Schwankendes Schiff
Der Roman Le descendant africain d’Arthur Rimbaud (2012) von Victor Kathémo erzählt die Geschichte des Ich-Erzählers Racho, der in Äthiopien, genauer gesagt in Dirédoua nahe Harar, geboren wurde. Sein Leben nimmt eine unerwartete Wendung, als seine Identitätspapiere gestohlen werden und der Dieb bei einem Unfall ums Leben kommt. Rachos Familie, die sich auf die Adresse in den gestohlenen Dokumenten beruft, hält den Toten für Racho selbst und veranstaltet eine Beerdigung zu seinen Ungunsten. Von seinen Angehörigen als „Wiedergänger“ oder „bösartiger Geist“ missverstanden und gefürchtet, verlässt Racho sein Dorf und begibt sich auf eine schwierige Reise, die er als seinen „Kreuzweg“ bezeichnet. Diese Ereignisse dienen als Grundlage für ein Theaterstück mit dem Titel Le Train de Bellevie, dessen Premiere Racho als „Ehrengast“ beiwohnt und das allegorisch sein Unglück darstellt.
Im Verlauf seiner Odyssee entdeckt Racho, dass er ein entfernter Nachfahre Arthur Rimbauds ist. Seine Ururgroßmutter, eine Amhara-Frau und Gewürzhändlerin, hatte in Harar eine „kurze und diskrete Liaison“ mit Rimbaud, aus der nach dessen plötzlicher Abreise ein Kind hervorging. Racho, selbst ein Bildhauer aus Cotonou (genannt Cototrou) im Golf von Guinea, der seinen Lebensunterhalt mit der Umgestaltung von Schrott zu Kunstwerken verdient, beschließt, nach Europa, ins Rheinland auszuwandern. Er reist als blinder Passagier in einem Schiffscontainer. Nach seiner Ankunft in Le Havre versucht er, über Straßburg nach Deutschland zu gelangen, wird jedoch von der deutschen Polizei aufgegriffen und an die französische Polizei übergeben, wo er gezwungen ist, einen Antrag auf politisches Asyl zu stellen. Seine Situation als Asylsuchender ist von Unsicherheit und dem Verlust der Selbstbestimmung geprägt. In Frankreich heiratet er Catherine, eine ehemalige Prostituierte, um seinen Aufenthaltsstatus zu legalisieren. Gleichzeitig hält er seine Beziehung zu seiner ersten Frau Rahel und ihrem gemeinsamen Sohn Tesfaye, die er unter dem Vorwand, es handele sich um seine kranke Schwester und seinen Neffen, nach Frankreich holt, geheim. Als Catherine seine Täuschung entdeckt, verlässt Racho sie, wird aber auch von Rahel abgewiesen, die inzwischen eine neue Beziehung eingegangen ist. Der Roman endet mit Racho, der in Aurillac ein neues Leben begonnen hat, in dem er über die Rolle von Schicksal, anderen Menschen und der „combine“ (List, Anpassung) in der Gestaltung des Lebens nachsinnt.
Es stellen sich Fragen wie diese: Auf welche Weise prägt die Abstammung von Arthur Rimbaud Rachos Identität, sein Schicksal und seine Selbstwahrnehmung, insbesondere im Kontext seiner eigenen existenziellen Krisen und dem Leben als Immigrant? Wie werden Rimbauds Leben – seine Reisen, seine Schaffensphasen und sein Rückzug von der Poesie, seine körperlichen Leiden und sein Tod – in Rachos Geschichte reflektiert und neu interpretiert? Wie ist der „Zug nach Bellevie“ als zentrales Motiv des Theaterstücks im Roman zu deuten und welche Parallelen gibt es zu Rimbauds idealisierten oder enttäuschten Hoffnungen? Welche abschließende Botschaft oder Interpretation liefert der Roman über das Erbe Rimbauds und die menschliche Existenz im Angesicht von Entfremdung, Leid und Anpassung?
Thesen zum Roman als Rimbaud-Fiktion
Die Dekonstruktion der Identität und das Rimbaud-Erbe als Bürde und Antrieb
Rachos vermeintliche Abstammung von Rimbaud ist der zentrale Motor seines Lebens und seiner Suche nach einem „Paradies“ in Europa. Anfänglich ist diese Filiation eine Quelle des Stolzes und der Hoffnung auf „ein divinisiertes Leben“ und eine „Behandlung wie Prinzen“. Doch in Frankreich, dem Land des Vorfahren, wird diese Identität zunehmend dekonstruiert. Rachos eigenes Spiegelbild erscheint ihm „missgestaltet, entschwindend, schraffiert“ und „weit, sehr weit vom Image dieses Mannes“ entfernt. Die Ablehnung seines Asylantrags mit der Begründung, die „transgenerationale Verdünnung des rimbaudschen Blutes“ sei zu stark, um gesetzliche Privilegien zu rechtfertigen, ist eine direkte Metapher für die Entwertung seiner Herkunft in den Augen der Bürokratie und der Gesellschaft. Die Identität, die ihn nach Europa zog, wird zu einer Last, die paradoxerweise die Tür zum privilegierten Leben verschließt. Die Aussage, dass man „wenn man sich selbst nicht mehr ähnelt, man nichts mehr ähnelt“, wird zur schmerzhaften Realität Rachos, der in Europa seine ursprüngliche Identität verliert und sich fragt, ob er nicht in eine „Impostur“ geraten ist. Sein Rimbaud-Erbe ist somit nicht nur ein Ruhm, sondern auch ein Katalysator für eine tiefgreifende Identitätskrise und Entfremdung.
Die Reise als existentielle Flucht und Suche nach dem Ideal (Bellevie)
Rachos beschwerliche Flucht aus Äthiopien vor Krieg und Hunger und seine Odyssee nach Europa sind eine direkte Parallele zu Rimbauds Abkehr von der Poesie und seinen ausgedehnten Reisen durch den Orient und Afrika. Während Rimbauds Reisen oft als Flucht vor sich selbst oder als Suche nach materiellen Gewinnen interpretiert werden, ist Rachos „Ruf der Weite“ („l’appel du large“) eine Suche nach einem idealisierten „Land seines Vorfahren“, einem „Paradies“, einer „strahlenden, reichen, großzügigen“ Existenz, einem „Bellevie“. Das zentrale Motiv des Theaterstücks, der „Zug nach Bellevie“, symbolisiert dieses unerreichbare Ideal. Er ist ein „einzigartiger Zug“, der nur einmal im Leben kommt, nachts fährt, um „die Finsternis zu durchbrechen“. Doch trotz aller Bemühungen und Hoffnungen hält der Zug nicht an, was die Illusion und Unerreichbarkeit des Paradieses unterstreicht. Die Erkenntnis, dass das Paradies in der Rue Kléber, einem Viertel der Prostitution, unerreichbar ist, selbst mit Geld, und dass „die Hölle ein Reich der Lebenden ist, da sich auch dort der Tag erhebt“, verdeutlicht die Desillusionierung. Rachos Überfahrt in einem dunklen Container, verglichen mit einem Grab, und seine „Saison in der Hölle“ („une saison en enfer“) in Frankreich, voller Angst, Einsamkeit und bürokratischer Hürden, spiegeln Rimbauds eigene „Saison en Enfer“ wider, jedoch aus der Perspektive eines modernen, afrikanischen Nachfahren, der die „Hölle“ der Migration erlebt.
Intertextualität als Identifikation und subversiver Dialog
Der Roman nutzt direkte Zitate und Anspielungen auf Rimbauds Werk, um eine tiefe Verbindung zwischen Racho und seinem Vorfahren herzustellen und gleichzeitig eine subversive Interpretation zu ermöglichen.
Kathémo platziert Rachos leidvolle Erfahrungen in Europa und seine moralischen Dilemmata in diese berühmte literarische Tradition, wodurch er eine moderne, migrantische „Hölle“ skizziert, die sich von Rimbauds existenziellem und spirituellem Kampf unterscheidet und diesen zugleich ergänzt.
Das vielleicht prominenteste Beispiel ist Rachos spontaner Ausruf der Verse aus Rimbauds Gedicht „Oraison du Soir“ (Abendgebet) während der Theatervorstellung. In einem Moment höchster existenzieller Angst, als er sich in eine Art Schockzustand befindet und sich von seinem Sitz zu lösen scheint, rezitiert er Zeilen wie „O, suprême Clairon plein de strideurs étranges, / Silences traversés des Mondes et des Anges / O juste! Il faut gagner un toit. Dis ta prière, / La bouche dans ton drap doucement expié ; / Et si quelque égaré choque ton ostiaire / Dis : Frère, va plus loin, je suis estropié ! / Et ça me fait pleurer sur mon ventre, ô stupide / Je suis maudit, tu sais ! Je suis saoul, fou, livide, / Ce que tu veux ! Mais va te coucher, voyons donc, / Juste, je ne veux rien à ton cerveau torpide.“ Diese Identifikation ist so stark, dass er glaubt, Rimbauds Geist komme ihm zu Hilfe. Das Zitat, das Rimbauds eigene Jugendlichkeit, Rebellion und Leiden widerspiegelt, wird zu Rachos eigenem Ausdruck von Entfremdung („estropié,“ „maudit“) und Verzweiflung, wodurch die Grenzen zwischen Dichter und Nachfahre verschwimmen. Es ist ein Akt der Aneignung und Aktualisierung.
Subversion der Homosexualität und die Komplexität familiärer Bindungen
Der Roman stellt Rimbauds (zumindest zeitweise) Homosexualität nicht nur dar, sondern subvertiert sie auch auf interessante Weise. Der Kapitän behauptet, Rimbaud, den er als „Eunuch“ bezeichnet, habe gar keine Kinder zeugen können. Diese Aussage wird jedoch durch die Existenz Rachos als direkter Nachfahre widerlegt. Rimbauds Liaison mit Rachos Ururgroßmutter ist als „kurz und diskret“ beschrieben, was vielleicht eine Anspielung auf die historischen Unsicherheiten bezüglich Rimbauds sexueller Identität in Afrika ist oder eine Gegenerzählung zur Verlaine-Beziehung schafft. Rachos eigene Beziehungen sind von komplexer Natur: seine Bigamie und die Verschleierung der Identität von Rahel und Tesfaye als „Schwester“ und „Neffe“ können als eine Art „pervertierte“ Familienstruktur gelesen werden, die aus Notwendigkeit und Überleben in der Migration entsteht. Dies steht im Kontrast zu den traditionellen Normen, die Rimbauds Homosexualität ebenfalls durchbrach. Das Konzept des „mulatto half-brother“ von Tesfaye am Ende des Romans symbolisiert die weitere Vermischung von Kulturen und Abstammungslinien, was die Idee fester, reiner Identitäten untergräbt.
Tod, Wiedergeburt und die Last des körperlichen Leidens
Der Roman greift Rimbauds Thematik des Todes und körperlichen Verfalls auf und erweitert sie. Rimbauds Amputation wird kurz erwähnt, und Rachos eigene Erfahrungen im Container sind von Todesangst geprägt: er fühlt sich „gelähmt“ und fürchtet einen „unerwarteten Kollaps“ oder eine „Malariakrise“. Der „Engel des Todes“ droht, seine Seele zu verschlingen. Doch der Roman bietet auch eine Perspektive der Metamorphose: „Mehrere Leben zu kennen, erfordert mehrere Tode, aber wäre der Tod nicht schön, wenn er zu einer Auferstehung führen könnte?“. Dieser Gedanke ist zentral für Rachos wiederholte Neuanfänge und seine Anpassungsfähigkeit. Die Erfahrungen, die ihn an den Rand des Todes bringen, wie die Überfahrt im Container oder die „Nahtoderfahrung“ in Catherines Badewanne, sind Katalysatoren für eine tiefere Selbstreflexion und eine Art Wiedergeburt. So wie Rimbaud in seinem Leiden am Ende seines Lebens eine Transformation erfuhr, durchlebt auch Racho immer wieder existentielle Krisen, die ihn zu einer Neudefinition seiner selbst zwingen.
Rimbauds poetischer Stil im Roman – Bildlichkeit und surreale Wahrnehmung
Kathémos Roman ist stilistisch von Rimbauds Poesie beeinflusst, insbesondere in seiner reichen, oft surrealen und traumartigen Bildsprache. Die Prosa ist voll von Metaphern, Personifikationen und unerwarteten Vergleichen, die die innere Welt des Erzählers widerspiegeln und die Realität verfremden.
Beispiele für surreale Bildlichkeit sind etwa die Platanen, die ihre Äste beugen, um zu drohen, Autos, die sich in riesige Krokodile verwandeln, oder Pudel, die Rachos Beine mit Baumstämmen verwechseln und urinieren wollen. Diese Bilder schaffen eine bedrohliche und entfremdete Atmosphäre in Paris, die Rachos inneres Chaos und seine Paranoia widerspiegelt.
Die Beschreibung der Überfahrt im Container mit der Flamme, die einen „initiatorischen Tanz“ vollführt, oder die Gedanken, die wie Müll durchwühlt werden, um „verlorene Botschaften“ zu finden, erinnert an Rimbauds Fähigkeit, im Gewöhnlichen und sogar im Abstoßenden poetische Tiefe zu finden.
Die Rue Kléber wird zur „Hölle“, wo Prostituierte „wie rosige Garnelen auf einem Grill“ aussehen, bereit, „verschlungen zu werden“. Diese Mischung aus Vulgarität und ästhetisierter Beschreibung ist typisch für Rimbauds revolutionären Umgang mit der Sprache, der das Erhabene mit dem Profanen verband.
Der Erzähler selbst ist ein Bildhauer, der „rostige Metalle poliert, feilt, schneidet, schweißt“, um ihnen einen „künstlerischen Ausdruck“ zu verleihen. Seine „Worte waren die Formen, die Reliefs, die ich mit dem Schweißbrenner in einen gebrauchten Kanister prägte“. Dies ist eine Metapher für Rimbauds eigene „Alchemie des Worts“, die darauf abzielte, die Realität zu transfigurieren und dem Gewöhnlichen eine neue Bedeutung zu geben.
Der Roman wechselt fließend zwischen der objektiven Realität und Rachos subjektiver, oft von Angst oder Wunschdenken verzerrter Wahrnehmung, was an Rimbauds Neigung erinnert, Traum und Wirklichkeit zu vermischen und die Grenzen der rationalen Wahrnehmung zu sprengen.
Überleben durch „la combine“
Der Roman endet mit Rachos „Neustart“ in Aurillac, wo er es geschafft hat, sein Leben neu zu organisieren und „das Wesentliche über das Überflüssige“ zu stellen. Er erkennt, dass das Schicksal nicht nur von uns selbst, sondern auch von anderen und der „unbeugsamen“ Natur abhängt, die sich „trotz allem der Befriedigung unserer primären Bedürfnisse widersetzt“. Diese Erkenntnis führt dazu, dass „die List“ („la combine“) zu unserem „Funktionsmodus“ wird. „La combine“ steht für die Notwendigkeit, sich anzupassen, Kompromisse einzugehen, manchmal auch zu täuschen, um in einer komplexen und oft feindseligen Welt zu überleben. Rachos Leben ist eine Kette solcher „Kombinationen“: der Identitätsdiebstahl, die Scheinehe, die Verheimlichung seiner Familie.
Der Schluss ist weit entfernt von einem triumphalen „Bellevie“, das er sich erträumt hatte. Stattdessen ist es ein Überleben, das moralische Ambivalenzen in sich trägt. Die letzten Zeilen zitieren ein Lied: „So wird man dort, auf den schlammigen Fluten der Liebe, noch immer die Weihe der Finsternis feiern hören.“. Dies ist eine ambivalente Schlussfolgerung. Sie deutet darauf hin, dass die Suche nach Glück und Licht (Bellevie) oft durch die dunklen und „schlammigen“ Realitäten des Lebens (Betrug, Überleben, Kompromisse) geformt wird. Die „Finsternis“ ist nicht nur ein Hindernis, sondern auch ein Ort, an dem sich Liebe und Leben auf unkonventionelle Weise manifestieren. Der Roman suggeriert, dass das Erbe Rimbauds, das zwischen Genie und Abgrund, zwischen Idealismus und Ernüchterung taumelt, in der modernen Welt der Migration und der existenziellen Kämpfe eine neue, zutiefst menschliche und oft düstere Bedeutung erhält. Es ist eine fortwährende „Saison in der Hölle“, die jedoch das Überleben und die Anpassung lehrt.
Kathémos Roman wählt eine besondere Perspektive für seine Rimbaud-Fiktion, die das Leben und die Werke des Dichters nicht nur zitiert, sondern aktiv in eine zeitgenössische Erzählung über Identität, Migration und Überleben integriert. Er schafft eine intertextuelle Beziehung, die das Erbe Rimbauds in einem neuen, oft schmerzhaften, aber letztlich widerstandsfähigen Licht erscheinen lässt.