Sigolène Vinsons Roman Les Jouisseurs (L’Observatoire, 2017) entfaltet auf den ersten Blick zwei voneinander getrennte Handlungsstränge, die sich jedoch im Laufe der Erzählung miteinander verflechten und in ihrem Kern die universelle Frage nach der Bedeutung von Schöpfung, Realität und Glück in einer oft brutalen Welt aufwerfen. Der Titel Les Jouisseurs, die Genießer oder die Lüstlinge, ist unmittelbar auf die vier Hauptcharaktere – Olivier und Éléonore, sowie Ole und Léonie – bezogen. Dieser Begriff umfasst im Französischen nicht nur das einfache Vergnügen, sondern auch eine intensivere, bisweilen schmerzhafte Form des Genusses oder der Ekstase, oft verbunden mit einer Überwindung der Grenzen. Die zentrale Motivation aller Charaktere, die durch den Titel angedeutet wird, ist die Suche nach einer Form von „jouissance“, um der „Brutalität des irdischen Augenblicks“ zu entfliehen und zur „joie de vivre“ (Lebensfreude) zu gelangen. Dies wird auf unterschiedliche, oft selbstzerstörerische Weisen verfolgt: die Suche nach Kreativität und Flucht vor Traurigkeit und Ängsten bei Olivier, die Suche nach Visionen bei Éléonore, eine Pharmareferentin, die grundlosen Trost in den Psychopharmaka und Drogen sucht. Ole und Léonie sind im kolonialen Marokko als Schmuggler unterwegs und verbreiten „vice et l’alcool“ (Laster und Alkohol). Ole sucht „Müßiggang und Vergnügen“, Léonie raucht Haschisch und sehnt sich nach einer einfacheren Existenz und „Annihilierung“ durch Mutterschaft. Für alle ist die Suche nach „jouissance“ die Suche nach einer Art von Existenz, die über die alltägliche Brutalität hinausgeht, selbst wenn sie in Chaos oder Krankheit mündet.
Im Zentrum des ersten Strangs steht Olivier, der an Schreibblockade leidende Autor, der in seiner Verzweiflung einen altertümlichen Automaten, „L’Écrivain“, aus einem Museum entwendet, in der Hoffnung, dieser möge ihm den „Roman du siècle“ liefern. Parallel dazu begleitet der Leser Éléonore, Oliviers Lebensgefährtin, die sich durch den Konsum von Psychopharmaka in fantastische Halluzinationen flüchtet und dabei selbst zur treibenden Kraft hinter den Schriften des Automaten wird, indem sie die Geschichte von Léonie und Ole imaginiert.
Diese zweite Erzählebene führt uns in das Marokko des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wo das unkonventionelle Paar Léonie und Ole als Schmuggler die Wüste durchquert, stets auf der Suche nach Freiheit und Rausch. Der Roman untersucht, ob eine so tiefgreifende Lust und Flucht vor der Realität ausreichen kann, um der „brutalité de l’instant terrestre“ zu entkommen und zur „joie de vivre“ zu gelangen. Dies wirft zentrale Fragen auf: Was bedeutet es, Schöpfer zu sein, wenn die Inspiration mechanisch oder chemisch induziert wird? Wie verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, wenn die eine die andere beeinflusst und erschafft? Und kann ein solcher, oft zwanghafter Genuss, tatsächlich eine Form der Erlösung bieten?
Sigolène Vinsons Roman bietet aus literaturwissenschaftlicher Perspektive einen reichen Gegenstand durch seine komplexe Doppelstruktur und tiefgehende Auseinandersetzung mit Fragen der Autorschaft und Inspiration. Die Verschränkung zweier zeitlich und räumlich getrennter Narrative – die Gegenwart (21. Jahrhundert) Oliviers und Éléonores sowie die Vergangenheit (19./20. Jahrhundert) von Ole und Léonie im kolonialen Marokko – erlaubt eine vergleichende Analyse von Lebensentwürfen und Fluchtstrategien vor der „Brutalität des irdischen Augenblicks“. Der Roman erforscht dabei, wie unterschiedliche Formen von „jouissance“ (Genuss/Vergnügen), sei es durch Drogen, Schreiben, Liebe oder Schmuggel, als Mittel zur Überwindung von Melancholie und zur Erlangung von Lebensfreude dienen.
Der Schreibautomat dient nicht nur als konkretes Hilfsmittel für Oliviers Schreibblockade, sondern auch als metaphorisches Instrument zur Reflexion über die Natur des Schreibens selbst. Die immer wieder auftauchenden „technischen Hinweise“ des Automaten, die seine angebliche evolutionäre Herkunft von Tieren (Eule, Pferd, Maultier, Esel, Käfer, Fisch) detaillieren, können als meta-literarische Kommentare zur Genese von Kunst, Identität und sogar der Menschheit interpretiert werden. Die Unentschiedenheit, wer tatsächlich der Autor ist (Olivier, Éléonore in ihren drogengestützten Zuständen oder der Automat selbst), verwischt die Grenzen zwischen Realität und Fiktion und hinterfragt die traditionelle Vorstellung von Kreativität und Subjektivität. Des Weiteren bietet die Einbeziehung historischer Personen und Kontexte (wie Hubert Lyautey und Isabelle Eberhardt) eine Möglichkeit, die Auseinandersetzung des Romans mit Kolonialismus und Existenzphilosophie zu untersuchen.
Die Figurenkonstellation des Romans ist von einer strukturellen Dualität geprägt. Olivier und Éléonore auf der einen Seite, Ole und Léonie auf der anderen, agieren als Spiegelbilder und Schöpfungen zugleich. Der blockierte Autor Olivier möchte De la fascination des trains électriques schreiben, konnte aber seit fünf Jahren kein Kapitel mehr abliefern, er verkörpert den verzweifelten Künstler, der die Kontrolle über seine Schöpfung verliert. Seine Lösung ist der Diebstahl von „L’Écrivain“, diesem im 18. Jahrhundert von Pierre Jaquet-Droz konstruierten Automaten, der in der Lage ist, auf Kommando zu schreiben. Der Diebstahl ist nicht nur eine physische Tat, sondern auch eine Metapher für Oliviers Versuch, die Last der Schöpfung auf eine externe, mechanische Instanz abzuwälzen. Der Automat selbst wird zu einem autopoetologischen Symbol, das die Frage nach der wahren Quelle der Kreativität aufwirft. Anfangs produziert er verstörende Sätze wie „Bis jetzt habe ich nichts geschrieben“ 1 und „Ich bin ansteckend“ 2, die eine unmittelbare, ungefilterte Wahrheit zu offenbaren scheinen, die dem menschlichen Autor verwehrt bleibt.
Die wahre Schöpferin der Geschichte von Léonie und Ole ist wohl Éléonore, deren Rolle sich erst allmählich enthüllt. Sie ist „visiteuse médicale“ für ein pharmazeutisches Labor und konsumiert die von ihr vertriebenen Psychopharmaka, um ihre eigene „anxiété et tristesse“ zu betäuben. Ihr Drogenkonsum ist der Motor ihrer „hallucinations fantasques“, aus denen die Abenteuer der Schmuggler Léonie und Ole im Marokko des frühen 20. Jahrhunderts hervorgehen. Die Handlungsstruktur des Romans wechselt ständig zwischen diesen beiden Ebenen, wobei Éléonores Medikamenteneinnahme und ihre Träume direkten Einfluss auf die Entwicklung der „Caravane“ haben. Die Verschränkung verwischt die Grenzen zwischen Autor und Werk, Realität und Fiktion. Éléonore selbst leugnet ihre Autorschaft, während Olivier fest daran glaubt, dass „L’Écrivain“ die Geschichte schreibt. Dies verstärkt die ironische Erzählhaltung des Romans, der die traditionelle Rolle des Autors dekonstruiert.
Die Kommunikationsformen reichen von internen Monologen über Dialoge zwischen Olivier und Éléonore, die oft von Missverständnissen und doppelten Böden geprägt sind, bis hin zu den direkten, manchmal derben Äußerungen der Figuren in der „Caravane Wintherlig“. Éléonores Antworten sind oft kryptisch und spiegeln ihre eigene Verwirrung und ihren Drogenrausch wider. Als Olivier sie nach dem Titel des Romans fragt, der „l’aube d’une ère nouvelle“ verspricht, antwortet sie La Ville dans le Grand Nuage de Magellan, ein Buch, das sie selbst liest und das die Zerstörung einer utopischen Kolonie beschreibt.
Ole und Léonie sind selbst „jouisseurs“, die ihre eigene Form der Flucht suchen. Ole, ein dänischer Schmuggler, ist in der „stade esthétique“ von Kierkegaard gefangen, immer auf der Suche nach „Müßiggang und Vergnügen“ 3 und dem Spiel. Léonie, eine Korsin, die ohne „anaïa“ (Eskorte) reist, um „la sensation de danger“ zu erleben, sucht die Vereinfachung des Daseins durch „Denkvermeidung“ 4. Ihre Geschichte ist geprägt von der rauen Realität der marokkanischen Wüste, von Gewalt, Krankheit und Drogenkonsum. Ole schmuggelte „gepantschten Alkohol“ 5, der Blindheit verursachen kann, ein Produkt, das ironischerweise auch Léonie zum Verhängnis wird, als sie es trinkt und erblindet. Diese Erblindung ist auch metaphorisch zu verstehen für den Verlust der Realität und des Verstandes, eine Konsequenz des übermäßigen Genusses und der Flucht.
Ein wichtiges poetisches Verfahren ist die Metaphorik des Körpers und seiner Schwächen. Éléonores „so dünn“ 6 und ihre physischen Symptome des Drogenkonsums spiegeln sich in Léonies Verfall wider, die durch Krankheit und Alkohol abgemagert ist. Der Automat selbst wird vermenschlicht, seine „dünner werdende Perücke“ 7, was seine Anfälligkeit und die Zerbrechlichkeit der Schöpfung unterstreicht. Die „Notice technique de L’Écrivain“, eine wiederkehrende intertextuelle Klammer, dient als meta-fiktionaler Kommentar zur Entstehung des Textes. Sie spekuliert über die „génétique de l’automate“ 8, seine Ursprünge als „ein Pferd, ein Maultier, ein Esel, ein Käfer“ 9, und schließlich als „erster Computer“ 10. Diese Passagen sind autopoetologische Reflexionen über die Natur des Schreibens selbst, die von biologischen über mechanische bis hin zu digitalen Analogien reichen.
Die Intertextualität ist ein reichhaltiges Element in Vinsons Roman. Neben Kierkegaard und Rilke sind Charles de Foucauld und Isabelle Eberhardt weitere zentrale Bezugspunkte. Charles de Foucaulds Reconnaissance du Maroc wird zur Karte, die Ole und Léonie für ihre Schmuggelreisen nutzen. Die Figur Isabelle Eberhardt, eine Schweizerin russischer Herkunft, die unter dem Namen El-Sayyed Mahmoud als Mann verkleidet durch die Wüsten Nordafrikas reiste und Haschisch konsumierte, dient Léonie als Vorbild und Spiegel. Ole selbst hatte Isabelle Alkohol verkauft, was eine weitere Verbindung zwischen den beiden Ebenen der Erzählung schafft und die Frage nach Schuld und Verantwortung aufwirft. Auch die „pénétration pacifique du Maroc“ durch Hubert Lyautey wird thematisiert, wobei der Roman die Ambivalenz dieses kolonialen Projekts und seine brutale Realität hinterfragt.
Gegen Ende des Romans spitzt sich die Handlung zu. Éléonore, die von den Psychopharmaka zunehmend in den Wahnsinn getrieben wird, verliert die Kontrolle über sich selbst und ihr Umfeld. Ihre Lachkrämpfe 11 und ihre „Sprachstörung“ 12 sind direkte Auswirkungen ihres Drogenkonsums und spiegeln Léonies Wahnsinn wider. Als Olivier versucht, „L’Écrivain“ von seinem roten Anstrich zu befreien, den er ihm in einem Anfall von Frustration verpasst hat, enthüllt Éléonore, dass sie den Automaten manipuliert hat, dass sie die wahre Schöpferin der „Caravane Wintherlig“ ist. Sie gesteht: „Ich habe kein Bedürfnis, etwas zu sein oder mich zu verwirklichen. Es passt mir wirklich gut, nichts zu erschaffen.“ 13. Dies ist ein radikaler autopoetologischer Kommentar, der die traditionelle Vorstellung von Autorschaft und Selbstverwirklichung infrage stellt.
Der Roman gipfelt in einer doppelten Katastrophe: Léonie, in ihrer Blindheit und geistigen Verwirrung, bleibt in Boumalne zurück, von der Außenwelt vergessen, ein Symbol für das Scheitern der Flucht durch Genuss und Abenteuer. Ole hingegen heiratet Esther, die Tochter eines Schusters, konvertiert zum Judentum und findet im Handel mit Safran eine scheinbare „Lebenslust“ 14. Doch die Begegnung mit einem Legionär, der ihm vom Tod Augustins und Isabelles sowie Léonies Schicksal berichtet, erschüttert sein neu gewonnenes Glück. Ole, der am Ende des Romans seinen eigenen Tod in der fiktiven Welt erlebt, während er über Léonies Schicksal nachdenkt, wird zu einem Sinnbild für die Unmöglichkeit, der eigenen Vergangenheit und den Konsequenzen des Handelns zu entfliehen. Gleichzeitig steht Olivier kurz davor, von der Gendarmerie gefasst zu werden, da sein Phantombild als Dieb von „L’Écrivain“ veröffentlicht wurde.
Der Roman endet, indem er beide Erzählstränge auf unklare Weise zusammenführt und offenlässt. Die finale Notice technique de L’Écrivain stellt die Frage: „Was wäre, wenn der Schriftsteller mehr wäre als eine Eule, ein Pferd, ein Maultier, ein Esel, ein Käfer? Oder ein Computer? Was wäre, wenn er das Raumschiff wäre, mit dem man zur Großen Magellanschen Wolke gelangt?“ 15. Diese spekulative Frage unterstreicht die Idee, dass das Schreiben, und insbesondere das Erschaffen der „Caravane Wintherlig“, eine Reise in eine andere Realität ist, ein Versuch, sich über die Grenzen dem „weichen Lehm“ 16 hinwegzusetzen. Oliviers Signatur „Olivier. C’est mon nom ici. Ole!“ am Ende der Notiz verschmilzt seine Identität mit der seiner fiktiven Figur Ole, was die ultimative Erosion der Grenzen zwischen Autor und Werk, Realität und Fiktion anzeigt. Die Bilanz der Interpretation zeigt, dass Les Jouisseurs nicht nur eine Geschichte über Schreibblockade und Drogensucht ist, sondern eine Reflexion über die Natur des Schöpferischen, die Verstrickung von Leben und Kunst und die Suche nach Sinnhaftigkeit in einer Welt voller Widersprüche. Der Roman feiert die „jouissance“ nicht als reine hedonistische Befriedigung, sondern als eine oft schmerzhafte, verzweifelte, aber letztlich zutiefst menschliche Antwort auf die existenzielle Leere. Die „joie de vivre“ wird nicht durch eine perfekte Schöpfung erreicht, sondern durch das gemeinsame, chaotische und unvollkommene Ringen um sie.
Anmerkungen- „Jusqu’ici, je n’ai rien écrit“>>>
- „Je suis contagieux“>>>
- „oisiveté et plaisir“>>>
- „penser peu“>>>
- „alcool frelaté“>>>
- „maigre comme ça“>>>
- „perruque s’éclaircissait“>>>
- „génétique de l’automate“>>>
- „un cheval, une mule, un âne, un coléoptère“>>>
- „le premier ordinateur“>>>
- „crises de rire“>>>
- „trouble du langage“>>>
- „Je n’ai aucun besoin d’être ou de me réaliser. Vraiment, cela me convient bien de ne rien créer.“>>>
- „joie de vivre“>>>
- „Et si L’Écrivain était plus qu’une chouette, un cheval, une mule, un âne, un coléoptère ? Ou un ordinateur ? S’il était la navette pour atteindre le Grand Nuage de Magellan ?“>>>
- „terre molle“>>>