aus dem Bar des Sirènes und der Gerichtsmedizinerin Rym – all diese Fäden weben ein neues Verständnis der Welt und ihrer selbst. Die „Theorie der sechs Händedrücke“, die eine universelle Verbundenheit suggeriert, wird zu einer Metapher für das Netz, in dem sich alle Geschichten und Leben verflechten, selbst wenn die Verbindungen im Einzelnen unbekannt bleiben.
Die Erzählerin kehrt schließlich nach Paris zurück und erlebt eine tiefgreifende Desorientierung, die sich in alltäglichen, aber bedeutungsvollen Momenten manifestiert. Sie vergisst den Geburtstag ihrer Tochter Maïa, die an diesem Tag zwanzig wird. Diese Vergesslichkeit ist nicht nur ein Zeichen persönlicher Überforderung durch die jüngsten Ereignisse, sondern symbolisiert auch die Zerbrechlichkeit und Rekonstruktion der Erinnerung, ein Leitmotiv des gesamten Romans. Die Erzählerin ringt mit ihrer eigenen Vergangenheit, wie ihre Schwierigkeit zeigt, sich an Maïas Geburt zu erinnern oder ihr Aussehen als Neugeborenes zu beschreiben. Für sie ist eine Erinnerung an das Kind nur noch durch ein Foto möglich, was die Flüchtigkeit des Gedächtnisses und die Notwendigkeit externer Fixpunkte für die Identität unterstreicht: „diese kleine, benommene, zerknitterte Figur, die sich bei ihrer Geburt zu mir umgedreht hatte, während ich mir immer wieder genau sagte, erinnere dich, erinnere dich an diese Sekunde, diese kleine Figur verblasst“.
Blaises Kauf einer alten Druckmaschine, einer „Platine OFMI Heidelberg von 1962“, ist ein wichtiger Wendepunkt. Diese Maschine, die er als „ein altes, stolzes und verschlossenes Eisengestalt“ beschreibt, dient ihm nicht nur zur Produktion von hochwertigen Papeterien, sondern auch zur Herstellung „sicherer Dokumente – Gerichtsakten, Echtheitszertifikate, Diplome, Verträge“. Dies spiegelt die Thematik der Authentizität und der Fälschung wider, die durch die KI-Thematik bereits präsent ist. Während er die Maschine betrachtet, zieht Blaise eine direkte Parallele zur Geschichte des toten Mannes vom Strand, indem er auf den berühmten, ungelösten Fall des „Tamam Shud“-Mannes in Australien verweist. Auch dort wurde am Strand ein Toter gefunden, in dessen Hosentasche ein bedrucktes Papier mit den Worten „taman shud“ (persisch für „beendet“ oder „fertig“) aus Omar Khayyams Gedichten gefunden wurde. Blaise bemerkt: „zum Glück gibt es in dieser Welt noch ein wenig Geheimnis“. Diese direkte Verknüpfung unterstreicht die metafiktionale Ebene des Romans: Blaises Geschichte ist selbst eine Geschichte vom Geschichtenerzählen, von der Suche nach Bedeutung in fragmentierten Hinweisen und der Konstitution von Sinn. Der parallele Fall betont, dass die Suche nach Identität und Wahrheit oft eine narrative Rekonstruktion ist, die mit Rätseln und Ungewissheiten leben muss.
Die Erzählerin artikuliert eine zentrale Erkenntnis: „Die Vergangenheit war keine fossile Materie, sie entwickelte sich in der Zeit, flexibel, plastisch, sie entwickelte sich unendlich, sie wurde im Laufe des Lebens wieder aufgeladen, die Vergangenheit blieb lebendig“. Diese Aussage steht im Kontrast zu Ryms, der Gerichtsmedizinerin, mechanischer Sicht auf den Körper und die Wahrheit, die bei der Öffnung eines Körpers feststellt: „in gewisser Weise ist es bereits vorbei“. Für die Erzählerin ist die Vergangenheit kein statisches Archiv, sondern ein dynamischer, sich ständig neu konstituierender Prozess, der durch neue Erfahrungen und Perspektiven angereichert wird. Dies ist entscheidend für ihr Verständnis des toten Mannes und Craves, dessen Gesicht sich im Laufe der Jahre verändert haben mag, aber dessen Wesen durch die Erzählung wiederbelebt werden kann.
Als nach Maïas Geburtstag Blaise sie fragt: „also?“ – eine offene, weitreichende Frage – kann die Erzählerin nur antworten: „ich werde es dir erzählen“. Diese abschließende Geste ist die tiefste autopoetische Erklärung des Romans selbst. Sie ist nicht nur eine schlichte Zusage, sondern eine Anerkennung, dass der Weg zur Wahrheit, zur Verbindung fragmentierter Erfahrungen und zur Benennung des Unaussprechlichen im Akt des Erzählens liegt. Der Roman Jour de ressac ist somit selbst das Ergebnis dieser versprochenen Erzählung. Er ist der Akt, der die Erfahrungen der Erzählerin konstituiert, ihnen Form und Bedeutung verleiht und sie dem Leser zugänglich macht. Die Erzählerin findet ihren Halt und ihre Identität nicht in festen Fakten oder einer stabilen Erinnerung, sondern in der Bewegung des Erzählens, im Weben von Geschichten, die Vergangenes und Gegenwärtiges, Persönliches und Allgemeines miteinander verbinden. Das Erzählen wird zum Überlebensmechanismus und zur Quelle des Sinns in einer Welt, die von Verlust, Unsicherheit und dem Vordringen des Künstlichen geprägt ist.
Anmerkungen- „Je n’avais pratiquement fait que penser à ça depuis ce matin, mais y penser avait fini par prendre la forme d’une ville, d’un premier amour, la forme d’un porte-conteneurs.“>>>