Phantomkörper
La douleur c’est le truc le plus invisible qui soit. Si tu as un bleu, un bleu un peu mûr qui traîne sur ton corps, tu l’as ta vision, ta trace, ta preuve. Et la douleur n’est pas forcément là ; tant que tu n’as pas appuyé dessus. En fait, elle est décorrélée ; elle est là, mais elle est ailleurs. En termes de chimie, elle est dans ton crâne, en termes d’énergie, elle est dans ta peau. Mais elle n’est pas dans la trace qui orne ta peau, qui ne change pas que tu appuies dessus ou non. Si tu vois quelque chose, ce n’est pas ta douleur ; la douleur tu la ressens.
Schmerz ist das Unsichtbarste, was es gibt. Wenn du einen blauen Fleck hast, einen etwas älteren blauen Fleck auf deinem Körper, dann hast du eine Sichtbarkeit, eine Spur, einen Beweis. Und der Schmerz ist nicht unbedingt da, solange du nicht darauf drückst. Er ist eigentlich unkorreliert, er ist da, aber er ist woanders. Chemisch gesehen ist er in deinem Schädel, energetisch gesehen ist er in deiner Haut. Aber er ist nicht in der Spur, die deine Haut ziert, die sich nicht verändert, egal ob du darauf drückst oder nicht. Wenn du etwas siehst, ist das nicht dein Schmerz; den Schmerz fühlst du.
Schmerz ist zugleich unmittelbar und unübersetzbar. Er durchdringt das Bewusstsein total, entzieht sich aber der Mitteilbarkeit. Diese Doppelstruktur macht ihn zu einem besonderen Gegenstand der Kunst: Er ist in seiner Erfahrung radikal subjektiv, in seiner kulturellen Codierung jedoch zutiefst kollektiv. Seit der Antike wird er als Prüfstein menschlicher Wahrhaftigkeit, als Gottesstrafe, als heroische Opferleistung, als Symptom und als Protest dargestellt. Rose Vidals Drama doll stellt Schmerz ins Zentrum einer Erzählung, die nicht als linearer Bericht funktioniert, sondern als vielstimmige Montage: Gespräche, medizinische Details, Erinnerungen, mythische Analogien, kunsthistorische Referenzen. Schmerz erscheint hier nicht nur als Thema, sondern als formbestimmendes Prinzip. Die Erzählbewegung ist durchzogen von Pausen, Abschweifungen, Wiederholungen – Strukturen, die dem Rhythmus chronischer Schmerzen ähneln: sie kehren wieder, sie lassen sich nicht abschließen, sie modulieren Intensität und Wahrnehmung.
Wie wird Schmerz nicht nur als physiologisches Phänomen, sondern als kulturelles, soziales und existenzielles Konstrukt verhandelt? Welche Rolle spielen Erzählformen und Kommunikation bei der Bewältigung und Repräsentation von Schmerz? Inwiefern verschmelzen in diesem Roman persönliche Erfahrung, literarische Reflexion und wissenschaftliche Erkenntnis zu einer kohärenten Interpretation des menschlichen Zustands? Und wie schließlich wird die Grenze zwischen Realität und Fiktion verwischt, um allgemeinere Wahrheiten über menschliche Beziehungen und Emotionen zu offenbaren?
Die Erzählerin Rose Vidal ist die zentrale Figur, eine Künstlerin und Schriftstellerin, die ihre eigene Innenwelt und die Geschichten der anderen erforscht. Sie ist zutiefst introspektiv und sensibel, ringt mit ihrer eigenen „chronischen Kälte“ als Form des Leidens und hinterfragt die ethischen Dimensionen des Schreibens über fremden Schmerz. Ihre Fähigkeit, von den Erfahrungen anderer „durchdrungen“ zu werden, ist der Kern ihrer Kunst. Emmanuelle ist nicht nur die Auslöserin der Erzählung, sondern verkörpert auch die „radikale Einsamkeit“ chronischen Schmerzes. Ihre Geschichte der Abhängigkeit und des Verlusts eines Kindes wird mit einer weiteren, tief sitzenden Kindheitstrauma-Geschichte verknüpft, die ihre Resilienz und verborgene Stärke offenbart. Clément und Bastien, Emmanuelles Zwillinge, repräsentieren Verlust und Fortleben; Cléments Name manifestiert sich sogar metaphorisch im Text, während Bastien die Erinnerung an seinen verstorbenen Onkel durch ein Tattoo verkörpert. Dr. Nicolas Danziger fungiert als rationaler Gegenpol und wissenschaftliche Autorität, die Schmerz aus neurobiologischer und evolutionärer Sicht erklärt. Seine Erkenntnisse über die soziale Dimension des Schmerzes – insbesondere die „Kluft der Unverständlichkeit“ zwischen Leidenden und ihrer Umgebung – sind entscheidend für die zentrale Botschaft des Romans über Empathie und Anerkennung. Benoît, ein befreundeter Künstler, bietet eine weitere Perspektive auf Kunst und Leiden, wobei er die Notwendigkeit künstlerischer Produktion betont und sich selbst als „existentiellen Dekorateur“ begreift. Loris, eine trans Frau, teilt ihre Geschichte der Selbstfindung und Überwindung familiärer Widerstände, was die Thematik der Selbstkonstruktion und des Kampfes um Anerkennung vertieft. Schließlich tritt ein namenlos bleibender männlicher Charakter am Ende des Romans auf, dessen Polytoxikomanie und Angst vor dem Verlust eine weitere Dimension von Abhängigkeit und existenzieller Furcht hinzufügen. Er wird für die Erzählerin zu einem „Charakter“, der ihr hilft, neue Facetten der Liebe und des Schmerzes zu verstehen. Werner, der Glasmeister in Emmanuelles vierter Geschichte, ist eine Figur der reinen, uneigennützigen Fürsorge und des Schutzes, die eine alternative Form der Liebe und des Beistands bietet.
Thematisch kreist Drama doll um den Schmerz in seiner gesamten Bandbreite: physisch (Epiduralanästhesie, chronische Leiden), emotional (Trauer, Angst, Verlassenheit), und gesellschaftlich (Isolation Schmerzkranker, soziale Ungerechtigkeiten). Schmerz ist sowohl ein privates „Geheimnis“ als auch ein vitales Schutzsignal. Das Konzept vom „Preis des Schmerzes“ ist zentral: Dr. Danziger erklärt, dass chronischer Schmerz der „Preis“ ist, den die Menschheit für den Überlebenswert des akuten Schmerzes zahlt. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen ständig. Der „Roman ohne Geschichte“ ist voller Geschichten, und die Erzählerin reflektiert, „was Fiktion über die Realität aussagt und was die Realität über die Fiktion“. Träume und Imagination werden zu Räumen der Wahrheitssuche. Erinnerung und Zeit sind fragmentarisch und nicht-linear, wobei die Vergangenheit nicht umgeschrieben, sondern „neu geschrieben“ wird. Liebe und Verbindung sind untrennbar mit Schmerz und Verständnis verknüpft. Liebe wird als „Ontologie“ verstanden, die die Welt offenbart und neu strukturiert. Das Bedürfnis nach Liebe hat eine evolutionäre Grundlage in der Bewahrung sozialer Bindungen. Die gesellschaftliche Kritik ist subtil, aber allgegenwärtig, sei es im Umgang mit Opioidkrise, patriarchalischen Normen, Rassismus in der Medizin oder Umweltzerstörung. Die „marre“ (die Schnauze voll haben) der Erzählerin und der jüngeren Generationen ist ein Ausdruck der kollektiven Erschöpfung gegenüber gesellschaftlichen Aggressionen. Identität und Selbstkonstruktion sind zentrale Motive, besonders in der Geschichte von Loris‘ Trans-Identität als Akt der Selbstgeburt, und in der Erzählerin, die ihre Ängste vor „zu viel“ oder „zu wenig“ Sein verarbeitet. Der „Phantomkörper“ wird zu einer Metapher für ein universelles, durch Schmerz geprägtes Körperbild. Schließlich spielt die Sprache selbst eine herausragende Rolle, nicht nur in ihrer Bedeutung als Kommunikationsmittel, sondern auch in ihrer Ambivalenz („pharmakon“ als Gift und Heilmittel) und in ihrer bewussten Inklusivität, die eine neue Form der Repräsentation und des Zusammenlebens schafft.
Die Kommunikationsformen im Roman sind vielfältig und spiegeln die Komplexität menschlicher Interaktion wider. Neben den direkten Gesprächen und dem Austausch von Geheimnissen, spielen moderne Medien wie SMS, E-Mails und Telefonate eine wichtige Rolle, um fragmentarische Einblicke in Emotionen und Gedanken zu geben. Das Schreiben selbst ist die primäre Form der Kommunikation und Selbstreflexion der Erzählerin. Sie liest ihren Text Emmanuelle vor und verarbeitet ihre Gedanken durch das Festhalten von Notizen und Selbst-SMS. Auch Kunst und Objekte dienen als Kommunikationsmittel: Kindheits-Artefakte wie eine selbstgebaute Brücke oder Schwerter erzählen Geschichten, ebenso wie die gigantische Kohlebaggermaschine Bagger 293 als Symbol menschlicher Zerstörungskraft. Medizinische Bilder wie Röntgenaufnahmen werden als „wichtige Bilder“ hervorgehoben, die die Schmerzwahrnehmung beeinflussen. Der Schmerz selbst wird als „unsichtbares Geheimnis“ beschrieben, das sich der direkten Mitteilung entzieht, wodurch „Anerkennung“ zu einer entscheidenden Geste wird. Die Geste des Schenkens einer „épine à bisou“ (Kuss-Nadel) ist eine metaphorische Reaktion auf die Schmerznadel, eine Form der non-verbalen Heilung.
Parallel dazu verwebt Vidal Beobachtungen gesellschaftlicher Phänomene, wie öffentliche Wutausbrüche („marre“) und Generationskonflikte zwischen „Boomern“ und „Millennials“, die sie als Ausdruck kollektiver Schmerzen und Traumata interpretiert. Der Roman reflektiert umfassend über Kunst, Fiktion und die Realität, wobei die Rolle von Objekten als „Artefakte“ zur Verkörperung von Geschichten hervorgehoben wird. Konzepte wie Liebe, Vorstellungskraft, Angst und persönliche Integrität werden durch literarische und mythologische Referenzen (wie Coraline oder den Sandmann) vertieft. Eine neu aufkommende, intime Beziehung der Erzählerin zu einer Figur, die mit Polytoxikomanie und Todesangst ringt, erweitert die thematische Bandbreite um Fragen der Abhängigkeit, des Verlusts und der physischen sowie psychischen „Phantomglieder“.
Drama doll ist eine Erkundung des Schmerzes – nicht nur als körperliche Empfindung, sondern als unsichtbare, schwer vermittelbare Erfahrung, die dennoch nach gemeinsamer Sprache verlangt. Zwischen der Erzählerin und Emmanuelle, die auf einem Balkon in Rom ein intimes Geständnis austauschen, entsteht ein Raum, in dem Verletzlichkeit, Vertrauen und Zuneigung ineinanderfließen. Die zentrale These, die sich durch Rose Vidals Text zieht, ist, dass Schmerz eine fundamentale Kategorie des menschlichen Verständnisses darstellt, ähnlich der Liebe, die nicht nur die physische Existenz, sondern auch die soziale Bindung, die individuelle Wahrnehmung und die kollektive Geschichte prägt. Der Schmerz wird dabei als eine unsichtbare, aber allgegenwärtige Kraft dargestellt, die sowohl isolieren als auch verbinden kann, und die Künstler dazu antreibt, neue Formen des Ausdrucks zu finden, um das Unsagbare sichtbar zu machen.
Comme on dirait : c’est mon secret. Et si tu souffres en continu, douloureuse chronique, c’est ton secret que tu t’échines à crier, à expliquer, à expulser, et que personne n’entend, ne ressent, ne comprend. Si tu n’as pas de trace à montrer ce pourrait être une fiction, une vue de l’esprit comme on dit.
Wie man sagen würde: Es ist mein Geheimnis. Und wenn du kontinuierlich leidest, chronische Schmerzen hast, ist es dein Geheimnis, das du dich abmühst zu schreien, zu erklären, auszustoßen, und das niemand hört, fühlt, versteht. Wenn du keine Spur zu zeigen hast, könnte es eine Fiktion sein, eine Einbildung, wie man sagt.
Vidal zeigt, dass der Schmerz von Natur aus eine „radikale Einsamkeit“ mit sich bringt, da er als rein subjektives und unsichtbares Phänomen schwer zu kommunizieren ist und sich dem objektiven Verständnis und der Verifizierung entzieht. Der Neurologe Danziger betont die Kluft des Unverständnisses zwischen Schmerzpatienten, Pflegenden und Angehörigen. Diese Kluft entsteht, weil Schmerz, obwohl er oft mit sichtbaren Läsionen assoziiert wird, im Wesentlichen eine unsichtbare, nicht quantifizierbare Erfahrung ist. Die Autorin vergleicht Schmerz mit einem Geheimnis, das man schreit, erklärt und ausstößt, aber das niemand wirklich hören oder fühlen kann. Selbst medizinische Bildgebung zeigt nur das Außen des Schmerzes, nicht den Schmerz selbst, der im Gehirn und in der Haut, aber nicht in der sichtbaren Spur verankert ist. Diese Inkommunikabilität des Schmerzes führt zu einer tiefen Isolation der Betroffenen und macht ihn zu einer Fiktion oder Einbildung in den Augen derer, die ihn nicht selbst erfahren. Die Schwierigkeit, Schmerz zu artikulieren und verstanden zu werden, ist selbst eine Form des Leidens, die die Autorin in ihrer Forschung über die Poetik des Schmerzes zu überwinden sucht.
Fast die Hälfte schmerzunempfindlicher Patienten berichtet von verstörenden Trauminhalten wie blutigen Kämpfen, Folterszenen, tödlichen Unfällen und verstümmelten Körpern, oft ohne jedes Angstgefühl. Das Fehlen der Schmerzerfahrung verhindert das normalerweise vorherrschende Verdrängen solcher Darstellungen. Diese Träume und beschriebenen motorischen Verhaltensweisen betrafen hauptsächlich Patienten, die in ihrer Kindheit zu Selbstverletzungen neigten, da ihnen der Schmerz als schützender Alarm fehlte. Dr. Danziger ist im Buch Spezialist für die angeborene Schmerzunempfindlichkeit (insensibilité congénitale à la douleur) und forscht intensiv an Patienten, denen die Schmerzempfindung fehlt. Diese Patienten sind entweder von Geburt an schmerzunempfindlich oder haben diese Fähigkeit später im Leben durch eine Läsion verloren. Der Neurologe befragt diese Personen und führt zahlreiche Studien mit ihnen durch, um besser zu verstehen, wie ein Körper ohne Schmerz aufgebaut ist und sich entwickelt. Die Erfahrung von Schmerz trägt demnach maßgeblich zur Entstehung einer einheitlichen Repräsentation des Körpers bei, der als lebendiger und integraler Teil des Selbst empfunden wird. Das Verschwinden von Schmerz ist somit eine fortschreitende Enteignung, die sich in einer abnehmenden Fürsorge für das betroffene Körperteil äußert. Danziger postuliert, dass jeder Mensch einen „Phantom-Körper“ besitzt, der die Grundlage des Körpers bildet. Schmerz ist das heiligste Band zwischen unserem unmittelbaren Körper und diesem Phantomkörper. Das „Vokabular des Schmerzes“ formt das Bild dieses universellen Körpers und sagt uns, wo wir sind, was wir riskieren und dass wir es „wert sind, uns zu retten“. Schmerz ist nicht nur eine sensorische Empfindung, sondern ähnelt einem homöostatischen Ungleichgewicht (wie Hunger oder Kälte), das emotional stark aufgeladen ist und einen starken Drang zur Wiederherstellung des Gleichgewichts auslöst. Es gibt eine Überlappung der Gehirnschaltkreise, die körperlichen Schmerz und jene, die Trennungs- oder Ausgrenzungsschmerz vermitteln. Dies legt nahe, dass die Erhaltung sozialer Bindungen im Laufe der Evolution für jedes Individuum ebenso vital geworden ist wie der Schutz der eigenen physischen Integrität. Das tiefe menschliche Bedürfnis, geliebt zu werden, hat seinen Ursprung in dem selektiven Vorteil, den der intensive Schmerz der Trennung unserer Spezies und ihren Vorfahren verliehen hat.
Ein besonders subtiler und dennoch zentraler Aspekt der Intertextualität in Drama doll liegt in der Reflexion über die Sprache selbst und ihre Etymologien. Die Autorin spielt bewusst mit Doppeldeutigkeiten und der Vielschichtigkeit von Wörtern. Beispielhaft sei hier „Souffrir“ erwähnt: Das Wort bedeutet sowohl „leiden“ als auch „ertragen“ oder „zulassen“, eine Ambiguität, die die Komplexität der Schmerzerfahrung und der menschlichen Reaktion darauf widerspiegelt. Der Text begreift Schmerz zugleich als singulär und als in kulturelle Bedeutungsfelder eingebettet: Er ist nicht allein Sache der Medizin oder der Pathologie, sondern ein narratives Phänomen, das nur in der Bewegung zwischen Innen und Außen, zwischen Erleben und Erzählen fassbar wird. Die Struktur des Romans arbeitet mit einem dichten Netz an Metaphern, das scheinbar heterogene Erfahrungsräume verbindet. Diese poetische Ökonomie erlaubt es, das Unsagbare – Schmerz, Sucht, Verlust – nicht zu verflachen, sondern in einer Bildsprache zu verankern, die konkrete Anschlüsse eröffnet und zugleich Raum für Ambivalenz lässt. In dieser Verknüpfung von Metaphorik und Erzählstruktur wird Literatur zum Schwellenraum selbst: ein Ort, der zwischen Nähe und Distanz vermittelt, zwischen privater Erfahrung und öffentlicher Teilhabe. Indem der Text Schmerz in ästhetische Form übersetzt, eröffnet er die Möglichkeit einer symbolischen Heilung: Er verwandelt Isolation in geteilte Wahrnehmung und zeigt, wie das Erzählen selbst zur Brücke werden kann, über die sich der Einzelne in einen größeren Resonanzraum einschreibt.
Rose Vidal begann ihr Buch 2023 mit einem Arbeitsstipendium in der Villa Medici in Rom. Ihr Projekt untersucht die globale Opioidkrise als Symptom einer tieferliegenden gesellschaftlichen Überforderung mit Schmerz und macht dies zum Ausgangspunkt einer literarischen Recherche. Sie möchte Kunst als eine Art „plastisches Schmerzmittel“ verstehen und erproben, ob künstlerisches Erzählen langfristig eine lindernde Funktion übernehmen kann. In ihrer Residenz an der Villa Medici setzte sie diese Idee um, identifiziert so die Schmerzen unserer heutigen liberalen Gesellschaften, sammelt sie auf der Straße oder in intimen Räumen, auf der Suche nach einer heilenden oder lindernden Funktion der Kunst. 1 Der „Roman ohne Geschichte“ (so der Untertitel) Drama doll (2025) in der neuen Buchreihe „Aventures“ von Yannick Haenel bei Gallimard ist das Ergebnis ihrer Erkundung des Schmerzes – nicht nur als körperliche Empfindung, sondern als unsichtbare, schwer vermittelbare Erfahrung, die dennoch nach gemeinsamer Sprache verlangt. Zwischen der Erzählerin und Emmanuelle, die auf einem Balkon in Rom ein intimes Geständnis austauschen, entsteht ein Raum, in dem Verletzlichkeit, Vertrauen und Zuneigung ineinanderfließen.
Zusammenspiel der Kapitel
Die funktionalen Verhältnisse der Kapitel in Drama doll folgen keiner linearen Erzähllogik im klassischen Sinn, sondern entfalten sich in einem kreisenden, reflexiven Bewegungsmuster, das sowohl thematische als auch poetologische Entwicklung sichtbar macht. Jedes Kapitel trägt auf eigene Weise zur Ausfaltung eines diskursiven, affektiven und erzählstrukturellen Spannungsfeldes bei. Das Zusammenspiel der Kapitel ist dabei weniger als Kausalfolge, sondern vielmehr als poetisches Gefüge zu verstehen, in dem Wiederholung, Variation, Vertiefung und Verschiebung zentrale Funktionen übernehmen.
Das erste Kapitel Épinale legt den emotionalen und narrativen Kern des Romans offen: die Begegnung mit Emmanuelle und das geteilte Geheimnis, das sich als Schmerzmanifest und Erzählimpuls zugleich erweist. Dieses Kapitel fungiert wie ein Scharniertext, aus dem sich retrospektiv und vorwärtsgerichtet das Motivgeflecht des Romans aufspannt. Es etabliert ein Ethos des Erzählens, das auf Vertrauen, Gegenseitigkeit und poetische Verantwortung gründet. Das nachfolgende Kapitel Romantique setzt nicht auf narrative Fortschreibung, sondern auf thematische Erweiterung: Es verschiebt die Perspektive hin zur Ästhetik des Erhabenen und zur kulturellen Rahmung von Begehren, Schmerz und Gewalt. Während Épinale den Schmerz als interpersonal geteilte Geschichte einführt, poetisiert Romantique den Schmerz als historisch und symbolisch aufgeladene Erfahrung – etwa über das industrielle Sublime oder über das Kippen romantischer Gesten ins Zerstörerische.
Das Kapitel Achknowledge markiert eine erste Selbstvergewisserung der Erzählerin zwischen ache (Englisch für Schmerz) und Anerkennung (acknowledge). Es reflektiert die Rolle des Zuhörens und des sprachlichen Rahmens für Schmerz. Der poetologische Diskurs wird hier erstmals explizit, was das Kapitel zu einem Bindeglied zwischen narrativer Praxis und theoretischer Selbstbefragung macht. Daran anknüpfend verschiebt Doli me tangere den Fokus zurück auf den Körper und macht Schmerz und Kontrolle nicht nur sichtbar, sondern auch politisch. Körperliche Erfahrung, medikalisierte Reproduktion und sprachliche Aneignung (in Anspielung auf das biblische Berührungsverbot „noli me tangere“) verknüpfen sich hier zu einer feministisch grundierten Körperpoetik. In Dans les bras de morphine wird der Schmerz weiter medizinisch, aber auch psychologisch aufgeschlüsselt – nun durch die Perspektive eines Arztes, wodurch das Verhältnis von Fachsprache und poetischer Sprache thematisch verdichtet wird. Diese drei Kapitel bilden eine Art Trilogie über Sprache, Körper und Wissen: Sie stehen nicht in hierarchischer Abfolge, sondern entwerfen ein Resonanzdreieck.
Mit Goodies erfolgt ein Tonwechsel. Die Kapitelmitte markiert eine bewusste Entlastung und poetische Öffnung hin zum Leichten, Alltäglichen, Spielerischen. Die Materialität kleiner Dinge und die Praxis des Sammelns und Tauschens treten in den Vordergrund – das Erzählen erscheint hier selbst als ökonomischer Akt, als zirkulierender Wert. Es ist ein Kapitel des Übergangs, das La marre unmittelbar politisiert: Der soziale Schmerz wird nun öffentlich, sichtbar in alltäglichen Mikroaggressionen. Diese Szene fungiert als Politisierung des Schmerzbegriffes, als gesellschaftliche Spiegelung der zuvor verhandelten inneren und körperlichen Schmerzen. In Incantation décantation wird die Form selbst zum Träger von Zärtlichkeit: Widmung, Formgebung und poetische Geste verschmelzen zu einem heilenden, fast magischen Akt, der anstelle der medizinischen Nadel nun die „Aiguille à bisou“ setzt – eine Sprache der Fürsorge, die poetisch handelt.
Quand Emmanuelle m’a raconté ses différentes épines, j’ai pensé que s’il y avait bien une œuvre à lui fabriquer ça aurait été le pendant de la péridurale : une aiguille à bisou. Qui ne pique pas, ne charcute pas les nerfs, n’arrache pas la chair à la chair, mais dépose des baisers comme les mères en déposent sur les bobos de leurs enfants pour leur sécher les larmes. Une aiguille qui répare, et qui rend des caresses comme on rend un hommage. Quand j’ai vu sur le bras de Bastien le portrait en pied du grand frère (celui d’Emmanuelle), son pilote de frère tenant par la corde son avion comme on tient un cheval par sa longe, j’ai compris que l’aiguille à bisou existait déjà, et que c’était Bastien qui lui avait donné forme.
Als Emmanuelle mir von ihren verschiedenen Dornen erzählte, dachte ich, dass, wenn es ein Werk für sie gäbe, es das Gegenstück zur Periduralanästhesie wäre: eine Kussnadel. Eine Nadel, die nicht sticht, die Nerven nicht verletzt, kein Fleisch aus dem Fleisch reißt, sondern Küsse hinterlässt, wie Mütter sie auf die Wehwehchen ihrer Kinder drücken, um ihnen die Tränen zu trocknen. Eine Nadel, die heilt und Streicheleinheiten zurückgibt, wie man jemandem eine Ehre erweist. Als ich auf Bastiens Arm das Porträt seines großen Bruders (Emmanuelles) sah, seinen Pilotenbruder, der das Flugzeug an der Leine hielt wie man ein Pferd an der Longe, da wusste ich, dass die Kussnadel bereits existierte und dass Bastien ihr Gestalt gegeben hatte.
Die letzten vier Kapitel verdichten den Reflexionsbogen. In Trop et pas assez wird das Begehren selbst Gegenstand der Analyse: Es ist nie im Gleichgewicht, immer zwischen Mangel und Exzess. Dieser Spannungszustand strukturiert auch die Erzähldynamik des Romans – zwischen zu viel und zu wenig, zwischen Ausbruch und Zurücknahme. Elle-même wendet diesen Blick nach innen: Die Spiegelung zwischen Erzählerin und Emmanuelle wird intensiviert, die Frage nach Selbst- und Fremdbild, nach Identität und Repräsentation rückt in den Vordergrund. Werner ergänzt die Geschichte Emmanuelles um ein weiteres traumatisches Moment, ohne es zu entblößen. Das Kapitel bringt eine zweite Stimme ins Spiel, die im Vertrauen erinnert – es stabilisiert und vertieft die ethische Dimension des Zuhörens, ohne ins Pathos zu kippen. Enfin schließlich rundet das Romanprojekt nicht ab, sondern öffnet es. Es verbindet die zentralen Figuren, Themen und Motive zu einem offenen Schluss, der das Erzählen selbst als Schwellenphänomen begreift – als etwas, das nie ganz abgeschlossen, sondern immer im Übergang begriffen ist.
In ihrer Gesamtheit funktionieren die Kapitel wie Module eines literarischen Organismus: Sie sprechen in verschiedenen Tonlagen, wechseln zwischen Nähe und Distanz, zwischen Narration und Reflexion, zwischen Konkretion und Abstraktion. Ihre funktionalen Verhältnisse sind nicht linear oder teleologisch, sondern rhythmisierend, schwebend, kreisend und sich rückbeziehend. Drama doll erzählt nicht in gerader Linie, sondern im Modus der Resonanz – jedes Kapitel ein Stimmpunkt im vielstimmigen Klangkörper des Textes.
Metaphorik und Erzählstruktur
Die Bilder des Stechens, Piekens, der Dornen und Nadeln ziehen sich wie ein roter Faden durch Drama doll und dienen der Autorin Rose Vidal dazu, die vielschichtigen Dimensionen von Schmerz, Sucht, Erinnerung und Wahrnehmung zu erforschen. Diese Metaphern und wörtlichen Beschreibungen verdeutlichen sowohl die physische als auch die emotionale Penetration und die bleibenden Spuren von Leid.
Die Nadel ist ein zentrales Bild, insbesondere im Kontext der Epiduralanästhesie. Emmanuelle, deren Geschichte einen Ausgangspunkt für das Buch bildet, erlebte, wie eine Nadel in ihre Wirbelsäule eingeführt wurde – eine Prozedur, die selbst nach ihrer Entfernung wie ein „Dorn im Rückgrat“ für zwanzig Jahre verharrte. Diese Beschreibung einer zurückbleibenden „Epina“ (Dorn) in der „épine dorsale“ (Wirbelsäule) symbolisiert den chronischen Schmerz und seine hartnäckige Präsenz, die weit über den ursprünglichen Eingriff hinausgeht. Es ist ein physischer Stachel, der nicht nur im Körper, sondern auch in der Erinnerung der Betroffenen verankert bleibt. Die Autorin verbindet Nadeln und Dornen direkt mit Schmerzen („aiguilles les épines, les douleurs“), was die körperliche, oft stechende Natur des Leidens betont.
Schmerzmittel, die eigentlich Linderung bringen sollen, werden paradoxerweise selbst zu einer Art „Dornenwaffe“. Die Autorin beschreibt, wie die „Lösung“ (ein Medikament) zu einem Stachel wird, der zwar eindringt, aber bei dem Versuch, ihn zu entfernen, das Gewebe zerreißt und zu Infektionen führt. Dies ist eine starke Metapher für die Sucht nach Schmerzmitteln, bei der das Heilmittel selbst zum Problem wird und neue, oft tiefere Wunden reißt. Der lateinische Begriff scrupulus, der einen kleinen, spitzen Stein bedeutet, der im Schuh stecken bleibt, wird mit den „Dornen“ des Schmerzes und den damit verbundenen Skrupeln in Verbindung gebracht. Diese Bilder verdeutlichen die anhaltende, hartnäckige und oft unsichtbare Belastung des chronischen Schmerzes, der das tägliche Leben beeinträchtigt.
Menschen, auch medizinisches Personal, suchen oft nach sichtbaren Korrelationen wie Läsionen, Wunden oder Narben, um Schmerz zu „glauben“ oder zu verstehen. Die Autorin betont, wie bei fehlenden äußeren Spuren der Schmerz als „Fiktion“ oder „Einbildung“ abgetan werden kann. Narben von Schnitten und Skarifikationen werden als sichtbare „Sprossen“ eines Grabens der Unverständlichkeit beschrieben, die tiefer in den Arm und die Unverständnis führen. Diese selbstzugefügten Wunden sind eine verzweifelte Aktion, den unsichtbaren inneren Schmerz sichtbar und damit begreifbar zu machen.
Die Autorin erweitert die Metapher des Stichs und der Wunde auf die Umweltzerstörung. Die Kohleabbau-Bagger, insbesondere die Bagger 293, werden als „Lames, perforatrices, dents de scie et carnassières machines“ (Klingen, Perforatoren, Sägezähne und fleischfressende Maschinen) beschrieben, die die Erde „verschlingen“ und eine „riesige Narbe“ auf der Landschaft hinterlassen. Diese Narbe wird mit „rasender Nekrose“ verglichen, was die parallele zwischen körperlichem Schmerz und der Zerstörung der Umwelt hervorhebt. Die metaphorischen „Sillons“ (Furchen), die im Leben, im Körper oder auf der Erde gegraben werden, werden zu Scharnieren, in die man immer wieder zurückfallen kann. Je tiefer diese Furchen gegraben werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass man in ihnen gefangen bleibt.
Im krassen Gegensatz zu den stechenden, schmerzverursachenden Nadeln steht die Vorstellung einer „aiguille à bisou“ (Kussnadel). Diese imaginierte Nadel sticht nicht, zerfleischt keine Nerven, sondern „hinterlässt Küsse“ wie eine Mutter auf die Wunden ihres Kindes. Sie repariert und spendet Zärtlichkeiten wie eine Hommage. Dieses Bild steht für die Möglichkeit der Heilung durch Liebe, Empathie und Verbindung im Gegensatz zur reinen medizinischen Intervention. Die Tätowierung des Gesichts des verstorbenen Bruders auf Bastians Arm wird als eine Form der „Kussnadel“ gesehen, die mit „geringem Schmerz einer Nadel die Kluft zusammennäht“. Dies zeigt, wie Erinnerung, Zuneigung und die bewusste Entscheidung, etwas zu bewahren, tiefe emotionale Wunden heilen können, auch wenn ein kleiner Schmerz dafür notwendig ist.
Somit lässt sich sagen, dass die Bilder des Stechens, Piekens, der Dornen und Nadeln in Drama doll eine fundamentale Rolle spielen, um die vielfältigen Erfahrungen von Schmerz zu veranschaulichen. Sie reichen von wörtlichen medizinischen Eingriffen bis hin zu tiefgreifenden emotionalen und gesellschaftlichen Wunden und sogar der Zerstörung der Umwelt. Indem die Autorin diese Bilder miteinander verknüpft, betont sie die oft verborgene Natur des Schmerzes, die Notwendigkeit, seine Spuren zu erkennen, und die transformative Kraft von Zuneigung und Verbindung bei der Heilung – selbst wenn dieser Prozess selbst eine Art „Nadelstich“ sein mag.
Die Struktur des Romans arbeitet mit einem dichten Netz an Metaphern, das scheinbar heterogene Erfahrungsräume verbindet: Kindheitsbrücken und industrielle Großmaschinen, medizinische Nadeln und architektonische Schwellen, persönliche Traumata und kollektive Bildgedächtnisse. Symbole wie Brücke, Balkon, Épine oder Bagger knüpfen Verbindungen zwischen Körper, Landschaft und Text und verschalten intime Empfindungen mit ikonischen, oft gesellschaftlich aufgeladenen Bildern. Diese poetische Ökonomie erlaubt es, das Unsagbare – Schmerz, Sucht, Verlust – nicht zu verflachen, sondern in einer Bildsprache zu verankern, die konkrete Anschlüsse eröffnet und zugleich Raum für Ambivalenz lässt. In dieser Verknüpfung von Metaphorik und Erzählstruktur wird Literatur zum Schwellenraum selbst: ein Ort, der zwischen Nähe und Distanz vermittelt, zwischen privater Erfahrung und öffentlicher Teilhabe.
Das vorliegende Buch thematisiert Tramadol nicht direkt. Die Autorin spricht allgemein über „antidouleurs“ (Schmerzmittel) und geht detaillierter auf Morphin sowie Percocet ein, ein Medikament, das Oxycodon und Paracetamol kombiniert. Es wird auch die Opioidkrise erwähnt. Die klangliche Nähe des Schmerzmittels Tramadol und des Romantitels Drama doll ist jedoch kaum zufällig und eröffnet mehrere literaturwissenschaftliche Lesarten, die sich sowohl phonologisch als auch semantisch und motivisch aufladen. Die Lautähnlichkeit erzeugt eine parasitäre Beziehung zwischen dem medizinischen Präparat (Tramadol ist ein synthetisches Opioid) und dem Romantitel. Das Medikament steht für Schmerzdämpfung, Suchtgefahr und chemische Abhängigkeit; der Titel transformiert diesen Klangkörper in eine Figur – die „Drama doll“ –, die sowohl verletzliches Objekt (Puppe) als auch performative Subjektivität (Drama) impliziert. Die Nähe der Wörter verweist damit auf die Verwandlung von pharmakologischer Realität in narrative Fiktion.
Tramadol ist im Text eingebettet in die Diskurse um Morphin, Schmerztherapie und Abhängigkeit, die Emmanuelles Lebensgeschichte prägen. Drama doll als Titel lässt sich als „personifiziertes Medikament“ lesen: eine Figur, die aus dem Spannungsfeld von Linderung und Abhängigkeit hervorgeht. Die lautliche Anverwandlung übersetzt das medizinische Präparat in ein Symbol, das den Körper und das affektive Spektakel in eins setzt. Die literarische Transformation benennt also nicht das Medikament direkt, sondern umspielt es poetisch, wodurch der Text einen Zwischenraum zwischen Benennung und Verschleierung schafft – vergleichbar mit Metonymie oder klanglicher Paronomasie.
Diese Nähe ist zugleich eine Reflexion über die Ästhetisierung von Schmerz. Der Wechsel von Tramadol zu Drama doll verschiebt den Referenzrahmen: von der chemischen Substanz zur ästhetischen Figur. Dabei wird deutlich, wie der Roman das Unsichtbare (Schmerz, Sucht) durch kulturelle Formen sichtbar macht – hier in der Figur einer „Schmerzpuppe“, die zugleich Objekt der Fürsorge und Projektionsfläche für dramatische Erzählungen ist. Die Titelwahl verweist so metapoetisch auf den Prozess, in dem reale, pharmakologische Erfahrung in literarisches Material überführt wird, und macht das Werk selbst zu einer Art „Schmerzmittel“ – nicht durch pharmakologische Wirkung, sondern durch narrative Transformation.
Schwellenpoetik
Der Balkon ist in Drama doll Bühne und Rückzugsort zugleich, ein Ort der Offenbarung und des Schutzes, an dem sich Beziehungen und narrative Bewegungen verdichten. Der Balkon, auf dem sich Emmanuelles intime Offenbarung abspielt, ist ein Schwellenraum par excellence: Er gehört weder vollständig zum Innen noch zum Außen, verweigert sich festen Grenzen und etabliert damit eine ambivalente Zone der Durchlässigkeit. Diese räumliche Ambiguität wird im Text konsequent literarisch ausgespielt: Der Balkon wird zur Bühne des Zwischen, zur Plattform, auf der private Geschichte sichtbar wird, ohne sich vollständig zu entblößen.
Der Balkon, zentrales Motiv des Romans, nicht nur als konkreter Ort der Handlung, sondern vor allem als poetisch-symbolischer Raum, in dem sich die entscheidenden Bewegungen des Textes verdichten, steht exemplarisch für eine Poetik der Schwelle. Indem der Text Schmerz in ästhetische Form übersetzt, eröffnet er die Möglichkeit einer symbolischen Heilung: Er verwandelt Isolation in geteilte Wahrnehmung und zeigt, wie das Erzählen selbst zur Brücke werden kann, über die sich der Einzelne in einen größeren Resonanzraum einschreibt. Die Szene auf dem Balkon ist nicht zufällig gewählt, sondern in eine kulturelle Ikonographie eingeschrieben, die von Theater und Literatur über Oper bis hin zu populären Erzählformen reicht. In dieser symbolischen Rahmung wird der Balkon zu einem Ort der Inszenierung – nicht im Sinne von Falschheit, sondern im Sinne einer Form, die Offenbarung möglich macht. Das Gespräch zwischen Emmanuelle und der Erzählerin vollzieht sich in diesem Zwischenraum wie auf einer kleinen Bühne, wo Intimität gerade durch ihre Sichtbarkeit geschützt wird. Die Offenbarung des Schmerzes – der Tod eines Kindes, die Unerträglichkeit von Geburt und Überleben – geschieht im Halbdunkel eines Raumes, der nicht mehr ganz Innen, aber noch nicht ganz Außen ist. Der Balkon gestattet es, Schmerz mitzuteilen, ohne sich vollständig auszuliefern. Er ist ein poetischer Schutzraum für das Sagbare im Unsagbaren.
Als architektonisches Element markiert der Balkon die Grenze zwischen verschiedenen Sphären – physisch, affektiv, sozial. Der Übergang zwischen Innen und Außen wird dabei zur Chiffre für andere Übergänge: zwischen Hören und Sprechen, zwischen Erleben und Erzählen, zwischen Intimität und Öffentlichkeit. Auf dem Balkon wird nicht nur Emmanuelles Geheimnis geteilt, sondern auch das Verhältnis der Erzählerin zu ihrer eigenen Rolle reflektiert. Der Balkon wird so zum Ort der Metapoetik: Hier zeigt sich, wie die Erzählung selbst entsteht – aus einer Geste des Zuhörens, aus einer Bewegung des Teilens, aus dem Versuch, dem Schmerz eine Form zu geben.
Die spezifische Lage des Balkons – hoch über der Straße, mit Blick auf die Stadt Rom – verstärkt diese Symbolik. Die Stadt erscheint nicht als neutraler Hintergrund, sondern als resonierender Raum, der die intime Szene überformt. Rom, als Stadt der Schichten, der Erinnerungen und des ständigen Wiederaufbaus, spiegelt auf einer größeren Ebene das wider, was im Inneren der Figuren geschieht: das Abtragen alter Verletzungen, das Auslegen neuer Bedeutungen, das Überleben durch Sprache. Der Balkon erlaubt den Blick auf diese Stadt und zugleich den Blick zurück – in die eigene Geschichte, in die Verstrickung von Körper und Zeit. Die Erzählerin kehrt wiederholt zu diesem Balkon zurück, mental wie textuell, was ihn zu einem Ort macht, an dem Geschichte sedimentiert, ohne zur Vergangenheit zu gerinnen.
An der Schwelle wird verhandelt, was im Verborgenen liegt, hier treten Geschichten ins Licht, ohne vollständig preisgegeben zu sein. Der Balkon ist Bühne, Brücke, Schutzraum und Panoramascheibe zugleich. In seiner Ambivalenz spiegelt er die zentrale Spannung des Textes: das ständige Changieren zwischen Verletzlichkeit und Inszenierung, zwischen Innenwelt und Außenblick. Der Balkon steht damit nicht nur für eine konkrete Szene, sondern für eine poetische Struktur, in der das Erzählen selbst verankert ist. Er ist Schwelle, Bühne, Speicher und Spiegel zugleich. Die Offenbarung, die hier geschieht, ist nicht einmalig, sondern wiederholbar, gerade weil sie in eine Form gebracht wird. In der Erzählung wird der Balkon zum poetischen Werkzeug: Er erlaubt die Transformation von Schmerz in Sprache, von Trauma in Teilbarkeit, von subjektiver Erfahrung in ästhetische Kommunikation. In seiner Vieldeutigkeit steht der Balkon schließlich als Chiffre für die Literatur selbst – als ein Ort, der nicht vollständig festgelegt ist, aber gerade deshalb Raum für das Dazwischen eröffnet: für den Austausch, die Resonanz, das fragile Gleichgewicht zwischen Mitteilung und Schutz.
Metapherngeflecht
Der Text Drama doll webt ein dichtes Geflecht von Metaphern, das in mehrfacher Hinsicht als poetisches Bedeutungsnetz fungiert. Die einzelnen Bildfelder lassen sich in thematische Gruppen gliedern, die wiederum aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig strukturieren. Dieses Geflecht aus Sprachbildern übersetzt komplexe innere Zustände – Schmerz, Sucht, Liebe – in anschauliche und greifbare Figuren und eröffnet so ein Symbolsystem, das Körper, Welt und Erzählung miteinander verschaltet. Ein zentrales Feld bilden körperliche und organische Metaphern, in denen Schmerz als etwas Substanzielles, Räumliches oder Mechanisches erscheint: als Knoten, Netz, Stachel, als Scrupule – ein kleiner Stein –, als Infektion oder als Pumpe der Venen. Der Schmerz bekommt Gestalt, Volumen und Gewicht. Er verankert sich im Körper wie ein Fremdkörper, etwa in der Benennung der Wirbelsäule als Rückgrat („épine dorsale“). In der Wendung „I am a Percocet“ verschmilzt zudem die Sucht mit der Vorstellung von Inkarnation: Das Schmerzmittel wird nicht nur eingenommen, sondern zur Identität selbst. Unsichtbare, schwer artikulierbare Empfindungen erhalten so ein sprachlich fassbares Bild. Diese somatischen Metaphern werden durch architektonisch-räumliche Bilder ergänzt: Balkon, Brücke, Mauer, Jalousie – allesamt Schwellen oder Übergangszonen zwischen Innen und Außen, zwischen Intimität und Öffentlichkeit. In ähnlicher Weise fungiert die Stadt Rom als Resonanzraum, in dem persönliche Geschichte mit historischer Tiefendimension verschmilzt.
Ein drittes metaphorisches Feld greift auf technische und industrielle Bildwelten zurück. Besonders deutlich wird dies in der Figur des Bagger 293, einer gigantischen Abbaumaschine, die als Symbol für industrielle Gewalt, Abhängigkeit und irreversible Zerstörung steht. Sie fungiert zugleich als Allegorie der Sucht: überwältigend, effizient, aber zerstörerisch. Auch die Erzählung selbst wird in ökonomischen Begriffen gedacht – als Ressourcennutzung, als Energiehaushalt. Die Nadel taucht mehrfach als ambivalentes Werkzeug auf: medizinisches Instrument, Waffe, Spur. Als Kontrast und Gegenpol dazu erscheinen Kindheits- und Spielmetaphern: Pappschwert, Talisman, Spielgeld, Kinderbrücke – sie verweisen auf frühe, kreative Aneignungen der Welt und markieren das Erzählen als Überlebensform. Schließlich öffnen vegetabile und natürliche Metaphern – Distel-Tattoo, Stachel, Wald – eine organische Dimension, in der Körper und Umwelt als Spiegel zueinander gedacht werden. In der Doppelbedeutung von „Clément/clémente“ überlagern sich Name, Klima und sanfte Widerständigkeit gegen die Härte der Erfahrung.
All diese Bildfelder bilden kein loses Mosaik, sondern ein symbolisches Netzwerk mit wiederkehrenden Verbindungen. Im Zentrum steht ein Dreieck aus Schmerz, Sucht und Liebe – drei Affektlagen, die sich gegenseitig bedingen und ineinander übergehen. Sie entfalten sich entlang mehrerer metaphorischer Achsen: So verschränkt die erste Achse Körper und Architektur miteinander. Körperliche Strukturen und räumliche Schwellen erscheinen als analoge Formen von Halt, Grenze und Passage. Die zweite Achse verbindet das Individuum mit der Maschine: Der Bagger, die Ausgrabung, die Narbe oder das Loch in der Haut oder der Erde werden zur Metapher einer zerstörerischen Intervention. Eine dritte Achse stellt Beziehungen zwischen Natur und Kultur her. Geschichten und Erinnerungen werden wie Sedimente gedacht: schichtweise abgelegt, potenziell bewahrt oder gelöscht. Sekundäre Bereiche überlagern diese Achsen und schaffen Verbindungslinien zwischen Etymologie, Ethik, Klima, Name und Spiel. Dieses poetische Netzwerk funktioniert als eine Art Übersetzungsmaschine: Es macht abstrakte, traumatische Erfahrungen konkret fassbar, ohne sie zu fixieren. Die Bilder reichern sich gegenseitig an, verdichten und variieren sich, sodass ein selbsttragendes, dynamisches Bedeutungssystem entsteht. Zwischen Körper, Landschaft, Text und Beziehung entsteht so ein poetisches Geflecht, in dem das Erleben von Schmerz nicht nur artikuliert, sondern transformiert werden kann. Drama doll entwirft eine Poetik der Resonanzräume, in denen Metaphern nicht bloße rhetorische Figuren, sondern strukturbildende Kräfte sind.
Kunst und Schmerz
Dans le mot pharmakon , qu’on trouve un peu partout aussi aujourd’hui, il y a deux sens. Je crois qu’on peut dire que c’est un mot à double tranchant, comme un scalpel, il ouvre deux rives comme les deux bords d’une plaie s’écartent une fois que la peau tendue par-dessus est sectionnée ; le pharmakon est le poison et le remède, c’est-à-dire la drug comme on dit en anglais ; drogue et médicament.
Im Wort ‚Pharmakon‘, das man heute auch überall findet, gibt es zwei Bedeutungen. Ich glaube, man kann sagen, dass es ein zweischneidiges Wort ist, wie ein Skalpell, es öffnet zwei Ufer wie die beiden Ränder einer Wunde auseinandergehen, wenn die darüber gespannte Haut durchtrennt ist; das ‚Pharmakon‘ ist das Gift und das Heilmittel, das heißt ‚drug‘, wie man im Englischen sagt; Droge und Medikament.

Das Verhältnis zwischen Bildender Kunst und Schmerz wird im Text vielfältig beleuchtet, wobei die Kunst als ein zentrales Medium dient, um Schmerz darzustellen, zu verarbeiten und erfahrbar zu machen. Die Autorin führt eine Reihe von Künstlern und Werken an, die sich direkt mit der Darstellung von Leiden beschäftigen. Zu diesen gehören etwa Otto Dix‘ „Die Skatspieler“, Werke von Francis Bacon und Gina Pane, insbesondere ihre Arbeiten mit Rosendornen. Weitere Beispiele sind der „Isenheimer Altar“ von Matthias Grünewald, Bilder von Frida Kahlo und Goya, sowie Edvard Munchs „Der Schrei“ und Pablo Picassos „Guernica“. Frida Kahlo litt ihr Leben lang unter extremen körperlichen Schmerzen, bedingt durch eine Kinderlähmung in ihrer frühen Kindheit und einen schweren Busunfall im Alter von 18 Jahren, der zu vielfachen Knochenbrüchen und einer durchbohrten Wirbelsäule führte. Dieser chronische Schmerz prägte ihr Leben und ihre Kunst zutiefst, die sie in vielen Selbstporträts und anderen Werken verarbeitete, wobei sie den Schmerz in einen Ausdruck von Stärke und Schönheit transformierte: Kahlo nutzte ihre Kunst, insbesondere ihre Selbstporträts, um ihre körperlichen und seelischen Leiden darzustellen. In ihren Werken, wie im Gemälde „Selbstporträt mit Dornenkette und Kolibri“, verwendet sie Symbole wie die Dornen, um den Schmerz zu thematisieren, den sie ertrug. Sie wandelte ihren Schmerz in eine Quelle der Kreativität und Schönheit um und machte ihre Kunst zu einer Form des Widerstands und der Selbstermächtigung. Auffallend in Drama doll ist die Häufung von Märtyrerfiguren und christlicher Ikonografie wie dem Christus von Grünewald, der Pietà oder dem Stabat Mater, die den leidenden Körper in den Mittelpunkt stellen und zeigen, wie „Fleisch leidet“. Auch Narben und Tätowierungen werden als eine Form des künstlerischen Ausdrucks im Zusammenhang mit Schmerz und Heilung betrachtet, die dazu dienen können, die sichtbaren Spuren des Kampfes, etwa gegen Brustkrebs, zu kaschieren oder zu umhüllen. Selbst die Beschreibung des Kohlebaggers Bagger 293 als „magnifique“ und gleichzeitig „terrifiant“ illustriert, wie ästhetische Wahrnehmung mit Schrecken und Zerstörung verschmelzen kann, und ruft die Idee des romantischen Erhabenen hervor, bei dem Schönheit und Angst Hand in Hand gehen.

Im Gespräch taucht der Isenheimer Altar mehrfach auf. Grünewalds Christus ist ein Bild maximaler Körperzerstörung, das an die realen Krankheiten der Hospitalpatienten anknüpft. Das Werk steht als Beispiel für eine Darstellung, die Schmerz nicht verschönt, sondern im Detail zeigt. Es spiegelt Emmanuelles Geschichte: die lange, sichtbare Zerstörung des Körpers durch chronische Krankheit und medizinische Eingriffe. Es kontrastiert mit jenen Darstellungen, die Schmerz nur als Andeutung inszenieren. Grünewald liefert der Erzählerin ein Bild, das den Körper als Beweis einsetzt – ein Gegenbild zu den unsichtbaren Schmerzen, mit denen Emmanuelle kämpft. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld zwischen sichtbarem und unsichtbarem Leid. Michelangelos Pietà dagegen erscheint als Referenz für einen Schmerz, der nicht im physischen Zerfall dargestellt wird, sondern in kontemplativer Ruhe. Die Erzählerin kann den stillen Schmerz Marias als Bild für die Phasen lesen, in denen Emmanuelles Leiden äußerlich unsichtbar, aber innerlich intensiv ist. Dieses Werk steht für die Gefahr der „Verklärung“: Der Schmerz wird schön, glatt, er verliert die Spuren der Zerstörung. Die Pietà wirkt wie ein Kontrapunkt zum Isenheimer Altar – und öffnet die Frage, ob Schmerz durch Schönheit erträglicher oder entwaffnender wird.

Berninis Verzückung der hl. Theresia, deren mystische Verwundung erotisch inszeniert ist, passt zu Vidals Reflexionen über die Verquickung von Schmerz und Begehren. Die Szene erinnert an Emmanuelles Beschreibung der Morphinzeit: Schmerz wird zwar nicht „lustvoll“, aber die Droge produziert eine Zwischenzone aus Betäubung, Rausch und Abhängigkeit. Die Erzählerin nutzt solche Kunstbilder, um die körperlich-geistige Ambivalenz zu fassen, die rein medizinische Sprache nicht leisten kann. Hier wird Schmerz zum Hybridzustand, der im Text immer wieder aufscheint – weder rein destruktiv noch rein erlösend.
Gina Panes Azione sentimentale überführt realen Schmerz in kontrollierte, rituelle Geste. Pane liefert eine Brücke zwischen medizinischem Eingriff (Nadel, Operation) und künstlerischem Akt: In beiden Fällen wird der Körper bewusst geöffnet. Die ritualisierte Wiederholung (Pane wiederholt Schneiden, Stechen) entspricht dem Motiv der wiederkehrenden Schmerzattacken. Pane ist Schnittstelle zwischen privater Leidensgeschichte und öffentlicher Performance – so wie die Erzählerin Emmanuelles Geschichte in eine literarische Szene verwandelt.
In Marina Abramović, Rhythm 0, hängt der Schmerz nicht allein von der Künstlerin ab, sondern vom Publikum. Diese Logik spiegelt die Abhängigkeit der Schmerzkommunikation von der „Resonanz“ der Zuhörer. Emmanuelles Erzählung ist nur so wirksam, wie die Erzählerin sie aufnimmt. Schmerz wird hier als Ko-Produktion sichtbar: Er lebt von der Reaktion des Gegenübers. Abramovićs Performance bietet ein Modell für die Szene auf dem Balkon: ein offenes Setting, in dem Schmerz weitergegeben wird, aber immer auch Risiko und Machtgefälle enthält.
Nick Uts Foto Napalm Girl liefert einen dokumentarischen Gegenpol zu metaphorischen Bildern wie dem „Bagger 293“. Die Aufnahme verdeutlicht, wie stark die Präsenz des sichtbaren Beweises wirkt – im Gegensatz zu Emmanuelles unsichtbarer, innerer Verletzung. Gleichzeitig steht sie für die ethische Ambivalenz, die auch im Roman mitschwingt: Darf man das Leiden anderer in Kunst oder Erzählung einbetten? Das Werk fungiert als Grenzmarker zwischen legitimer Darstellung und Ausbeutung von Schmerz.

Gottfried Helnweins hyperrealistische Kinderporträts verbinden Unschuld und Zerstörung. Dies entspricht der Figur des verlorenen Zwillings: ein unschuldiges Leben, das verletzt oder ausgelöscht wird. Die Verbindung von Intimität (Kindergesicht) und Fremdheit (Bandagen, Verletzungen) spiegelt die doppelte Erfahrung von Nähe und Entfremdung im Schmerz. Helnwein liefert eine visuelle Analogie zur Trauer um das, was nicht gewachsen ist, eine wiederkehrende Unterströmung des Romans.
Rose Vidal nutzt die Kunstwerke nicht als bloße Illustrationen, sondern als narrative Gelenkpunkte: Sie markieren Übergänge zwischen persönlichen und kollektiven Schmerzformen. Sie strukturieren den Rhythmus des Textes durch Einschub, Kontrast oder Spiegelung. Sie bieten semantische Felder (Martyrium, Selbstermächtigung, Ambivalenz, Landschaftsverletzung), in denen die konkrete Geschichte Emmanuelles interpretiert werden kann. Kunstwerke werden so zu sekundären Figuren der Prosa: Sie treten ein, kommentieren, kontrastieren, lassen Bilder weiterklingen – und schaffen eine doppelte Ebene des Erzählens, in der Schmerz zugleich dokumentiert, übersetzt und transformiert wird. Über die direkte bildliche Darstellung hinaus wird die Kunst im Allgemeinen als entscheidendes Werkzeug zur Kommunikation und Verarbeitung des oft unsichtbaren und schwer fassbaren Schmerzes verstanden. Die Autorin betont, dass Schmerz in seiner „radikalen Einsamkeit“ weder sichtbar noch teilbar ist und niemand den Schmerz eines anderen vollständig nachvollziehen kann. Gerade hier entfaltet die Kunst, insbesondere das Schreiben, ihre Wirkung: Sie bietet eine Möglichkeit, diese tief persönliche und isolierende Erfahrung zu verarbeiten und in eine Form zu bringen, die andere erreichen kann. Das Schreiben wird als ein Akt beschrieben, „Gutes zu tun, um das Böse zu lindern“, indem es dem Unsagbaren eine Stimme verleiht. Dies geschieht durch das „Widmen von Formen“ („dédier la forme“), eine poetische Definition, die es ermöglicht, verborgene Emotionen, Geheimnisse oder traumatische Erlebnisse auszudrücken, ohne sie explizit benennen zu müssen.
Die Verbindung zwischen Kunst und Schmerz geht noch tiefer, indem sie die untrennbare Beziehung zwischen physischem und emotionalem Leid beleuchtet. Neurologische Studien wie die von Dr. Danziger zeigen eine Ähnlichkeit der Gehirnmechanismen, die körperlichen Schmerz und den Schmerz der Trennung oder sozialen Ausgrenzung steuern. Kunst hilft, diese tiefgreifende, menschliche Erfahrung zu verstehen und zu navigieren, indem sie Schmerz nicht nur als physiologisches Signal, sondern auch als eine „Kategorie des Verstandes“ darstellt, ähnlich der Liebe, die hilft, die Welt zu strukturieren und zu interpretieren. Der Schmerz wird dabei als eine Instanz beschrieben, die „über die Welt wacht“ und uns sowohl den Körper als auch die Welt lehrt. Das Phänomen des Phantomkörpers verdeutlicht zudem, dass Schmerz das „heiligste Band“ zwischen unserem unmittelbaren Körper und unserem geistigen Selbst ist und somit eine entscheidende Rolle für das integrierte Körperbild und das Selbstverständnis spielt.
Schließlich dient die Kunst auch als Medium der Heilung, Bewältigung und Transformation von Schmerz. Die Metapher der „Nadel für Küsse“ („aiguille à bisou“), die als Gegenstück zur schmerzhaften Epiduralnadel dient, symbolisiert die Möglichkeit, Verletzungen zu heilen und Liebe auszudrücken. Der von Bastien auf seinem Arm tätowierte Pilot, sein Onkel, wird zum Symbol für eine solche heilende Kunst, die den „Abgrund zunäht“ und eine leichte Ablagerung des Erinnerns schafft. Die Autorin selbst benennt ihr Schreiben als eine „Waffe und Rüstung“, die in der Lage ist, Trost zu spenden, zu wärmen und zu beschützen. Die Kunst, und insbesondere das Schreiben, wird zu einem lebendigen Körper von Geschichten, die nicht nur die eigenen sind, sondern auch die anderer, und schafft so eine gemeinsame Realität, die über die individuelle Erfahrung hinausgeht. Die Fähigkeit, aus schmerzhaften Erfahrungen „Charaktere“ zu schaffen, ermöglicht es, das Erlebte zu verarbeiten und es für andere zugänglich zu machen, wodurch die Kunst einen Raum für gemeinsames Verständnis und Überwindung von Isolation bietet.
Intertextualität
Die Intertextualität in Drama doll ist ein konstituierendes Element der Erzählung, das die Bedeutungsebenen des Textes vervielfacht und vertieft. Vidal webt ein dichtes Netz aus direkten und impliziten Verweisen auf Literatur, Philosophie, Kunst, Musik, historische Ereignisse und populäre Kultur, das den Leser aktiv in einen Dialog mit diesen Bezügen einbezieht. Michel de Montaignes Les Essais dienen der Autorin als wichtiges Referenzsystem. Sie bewundert Montaignes Gebrauch des Personalpronomens „ich“ und seine Form der Selbsterkundung durch das Schreiben. Vidal zieht Parallelen zwischen Montaignes „Essais“ als „Proben“ oder „Prüfungen“ und dem schmerzhaften Prozess des Überarbeitens und Korrigierens. Besonders hervorzuheben ist ihre Reflexion über Montaignes Begriff „souffrir“ (leiden), den er auch im Sinne von „akzeptieren“ oder „zulassen“ verwendet. Dies eröffnet eine tiefere Ebene der Auseinandersetzung mit Schmerz, die über das reine körperliche Empfinden hinausgeht. Darüber hinaus zitiert Vidal Montaignes Passage über die Vergänglichkeit der Generationen und das „Töten des Vaters“ durch die nachfolgende Generation: „l’aage et generation subsequente va tousjours desfaisant et gastant la precedente“. Dies unterstreicht die Idee, dass jede Generation die vorangegangene auflöst und neu definiert, eine Thematik, die sich durch den gesamten Roman zieht, insbesondere im Kontrast zwischen den „Boomern“ und den „Millennials“.
Neben Montaigne finden sich weitere direkte Verweise auf literarische Werke, die das Thema Schmerz und Leid behandeln, wie Marguerite Duras‘ La Douleur und Robert Antelmes L’Espèce humaine. Auch Philippe Djians 37,2° le matin wird erwähnt, wodurch die Autorin ihren eigenen körperlichen Zustand des „Kälte-Leidens“ in einen literarischen Kontext stellt.
Mythologische Bezüge, wie die Geschichte von Romulus und Remus, dienen dazu, die Erzählung über Emmanuelles verstorbenen Zwillingssohn zu rahmen und eine schmerzhafte Gründungsthematik zu verankern. Die Sibylle von Cumae aus Ovids Erzählung wiederum reflektiert die Gefahren unüberlegter Wünsche und die Macht der Formulierung, was später mit dem Sandman-Mythos und dem Sands-Motiv des Träumens und Wünschens in Verbindung gebracht wird.
Besonders prägend sind die Referenzen zu Neil Gaimans Werken. Coraline, sowohl als Roman als auch als Animationsfilm, wird als Kindheitserfahrung und als Erzählung über die Bewahrung der eigenen körperlichen Integrität und des Selbst angesichts von Verlockung und Gefahr aufgegriffen. Gaimans Sandman-Comicserie, die Morpheus, den König der Träume und Albträume, in den Mittelpunkt stellt, verbindet sich mit der griechischen Wurzel „morphê“ (Form), die auch den Namen des Schmerzmittels Morphin prägt – ein zentrales Thema des Romans. Die Autorin rezipiert diese Werke im Kontext ihrer eigenen Ängste vor Albträumen und der unheimlichen Macht des Sandmans in der germanischen Tradition (nach E.T.A. Hoffmann).
Musikalisch ist die Band Morphine von herausragender Bedeutung. Die Autorin reflektiert über die etymologische Verbindung von „Morphine“ (Bandname) zu „morphê“ (Form) und zu Morpheus, dem Gott der Träume, und dem Medikament Morphin. Die Texte der Songs wie „The Night“ und „Wishing Well“ werden zitiert und als tiefgreifende Liebeserklärungen und ontologische Reflexionen interpretiert, die das Unsichtbare und die Schaffenskraft des Namens erfassen. Auch zeitgenössische Musik, wie das missverstandene „I’m a Percocet“ eines Rappers, führt zur Kreation eines neuen „Charakters“, Percocette, der die Fähigkeit verkörpert, selbst zum Schmerzmittel zu werden.
Dokumentarische und mediale Referenzen sind ebenfalls von Bedeutung. Die Autorin verweist auf eine Radiodokumentation von „Les Pieds sur Terre“ über Zugführer und ihre Erfahrungen mit „Personenunfällen“. Die erschütternde Geschichte eines Zugführers, der über einen erfrorenen Körper fährt und dessen kaltes Trauma ihn nachhaltig prägt, dient der Autorin dazu, ihre eigene chronische Kälteempfindlichkeit als eine Form des Schmerzes zu verstehen und die Übertragbarkeit von Leid zu hinterfragen.
Die Intertextualität in Drama doll ist ein komplexes und vielschichtiges Gewebe, das den Roman weit über eine einfache Autobiografie oder eine lineare Erzählung hinaushebt. Durch die bewusste und oft poetische Verknüpfung von persönlichen Erfahrungen mit kulturellen, historischen, wissenschaftlichen und philosophischen Texten schafft Rose Vidal einen polyphonen Raum, in dem Schmerz, Liebe und Identität aus einer Vielzahl von Perspektiven beleuchtet werden. Die Intertextualität dient als Werkzeug, um das Unsagbare auszudrücken, das Individuelle ins Kollektive einzubetten und die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, Ich und Anderem, Leben und Tod aufzuheben. Drama doll ist somit nicht nur ein Roman über das Leiden, sondern auch eine Feier der Fähigkeit der Sprache, des Denkens und der Kunst, die komplexesten menschlichen Erfahrungen zu gestalten und zu heilen, indem sie sie in ein weites intertextuelles Gespräch einweben. Die Autorin lädt den Leser ein, diesen Dialog mitzuverfolgen und die Welt durch das „Fremde“ und das „Bekannte“ neu zu formen, ganz im Sinne von „morphê“ – der Form, die das Unfassbare greifbar macht.
Exkurs: Zur Typographie
In der „Note de l’autrice“ am Ende von Drama doll erläutert Rose Vidal ihre typografischen Entscheidungen als bewussten Teil der inhaltlichen und politischen Struktur des Textes. Besonders hebt sie hervor, dass der Roman in Zusammenarbeit mit dem Kollektiv Bye Bye Binary gestaltet wurde – einem Kollektiv, das sich der Entwicklung queerer, inklusiver Typografien widmet. Vidal verankert damit die Form des Textes ausdrücklich im Kontext einer queer-feministischen Sprach- und Schriftpolitik. Sie schreibt, dass die Schriftgestaltung kein bloßes ästhetisches Beiwerk sei, sondern integraler Bestandteil der Erzählung, ein „geste typographique“ – also eine typografische Geste, die mitschreibt. Durch nicht-binäre Schreibweisen, etwa in der Verwendung von Gender-Gaps oder alternativen Wortformen, wird die Schrift selbst zu einem Träger von Haltung. Dabei betont Vidal, dass sie bewusst eine Sprache wählt, die sich „entzieht“, „verschiebt“ und „widerständig“ bleibt – eine Sprache, die nicht fixiert, sondern in Bewegung ist. Diese Haltung überträgt sich auf das visuelle Layout: Der Text arbeitet mit Brüchen, Leerstellen und Mehrdeutigkeiten, die auch typografisch umgesetzt werden. Die Zusammenarbeit mit Bye Bye Binary ist also Ausdruck eines poetisch-politischen Programms: Die Form spricht mit – in ihrem Fragmentcharakter, ihrer Offenheit, ihrer visuellen Artikulation von Zwischenräumen und Übergängen. Das Schriftbild wird so zu einem weiteren Resonanzraum für die zentralen Themen des Textes: Ambivalenz, Verletzlichkeit, Übersetzung, Nicht-Zugehörigkeit. In diesem Sinn schreibt sich der Text nicht nur in Sprache, sondern auch in typografische Körper ein.

Die Schriftart BBB Baskervvol ist eine zeitgenössische Neuinterpretation des historischen Baskerville-Schriftschnitts, die über mehrere Stationen hinweg – unter anderem durch das Atelier national de Recherche typographique (ANRT) – weiterentwickelt wurde. Dabei geht es nicht nur um typografische Präzision, sondern um eine bewusste Auseinandersetzung mit der Geschichte der Schriftgestaltung. Im Zentrum steht die kritische Sichtbarmachung vergessener Akteurinnen wie Sarah Eaves, der Lebensgefährtin und Geschäftspartnerin von John Baskerville. Obwohl sie maßgeblich an der Entwicklung und dem Druck der Schriften beteiligt war und nach seinem Tod die Druckerei weiterführte, blieb ihre Rolle in der typografischen Geschichtsschreibung lange unbeachtet. Die Schrift BBB Baskervvol versteht sich daher auch als feministisches Korrektiv – in dieser Tradition steht bereits die Schrift Mrs. Eaves von Zuzana Licko (1996), die Sarah Eaves gewidmet ist. Seit 2018 wird Baskervvol kollektiv weiterentwickelt, insbesondere um post-binäre Zeichen zu integrieren. Damit entsteht ein inklusives Schriftsystem, das jenseits der traditionellen Geschlechterbinarität funktioniert und neue Ausdrucksformen ermöglicht. Diese Erweiterung ist nicht nur gestalterisch, sondern auch politisch motiviert. In einem weiteren Schritt versteht sich die Schrift als Gegenmodell zu proprietären Standards wie Times New Roman, die in der akademischen Welt häufig vorgeschrieben sind. Mit ihrer freien Lizenz und ihrer historischen wie stilistischen Autorität ermöglicht der BBB Baskervvol die bewusste Einführung queerer und post-binärer Elemente in normativ geprägte Räume der Wissensproduktion. Die Schrift wird so zu einem Werkzeug des Widerstands und der Sichtbarkeit innerhalb eines oft exklusiven typografischen Kanons.
Zum Romanschluss
Das Schlusskapitel mit dem Titel „Enfin“ (Endlich) führt die zuvor entwickelten Themen und Metaphern zusammen und bietet eine Reflexion über die Natur der Beziehungen, der Wahrnehmung, des Schreibens und der Existenz selbst. Die Autorin greift zunächst die Idee des „Charakters“ oder der „Person“ auf und hinterfragt, was es bedeutet, jemanden zu „erfinden“ oder zu „erkennen“. Sie betont, dass man die „unklaren Grenzen“ einer Person oder eines Charakters erkenne, nicht ihre festen Konturen, und dass dies ein Akt der Liebe sei. Dieses Konzept des Charakters wird dann auf die Beziehung zwischen der Autorin und dem Leser sowie auf ihre Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, übertragen. Sie thematisiert die Schwierigkeit, sich zu erinnern und zu kommunizieren, und wie das Schreiben, trotz der damit verbundenen „Gewalt“ und der Gefahr des Verlusts, ein Mittel sein kann, sich dem Anderen zu nähern und ihm zu „helfen“. Die Autorin erklärt, dass ihr Schreiben ursprünglich dem Ziel diente, „Gutes zu tun, um das Böse zu lindern“, auch wenn diese Absicht nicht immer direkt erfolgreich war.
Die Auseinandersetzung mit dem „Charakter“ und der „Person“ spiegelt die wiederkehrende Frage nach der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Schmerz wider, die in Kapiteln wie „Achknowledge“ und „Doli me tangere“ behandelt wird, wo die „radikale Einsamkeit“ der Leidenden im Fokus steht. Die Diskussion über die „Amputation“ von Körperteilen und über den „Phantomkörper“ findet eine Entsprechung in der Angst der Autorin, sich selbst zu verlieren oder nicht „genug“ oder „zu viel“ zu sein, und in der Suche nach Gleichgewicht. Die ontologische Dimension der Liebe dient als Gegenpol zur destruktiven Kraft der Schmerzen und Süchte, die im gesamten Text thematisiert werden (z.B. im Kapitel „Dans les bras de morphine“). Die im „Panthéon“ erlebte Abstraktion und Distanz findet im Kapitel „Enfin“ eine „Metamorphose“, indem das Schreiben als konkrete Form der Verbindung und des Verständnisses dient.
„Enfin“ bietet keine einfache Lösung, aber eine Form der Integration und Akzeptanz. Die Autorin findet eine Art Frieden in der Erkenntnis, dass das Leben aus einer Mischung von Liebe, Schmerz, Verlust und der ständigen Suche nach Verständnis besteht. Die „Endlichkeit“ des Buches ist gleichzeitig eine „Öffnung“, die darauf hindeutet, dass die Beziehungen und die Auseinandersetzung mit diesen grundlegenden Fragen des Seins weitergehen. Der Text schließt mit einem Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber den Menschen, die ihre Drama doll bewohnen, und betont, dass das Schreiben eine Form ist, „um zu verstecken, was nicht gesagt werden soll, um zu lieben über alle Vernunft hinaus“. Dies schafft einen Bogen zurück zur anfänglichen Motivation des Schreibens als Mittel zur Bewältigung von Geheimnissen und Schmerz und unterstreicht die Rolle der Kunst als einen Weg, die Komplexität der menschlichen Erfahrung zu verarbeiten und zu teilen, selbst wenn die vollständige Kommunikation unmöglich bleibt.
Rose Vidals Drama doll ist weit mehr als eine Erzählung über Leid; es ist eine Untersuchung der „Poetik des Schmerzes“, die den Lesern ermöglicht, die vielfältigen, oft unsichtbaren Dimensionen des Schmerzes neu zu betrachten. Das Werk zeigt, wie Schmerz als individuelles und kollektives Gedächtnis, als treibende Kraft für künstlerischen Ausdruck und als grundlegende Kategorie des menschlichen Verständnisses fungiert, die unser Sein im Innersten prägt und uns letztlich daran erinnert, dass wir „niemals zu viel oder zu wenig sind“.
Drama doll ist kein Roman im traditionellen Sinne, sondern eine poetische und philosophische Meditation über Schmerz, Identität und die transformative Kraft des Erzählens. Er entlarvt die verborgene Natur chronischen Leidens, die gesellschaftlichen Vorurteile in seiner Wahrnehmung und die existentielle Bedeutung von Anerkennung und Verbindung. Durch die Verwebung unterschiedlicher Stimmen und fragmentierter Erinnerungen plädiert Vidal für Empathie, generationsübergreifende Heilung und die Fähigkeit der Liebe, die Welt neu zu gestalten. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität werden dabei bewusst verwischt, um tiefere Wahrheiten über menschliche Beziehungen und die kollektive Verkörperung von Erfahrungen offenzulegen. Der Roman ist ein Zeugnis der Überzeugung, dass das Teilen von Geschichten, so schmerzhaft sie auch sein mögen, ein Akt der Heilung und des Widerstands sein kann.
Die Erkenntnis, dass der ungenannte Gesprächspartner (und implizierte Liebhaber) „alles verändert“ und zum „Ende und zur Öffnung“ des Buches wird, suggeriert, dass menschliche Beziehungen, insbesondere die Liebe, ein kontinuierlicher Prozess sind, keine endliche Erzählung. Die abschließenden Sätze – „Vous rencontrez des personnages en amour. Et vous raconteriez des histoires“ – legen nahe, dass Liebe im Wesentlichen eine Begegnung mit „Figuren“ ist, sei es in der Realität oder in der Imagination, die unsere Geschichten prägen und beleben. Die fließende Unterscheidung zwischen „personne“ (Person) und „personnage“ (Charakter/Rolle) bedeutet, dass wir in der Liebe die „Charaktere“ in unserem Leben gestalten und sie in unseren Erzählungen verewigen, selbst wenn der physische Tod die „Person“ fordert. Der „Dämon der Abstraktion“ wird nicht durch Flucht überwunden, sondern durch das Umfassen des konkreten „Fleisches und Blutes“ der Geschichten anderer. Die Erzählerin bleibt auch am Ende dem Gedanken treu, dass das Schreiben, so schmerzhaft es auch sein mag, ein fundamentaler Akt der Verbindung und des Lebens ist. Das Buch hört nicht auf, wenn es endet; es öffnet sich für weitere Geschichten und Leben. Drama doll legt nahe, dass in Anbetracht des unausweichlichen Schmerzes und der Endlichkeit des Lebens die fortwährende Geste, der menschlichen Erfahrung Form zu verleihen – sei es durch gegenseitige Verletzlichkeit, tiefes Zuhören oder grenzenlose Liebe –, selbst das tiefste „Heilmittel“ ist. Es ist eine fortwährende „Coda“, die das individuelle Leiden transzendiert und ein kollektives Gewebe widerstandsfähiger Koexistenz webt.
Anmerkungen- https://villamedici.it/en/resident/rose-vidal/, konsultiert im August 2025.>>>