Frankreich als griechische Polis: François Hartog

François Hartogs so gewichtiger wie schmaler Band von gerade mal 54 Seiten, Das antike Griechenland ist die schönste Erfindung der Neuzeit (2021), der als dritter Teil der Gunnar Hering Lectures erschienen ist, lädt dazu ein, die gewohnte Rolle Griechenlands in der westlichen Kultur kritisch zu überdenken. Die Arbeit, die sich explizit an Paul Valérys berühmten Ausspruch anlehnt, stellt die zentrale Frage, wie das antike Griechenland zu seiner prägnanten Stellung in der abendländischen Geistesgeschichte gelangte. Hartogs Untersuchung ist weniger eine klassische Geschichtsschreibung als vielmehr eine tief ausgreifende Rezeptionsstudie, die den „Fluss“, der die klassische Antike von ihren modernen Aneignungen trennt, überwinden und dabei „Brücken schlagen und Brüche ermitteln“ will. Als Korpus dienen Texte und Konzeptionen von antiken, deutschen und französischen Denkern – von Horaz und Vergil über Winckelmann und Humboldt bis zu Perrault, Constant, Taine, Renan und schließlich Arendt, Vernant und Castoriadis. Die leitenden Konzepte, mit denen Hartog dieses weitläufige Material analysiert, umfassen die oppositionellen Paare Griechen–Barbaren, Heiden–Christen und, besonders zentral, Alte–Moderne, sowie die Idee der Nachahmung. Die Methode ist primär komparativ und historisch-analytisch, indem sie die divergierenden Wege Frankreichs und Deutschlands in ihrer jeweiligen Auseinandersetzung mit Griechenland detailliert nachzeichnet.

Der Schluss des Bandes greift die Ausgangsfrage auf, wo wir heute stehen, da die „Moderne“, von der Valéry sprach, selbst schon vergangen ist. Hartog hinterfragt die heutige Beziehung zu Griechenland, die oft auf Kulturkonsum und touristische Stereotypen reduziert ist, wie Roy Lichtensteins Gemälde des Apollotempels als Postkartenmotiv symbolisiert. Es wird die provokante Frage gestellt, ob die griechischen „Schulden“ nur noch finanzieller Natur sind und die intellektuelle Schuld Europas an der Antike damit ausgelöscht wäre. Dies ist eine kritische Reflexion über die Gefahr, dass das reiche Erbe Griechenlands zu einer bloßen Oberfläche wird, entleert von seiner einstigen transformativen Kraft als Denkmodell.

Die Transformationen des griechischen Ideals

Hartog beginnt seine Analyse mit den römischen Konzeptionen Griechenlands, die grundlegend für die westliche Aneignung waren. Die Römer definierten sich zunächst in Abgrenzung zu den Griechen, um die Frage „Wer sind wir?“ zu beantworten. Sie lösten das Dilemma, ob sie Barbaren oder hellenisierte Griechen seien, durch die geniale Antwort Vergils, sie seien Trojaner – eine Rückreise zu den Ursprüngen. Die römische Elite praktizierte eine „inklusierte Andersartigkeit“, indem sie griechische Redensarten und Gewohnheiten aufnahm und in römische umwandelte, wodurch sie sich als dominantes Element zwischen Griechen und Barbaren positionierten. Diese ursprüngliche Differenz war der Antrieb für die Entwicklung der römischen Kultur.

Ein entscheidender Bruch in der Wahrnehmung der Antike erfolgte mit der Entstehung des Konzepts „modernus“ im frühen 6. Jahrhundert. Dieser neue Begriff führte eine Zeitlichkeit ein, die den Modernen als Menschen der Jetztzeit definierte und eine bewegliche Linie zum „Alten“ zog – ein Zeitraum, der sowohl heidnische als auch christliche Vergangenheiten umfassen konnte. Mit den Humanisten wurde eine neue Etappe erreicht: Die Alten wurden mit den heidnischen Griechen und Römern gleichgesetzt, wodurch ein langer Zeitraum der „dunklen“ Jahrhunderte, das Mittelalter, als zu überwindende Barriere zwischen den Modernen und der Antike definiert wurde. Die „renovatio“ zielte darauf ab, die Antike wiederzuerwecken, doch zugleich wurde die endgültige Trennung von ihr bewusst.

Die „Querelle des Anciens et des Modernes“ und die Französische Revolution

Die „Querelle des Anciens et des Modernes“ am Ende des 17. Jahrhunderts markiert einen Wendepunkt für Frankreichs Verhältnis zur Antike. Charles Perrault postulierte die Überlegenheit der Modernen in fast allen Wissensgebieten und brach auf politischer Ebene mit der klassischen Nachahmungstheorie. Ludwig XIV. wurde nicht mehr Augustus nachgestellt, sondern selbst zum „vollkommensten Vorbild“. Das Vorbild stammte nun aus der Gegenwart, wodurch Frankreich begann, Vollkommenheit als etwas Zeitliches und Erreichbares zu begreifen. Die Distanz zwischen den Alten und Modernen hatte sich in Frankreich über zwei Jahrhunderte hinweg vergrößert, wodurch „wirklich modern zu werden“ bedeutete, die Grenzen der Errungenschaften der Alten zu erkennen.

Die Französische Revolution und ihre Auswüchse verstärkten diese Entwicklung drastisch. Nach dem Sturz Robespierres (9. Thermidor 1794) distanzierte sich Frankreich entschieden von den Alten. Die „düsteren Illusionen der Jakobiner“, die die Freiheit der Alten mit der der Modernen verwechselt und Frankreich in ein neues Sparta verwandeln wollten, wurden angeprangert. Benjamin Constant, als theoretischer Wegbereiter dieser liberalen These, forderte explizit, in der Politik vom Gegensatzpaar Alte–Moderne abzusehen. Der Misserfolg der Revolution versperrte endgültig den Weg der Nachahmung und machte den Verweis auf Parallelen unmöglich. Für Frankreich bedeutete modern zu sein, mit den alten Republiken zu brechen.

Ästhetisierung und kritische Repolitisierung

Nach der Niederlage der Kommune 1870 kritisierte Hippolyte Taine in Die Entstehung des modernen Frankreich die „Unarten des klassischen Geistes“ und versuchte, Illusionen über spartanische Egalität oder die Freiheit athenischer Bürger zu zerstören. Der französische Zugang konzentrierte sich nun auf die Schulung des Geschmacks, die Entdeckung einer zeitlosen Schönheit und das Erlernen einer Kunst des Denkens und Sprechens, insbesondere der Rhetorik. Dies findet seinen Ausdruck in Ernest Renans Gebet auf der Akropolis (1876), das Griechenland unter das Zeichen der Schönheit und des „Wunders“ stellt. Renan erlebte dort eine fast mystische Offenbarung ewiger Schönheit, vergleichbar mit dem „jüdischen Wunder“. Dieses von der Revolutionszeit entfernte, ästhetisierte Griechenland prägte die Beziehung französischer Hellenisten nachhaltig.

Die Zeit nach 1945 brachte eine erneute Wende mit sich: eine Repolitisierung der Beziehung zu Griechenland, die als Antwort auf totalitäre Strömungen und im Zuge der Dekolonisierung zu verstehen ist. Figuren wie Hannah Arendt, Jean-Pierre Vernant und Cornelius Castoriadis sahen die griechische Polis als Modell für eine andere, denkbare Politik. Dabei ging es nicht um Nachahmung oder die Gegenüberstellung von Alten und Modernen, sondern darum, die Gegenwart zu hinterfragen und Modelle für das Denken zu entwickeln. Vernant wurde von Momigliano sogar als der beste „Dekolonisator“ der Jaeger’schen Theorien über die griechische Paideia eingestuft. Diese „Anthropologisierung“ des Griechenlandbezugs suchte nicht die Moderne der Griechen, sondern ihre „Seltsamkeit“ und „Andersartigkeit“.

Gesamtschau und Implikationen für die französische Literaturwissenschaft

Hartogs Gesamtschau verdeutlicht, dass das „antike Griechenland“ keine feste Entität, sondern eine dynamische und immer wieder neu „erfundene“ Projektionsfläche war. Der kontrastive Blick auf Deutschland, das einen direkten, idealisierenden und imitativen Weg über Griechenland zur deutschen Identität suchte (als „Heimat und Ideal“ und als Weg zur Bildung), schärft das Verständnis für Frankreichs divergenten Pfad. Frankreichs Beziehung zu Griechenland war nach der „Querelle“ und der Revolution weniger von direkter Nachahmung als vielmehr von einer bewussten Abgrenzung und intellektuellen Distanznahme geprägt. Modernität bedeutete hier das Erkennen der Grenzen des Alten und das Brechen mit dem republikanischen Idealbild der Antike, um eine eigene, zeitbezogene Vollkommenheit zu definieren. Spätere französische Griechenlandbilder verschoben den Fokus auf Ästhetik und kritisches Denken, statt auf politische Blaupausen.

Für die französische Literaturwissenschaft ergeben sich aus dieser Analyse wichtige Erkenntnisse in Bezug auf politischen Klassizismus. Erstens: Literarische Referenzen auf die Antike, insbesondere nach der Revolution, sollten nicht pauschal als Ausdruck eines Wunsches nach politischer Nachahmung interpretiert werden. Die Distanzierung von den „düsteren Illusionen der Jakobiner“ (Chateaubriand) und Constants Warnung vor der Verwechslung alter und moderner Freiheiten lassen vermuten, dass der Klassizismus in der französischen Literatur oft eine kritische Auseinandersetzung mit den Gefahren der unreflektierten Antikenrezeption darstellte. Zweitens: Der Wandel hin zur Ästhetisierung bei Taine und Renan legt nahe, dass die Funktion von Antikenreferenzen in der Literatur vom politischen Lehrstück zum Ausdruck zeitloser Schönheit, zur Schulung des Geschmacks und zur Kultivierung rhetorischer und philosophischer Denkweisen mutierte. Klassizistische Formen konnten so eine „laienhafte Kultur“ nähren, die das Wunderbare und das Ästhetische feierte, losgelöst von direkten politischen Programmen. Drittens: Die nach 1945 erfolgte Repolitisierung bei Arendt, Vernant und Castoriadis zeigt, dass die griechische Polis in der Literatur nicht als nostalgisches Ideal, sondern als kritisches Denkmodell fungieren konnte. Literarische Texte, die die griechische Antike beschwören, könnten in dieser Phase die „Seltsamkeit“ und „Andersartigkeit“ der Antike nutzen, um die Gegenwart zu befragen und neue politische Möglichkeiten zu imaginieren, ohne dabei in die Falle der Nachahmung zu tappen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Hartogs Werk die Komplexität der französischen Antikenrezeption aufzeigt und Fachwissenschaftler dazu anregt, über oberflächliche Kategorisierungen hinauszugehen. Der Blick auf Frankreichs Griechenlandbilder, im Kontrast zu Deutschland, entlarvt die Vorstellung eines statischen, imitativen Klassizismus als unzureichend. Stattdessen wird ein dynamisches Feld offenbart, in dem die Antike stets neu „erfunden“ und für spezifische zeitgenössische Bedürfnisse – sei es Abgrenzung von Revolutionsexzessen, ästhetische Verklärung oder kritische Selbstbefragung – instrumentalisiert wurde. Die Literaturwissenschaft kann hieraus lernen, die jeweilige Funktion der historischen Klassizismen präziser in ihrem historischen und nationalen Kontext zu verorten und so die transformative und oft kritische Kraft zu erkennen.


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