Rimbaud-Fiktionen: Yves Bonnefoy

Wer glaubt, Rimbaud lasse sich fassen

Il est l’enfance, mais mendiant; il est l’enfance, mais qui s’exile; il est l’enfance, mais qui se bat, et se blesse, et souffre; il est l’enfance, mais qui devient génie en ne cessant pas d’être l’enfance. Car ce qu’il a de plus grand, c’est de ne pas rompre avec l’immédiat de la vision, de ne pas se défendre, de se donner tout entier au choc du monde. De là cette poésie d’éclats, de blessures, d’éblouissements, qui garde toujours quelque chose de la nudité du premier regard.

Yves Bonnefoys Werk „Rimbaud“, dessen erste Ausgabe 1961 erschien und 1994 neu aufgelegt wurde, ist gewiss mehr als eine konventionelle Biografie; es ist eine Interpretation von Arthur Rimbauds Leben und Schaffen, die sich auch als „Rimbaud-Dichtung“ verstehen lässt. Bonnefoy verfolgt das explizite Ziel, Rimbauds ureigene „Stimme wiederzufinden, seinen Willen zu entschlüsseln, seinen Akzent wiederzubeleben“. Dies geschieht durch eine immersive Lektüre seiner Texte, um seine individuelle „Stimme von so vielen anderen Stimmen, die sich mit ihr vermischt haben“, zu trennen. Die Erzählung beginnt mit Rimbauds geplagter Kindheit in Charleville, einer Provinzstadt, die er als „überlegen idiotisch“ und „abscheulich langweilig“ empfand. Bonnefoy nähert sich Rimbaud nicht über die Textsorte der Biographie, sondern als mythisches Bild: die Kindheit, die zugleich verletzt und genial ist. Die Wiederholung von „il est l’enfance“ wirkt wie ein poetischer Kehrreim, fast ein Verschorus. Rimbaud erscheint als nackte Vision, eine Ursprünglichkeit, die nicht analysiert, sondern erfahren werden muss. So verwandelt Bonnefoy die Literatuwissenschaft in ein poetisches Porträt, in ein Bild des absoluten Anfangs. Man könnte es leicht als Gedicht im Sinne einer Rimbaud-Fiktion setzen:

Er ist Kindheit, doch bettelnd;
er ist Kindheit, doch im Exil;
er ist Kindheit, doch kämpfend,
verwundet, leidend;
er ist Kindheit, die zum Genie wird,
indem sie nicht aufhört, Kindheit zu sein.

Das Größte in ihm ist,
dass er nicht bricht mit dem Unmittelbaren
des Blicks,
dass er sich nicht schützt,
sondern sich ganz hingibt
dem Schlag der Welt.

Daraus entsteht diese Dichtung
aus Funken,
aus Wunden,
aus Blendungen –
und sie bewahrt stets etwas
von der Nacktheit des allerersten Blicks.

Dieses erstickende Umfeld, geprägt von der starren Puritanismus seiner Mutter, Madame Rimbaud, und der gesellschaftlichen „Stille“ der Provinz, wird als die Quelle seiner tiefen „Verabscheuung“ und seines metaphysischen „Aufbegehrens“ dargestellt. Diese frühe „Enteignung der Liebe“, die Rimbaud erfuhr, trieb ihn in eine unermüdliche Suche nach einer „wahren Existenz“ und einer „essentiellen Freiheit“, die über die Grenzen der gewöhnlichen Realität hinausgeht. Seine ersten poetischen Versuche, die noch eine naive Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung verrieten, wichen bald einer aggressiven, sarkastischen Poesie, die die „Sordidität“ des Bestehenden schonungslos offenlegte und sich gegen „heuchlerische Idealitäten“ wandte.

Bonnefoys Werk analysiert Rimbauds bahnbrechende „Lettre du Voyant“ als zentralen Wendepunkt, in dem er seine radikale Vision einer „objektiven Poesie“ formulierte, die durch eine „vernünftige Entfesselung aller Sinne“ das Unbekannte erreichen sollte. Bonnefoy beleuchtet Rimbauds spätere „Unternehmen der Nächstenliebe“, insbesondere seine intensive und zerrüttete Beziehung zu Paul Verlaine, als einen Versuch, Liebe und Harmonie neu zu erfinden und sich selbst sowie den Geliebten aus dem „Höllenpfuhl“ der Existenz zu retten. Das Scheitern dieser Bemühungen, detailliert in den Kapiteln von Une Saison en enfer beschrieben, führt Rimbaud zur bitteren Erkenntnis der „Unmöglichkeit“ seiner absoluten Bestrebungen und der tiefen „Widersprüche“ des Daseins.

Dans ses poèmes éclatent obscurités et lumières, affrontement du désespoir et de l’espérance, du néant et de l’être. Cette opposition n’est pas un système, mais une déchirure: elle saigne, elle brûle, elle appelle. On ne peut pas comprendre Rimbaud si l’on croit pouvoir réduire sa parole à des catégories: il est l’impossible même, le passage d’un instant qui se consume. C’est pourquoi lire Rimbaud, c’est consentir à se perdre, à être blessé par ce qu’on ne pourra jamais saisir.

Bonnefoy spricht in Bildern von Blut, Wunde, Flamme – nicht von Begriffen. Rimbauds Sprache ist für ihn ein Ort der „déchirure“, eine Zerrissenheit, die lebt. Diese Prosa hat den Ton eines Gedichts, das von Gegensätzen lebt und den Leser hineinzieht. Kritik wird hier zum poetischen Nachvollzug des Zerrissenseins, nicht zum distanzierten Urteil.

In seinen Gedichten springen
Dunkel und Licht
auseinander,
Verzweiflung stößt an Hoffnung,
Nichts an Sein.

Kein System,
sondern ein Riss –
blutend, brennend,
rufend.

Wer glaubt, Rimbaud lasse sich fassen
in Kategorien,
verfehlt ihn:
er ist das Unmögliche selbst,
ein Augenblick,
der sich verzehrt.

Rimbaud lesen heißt:
sich verlieren bejahen,
sich verwunden lassen
an dem,
was nie zu fassen ist.

Bonnefoy schließt mit einer Betrachtung von Rimbauds Abwendung von der Poesie und seinem späten Leben als Kaufmann und Entdecker, interpretiert dies jedoch nicht als bloße Kapitulation. Stattdessen wird es als eine Form der Annahme der „rauen Realität“ und als ein „neuer Realismus“ dargestellt, in dem sich Rimbauds unbeugsame Suche nach Wahrheit und Freiheit, trotz seines Schweigens als Dichter, weiterhin manifestierte. Bonnefoy schafft so eine Erzählung, die Rimbauds Weg als eine tragische, aber heldenhafte Konfrontation mit den metaphysischen Grenzen des menschlichen Seins deutet.

Aus diesen Zeilen bereits ergeben sich zentrale Fragen, die Bonnefoys Buch als „Rimbaud-Fiktion“ beleuchten: Inwiefern fungiert Bonnefoys Erzählung über Rimbaud als eine „Fiktion“ oder eine konstruierte Interpretation, die über die reine Biografie hinausgeht? Wie spiegeln sich Rimbauds eigene stilistische Merkmale, seine Bildlichkeit und seine inhaltlichen Obsessionen (wie die „Entregelung der Sinne“ oder die Suche nach dem „Absoluten“) in Bonnefoys Text wider? Welche Rolle spielen Intertextualität und der Dialog mit Rimbauds Werk bei der Konstruktion dieser „Fiktion“? Wie deutet Bonnefoy Rimbauds Homosexualität und sein Ende des Dichtens im Kontext seiner metaphysischen Suche und seines Scheiterns? Wie ist der oft als ambivalent empfundene Schluss des Buches zu verstehen, insbesondere im Hinblick auf Rimbauds „Scheitern“ und seine „Größe“?

Thesen zu Bonnefoys Rimbaud-Dichtung

Bonnefoys Buch über Rimbaud kann als eine „Rimbaud-Dichtung“ verstanden werden, insoweit es nicht nur Fakten schildert, sondern Rimbauds Leben und Werk durch eine kohärente, tief interpretierende und oft poetische Linse neu konstruiert. Dies manifestiert sich auf mehreren Ebenen:

Bonnefoy als Echo und Vervollständiger von Rimbauds Stimme

Bonnefoy versteht seine Aufgabe als die Wiederbelebung von Rimbauds „Accent“ und die Entschlüsselung seines „Wollens“. Dies geht über reine Kritik hinaus und wird zu einer Art empathischer Nachdichtung, in der Bonnefoy Rimbauds metaphysische Suche nach Selbsterkenntnis und Transformation – „se connaître, de se définir, de vouloir se transformer et devenir un autre homme“ – in seiner eigenen Prosa weiterführt. Bonnefoys Sprache, oft lyrisch und reflektierend, wird so zu einem Medium, das die innere Welt Rimbauds nicht nur beschreibt, sondern erfahrbar macht. Er verwendet eine Vielzahl von direkten Zitaten Rimbauds, die organisch in seine eigene Argumentation eingeflochten werden, so als spräche Rimbaud selbst durch ihn hindurch [z.B. „Ma ville natale est supérieurement idiote…“, „Je suis abominablement gêné. Pas un livre, pas un cabaret à portée de moi…“, „Je n’ai jamais été de ce peuple-ci…“]. Diese Technik schafft eine unmittelbare Nähe zum Gegenstand und verleiht Bonnefoys Interpretation den Charakter einer vertieften, fast inneren Perspektive.

Die metaphysische Rahmung als interpretative Fiktion

Bonnefoy interpretiert Rimbauds gesamte Existenz als eine durch und durch metaphysische Unternehmung. Die provinziellen Widrigkeiten seiner Kindheit, die von der „Marâtre“ (Stiefmutter) der Provinz und der „despotischen Mutter“ geprägte Atmosphäre, werden als „attentat métaphysique“ gedeutet, das Rimbaud zu einem „atroce scepticisme“ und einer Suche nach der „essentiellen liberté“ nötigte. Jedes Ereignis, jede dichterische Phase wird im Lichte dieser umfassenden, überpersönlichen Suche nach dem „wahren Leben“, dem „Absoluten“ und der „Transmutation“ gesehen. Diese metaphysische Deutung ist kein bloßer Kommentar, sondern eine fiktionale Konstruktion, die Rimbauds Leben in einen universellen Kampf um die Wiederherstellung des Seins einbettet. Es ist eine Erzählung, die das Biografische transzendiert und es zu einem Paradigma des menschlichen Strebens nach Ganzheit erhebt.

Intertextualität als Dialog und Gewebe der Bedeutung

Bonnefoys Text ist ein dichtes Gewebe intertextueller Bezüge, das Rimbauds Werk in einen ständigen Dialog mit sich selbst und mit anderen philosophischen sowie literarischen Stimmen setzt. Neben Rimbauds Gedichten, Prosatexten und Briefen werden Autoren wie Baudelaire, Nietzsche, Michelet, Quinet, Eliphas Lévi und Ballanche herangezogen, um Rimbauds Gedankenwelt zu kontextualisieren und zu beleuchten. Diese Verweise sind nicht nur akademische Querverbindungen, sondern prägen die „Rimbaud-Dichtung“ selbst, indem sie Rimbauds intellektuellen Weg als eine dynamische Auseinandersetzung mit den Ideen seiner Zeit darstellen. Die Intertextualität schafft eine Multidimensionalität, in der Rimbauds eigene Texte immer wieder neu beleuchtet und in ihrer Entwicklung nachvollzogen werden. So wird „Le Bateau ivre“ beispielsweise nicht isoliert betrachtet, sondern in Beziehung zu Baudelaires „Le Voyage“ gesetzt, um Kontinuitäten und Abweichungen in der dichterischen Suche nach dem Neuen zu identifizieren.

Le Bateau ivre n’est pas sans rappeler Le Voyage de Baudelaire, mais avec une différence décisive. Chez Baudelaire, l’appel du large conduit à la mort, à l’ultime escale où l’inconnu s’efface dans l’absolu du néant. Chez Rimbaud, au contraire, le bateau rompt avec ses amarres pour célébrer l’ivresse de la dérive elle-même: il ne cherche pas un port, mais la perte infinie, l’éclatement des repères, l’ouverture à ce qui n’a pas de fin. C’est la même soif du nouveau, mais poussée jusqu’à la négation de toute arrivée, de tout repos.

Das trunkene Schiff erinnert an Baudelaires Reise, jedoch mit einem entscheidenden Unterschied. Bei Baudelaire führt der Ruf der offenen See in den Tod, zum letzten Hafen, wo das Unbekannte sich auflöst im absoluten Nichts. Bei Rimbaud hingegen zerreißt das Schiff seine Taue, um die Trunkenheit des Treibens selbst zu feiern: Es sucht keinen Hafen, sondern das unendliche Verlorensein, das Zerbersten aller Maßstäbe, die Öffnung hin zum Unendlichen. Es ist derselbe Durst nach Neuem, doch getrieben bis zur Verneinung jeder Ankunft, jeder Ruhe.

Bonnefoy poetisiert hier den Vergleich, indem er nicht einfach zwei Texte kontrastiert, sondern zwei Haltungen zur Existenz sichtbar macht: In Le Voyage ist die Fahrt ein Übergang zum Tod. Das Neue mündet in ein letztes Ziel, ein metaphysisches „Absolutes“, das im Grunde Entzug ist. In Le Bateau ivre dagegen wird die Fahrt zum Zweck in sich. Die Bilder der Derive, des Losreißens, der endlosen Bewegung zeigen eine Poetik des reinen Prozesses. Kein Hafen, kein Ankommen – die Bewegung selbst ist das Ziel. In Bonnefoys Lesart ist das Gedicht nicht bloß literarisches Werk, sondern Ausdruck einer radikal neuen Haltung zum Dichten: Die Dichtung feiert nicht mehr das Ende oder den Sinn, sondern das Offene, das Unabschließbare. Bonnefoy beschreibt das in einer Sprache voller Bilder (amarres, ivresse, perte, éclatement) – er deutet poetisch, indem er selbst poetische Metaphern schafft.

Die Auflösung des Subjekts

Bonnefoy interpretiert Rimbauds „dérèglement raisonné“ nicht nur als künstlerisches Experiment, sondern als einen existentiellen Prozess der Selbstauflösung des Ichs („Je est un autre“). In diesem Kontext wird auch Rimbauds Homoerotik und seine Beziehung zu Verlaine („son vice“) als Teil dieses umfassenderen Projekts der „Entfesselung“ und als „Unternehmen der Nächstenliebe“ verstanden. Es ist keine Darstellung einer sexuellen Orientierung um ihrer selbst willen, sondern eine Integration in Rimbauds metaphysische Suche nach einer „wahren Liebe“, die ihm in der Kindheit entzogen wurde. Das Scheitern dieser „Charité“ wird als eine schmerzhafte, aber notwendige Erkenntnis Rimbauds über die Unfähigkeit zur Selbsthingabe und die Dauerhaftigkeit seiner „infortune“ dargestellt. Dieses Scheitern ist integraler Bestandteil der „Rimbaud-Fiktion“, die Rimbauds Weg nicht als linearen Fortschritt, sondern als eine Abfolge von leidvollen, aber erkenntnisreichen Widersprüchen konstruiert.

Das Ende des Dichtens als metaphysischer Realismus

Rimbauds Rückzug aus der Poesie wird von Bonnefoy nicht als Schwäche oder Kapitulation gedeutet, sondern als eine radikale, fast stoische Annahme der „rauen Realität“ („réalité rugueuse à étreindre“). Die Analyse von Une Saison en enfer und den Illuminations zeichnet einen Weg von wütender Revolte und illusionärer Hoffnung zu einer bitteren, aber klaren „Lucidité“. Rimbauds letztes „Schweigen“ wird zur Apotheose eines „neuen Realismus“ oder „paysan savoir“, einer Akzeptanz der menschlichen Endlichkeit ohne metaphysische Illusionen. In dieser „Rimbaud-Fiktion“ wird Rimbauds Abschied von der Kunst zu einem kraftvollen Statement über die Notwendigkeit, das Leben in seiner ganzen Ambivalenz zu umarmen und die eigene „condition déchirée“ anzunehmen. Es ist eine Form der Weisheit, die im Ertragen und Akzeptieren der Widersprüche des Daseins liegt.

Dans le silence de Rimbaud, il y a une vérité de la poésie: aller jusqu’au bout de sa propre négation, pour qu’apparaisse l’absolu.

Hier steigert Bonnefoy das Verstummen zur höchsten poetischen Konsequenz: Das Schweigen ist die letzte Bewegung der Dichtung selbst, ihr Aufgehen im Absoluten.

Maurice Blanchot liest Rimbauds Verstummen nicht einfach als biographischen Zufall oder Müdigkeit, sondern als notwendige Konsequenz seines dichterischen Unternehmens. In La part du feu schreibt er, dass Rimbaud, nachdem er die Sprache bis an ihre äußersten Grenzen geführt hat, zu jener Schwelle gelangt, „où écrire devient impossible“ – wo Dichtung selbst in ihr Gegenteil umschlägt: Schweigen. Für Blanchot ist dieses Verstummen keine Schwäche, sondern die radikale Erfahrung der Literatur, die sich selbst verzehrt. Der Dichter, der absolute Poesie sucht, stößt schließlich auf das Nichts, in dem die Sprache erlischt: „La recherche de la poésie absolue conduit à ce point où il n’y a plus de poésie, où la parole s’abolit dans le rien.“

Bonnefoy dagegen fasst Rimbauds Abbruch der Dichtung weniger als metaphysische Konsequenz, sondern eher als Bruch zwischen Traum und Leben. Für ihn bleibt Rimbaud ein Dichter des Begehrens nach „présence“, nach einer lebbaren Wahrheit, die im Gedicht gesucht, aber nicht eingelöst wird. Während Blanchot also das Schweigen als eine Art Vollendung der Literatur deutet – als ihr negatives Ziel –, sieht Bonnefoy darin eher den Schmerz eines Menschen, der aus der Sprache in die Existenz zurückstürzt, von der Poesie enttäuscht, aber in ihr dennoch aufgehoben.

Der Tod als unerreichte „Gnade“ und paradoxe Freiheit

Der Tod durchzieht Bonnefoys Darstellung von Rimbaud als ein stets präsentes, aber paradoxerweise unerreichbares Konzept. Rimbauds „Unfähigkeit, den Tod zu lieben“ oder an diesem „Glauben, der der Tod ist“, teilzuhaben, wird als direkte Konsequenz seiner „Enteignung der Liebe“ und der „Unmöglichkeit des Heils“ gedeutet. Der Tod ist für Rimbaud nicht einfach ein Ende, sondern ein Versprechen, das ihm verwehrt bleibt, da seine unstillbare Sehnsucht nach Transformation ihn an die ewige Auseinandersetzung mit dem Absoluten bindet. Die Konfrontation mit der „fatale dissociation“ des Seins und der „Absurdität“ des Lebens, das zu einer „kontinuierlichen Farce“ wird, unterstreicht die ewige Gefangenschaft Rimbauds in seinen eigenen Widersprüchen. Selbst in seinen letzten Momenten, die von Bonnefoy als „hoffnungslos“ beschrieben werden, findet sich die „irrational“ Sehnsucht nach einem „Boot“, das ihn in eine „wahre Existenz“ führen könnte.

„Génie“ und „liberté libre“ als wiederkehrende Vision

Das Gedicht „Génie“ aus den Illuminations wird als Höhepunkt von Rimbauds Denken und als „Akt der umwälzenden Intuition“ interpretiert. Es verkörpert eine Vision der „perfekten, neu erfundenen Liebe“ und einer „ewigen Maschine“ der harmonischen Qualitäten, die die christliche Morallehre überwindet. Auch wenn Bonnefoy die illusionäre Natur dieser durch Drogen inspirierten Vision anerkennt, betont er ihre Bedeutung als Ausdruck einer „immanenten Göttlichkeit“ und einer „radikalen Freiheit“. Die „Rimbaud-Fiktion“ kulminiert in der Vorstellung, dass Rimbauds „Größe“ gerade in seiner unnachgiebigen Weigerung liegt, sich mit einer begrenzten Freiheit abzufinden. Er wird zum „Phénix de la liberté“, der aus der Asche verbrannter Hoffnungen aufsteigt und durch seine „tragische Konfrontation mit dem Absoluten“ ein dauerhaftes Zeugnis der menschlichen Entfremdung und des unaufhörlichen Kampfes um Befreiung liefert. Sein Leben, trotz aller Enttäuschungen, wird so zu einem „Beispiel“ und einem „Quasi-Heiligen Buch“ für die Menschheit.

Formen des Dichtens Rimbauds bei Bonnefoy

Der „Rimbaud“-Text des Dichters Bonnefoy ist selbst ein literarisches Gebilde, das sich der stilistischer und formaler Merkmale von Rimbauds Dichtung bedient, um eine „Rimbaud-Fiktion“ zu konstruieren. Dies geschieht auf mehreren Ebenen:

Kontrastreiche Bildlichkeit und Antithese

Rimbauds Poesie ist oft durch eine scharfe Gegenüberstellung von Gegensätzen gekennzeichnet, etwa die „hideusement belle“ Venus Anadyomène oder das Nebeneinander von Licht und Dunkelheit. Bonnefoy übernimmt diese Technik, indem er Rimbauds inneren Konflikt als „Kampf einer Kraft und einer Schwäche“ oder als Ambivalenz zwischen „Hass und Faszination“ beschreibt. Dies spiegelt nicht nur Rimbauds Dualitäten wider, sondern ist auch ein Ausdruck von Bonnefoys eigenem Stil, der die tragische Natur von Rimbauds Existenz herausarbeitet.

Sensorische Intensität und körperliche Erfahrung

Rimbauds Dichtung zeichnet sich durch eine starke physische und sensorische Präsenz aus, wie in „Sensation“ oder den Beschreibungen der „réalité rugueuse“. Bonnefoy greift dies auf, indem er Rimbauds Erfahrungen mit eindringlichen sinnlichen Details beschreibt: die Provinz, in der man sich „von Mehlspeisen und Schlamm nährt“, oder die „schlechten Erfahrungen“ mit Drogen, die zu „Angst“ und „brennenden Eingeweiden“ führen. Dies verleiht der Analyse eine körperliche Unmittelbarkeit, die der rauen Empfindsamkeit Rimbauds nachempfunden ist.

Die „Entregelung“ der Prosa

Obwohl Bonnefoys Stil akademisch präzise ist, erlaubt er sich an bestimmten Stellen eine Art „Entfesselung“ in der Prosa, die Rimbauds Absicht, die traditionellen Formen aufzubrechen, nachahmt. Dies zeigt sich in der oft atemlosen Aneinanderreihung von Ideen, der schnellen Abfolge von Zitaten und Interpretationen, die eine „Simultanéité des tendances“ erzeugen, ähnlich der von Rimbaud angestrebten „Unbekannten“ oder der „Flamme reale de l’Inconnu“. Diese fragmentierte, aber dennoch kohärente Erzählweise spiegelt Rimbauds eigene experimentelle Zugänge zur Sprache wider. So schreibt Bonnefoy über die „Illuminations“ in einer Überfülle von Bildern, die er zu einer paradoxen Einheit führt:

Les Illuminations ne cessent de juxtaposer des éclats d’univers disparates: ici une ville moderne, là une forêt mythique, plus loin une vision cosmique. Chaque fragment se heurte au suivant, mais de ces heurts jaillit une lumière unique, celle d’une flamme qui consume et révèle. Rimbaud a trouvé dans cette écriture discontinue le moyen de dire à la fois l’infini et l’immédiat.

Die Illuminations stellen immer wieder unterschiedliche Fragmente der Welt nebeneinander: hier eine moderne Stadt, dort einen mythischen Wald, weiter entfernt eine kosmische Vision. Jedes Fragment stößt auf das nächste, aber aus diesen Zusammenstößen entsteht ein einzigartiges Licht, das einer Flamme, die verbrennt und offenbart. Rimbaud fand in dieser fragmentarischen Schreibweise ein Mittel, um gleichzeitig das Unendliche und das Unmittelbare auszudrücken.

Metaphorische Konzeptionen

Bonnefoy nutzt Rimbauds eigene Schlüsselmetaphern und erweitert sie. Konzepte wie die „mère marâtre“ (Provinz als Stiefmutter), die „Nacht“ als Rimbauds Existenz, oder die „Flamme“ als Ausdruck von innerer Energie oder Zerstörung durchziehen seine Analyse. Besonders eindringlich ist die Metapher der „flache noire et froide“ (schwarzen und kalten Pfütze) und des „canot immobile“ (unbeweglichen Kanus), die Rimbauds Lähmung und die Verankerung in seiner traumatischen Kindheit symbolisieren. Indem Bonnefoy diese Bilder immer wieder aufruft, konstruiert er einen erzählerischen „Raum“, der Rimbauds Welt durch seine eigene dichterische Sprache evoziert.

Hermann H. Wetzel setzt sich in seinem Buch Rimbauds Dichtung: ein Versuch, „die rauhe Wirklichkeit zu umarmen“ sowohl mit Blanchot als auch mit Bonnefoy auseinander, nimmt deren Deutungen aber nicht einfach an, sondern verschiebt den Akzent. Wetzel erkennt Blanchots Lesart von Rimbauds Verstummen als „notwendige Konsequenz“ an, betont aber, dass bei Blanchot das Schweigen fast zu einer metaphysischen Kategorie wird: Literatur endet notwendig im Nichts. Wetzel hält dies für zu absolut und zu sehr ins Transzendente verschoben. Wetzel würdigt Bonnefoys Betonung des Begehrens nach „présence“, sieht aber darin eine Tendenz, Rimbaud zu sehr in eine existentielle, beinahe spirituelle Lesart einzuschreiben. Er findet, dass dadurch Rimbauds radikale Auseinandersetzung mit geschichtlicher und sozialer Realität unterbelichtet bleibt. Mit dem Titel Versuch, „die rauhe Wirklichkeit zu umarmen“ grenzt Wetzel sich bewusst von solchen eher metaphysischen oder ästhetizistischen Deutungen ab. Für ihn ist Rimbauds Abbruch der Dichtung nicht nur Schweigen vor dem Absoluten oder Suche nach Präsenz, sondern eine Konfrontation mit der Härte des Realen – dem ökonomischen, politischen und existentiellen Alltag. „Rauh“ benennt dabei die Widerständigkeit des Wirklichen, das sich poetisch nicht einfach auflösen lässt.

Deutung des Buchschlusses

Der Schluss von Bonnefoys Rimbaud ist eine paradoxe und letztlich bejahende Deutung von Rimbauds Vermächtnis, die seine „Fiktion“ als eine dauerhafte Quelle der Inspiration etabliert. Zunächst wird Rimbauds äußerliches Scheitern nicht geleugnet: Sein endgültiger Abschied von der Poesie, seine Jahre als Händler und Entdecker in Afrika, die ihm zugeschriebene „Dummheit“ („quelle sottise c’était!“) und sein Tod in einem bürgerlichen Grab („tombe de petit-bourgeois“) scheinen die Niederlage seiner absoluten Ambitionen zu besiegeln. Er konnte weder die metaphysischen Heilsversprechen der Vergangenheit erfüllen, noch die irdische „Liebe“ und „Harmonie“ finden. Der „horrible arbrisseau“, das Bild des verfluchten Baumes des Guten und Bösen, bleibt als Zeichen seiner ungelösten Konflikte bestehen.

Doch Bonnefoy transformiert dieses vordergründige Scheitern in einen paradoxen Triumph. Rimbauds „Größe“ liegt gerade in seiner kompromisslosen Verweigerung einer „begrenzten Freiheit“ („peu de liberté“). Er wurde zum „Zeugen der Entfremdung des Menschen“ („témoin de l’aliénation de l’homme“), indem er sich der „tragischen Konfrontation mit dem Absoluten“ („affrontement tragique de l’absolu“) stellte. Sein Leben, so argumentiert Bonnefoy, wird zu einer Art „Arche“ („sorte d’arche“), die den menschlichen Stolz („notre orgueil“) und die „Möglichkeit“ einer „wahren Existenz“ bewahrt, selbst angesichts der erdrückenden Kräfte der Wissenschaft und des Christentums, die das Individuum entfremden.

Die entscheidende Wende liegt in der Akzeptanz der „rauen Realität“ („réalité rugueuse à étreindre“) und der „Dauerhaftigkeit der Hoffnung“ („incessant recommencement de l’espérance illusoire“). Diese Akzeptanz ist kein Resignieren, sondern ein „savoir paysan“ („bäuerliches Wissen“) um die „harte, aber heilsame Dualität der menschlichen Existenz, zugleich Elend und Hoffnung“. Rimbaud findet eine „kreative Anerkennung“ („reconnaissance créatrice“) darin, dass „es kein Sein in uns gibt außer in diesem Wunsch, der niemals erreicht und niemals abrüstet“. Selbst in seinem Schweigen bleibt er ein „Phönix der Freiheit“ („Phénix de la liberté“), der aus der Asche seiner „verbrannten Hoffnungen“ („espérances brûlées“) aufersteht.

Der Schluss des Buches ist somit ein Appell, Rimbauds Leben als einen ständigen Kampf und eine unendliche Suche nach Wahrheit und Freiheit zu verstehen, deren Wert nicht im Erreichten, sondern im kompromisslosen Streben selbst liegt. Es ist die Verwandlung des individuellen Leidens in ein kollektives Paradigma der Befreiung, eine „Poesie“, die durch ihre Radikalität und ihren Mut zur „liberté libre“ zu einer der „schönsten“ in der Geschichte der französischen Sprache wird. Bonnefoy hebt hervor, dass Rimbaud, auch wenn er keine endgültigen Lösungen fand, doch den Weg für eine „Moderne“ ebnete, die das „Unmögliche“ nicht leugnet, sondern es als den Horizont menschlicher Ambitionen versteht. Sein Schweigen ist nicht das Ende, sondern die tiefste Form einer fortgesetzten Konfrontation.


Neue Artikel und Besprechungen


rentrée littéraire
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.