Inhalt
Im Winter sterben
„Ich kann nicht nach Europa gehen, da würde ich im Winter sterben.“ 1 Bei Thierry Beinstingel wird aus einem Brief Rimbauds zitiert, der seine Abneigung gegen Europa und seine Wahl Afrikas reflektiert. Doch er stirbt nicht: Der vorliegende Roman Vie prolongée d’Arthur Rimbaud (Fayard, 2016) von Beinstingel inszeniert eine provozierende Uchronie, indem er die literarische Legende Arthur Rimbauds als eine Fortsetzung seines Lebens jenseits des offiziell bekannten Todesjahres 1891 neu erzählt. Im Zentrum steht die Doppelidentität des Dichters, der unter dem Namen Nicolas Cabanis seine Krankheit überlebt und ein neues, scheinbar profanes Leben als Unternehmer und Familienvater beginnt, während der „tote“ Arthur Rimbaud in der europäischen Literaturszene zur Legende wird. Der Roman erkundet die Spannung zwischen dem „lebenden“ Nicolas, der sein dichterisches Erbe verleugnet, und dem „toten“ Arthur, dessen Ruhm von Literaturkritikern und seiner Schwester Isabelle posthum konstruiert wird.
Der zitierte Satz kann als Ausdruck einer breiteren Ablehnung des „alten Europas“ verstanden werden, das Rimbaud hinter sich lassen wollte, um ein anderes Leben der Tat und des Handels in Afrika zu führen. Für ihn war Europa mit „Schwere“ und „Langeweile“ verbunden. Den Satz hat laut Beinstingel Arthur Rimbaud im Dezember 1893 aus Kairo geschrieben. In der Erzählung über Nicolas wird dieser Satz als Rückblick eingeführt, um Nicolas‘ Erfahrungen im Winter in den Ardennen zu kommentieren. Marie, Nicolas‘ Frau, bemerkt, wie Nicolas (der Arthur Rimbaud ist) mit der Kälte und der Wintermüdigkeit zu kämpfen hat. Der Erzähler stellt fest, dass, obwohl Nicolas nie die Beschwerlichkeiten der kalten Jahreszeit erwähnt, es „einfach ist, die Anstrengungen dessen vorzustellen, der aus Kairo schrieb, mitten im August, fünf Jahre zuvor“. Dies unterstreicht, dass die Abneigung gegen den Winter tief in ihm verwurzelt ist.
Der Satz ist ein starker Ausdruck von Rimbauds Gewöhnung an die Hitze und Trockenheit Afrikas und seiner empfundenen Unfähigkeit, in den kälteren europäischen Klimazonen zu überleben. Er hatte dort jahrelang gelebt und gearbeitet, was seinen Körper und seine Präferenzen geprägt hatte. Obwohl Nicolas (alias Arthur) in seinem „zweiten Leben“ den Winter in Europa (in der Nähe der belgischen Grenze) verbringt und Marie ihm ein warmes und gastfreundliches Zuhause schafft, wird deutlich, dass die Kälte und die daraus resultierende Untätigkeit ihm zu schaffen machen. Dies zeigt, dass seine frühere Empfindung – die Kälte würde ihn töten – auch in seiner neuen Existenz eine psychologische Realität bleibt, obwohl er nicht direkt daran stirbt.
Zu Rimbauds Weiterleben nach seinem Tod
Der Roman setzt im November 1891 im Krankenhaus in Marseille ein, wo der historische Arthur Rimbaud an einer Beinerkrankung im Sterben liegt und schließlich angeblich amputiert wird und stirbt. Doch in dieser alternativen Realität überlebt Arthur seinen offiziellen Tod. Mit Hilfe des Krankenhausdirektors, der einen anderen Toten an seiner Stelle beisetzen lässt, taucht Rimbaud unter dem Namen Nicolas Cabanis unter. Dieser „wiederauferstandene“ Rimbaud flieht vor seiner Vergangenheit als Dichter und dem öffentlichen Blick. Er wendet sich einer praktischen, bürgerlichen Existenz zu: Er wird ein erfolgreicher Geschäftsmann und Industrieller in den Ardennen, heiratet Marie, eine einfache Frau, und gründet eine Familie mit zwei Kindern, Hortense und Justin. Der Roman verknüpft Rimbauds Leben mit zeitgenössischen Ereignissen wie der Dreyfus-Affäre, dem Ersten Weltkrieg und den Fortschritten der Technik (Eisenbahn, Automobil, Elektrizität, Fotografie, Phonograph). Diese Bezüge erden die fiktive Geschichte in der Realität der Belle Époque und der frühen Moderne.
Parallel dazu entfaltet sich in der europäischen Literaturszene der Mythos Arthur Rimbaud. Seine Schwester Isabelle Rimbaud spielt dabei eine zentrale Rolle. Sie wird zur Hüterin seines Erbes, sammelt seine Schriften, korrigiert Biografien und verteidigt seine „Wahrheit“ gegen Kritiker und Opportunisten wie Rodolphe Darzens und Louis Pierquin. Später heiratet sie Paterne Berrichon, der sich als glühender „Rimbaldolâtre“ der posthumen Glorifizierung Arthurs widmet, seine Werke veröffentlicht und ein Denkmal in Charleville initiiert.
Nicolas versucht, sein früheres Dichterleben und die damit verbundenen Skandale (insbesondere die Beziehung zu Verlaine) komplett zu verdrängen. Er reagiert verärgert auf Artikel über den „toten“ Rimbaud. Doch das „Gespenst“ seiner poetischen Vergangenheit lässt ihn nicht ganz los. Immer wieder überkommen ihn fragmentarische Zitate oder Bilder seiner eigenen Dichtung. Seine Beziehung zu Isabelle, die durch Briefe und seltene Treffen aufrechterhalten wird, ist ambivalent: Sie ist die einzige, die sein Überleben kennt, doch er zwingt sie, Stillschweigen zu bewahren.
Der Roman verfolgt Nicolas’ Leben bis ins Jahr 1921. Nach dem Tod seiner Frau Marie und der Zerstörung seines Unternehmens im Ersten Weltkrieg, entschließt sich der inzwischen gealterte und desillusionierte Nicolas, nach Afrika zurückzukehren. Dort, in Harar, seiner einstigen Wirkungsstätte als Kaufmann, findet er eine Art späte, unerwartete Versöhnung mit seiner gespaltenen Identität, als er gegenüber einem deutschen Konsul und den Einheimischen seine wahre Identität als Arthur Rimbaud preisgibt. Seine letzten poetischen Schriften, die er im Krankenhaus verfasst hat, werden jedoch verbrannt oder gehen verloren, was seinen endgültigen Abschied von der Literatur besiegelt.
Aspekte einer Interpretation
Gattungszugehörigkeit und Uchronie
Der Roman ist eine prägnante Uchronie, eine Form der Alternativgeschichte. Der Schlüsselmoment der Divergenz vom realen historischen Verlauf ist der 9. November 1891 im Hospital von Marseille, als Rimbaud entgegen der Geschichtsschreibung seine schwere Krankheit überlebt. Diese Abweichung wird durch die Manipulation des Krankenhausdirektors ermöglicht, der einen anderen Körper als Rimbaud identifizieren lässt, um eine unangenehme Situation zu vermeiden. Die Konsequenz dieser uchronischen Entscheidung ist die Entfaltung eines Lebens, das sich über drei Jahrzehnte erstreckt (bis 1921 und darüber hinaus), während der historische Rimbaud, der mit 37 Jahren starb, gleichzeitig in der Öffentlichkeit posthum kanonisiert wird. Das Genre erlaubt es, die Konsequenzen einer einzigen veränderten Tatsache auf Identität, Gesellschaft und die Rezeption einer historischen Figur zu beleuchten.
Erzählstränge und Figuren
Der Roman ist von mehreren, sich eng verflechtenden Erzählsträngen geprägt:
Der Lebensweg Nicolas’ (Arthur Rimbaud)
Dieser zentrale Strang folgt Rimbauds Genesung, seiner Flucht vor der öffentlichen Figur, seiner Umbenennung in Nicolas Cabanis und seinem Aufbau einer neuen Existenz als pragmatischer, erfolgreicher Industrieller und Familienvater. Sein Leben ist gekennzeichnet durch harte Arbeit, Geschäftssinn und den Wunsch nach einem bürgerlichen Leben. Er heiratet Marie, bekommt Kinder (Hortense und Justin) und entfremdet sich immer mehr von seiner poetischen Vergangenheit.
Isabelles Kampf um Rimbauds literarisches Erbe
Isabelle, Rimbauds Schwester, bildet den Gegenpol zu Nicolas‘ Wunsch nach Vergessenheit. Sie ist die treue Wächterin von Rimbauds Andenken und seiner „Wahrheit“. Sie korrespondiert mit Journalisten und Literaten wie Darzens und Pierquin, kämpft gegen „Lügen“ und „Verunreinigungen“ seiner Biografie und versucht, ein idealisiertes Bild ihres Bruders zu etablieren – oft im Widerspruch zu seiner tatsächlichen Persönlichkeit oder den skandalösen Aspekten seiner Jugend. Ihre Ehe mit Paterne Berrichon ist dabei funktional an die posthume Verehrung Rimbauds gekoppelt.
Die Konstruktion des Rimbaud-Mythos
Ein dritter Strang beleuchtet die literarische Rezeption Rimbauds in Europa. Namhafte Figuren wie Verlaine, Claudel, Gide, Suarès und Mirbeau kommentieren, interpretieren und veröffentlichen seine Werke. Dieser Strang offenbart, wie ein Mythos entsteht, oft basierend auf unvollständigen Informationen, Spekulationen oder bewussten Verfälschungen.
Figuren
Die funktionale Figurenkonstellation ist triadisch aufgebaut: Arthur/Nicolas als das lebende, sich wandelnde Subjekt, das seine Vergangenheit verdrängt; Isabelle als die (oft verklärte) Erinnerung und aktive Gestalterin des posthum Ruhmes; und Paterne Berrichon als der enthusiastische, aber auch manipulative Kultivierer des Rimbaud-Mythos. Figuren wie Marie (Nicolas‘ Frau) repräsentieren die neue, bürgerliche Existenz, während Djami (Rimbauds Diener in Afrika) eine tiefere, nicht-literarische Verbindung zu seiner afrikanischen Vergangenheit und einer verlorenen Welt darstellt. Die Familie Rimbaud (Mutter Vitalie, Bruder Frédéric) verkörpert eine pragmatische, oft harsche Realität, die Arthur einst verließ und die Isabelle später zu überwinden versucht.
Erzählhaltung, Kommunikationsformen und Stilistik
Die Erzählhaltung ist die eines auktorialen Erzählers, der jedoch oft die Grenzen zwischen objektiver Darstellung und kommentierender, bisweilen ironischer, manchmal lyrischer Reflexion aufhebt. Der Erzähler tritt explizit in Erscheinung, etwa durch Phrasen wie „Les poètes ne meurent jamais“, die als wiederkehrendes Leitmotiv die zentrale These des Romans – die Unsterblichkeit des Dichters, auch jenseits des physischen Todes – unterstreichen. Diese Erzählhaltung erlaubt eine kritische Distanz zur literarischen Kanonbildung, die oft auf spekulativen oder idealisierten Vorstellungen basiert.
Kommunikationsformen spielen eine entscheidende Rolle. Briefe sind das primäre Medium, das die Verbindung zwischen dem „toten“ und dem „lebenden“ Rimbaud (Isabelle und Nicolas) aufrechterhält und gleichzeitig die literarische Welt Rimbauds Schaffen verbreitet. Sie sind oft von Missverständnissen und Schweigen geprägt, da Nicolas sich weigert, seine poetische Vergangenheit zu thematisieren. Zeitungsartikel und Zeitschriften wie L’Écho de Paris, La Revue blanche oder der Mercure de France fungieren als Bühne für die öffentliche Auseinandersetzung mit Rimbauds Werk und Leben. Nicolas‘ Lektüre dieser Artikel ist oft von Wut und Ablehnung begleitet. Mündliche Kommunikation (Dialoge, Gerüchte) ergänzt das Bild, wird aber oft als unzuverlässig oder verfälschend dargestellt.
Die Prosa ist reich an sensorischen Details (Gerüche, Farben, körperliche Empfindungen), die die physische Realität von Nicolas‘ Leben hervorheben, etwa die „seltsame Schuppenhaut“ seiner Krankheit oder die Gerüche Afrikas. Die Sprache ist oft lyrisch und poetisch, selbst in der Beschreibung des Alltäglichen, was eine subtile Verbindung zu Rimbauds eigener Dichtung schafft. Kontrast und Paradoxa sind stilistische Grundelemente: das „reine“ Dichtergenie versus der „bürgerliche“ Unternehmer, der mythische Held versus der alternde Kranke. Die Verwendung von freien indirekten Reden lässt die Gedanken der Figuren nahtlos in die Erzählung übergehen und schafft eine tiefe Einblicke in ihre Gefühlswelten.
Rimbaud und Verlaine
Die Frage nach Rimbauds Homosexualität wird auf mehrere Arten thematisiert, oft implizit durch Andeutungen, Familienreaktionen und literarische Debatten, während Verlaine als zentrale Figur in Rimbauds frühem, poetischem Leben und seiner posthumem Rezeption dargestellt wird.
Vermeidung und Leugnung durch die Familie
Die Familie Rimbaud, insbesondere Isabelle und ihre Mutter Vitalie, wird als sehr konservativ und auf ihren Ruf bedacht dargestellt. Isabelle bemüht sich aktiv, ein „ideales“ Bild ihres Bruders zu zeichnen, das seine „Frasques“ und seine „Homosexualität“ (die als „Tabuthema“ für „enge Geister“ bezeichnet wird) ausschließt. Aussagen wie die von Suarès – „Diese Familie sagt niemals die Wahrheit“, „Die Familie Rimbaud pflegt die Lüge wie ein Gebet. Gebete aller Art. Lügen zu allen Themen“ – deuten auf eine bewusste Verschleierung hin. Isabelle selbst gibt zu, dass sie Arthur durch die Formulierung, er sei „in verbotene Sphären vorgedrungen“ und habe „die verbotene Frucht gegessen“, auf subtile Weise seine unkonventionelle Lebensweise angedeutet hat, jedoch immer mit dem Ziel, seine „Heiligkeit im Reinzustand“ zu verteidigen.
Literarische Debatten und Stereotypen
Die Debatte um Rimbauds Sexualität findet in literarischen Kreisen statt, oft mit abfälligen Bemerkungen. Edmond de Goncourt bezeichnet Rimbaud als „pédéraste assassin“. Catulle Mendès zweifelt an Rimbauds zukünftigem Ruhm und nennt ihn einen „Pétrus Borel naturaliste“, was eine Herabwürdigung seiner Person und seines Werks darstellt. Marcel Coulon lehnt die „Heiligsprechung“ Arthurs ab.
Paul Claudels Haltung
Claudel, der sich nach eigenen Angaben dem Katholizismus zuwandte, nachdem er Rimbauds Illuminations gelesen hatte, versuchte, Rimbaud als „Mystiker im wilden Zustand“ zu stilisieren. Er war entsetzt, als er von „der Homosexualität“ und „dem Geschmack an Luxus und Laster“ Rimbauds hörte und entsetzt feststellte, dass André Gide ein „Teilnehmer dieser abscheulichen Sitten“ war. Dies zeigt, wie die religiöse Interpretation Rimbauds eine Abgrenzung von seiner Homosexualität erforderte.
Rimbauds eigene Erinnerungen (Nicolas)
Der wiederauferstandene Rimbaud, Nicolas, erinnert sich an seine früheren Leidenschaften und sexuelle Begegnungen. Er beschreibt, wie er in seinem „früheren Leben“ die Liebe in all ihren Facetten erlebte, von „Mädchen mit riesigen Brüsten“ bis zu „Mädchen mit charmanten kleinen Manieren“. Er erwähnt „Sonnet du trou du cul und Kasernenlieder“ als Teil seines Liebeslebens, was explizit auf homosexuelle oder explizite Themen hinweist. Er beschreibt, wie seine früheren Körperpräferenzen „trockener, kantiger, schmalhüftiger, flachbrüstiger, körniger Haut und der Unentschiedenheit der Geschlechter“ entsprachen. Später, als Nicolas, reflektiert er über „flüchtige Fantasien“ von „weiblichen oder männlichen“ Körpern, was seine bisexuelle Anziehung andeutet. Er fasst zusammen: „Mann oder Frau, verschlungen, so nah, so wenige Unterschiede“.
Verlaine als der zentrale Begleiter und Liebhaber
Verlaine ist die wohl wichtigste Figur in Rimbauds frühem, poetischem und persönlichem Leben. Nicolas (Arthur) erinnert sich im Traum an ihre gemeinsame Zeit in London im Jahr 1872: „junge Körper. Körper an Körper. Wie die Liebe beschreiben?“ und „vier umschlungene Arme, vier verstrickte Beine, eine Nähe von Mündern, Atem, Geschlechtern, Fleisch an Fleisch“. Dies beschreibt eine tiefe, intime Verbindung.
Während Nicolas ihn in seinen Erinnerungen als „lustig, lächelnd wie ein Kind, mit einer schmeichelnden Sprache“ beschreibt, wird Verlaine in anderen Kontexten als „Faunenkopf“ und „Säufer“ bezeichnet. Edmond de Goncourt schmäht ihn als „pédéraste, Mörder, Feigling“. Gleichzeitig wird er in La Revue blanche als „heroisch“ für seine Verteidigung der Poesie dargestellt.
Verlaine ist maßgeblich dafür verantwortlich, Rimbauds Werk posthum zu publizieren und dessen Ruhm zu etablieren. Er verfasst das Vorwort zu Arthur Rimbauds Poésies complètes, in dem er Rimbaud als „jung gestorbenen Dichter“ und „jung gestorbenen Mann“ bezeichnet. Dies trägt maßgeblich zur Schaffung des „Mythos Rimbaud“ bei, auch wenn es eine bestimmte, oft „gesäuberte“ Version seiner Person festigt.
Isabelle, Rimbauds Schwester, hat Berührungspunkte mit Verlaines literarischem Kreis, insbesondere durch Paterne, der versucht, Verlaines Zustimmung für die Veröffentlichung von Rimbauds Werken zu erhalten. Verlaine reagiert jedoch spöttisch auf „Mademoiselle Isabelle“.
Verlaines Tod und Rimbauds Reaktion
Nicolas (Arthur) erfährt vom Tod Verlaines durch die Presse. Dieser Tod löst bei ihm tiefe Gefühle aus: er weint allein und reflektiert über die komplexe Beziehung von „Liebe und Hass“ und eine „Leidenschaft, die nur noch eine peinliche Erinnerung ist“. Er erinnert sich sogar an Arthurs Liebeserklärungen an Verlaine vor Eine Saison in der Hölle: „Aber ich liebe dich, ich umarme dich und wir werden uns wiedersehen„.
Trotz ihrer tiefen Verbindung empfindet Nicolas (Arthur) Verlaines „Verrat“ nach dem „Schuss von Brüssel“ als prägend, obwohl er diesen Vorfall selbst als „so wenig wichtig“ abtut. Er kritisiert die „alten Geschichten,“ die über ihn verbreitet werden, da sie seine „fünfzehn Jahre“ in Afrika auslöschen und die „Machenschaften der engstirnigen Buchstaben“ sind.
Dimensionen der Intertextualität und Rimbauds Dichtung
Der Roman ist stark intertextuell konzipiert, indem er sich kontinuierlich auf Rimbauds Leben und Werk sowie auf dessen Rezeption bezieht. Direkte Zitate und Anspielungen auf Rimbauds Gedichte sind zahlreich und fungieren oft als „Einschläge“ in Nicolas‘ Bewusstsein oder als Kommentare des Erzählers. Beispiele sind: „Je est un autre“ etwa, dieses Zitat aus Rimbauds „Lettre du voyant“ wird zum zentralen Motiv der gespaltenen Identität von Arthur/Nicolas.
„Une saison en enfer“: Dieses Werk wird wiederholt erwähnt, als der Höhepunkt seines poetischen Schaffens und als Spiegel seines inneren Kampfes. Isabelle glaubt, Arthur habe die Exemplare verbrannt. „Illuminations“: Nicolas erinnert sich an sie, oft wenn er visuelle oder sensorische Eindrücke verarbeitet.
„Ma bohème“ und „Les Pauvres à l’église“ sind Beispiele für die Gedichte seiner Jugend, die in der Rezeption eine Rolle spielen. „Le Bateau ivre“ wird als visionäres Werk hervorgehoben und dient Nicolas später als Referenzpunkt für seine eigenen Erfahrungen. „Les Chercheuses de poux“ ist ein Gedicht, das Nicolas in einem Moment der Wieder-Verbindung mit seiner poetischen Seite in den Sinn kommt.
„Au Cabaret-Vert, je demandai des tartines“: Diese Zeile ist direkt mit Nicolas‘ Rückkehr nach Charleroi verbunden und löst eine starke Erinnerung aus.
„Elle est retrouvée / Quoi ? – L’éternité / C’est la mer allée / Avec le soleil“: Diese Verse, oft assoziiert mit spiritueller Erkenntnis, tauchen in Momenten von Nicolas‘ innerer Klarheit auf.
„Seigneur, quand froide est la prairie“ und „une cathédrale qui descend et un lac qui monte“ sind Zitate, die im Roman zeigen, wie alltägliche Beobachtungen Nicolas‘ poetisches Gedächtnis aktivieren.
„Vous êtes de faux nègres, vous maniaques, féroces, avares. Marchand, tu es nègre ; magistrat, tu es nègre ; général, tu es nègre ; empereur, vieille démangeaison, tu es nègre.“: Ein Zitat aus Rimbauds Werk, das Nicolas bei der Lektüre eines Artikels über Kaiser Menelik erkennt und kommentiert.
Unter den Referenzen zu literarischen Persönlichkeiten und Kritikern seien hier erwähnt: Verlaine, Darzens, Pierquin, Paterne Berrichon, Paul Claudel, André Suarès, Paul Léautaud und andere literarische Größen des Fin de Siècle. Sie alle tragen zur Komplexität des Rimbaud-Bildes bei und zeigen die vielfältigen, oft widersprüchlichen Interpretationen seines Lebens und Werkes. Die kritischen Kommentare von André Suarès über die „Lügen“ und die „schreckliche Familie“ Rimbauds dienen als Meta-Ebene, die die Konstruktion des Mythos hinterfragt.
Rimbaudbild der Fiktion
Der Roman erzeugt ein Rimbaudbild, das radikal von der gängigen „poète maudit“-Ikone abweicht, sie aber gleichzeitig in ihre menschliche Dimension zurückführt: Anstelle des mystischen, unergründlichen Genies tritt ein fleißiger, zäher Geschäftsmann, der in Afrika und später in den Ardennen ein erfolgreiches Unternehmen aufbaut. Er ist ein Mann der Aktion und des Überlebenskampfes, der sich den Gegebenheiten anpasst. Der Roman zeigt Rimbaud nicht als ewig jungen Poeten, sondern als einen Mann, der altert, Schicksalsschläge (Tod der Frau, Krieg) erlebt und gesundheitliche Probleme hat. Er ist von einem „unversöhnlichen Zorn“ (Bile) erfüllt, eine Facette, die ihn authentischer und weniger idealisiert erscheinen lässt.
Auch wenn er die Poesie ablehnt, bleibt Rimbaud/Nicolas ein Suchender nach Sinn und Wahrheit. Diese Suche manifestiert sich nicht mehr in Versen, sondern in der Gestaltung seines Lebens, seiner Familie und seiner Arbeit. Das Motto „posséder la vérité dans une âme et dans un corps“ am Ende der Saison en enfer wird zu seinem Lebensziel, das er in einer physischen, greifbaren Existenz zu verwirklichen versucht.
Das poetische Talent erscheint nicht nur als Gabe, sondern auch als Bürde, die Nicolas loszuwerden versucht. Seine „Wort-Halluzinationen“ sind Zeugnis einer inneren Qual, die er durch ein Leben der Aktion zu überwinden sucht. Das „Ich ist ein anderer“ wird als gelebte Realität erzählt: Die Spaltung in Arthur und Nicolas ist mehr als ein literarisches Spiel; sie ist die gelebte Erfahrung eines Mannes, der seine frühere Identität aktiv ablegt, um eine neue zu schaffen.
Bezüge des überlebenden Rimbaud zu seiner Rezeption
Nicolas‘ Reaktion auf seine posthum erlangte Berühmtheit ist vielschichtig: Anfänglich ignoriert Nicolas die literarische Welt und empfindet Wut und Verachtung für die, die seine Jugendgedichte oder persönlichen Details veröffentlichen. Er sieht dies als „Stupidité“ und „Manigancen“. Er hat seine literarische Vergangenheit als „sinnlose Ausbrüche von falsch angeordneten Worten“ verurteilt. Er distanziert sich von der romantisierten Figur des „poète maudit“ und betont sein Leben der Taten und des Handels. Für ihn ist das Geschäftliche seine neue Form des Schaffens.
Obwohl er die literarische Welt ablehnt, tauchen Gedichtzeilen unwillkürlich in seinen Gedanken auf, manchmal als „Halluzinationen von Worten“, die ihn verstören. Diese Reminiszenzen zeigen, dass sein poetisches Genie tief in ihm verwurzelt ist, auch wenn er es aktiv unterdrückt. Die Begegnung mit dem Kellner in Mons, der Verlaine ähnelt, ruft die Erinnerungen an seine Jugend wieder wach.
Erst am Ende seines Lebens, als er nach Afrika zurückkehrt, akzeptiert Nicolas, dass Arthur ein Teil von ihm ist. Er legt seine Tarnung ab und identifiziert sich offen als Rimbaud. Dies ist jedoch keine Rückkehr zur Dichtung, sondern eine Versöhnung mit seiner gesamten, komplexen Identität.
Zum Romanende
Der Roman schließt mit Nicolas‘ Rückkehr nach Afrika im Jahr 1921. Diese letzte Reise ist vielschichtig interpretierbar, u.a. als Rückkehr zu den Wurzeln des „anderen“ Ichs: Er kehrt an den Ort seiner „wahren“ Existenz als Kaufmann zurück, weg von der europäischen literarischen Vereinnahmung. Es ist eine Flucht vor dem Rummel um den „toten“ Rimbaud und ein Bekenntnis zu dem Leben, das er sich selbst gewählt hat.
In Harar gibt Nicolas zum ersten Mal öffentlich zu, Arthur Rimbaud zu sein. Dies markiert eine endgültige Versöhnung seiner beiden Identitäten. Er muss sich nicht länger verstecken; er akzeptiert seine gesamte, widersprüchliche Vergangenheit. Dieser Moment wird als Akt der Freiheit und des inneren Friedens dargestellt.
Ein deutscher Konsul macht ein Foto von Nicolas/Rimbaud, das möglicherweise das einzige Bild des „wiederauferstandenen“ Dichters ist. Die Ungewissheit über den Verbleib dieses Fotos und die tragische Geschichte des Fotografen unterstreichen die Fragilität der historischen Wahrheit und die Ironie, dass die „reale“ Existenz des Dichters letztlich im Verborgenen bleibt, während der Mythos blüht.
Seine letzten Schriften im Krankenhaus, die er auf Schmierpapier kritzelte, werden von der Putzfrau als wertlos erachtet und verbrannt oder verloren. Dies symbolisiert Nicolas‘ endgültigen Abschied von der Literatur im konventionellen Sinne. Sein Schweigen nach der Rückkehr aus Afrika ist nicht mehr das Schweigen eines verbitterten Dichters, sondern das Schweigen eines Mannes, der seine Wahrheit im gelebten Leben gefunden hat und keine Worte mehr dafür braucht.
„Alchemie des Wortes“ als „Alchemie des Lebens“
Mit der Lektüre des Buches erhält Rimbauds historischer Abschied von der Literatur eine neue mögliche Bedeutung: Sein Schweigen wird nicht als tragisches Versiegen des Genies oder als Folge der Desillusionierung, sondern als bewusste, rationale Entscheidung eines Mannes interpretiert, der die Literatur für eine andere, als wahrer empfundene Lebensform aufgibt. Die Poesie war für ihn eine „Verrücktheit der Jugend“, die er hinter sich lassen wollte.
Rimbauds poetisches Konzept der „Alchimie du verbe“ wird in der Erzählung auf das Leben selbst übertragen. Nicolas betreibt eine „Alchemie des Lebens“, in der er materielle Werte schafft, eine Familie gründet und sein Dasein aktiv gestaltet. Dies ist seine neue Form der „Wahrheit“. Für Nicolas bedeutet der Abschied von der Literatur Befreiung von den Zwängen des Künstlerdaseins und den Erwartungen der literarischen Welt. Er entzieht sich der Rolle des „poète maudit“, die ihn einengt und seine wahre Persönlichkeit verzerrt.
Das Buch legt offen, wie der literarische Kanon eine Figur wie Rimbaud im Sinne seiner eigenen Narrative umformt. Rimbauds „Schweigen“ wird nicht respektiert, sondern von Biografen und Verehrern mit Bedeutung überfrachtet, was Nicolas als Verrat empfindet. Indem seine „echten“ letzten Schriften verbrannt werden, wird sein absoluter Abschied von der Literatur besiegelt, abseits des posthumen Mythos.
Insgesamt bietet der Roman eine Interpretation Rimbauds, die über die konventionelle Darstellung des Dichters hinausgeht. Er stellt die Frage nach der Authentizität eines Künstlerlebens im Kontext seiner Rezeption und der Möglichkeit, sich von einem einmal geschaffenen öffentlichen Image zu lösen. Rimbauds Schweigen wird hier nicht als Ende, sondern als Beginn einer anderen, vielleicht wahreren Existenz gelesen – einer Existenz, die sich jenseits der Worte manifestiert.
Anmerkungen- „Je ne puis aller en Europe, d’abord, je mourrais en hiver“>>>