Rimbaud-Fiktionen: Pierre Michon und William Marx

In Rimbaud le fils (Gallimard, 1991) verfolgt Pierre Michon nicht das traditionelle Ziel eines Biografen, neue Fakten über Arthur Rimbaud zu enthüllen oder bestehende Studien zu ergänzen. Vielmehr dringt er in die Persönlichkeit und Intimität des Schreibens des Dichters ein, um letztlich zu seiner eigenen schriftstellerischen Stimme zu finden. Michon navigiert durch Rimbauds Leben, indem er Formulierungen wie „on dit que“ (man sagt, dass) oder „on ne sait si“ (man weiß nicht, ob) verwendet, kommentiert, zögert, träumt und verwirft, er greift die Geschichte Rimbauds immer wieder auf, ohne definitive Antworten zu liefern. Stattdessen stellt er grundlegende Fragen an den jungen Poeten und an sich selbst: „qu’est-ce qui pousse un homme à écrire? À rechercher l’excellence? Qu’est-ce qui fait soudain mûrir ses vers, ‚autant que s’il avait écrit d’un seul trait de plume La Légende des siècles, Les Fleurs du mal et La Divine Comédie‚?“.

Das Werk ist eine Reflexion über Rimbauds innere Konflikte, seine komplexen Beziehungen zu seinen Eltern – insbesondere zu seiner als „Carabosse“ stilisierten Mutter Vitalie Cuif und seinem abwesenden „Capitaine“-Vater – sowie zur etablierten literarischen Tradition. Michon erforscht, wie diese prägenden Bindungen Rimbauds Dichtung beeinflussten und wie er die fest verankerte poetische Form des Alexandriners, die „tringle à douze pieds“, sowohl überwand als auch gewaltsam zerstörte. Zudem beleuchtet er die Figuren, die Rimbauds Weg kreuzten, darunter seine Lehrer wie Georges Izambard und Dichter wie Théodore de Banville und Paul Verlaine, die auf vielfältige Weise seine Entwicklung prägten und später selbst zu seinen Interpreten wurden, oft mit ihren eigenen Vorstellungen von Rimbauds Wesen.

Thesen zu Michons Rimbaud-Buch

Michon entwirft ein Rimbaudbild, das von einer extremen inneren Spannung geprägt ist, einer tief sitzenden „Wut“ („colère“) auf seine Eltern und die Welt, die sich in seiner Poesie in „Nächstenliebe“ („charité“) wandelt oder damit vermischt. Michon beschreibt diesen Prozess als eine explosive Mischung, die „die unendliche Rancune und die Barmherzigkeit“ („la rancune infinie et la miséricorde“) gegeneinander schlägt, als ob Kampf und Hingabe in einem einzigen Akt verschmelzen würden. Rimbaud wird als ein radikaler Rebell gezeichnet, der jeden „Meister“ ablehnt, nicht weil er selbst Meister sein will, sondern weil sein eigentlicher, unerreichbarer Meister sein phantomhafter Vater ist, „eine Geisterfigur, die unbeschreiblich in den Geisterposaunen entfernter Garnisonen ausgehaucht wird“ („figure fantôme ineffablement exhalée dans les clairons fantômes de garnisons lointaines“). Dieser Rimbaud ist für Michon „der Vers persönlich“ („le vers personnellement“), eine Verkörperung der Poesie selbst, die sich jeglicher Teilung widersetzt und deren „brutale Ambition“ darauf abzielt, die Poesie vollkommen in sich aufzunehmen. Er erscheint als der „der schreckliche Pflüger, die weiße Amsel“ („horrible laboureur, le merle blanc“) der Poesie.

Das in Rimbaud le fils entworfene Literaturverständnis begreift Poesie als eine „alte Heiratsvermittlerin“ („vieille marieuse“), die scheinbar unvereinbare Elemente wie „clairon“ (Posaunenklänge) und „patenôtres“ (Paternoster) zusammenführt und so das Heilige und das Profane miteinander verknüpft. Literatur wird als ein „Brunnen ohne Maß“ („puits sans mesure“) betrachtet, in dem alles versinkt, und der Dichter als ein „Brunnenbauer“ („puisatier“), der tiefer gräbt als alle anderen und „ohne Gnade unter ihnen den Brunnen aushebt, um sie darin zu verschlingen“ („creuser sans merci sous eux le puits où les engouffrer“). Poesie ist für Michon eine gewaltsame, existenzielle Handlung, die „Konvulsionen“ hervorruft und sich nicht mit „Trost“ („consolations“) zufriedengibt, denn „diesen Trost will die Poesie nicht, das macht sie stumm“ („de ces consolations la poésie ne veut pas, ça la rend muette“). Sie ist ein „chant, une tyrannie“ (Gesang, eine Tyrannei), die über die Absichten des Reimenden entscheidet und dessen Pläne durchkreuzt. Michon unterscheidet scharf zwischen der vorgefundenen „vieillerie poétique“ (veralteter Poesie) und „dem stolz verwüsteten Ackerland des Modernen“ („fier arpent ravagé du moderne“), Rimbaud verkörpert Letzteres: einen radikalen Bruch mit der Tradition.

Die Zeit nach Rimbauds Verstummen, insbesondere sein Aufenthalt in den Kolonien (Harar, Äthiopien), wird als ein radikales Abschiednehmen von der Poesie interpretiert, das keine Kapitulation darstellt, sondern die letztendliche Konsequenz seiner poetischen Radikalität. Michon spekuliert, dass Rimbaud das Schreiben aufgab, weil er erkannte, dass das „verbe“ (Wort/Logos) nicht der „universelle Passierschein“ („passe-droit universel“) war, den er sich erhoffte, und dass „allein Gold eine Chance hatte, dieser Passierschein zu sein“ („l’or seul avait quelque chance d’être ce passe-droit“). Eine weitere Vermutung ist, dass er die „Vaterschaft seiner Werke“ („la paternité de ses œuvres“) nicht annehmen konnte, ähnlich wie er die Vaterschaft seiner literarischen Vorgänger ablehnte. In den Kolonien widmet er sich dem Handel mit „Antilopenhäuten“ („cuirs d’antilope“) und „Kisten voller Gewehre, deren Sinn Blei ist“ („caisses de fusils, dont le sens est du plomb“), was einen fundamentalen Bruch mit der Kunst hin zum Konkreten und materiellen Überleben symbolisiert. Er verschwindet in den „champs de bananes“ (Bananenfeldern) mit Sotiro, wo er schläft und sich ausschweigt („Il dort“ und „Il paraît qu’il se tait“).

Rimbauds Homosexualität wird im Kontext seiner Beziehung zu Verlaine explizit und drastisch dargestellt. Michon beschreibt ihre erste körperliche Begegnung als eine „alte blinde Bourree nackter Körper“ („vieille bourrée aveugle des corps nus“) in einem dunklen Zimmer, in der sie miteinander die zarte Liebe („l’œillet violet“) suchten und sich am „Mast, der nicht bloß eine Stange war“ („mât qui n’était pas la tringle“) festhielten. Diese sexuelle Erfahrung wird als essenziell für Rimbauds Œuvre betrachtet, da sie die Alexandriner-„Tringle“ vor dem „Bruch“ bewahrte, im Gegensatz zu Banvilles Werk: „Wenn die Stange, die alles zusammenhält, nicht auch – neben dem hübschen Mädchen und dem grünen Wirtshaus, neben der Wanderlust unter dem Funkeln der Sterne – das Dunkle, die lächerliche violette Nelke zu tragen vermag, dann ist diese Stange eine schlechte Verbindung, die sich verbiegt, wie in den Händen Banvilles.“ („si la tringle le long d’elle ne fait pas tenir aussi, en plus de la jolie fille et de l’auberge verte, en plus de la Wanderlust sous des froufrous d’étoiles, si la tringle ne fait pas tenir aussi l’obscur, le ridicule œillet violet, la tringle est un mauvais alliage qui plie, comme dans les mains de Banville.“) Es wird auch debattiert, ob Rimbaud „nur“ Männer liebte oder offen gegenüber beiden Geschlechtern war, solange die „émoi“ (Erregung) vorhanden war, oder ob er die „ombre du Capitaine“ (Schattenfigur des Vaters) oder die „chair malheureuse de Vitalie Cuif“ (unglückliche Fleisch von Rimbauds Mutter Vitalie Cuif) suchte. Michon lehnt diese Diskussion jedoch als für die Poesie unerheblich ab: „pour la poésie ce débat est vain“.

Im Werk werden verschiedene Werke und Konzepte thematisiert. Rimbauds frühe lateinische und französische Verse werden als „gammes de collégien“ (Tonleitern eines Gymnasiasten) abgetan. Sein Hauptwerk „Le Bateau ivre“ wird als ein für den Parnass geschliffenes Meisterwerk präsentiert, in dem sich jedoch seine wahre Natur zeigt, die seine Mutter zum Weinen bringt und triumphiert: Er hatte das makellose Pflichtstück des Bateau ivre, von Anfang bis Ende auf das Genaueste gefeilt, um dem Parnass zu gefallen, und in diesem Parnass der Erste zu sein („il avait le devoir impeccable du Bateau ivre, d’un bout à l’autre limé au plus juste pour plaire au Parnasse, et dans ce Parnasse être le premier“). „Une saison en enfer“ wird als „hohe Literatur“ („haute littérature“) beschrieben, in der die „voix, celle du roi d’adoration et celle du prophète hors de lui“ (Stimmen, die des Königs der Anbetung und die des Propheten außer sich) kämpfen, und als „eines unserer Evangelien“ („un de nos Évangiles“) charakterisiert. Konzepte wie „Génie“, „Voyance“ (Hellsichtigkeit), „le Verbe“ (das Wort), die „Tringle à douze pieds“ (der Zwölf-Fuß-Alexandriner als Symbol der poetischen Tradition), die „Carabosse“ (die Mutter Vitalie Cuif als Verkörperung von Negativität und Prosa), und der „Gilles de Watteau“ (als Metapher für den Interpreten) sind wiederkehrende Begriffe. Die rote Weste („gilet rouge“) symbolisiert die romantische und rebellische Dichterpose.

Michon übernimmt in seinem eigenen Schreiben explizit Haltungen der Unsicherheit und des Suchens, indem er Formulierungen wie „on dit que“ und „on ne sait si“ verwendet, was seine eigene Suche und die Unfassbarkeit Rimbauds widerspiegelt. Er identifiziert sich mit den Interpreten Rimbauds, den „Gilles“, die seine Werke immer wieder neu lesen und deuten, und erkennt an, dass er selbst Teil dieses „hermeneutischen Karussells“ ist. Michon gesteht, dass er und andere Interpreten ihre eigenen Geschichten in Rimbauds Werk hineinlesen: „Es ist ein Gedicht, das wir schreiben, jeder auf unsere Weise“ („C’est un poème que nous écrivons, chacun à notre manière“). Er beschreibt, wie Rimbaud diejenigen, die sich ihm nähern, „bestäubt“ oder „mehlbestäubt“: „Rimbaud hat die Gabe, diejenigen einzumehlen, die sich ihm nähern: und das sagend hängen meine Hände, ich erkälte mich; wenn ich in meinen Schoß schlage, kommt Mehl heraus.“ („Rimbaud a le don d’enfariner ceux qui l’approchent: et ce disant mes mains pendent, je m’enrhume; si je bats mes basques il en sort de la farine.“) Dies deutet auf eine tiefe, fast unentrinnbare Aufnahme von Rimbauds Wesen hin, die sein eigenes Schreiben prägt und ihn zu einem der „Gilles“ macht, die Rimbaud umtanzen. Michon betritt die Bühne der Interpretation mit der vollen Kenntnis ihrer Unzulänglichkeit, gleichzeitig aber mit dem Bewusstsein, dass der Versuch notwendig ist.

Zum Romanschluss

Der Schluss des Werkes ist von einer doppelten Bewegung gekennzeichnet. Einerseits wird Rimbaud in seinem Schweigen und seiner Abgeschiedenheit in den „champs de bananes“ mit Sotiro zurückgelassen, wo er schläft („dort“) und sich ausschweigt („se tait“), in einer unerreichbaren Stille jenseits aller Deutungen. Dieses Verschwinden wird als die endgültige Konsequenz seiner Erkenntnis interpretiert, dass das Wort allein kein universeller „Passe-droit“ war, sondern vielleicht nur Gold diese Funktion erfüllen kann. Andererseits beginnt in Paris die „foire d’empoigne“ (der Kampf um die besten Plätze) der Interpretation. Michon selbst fügt sich dieser Szene der Deutung hinzu, indem er seine eigene Meinung einbringt. Der letzte Satz des Buches, „Die Kiefern rauschen in einem plötzlichen Windstoß, Rimbaud ist wieder in seinen Tanz gesprungen, wir sind wieder allein mit der Feder in der Hand.“ („Les pins bruissent dans un coup de vent brusque, Rimbaud de nouveau a bondi dans sa danse, nous voilà seuls la plume à la main.“) metaphorisch so zu verstehen, dass Rimbaud, als ungreifbares Phänomen, sich ständig dem Zugriff entzieht und in seine eigene, unbegreifliche Existenz zurückkehrt. Der Interpret, der „Gilles“, verbleibt in seiner Einsamkeit dazu verdammt, immer wieder von Neuem zu versuchen, das Unsagbare zu erfassen, auch wenn das Rauschen der Natur oder der „Windstoß“ der Inspiration den Dichter wieder entrückt und ihn mit der unendlichen Aufgabe des Schreibens und Deutens allein lässt. Es ist eine zyklische Bewegung, die die Endlosigkeit und Unlösbarkeit der Interpretation betont. Michon beendet seine Reflexion mit dem knappen Satz „Wir kommentieren die Vulgata.“ („Nous annotons la Vulgate.“), was eine Rückkehr zur kanonischen Interpretation und zur fortwährenden Arbeit an der Deutung symbolisiert, trotz Rimbauds Flucht und der letztendlichen Unerreichbarkeit des Sinns. Der Akt des Kommentierens wird selbst zu einer Form der unendlichen Auseinandersetzung mit dem Werk, das sich jeder finalen Festlegung entzieht.

Nachtrag: William Marx’ Thesen zum Abschied der Literatur

In seinem Werk L’adieu à la littérature – histoire d’une dévalorisation (2005) untersucht William Marx die fortschreitende Entwertung der Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Er argumentiert, dass die Idee der Literatur kein unveränderliches „Wesen“ („essence“) besitze, sondern einem ständigen „Fluss“ („flux“) und „Transformationen“ unterliege. Marx’ zentrale These besagt, dass diese Entwicklung in drei Hauptphasen unterteilt werden kann: Expansion, Autonomisierung und Devalorisierung.

Expansionsphase

Die Expansionsphase (ca. frühes 18. bis spätes 19. Jahrhundert) war eine Zeit des Aufstiegs und der „Apothéose“ der Literatur, in der sie eine ungeheure Macht und ein beispielloses Ansehen erlangte. Der Schriftsteller wurde zum „grand prêtre“ (Hohepriester) einer quasi-religiösen Funktion, und die Literatur avancierte zu einer „nouvelle religion“ (neuen Religion). Schlüsselkonzepte wie das „Sublime“ betonten die emotionale Wirkung auf den Leser und die „Transparenz der Sprache“ („transparence du langage“), die einen direkten Zugang zur Realität und zu den Affekten ermöglichen sollte. Die Dichtung wurde als „critique de la vie“ (Kritik des Lebens) und als zukünftige Religion oder Philosophie betrachtet. In dieser Zeit herrschte eine tiefe Überzeugung von der Fähigkeit der Literatur, die Welt nicht nur widerzuspiegeln, sondern auch zu formen und zu interpretieren.

Autonomisierungsphase

Die Autonomisierungsphase (Mitte des 19. Jahrhunderts) sah die Literatur, berauscht von ihren zugeschriebenen Kräften, die „tentation de revendiquer son autonomie“ (Versuchung, ihre Autonomie zu beanspruchen) erliegen. Dies führte zur Ära des „Art pour l’art“, einer gewaltsamen Abspaltung von der Gesellschaft und einer Fokussierung auf die „Form“ als Selbstzweck. Die Ästhetik trennte sich zunehmend von moralischer oder sozialer Nützlichkeit, was in einer „littérature contre la vie“ (Literatur gegen das Leben) mündete. Die Figur des „poète maudit“ (verfluchter Dichter) verkörperte diese Antinomie von Kunst und Leben, oft in tragischer Weise.

Devalorisierungsphase

Die Devalorisierungsphase (spätes 19. und 20. Jahrhundert) war die unausweichliche Folge dieser Entwicklung. Die Isolation im Streben nach reiner Form verwandelte sich in Isolation und empfundene Nutzlosigkeit, die zum „tombeau“ (Grab) der Literatur wurde. Die Literatur verlor ihre Glaubwürdigkeit und ihre Fähigkeit, die Realität zu verarbeiten, was zu einem allgemeinen „mépris“ (Misstrauen) führte. Dies manifestierte sich in einem „suicide collectif“ (kollektiven Selbstmord) des Schreibens, des Schriftstellers und der Kritik. Die grundlegende Frage verschob sich von „Was schreiben Sie?“ zu „Pourquoi écrivez-vous?“ (Warum schreiben Sie?). Die Idee einer „reinen“ Literatur wurde nach Katastrophen wie der Shoah paradoxerweise als „barbare“ empfunden.

Rimbauds Rolle

Rimbauds Rolle in Marx’ Argumentation ist von zentraler Bedeutung, da er als archetypisches Beispiel für das „Adieu à la littérature“ dient. Marx betont, dass Rimbauds Abschied von der Poesie, obwohl „l’un des événements les plus considérables de l’histoire de la littérature“ (eines der bedeutendsten Ereignisse in der Literaturgeschichte), nicht „à la littérature proprement dite“ gehört, sondern vielmehr „relève de la biographie pure“ (der reinen Biografie zuzuordnen ist). Das Kuriose daran ist, dass es kein formelles oder literarisches „Adieu“ von Rimbaud an die Poesie gab; sein Schweigen selbst ist „entouré de silence“ (von Schweigen umgeben).

Laut Marx mussten Rimbauds Freunde, Kritiker und Verleger um dieses rätselhafte Verstummen herum eine Erklärungstheorie „échafauder de toutes pièces“ (aus dem Nichts aufbauen). Ihr Ziel war es, „faire la littérature de la fin de la littérature“ (die Literatur des Endes der Literatur zu schaffen), indem sie dieses Schweigen als paradoxen Beweis seines Genies interpretierten. Nur jemand, der die „vertiges“ (Abgründe) und „prestiges“ (Reize) der Literatur vollständig ausgelotet hatte, konnte es vorziehen, in Abessinien Waffen zu handeln, anstatt sich in Pariser Künstlerkreisen aufzuhalten. Rimbaud „ouvrit la voie“ (öffnete den Weg), indem er abrupt enthüllte, dass es „une vie en dehors de la poésie“ (ein Leben außerhalb der Poesie) gab. Er „emporté avec lui les raisons de vivre de la littérature, sans retour possible“ (nahm die Daseinsberechtigung der Literatur mit sich, ohne Wiederkehr). Seit diesem Moment, so Marx, gelte: „écrire n’alla plus de soi“ (war das Schreiben keine Selbstverständlichkeit mehr). Paulhan verbindet Rimbauds Schreibaufgabe und Emigration direkt mit einem „méfiance pathologique envers le langage“ (pathologischem Misstrauen gegenüber der Sprache) in der Literatur.

Pierre Michon und William Marx

Die Verknüpfung von Michon und Marx offenbart unterschiedliche, aber sich ergänzende Perspektiven auf das Phänomen Rimbaud und sein Verstummen. Michon nähert sich Rimbaud aus einer subjektiven, fast mystischen und literarischen Innenperspektive. Er interessiert sich für die innere Dynamik von Rimbauds Werden als Poet, die Ursprünge seiner „colère“ und „charité“, und wie diese persönlichen Dramen das Schreiben und das Schweigen formten. Michon betreibt eine Art Auto-Biografie durch Rimbaud, indem er die Grenzen zwischen seinem eigenen Schreibprozess und dem des Dichters verschwimmen lässt. Für ihn ist Rimbauds Schweigen die radikale Konsequenz einer tiefen poetischen Ambition, das „Verbe“ vollständig zu beherrschen oder dessen Unzulänglichkeit zu erkennen. Sein Werk selbst ist ein Beispiel für die von Marx beschriebene „hyperconscience morbide“ der Literatur, die sich ihrer eigenen Grenzen bewusst ist und sich selbst reflektiert. Michons Verwendung von „on dit que“ und „on ne sait si“ ist nicht nur ein Stilmittel, sondern auch eine Geste der Demut und des fortwährenden Suchens, die das „Karussell der Interpretation“ am Laufen hält.

Marx hingegen analysiert Rimbauds Abschied aus einer soziologischen und philosophisch-historischen Makroperspektive. Für ihn ist Rimbauds Entscheidung kein rein persönliches Ereignis, sondern ein entscheidender Symptomträger und Katalysator für die umfassendere „Dévalorisation“ der Literatur in der Gesellschaft. Marx betrachtet das Schweigen Rimbauds als einen Punkt, an dem sich eine Ära des Glaubens an die absolute Macht der Literatur endgültig schließt und die moderne Literatur in eine existenzielle Krise gerät, aus der sie bis heute nicht vollständig herausgefunden hat. Er zeigt auf, wie Kritiker und Verleger Rimbauds Schweigen nachträglich „literarisierten“, um ihm einen Sinn im Kontext der Literaturgeschichte zu geben, anstatt es einfach als ein Außerhalb der Literatur zu akzeptieren.

Während Michon die Existenz des Dichtergenies und die Autonomie der Kunst als gegeben voraussetzt, um sie dann in ihrer extremen Form bei Rimbaud zu erforschen und in sein eigenes Schreiben zu integrieren, betrachtet Marx genau diese Autonomie und Wertschätzung als historisch kontingente Phänomene, die zu einer Isolation und letztlich zum Niedergang der Literatur führten. Michons Reflexionen über die Homosexualität Rimbauds als integrale, wenn auch nicht ausschließliche, Komponente seines Schaffens („pour la poésie ce débat est vain“) und seine tiefgehende Auseinandersetzung mit einzelnen Werken wie „Le Bateau ivre“ und „Une saison en enfer“ zielen darauf ab, die innere poetische Notwendigkeit von Rimbauds Weg zu erfassen. Marx hingegen subsumiert diese individuellen Biografien und Werkinterpretationen unter die größeren gesellschaftlichen und konzeptuellen Verschiebungen der Literaturgeschichte. Das bedeutet, dass Michons Buch selbst zu einem Objekt der Marx’schen Analyse werden könnte: als ein Werk, das die „Mythologisierung“ Rimbauds fortsetzt und so zur Aufrechterhaltung des Diskurses über das „Adieu à la littérature“ beiträgt, auch wenn es dies auf eine persönlich-künstlerische und nicht auf eine historisch-soziologische Weise tut. Michons „Nous annotons la Vulgate“ ist die Fortführung jener Interpretenrolle, die Marx als unvermeidliche Reaktion auf Rimbauds Schweigen beschreibt.


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