Le squelette de Rimbaud (2019) von Jean-Michel Lecocq ist eine Kriminalgeschichte, die sich um die rätselhafte Entdeckung von Arthur Rimbauds Grab dreht und dabei in die Legenden und das Erbe des Dichters eintaucht. Der Roman spielt in Charleville-Mézières, der Heimatstadt Rimbauds, die in einer Phase kultureller Trägheit und wirtschaftlicher Sparsamkeit verharrt. Diese Lethargie wird jäh unterbrochen, als Georges Hermelin, der kulturverantwortliche stellvertretende Bürgermeister, eine gewagte und provokante Idee vorschlägt: die Erweiterung des Rimbaud-Museums um eine spezielle Ausstellung, deren Herzstück Rimbauds Schenkelknochen sein soll. Er argumentiert, dass dies die „Authentizität“ der Ausstellung erhöhen würde.
Diese Forderung löst bei den beteiligten Beamten – dem Bibliotheksleiter Pierre Bourgeois, dem Archivdirektor Maxime Rousseau und dem Museumskonservator Paul Leterrier – zunächst Unglauben, dann Entsetzen und Widerstand aus. Die Idee, ein echtes menschliches Bein, insbesondere das von Rimbaud, der bekanntermaßen sein rechtes Bein 1891 amputiert bekam, auszustellen, wird als groteske Profanierung empfunden. Trotz massiven öffentlichen Protests, nationaler Medienaufmerksamkeit und der Intervention bekannter Intellektueller, die eine Entweihung des „Dormeur du val“ fürchten, wird die Exhumierung durch politische Beziehungen und undurchsichtige Kanäle erzwungen. Der Schock ist jedoch unermesslich, als bei der Öffnung des Sarges festgestellt wird, dass das darin befindliche Skelett beide Beine intakt besitzt und somit nicht Rimbaud gehören kann. Dieses Ereignis stürzt die Stadt und die internationale Rimbaud-Gemeinschaft in ein tiefes Rätsel und löst eine Flut wilder Spekulationen aus.
Die unerwartete Entdeckung führt zur Einsetzung einer Krisenzelle, die von dem Präfekten und dem Bürgermeister von Charleville gemeinsam geleitet wird und der Lieutenant Pierre Vidal von der Kriminalpolizei Reims angehört. Vidal beginnt, systematisch Rimbauds Leben, Krankheit und die Umstände seiner Beisetzung zu untersuchen, wobei er auf historische Dokumente und das akribische Tagebuch der Krankenschwester Angèle aus Rimbauds letztem Krankenhausaufenthalt in Marseille stößt. Diese Überprüfung bestätigt Rimbauds Amputation und die Überführung seines Leichnams nach Charleville, widerlegt aber die These, er habe seinen Tod vorgetäuscht, um dem Militärdienst zu entgehen.
Stattdessen konzentriert sich Vidal auf eine andere Spur, die durch den Friedhofswärter Martin Paulet aufgedeckt wird: Während einer Friedhofsrenovierung in den 1980er-Jahren könnten Angestellte des Bestattungsdienstes in Grabraub verwickelt gewesen sein, und es gab eine Verschleierung durch ihren damaligen Leiter Yves Lambert und einen amtierenden stellvertretenden Bürgermeister. Als Vidal dieser Spur nachgeht, werden Célestin Brunet, ein Rimbaud-Enthusiast, der ähnliche Theorien verfolgte, und kurz darauf Yves Lambert ermordet. Die Ermittlungen führen Vidal und den zynisch-brillanten Richter Julien Molinier zu Michel Coste, einem anerkannten Rimbaud-Experten und ehemaligen Kulturdezernenten der Stadt. Coste entpuppt sich als der Drahtzieher der Grabräuberei und der Morde. Er gesteht, Rimbauds Skelett vor Jahrzehnten heimlich in seinen Privatgarten in Roche, Rimbauds von ihm geliebte Heimatregion, umgebettet zu haben, um den angeblichen letzten Wunsch des Dichters zu erfüllen, nicht im verhassten Charleville begraben zu werden. Am Ende wird Rimbauds authentisches, einbeiniges Skelett in Costes Garten gefunden und mit großer Zeremonie in Charleville neu beigesetzt, womit das Rätsel gelöst und die Täter überführt werden.
Thesen zur Interpretation
Intertextualität als strukturelles und thematisches Gerüst
Der Roman ist in Rimbauds Werk verwurzelt, was sich primär durch die direkten Zitate seiner Gedichte zu Beginn jedes Kapitels manifestiert. Diese Zitate dienen nicht nur als schmückendes Beiwerk, sondern sind sorgfältig ausgewählt, um den Ton und die Thematik des jeweiligen Kapitels vorwegzunehmen oder zu kommentieren. Beispielsweise wird „Le bateau ivre“ (Das trunkene Schiff) nicht nur als Gedichtzeile in den Kapiteln 1 und 2 zitiert, sondern Molinier selbst bezeichnet die chaotische Situation um das Skelett als „bateau ivre“, was die Verknüpfung von Rimbauds Poesie mit der absurden Realität der Ermittlung unterstreicht. Dies schafft eine kontinuierliche Dialogebene zwischen der fiktiven Handlung und Rimbauds Œuvre, die den Leser dazu anregt, die Geschehnisse durch die Linse des Dichters zu betrachten. Die Titelgebung des Romans selbst, Le squelette de Rimbaud, verweist bereits auf eine doppelte Lesart: Es geht um das buchstäbliche Skelett, aber auch um die freigelegte Essenz oder das Gerüst von Rimbauds Erbe und Mythos. Die Suche nach den physischen Überresten ist somit eine Metapher für die andauernde Suche nach der Wahrheit über den Dichter und die Auseinandersetzung mit seiner vielschichtigen Persönlichkeit.
Dekonstruktion und Neukonstruktion des Rimbaud-Mythos
Der Roman beginnt mit einer radikalen Infragestellung eines zentralen biografischen Faktums: der Amputation von Rimbauds rechtem Bein. Die Entdeckung eines zweibeinigen Skeletts in seinem offiziellen Grab ist ein narrativer Coup, der den festgefahrenen Mythos aufbricht. Dies erzwingt nicht nur innerhalb der Romanhandlung eine Neubewertung der „historischen Tatsachen“, sondern konfrontiert auch den Leser mit der Fragilität historischer Narrative und der Neigung, Legenden zu schaffen oder an ihnen festzuhalten. Durch diese „Demontage“ des Amputations-Mythos spielt Lecocq mit den Konzepten von „supercherie“ (Betrug) und „imposture“ (Hochstapelei), die auch in der Rezeption Rimbauds eine Rolle spielen. Die letztendliche Auffindung des „echten“ Skeletts mit dem amputierten Bein stellt zwar die historische Wahrheit wieder her, geschieht aber erst nach einer Detektivarbeit, die die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, Wahrheit und Glaube auslotet und die Wahrheit als etwas Mühsam Erkämpftes und nicht als gegebenes Faktum darstellt.
Rimbauds Leben und Abneigungen als Handlungsmotivation
Die Biografie Rimbauds, insbesondere seine Abneigung gegen Charleville, die er verächtlich „Charlestown“ nannte, und sein angeblicher Wunsch, fernab dieser Stadt begraben zu werden, bilden den direkten Antrieb für Michel Costes kriminelle Handlungen. Coste, als „wahrer“ Rimbaud-Verehrer, handelt aus dem Glauben heraus, Rimbauds „letzten Willen“ zu erfüllen, indem er dessen Überreste in sein idyllisches Anwesen in Roche, dem Geburtsort seiner Mutter und Rimbauds bevorzugtem Aufenthaltsort, umbettet. Rimbauds abenteuerliches Leben in Afrika, seine Geschäfte als Waffenhändler und seine Versuche, dem Militärdienst zu entgehen, sind wiederkehrende Themen in Vidals Ermittlungen und werden durch historische Dokumente und Rimbauds eigene Briefe, sowie das Tagebuch der Schwester Angèle beleuchtet. Der Roman suggeriert, dass die Kontroverse um Rimbauds sterbliche Überreste eine Fortsetzung seines rebellischen Geistes ist, der sich auch im Tode der Konvention widersetzt und die „Ruhe“ findet, die er sich wünschte, wenn auch auf unkonventionelle Weise.
Das Ende des dichterischen Schaffens als Echo
Obwohl der Roman kein primäres Thema von Rimbauds Verzicht auf die Poesie behandelt, ist es doch eine subtile, philosophische Unterströmung. Die Suche nach seinen physischen Überresten, die Betonung seines „irdischen Abenteuers“ auf der Grabplatte und Costes Mission, Rimbauds „letzten Willen“ (der sich auf seine Bestattung und nicht auf seine Verse bezog) zu erfüllen, können als eine Metapher für die bleibende Bedeutung und die Geheimnisse seines Lebens nach der Poesie gesehen werden. Der Roman wirft die Frage auf, was von einem Genie bleibt, wenn es sich von seiner Kunst abwendet. Der Umstand, dass die „wahren“ Wünsche Rimbauds im Zusammenhang mit seinem Tod und seiner Grabstätte stehen, nicht mit seinen Werken, spiegelt eine gewisse Relativierung des Dichter-Seins zugunsten des Mensch-Seins wider, insbesondere im Hinblick auf Rimbauds spätere merkantile Existenz.
Tod und „Profanierung“ versus „Heiligung“
Der Roman ist zentral um Rimbauds Tod und die wahrgenommene „Profanierung“ seines Grabes strukturiert. Die initiale geplante Exhumierung des Femurs wird von der Öffentlichkeit als „Sakrileg“ empfunden, was eine tief verwurzelte gesellschaftliche Angst vor der Störung der Toten widerspiegelt. Interessanterweise werden Costes Handlungen, obwohl kriminell, aus seiner Perspektive als ein Akt der „Heiligung“ und Ehrerbietung dargestellt. Er wollte Rimbauds Überreste an einen Ort bringen, der dem Willen des Dichters entsprach und ihn vom „verhassten“ Charleville befreite. Die mehrfachen Exhumierungen (die geplante, die tatsächliche der „falschen“ Leiche und schließlich die Entdeckung der „echten“) unterstreichen die Spannung zwischen der bürokratischen, offiziellen Handhabung des Todes und den persönlichen, fast kultischen Interpretationen des Gedenkens. Die Tatsache, dass die Suche nach dem Skelett zu Morden führt, verdeutlicht die extreme Bedeutung, die den sterblichen Überresten des Dichters beigemessen wird, wodurch sie zu Objekten der Verehrung und des Verbrechens zugleich werden. Die Geschichte wird so zu einer makabren Tanzdarbietung mit dem Tod, die Molinier ironisch als „Danse macabre“ bezeichnet.
Rimbauds Stil und Bildlichkeit im Roman
Der Roman selbst kopiert nicht direkt Rimbauds avantgardistischen poetischen Stil. Die Prosa ist eher klar, detailliert und der Tradition des Kriminalromans folgend. Doch die thematischen Resonanzen und die Bildlichkeit Rimbauds sind allgegenwärtig. Die Gedichttitel wie „Le bateau ivre“ oder „Le dormeur du val“ sind nicht nur Kapitelüberschriften, sondern werden zu Leitmotiven der Handlung. Die Idee vom „Dormeur du val“ wird besonders prägnant in der von Coste geschaffenen Grabinschrift in seinem Garten und in der gesamten Suche nach Rimbauds „friedlichem“ Ruheort abseits von Charleville aufgenommen. Molinier verwendet den Begriff „illuminations“ ironisch im Zusammenhang mit der Entdeckung. Die Beschreibungen von Charleville als „sinistré“ oder von Rimbauds „trou de verdure“ (Grünloch) als idyllischer, versteckter Ort, spiegeln die Stimmungen und Landschaften von Rimbauds Poesie wider. Der Kontrast zwischen der banalen, bürokratischen Welt der Ermittlung und der grandiosen, beinahe absurden Suche nach den Überresten des Dichters spiegelt eine Rimbaudsche Spannung zwischen dem Gewöhnlichen und dem Außergewöhnlichen wider, die den gesamten Roman durchzieht.
Ersehnte Ruhe
Der Schluss des Romans ist eine Synthese aus faktischer Auflösung, ironischem Kommentar und der Perpetuierung des Rimbaud-Mythos. Einerseits triumphiert die Wahrheit: Rimbauds tatsächliches Skelett, das die historische Amputation aufweist, wird gefunden und offiziell neu beigesetzt. Dies beendet das zentrale Rätsel und validiert die überlieferte Geschichte seiner Verletzung. Es ist ein Sieg der historischen Genauigkeit, wenn auch unter höchst unkonventionellen und kriminellen Umständen erreicht.
Andererseits ist es auch ein Triumph von Costes persönlicher, wenn auch krimineller, Mission. Coste, trotz seiner Taten als Mörder verurteilt, hat aus seiner Sicht Rimbauds „wahren“ letzten Willen erfüllt, indem er den Dichter aus dem von ihm verabscheuten Charleville in eine „grüne Oase“ umbettete. Seine Tat, so gewalttätig sie auch war, wird als ein verdrehtes Werk der Hingabe dargestellt. Die offizielle Wiederbeisetzung in Charleville, inszeniert von den Behörden, ist eine ironische Pointe: Costes Bemühungen führen letztlich zu Rimbauds öffentlicher Anerkennung in der Stadt, die er verachtete, aber auch zu einem tieferen Verständnis seiner letzten Wünsche.
Der Roman übt zudem eine scharfe Kritik an den Behörden und der Bürokratie aus. Die Unfähigkeit der Stadtverwaltung, der „Krisenzelle“ und sogar der Staatsanwaltschaft, das Rätsel zu lösen, steht im Kontrast zu Vidals Hartnäckigkeit und Moliniers zynischer Weitsicht. Die Behörden werden als reaktiv, leicht manipulierbar und primär darauf bedacht dargestellt, das öffentliche Bild zu wahren und Unruhen zu vermeiden. Die Beförderung Vidals zum Captain und Moliniers ehrenvoller Ruhestand symbolisieren eine Belohnung für ihren unkonventionellen Ansatz und ihre letztendliche Wahrheitssuche, die über die bürokratischen Hürden hinausgeht.
Trotz der faktischen Auflösung bleibt der Rimbaud-Mythos bestehen, ja er wird durch die bizarre Kette der Ereignisse sogar noch verstärkt. Molinier bemerkt selbst, dass Rimbaud auch über hundert Jahre nach seinem Tod noch „Pagaille“ (Chaos) stiftet. Der Roman impliziert, dass die Suche selbst, die Auseinandersetzung mit dem Mythos, ebenso bedeutsam ist wie das Endergebnis. Die finale Zeile aus „Le dormeur du val“ verweist auf die ersehnte, ewige Ruhe, die Rimbaud verdient hätte, im krassen Gegensatz zu dem Aufruhr, den seine Überreste verursacht haben. Der Roman lässt den Leser mit der Frage zurück, wie Wahrheit und Legende sich vermischen und wie menschliche Obsessionen, sei es für Ruhm, Geld oder Erbe, das Leben und den Tod großer Persönlichkeiten prägen können. Es ist eine Geschichte über die Ambivalenz von Verehrung und Kriminalität, die im Namen eines Dichters begangen wird.