Inhalt
Bertrand Leclairs Buch Transformations ist eine grundlegende Auseinandersetzung mit Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung, die durch die persönlichen Erfahrungen des Autors mit der psychischen Krise seiner Tochter R. und dem Umgang seiner Familie damit gefiltert wird. Leclair verschmilzt autobiografische Reflexionen mit literaturwissenschaftlicher Analyse und bietet eine vielschichtige Interpretation von Kafkas Werk und seiner Relevanz für das Verständnis familiärer Dynamiken.
Leclair weist darauf hin, dass Kafka sein Werk bewusst Die Verwandlung und nicht Die Metamorphose nannte, im Gegensatz zu vielen Übersetzungen. Der Begriff „Verwandlung“ ist offener und realistischer und kann sich auf die physische wie auch auf die psychische und räumliche Transformation beziehen, die die Familie und ihre Umgebung durchmachen, während „Metamorphose“ oft eine rein körperliche Veränderung impliziert. Leclairs Begriff „Transformation“ betont stärker den prozesshaften, oft bewussten oder strukturellen Wandel eines Zustands, häufig in sozialen oder psychologischen Kontexten, während Verwandlung und Metamorphose eher eine plötzliche oder mythisch aufgeladene Veränderung bezeichnen. Transformation kann technische, soziale oder psychologische Kontexte umfassen, während Metamorphose oft naturhaft oder poetisch verstanden wird.
Zur Interpretation seien zunächst drei Thesen vorgeschlagen:
Die „zuckersüße Lethargie der Familien“ als Verschleierungsmechanismus
Leclair argumentiert, dass Familien, einschließlich der Samsas in Kafkas Erzählung und seiner eigenen, oft eine Art „zuckersüßer Lethargie“ kultivieren, die es ihnen ermöglicht, unangenehme Wahrheiten, ungelöste Konflikte und tiefliegende Traumata zu ignorieren und zu unterdrücken. Diese Lethargie führt letztlich zur Verdrängung und zur Exklusion desjenigen, der die zugrunde liegenden Probleme sichtbar macht.
Die Metamorphose als Auslöser radikaler familiärer Transformation
Kafkas Verwandlung behandelt nicht primär Gregor Samsas physische Transformation in ein Ungeziefer, sondern vielmehr die daraus resultierende, unerbittliche Kette von psychologischen und sozialen „Transformationen“ innerhalb der Familie und ihres Lebensraums. Diese Veränderungen legen verborgene Dynamiken und die wahre Natur der familiären Beziehungen offen.
Delirium als Flucht vor unerträglicher Realität
Leclair deutet psychische Krisen und Delirien nicht ausschließlich als pathologischen Zustand, sondern auch als eine oft befreiende, wenn auch chaotische, „Rekonstruktion“ der Welt durch den Betroffenen, eine Linie der Flucht vor einer unerträglichen Realität und eine Quelle tiefer, manchmal schmerzhafter, Wahrheit und Erkenntnis.
Transformations als Familienroman
Bertrand Leclairs Transformations verknüpft eine persönliche Erzählung mit einer tiefgehenden literarischen Analyse. Der Autor berichtet, wie eine erneute Lektüre von Kafkas Verwandlung eine unerwartete, fast halluzinatorische Erfahrung auslöst, die ihn vier Jahre zurück in die psychische Krise seiner Tochter R. katapultiert. Diese „Vision“ einer „viel zu weißen und seltsam tanzenden Tür“ zu R.s Zimmer wird zum Epizentrum seiner Reflexion.
Das Buch ist im Wesentlichen ein autobiografisch inspirierter Essay, der sich um die Figur des Erzählers (Leclair selbst) und seiner Tochter R. dreht, die mit psychischen Problemen und Delirien zu kämpfen hat. Die Handlung wechselt ständig zwischen der Erinnerung an die Krisen seiner Tochter – insbesondere zwei Episoden im Sommer 2019 und Frühling 2020 während des Lockdowns – und seiner gegenwärtigen Auseinandersetzung mit Kafkas Text. Leclair beschreibt detailliert die Ohnmacht, Angst und Schuldgefühle, die er als Vater angesichts der Krankheit seiner Tochter empfindet, sowie die Schwierigkeit, die „Tür“ zu ihrer inneren Welt zu öffnen oder zu schließen.
Parallel dazu analysiert Leclair Die Verwandlung neu. Er liest sie nicht mehr als Geschichte eines Individuums, das sich in ein Insekt verwandelt, sondern als eine Parabel über die Transformation der gesamten Familie Samsa, die durch Gregors Zustand gezwungen ist, ihre verborgenen Dynamiken – finanzielle Abhängigkeit, Ignoranz, Egoismus, soziale Konformität und schließlich die brutale Ausgrenzung – offenzulegen. Er betont, dass die eigentliche „Transformation“ im Blick der anderen liegt und wie dieser Blick zur Ausgrenzung führt.
Leclair reflektiert über die Natur des Deliriums, nicht nur als Krankheit, sondern als einen Versuch der Rekonstruktion und als Ausdruck einer tiefen, oft unerträglichen Wahrheit. Er zieht Parallelen zwischen Gregors und R.s Erfahrungen, insbesondere in Bezug auf Isolation, das Erleben einer „anderen“ Realität und die Schwierigkeit, von der Familie verstanden zu werden. Das Buch beleuchtet auch die Rolle der Familie und der Gesellschaft im Umgang mit Andersartigkeit und psychischen Erkrankungen, wobei Leclair die institutionelle Psychiatrie kritisiert.
Der Text ist selbst ein Akt des „Wiederaufbaus“, indem Leclair versucht, die chaotischen Erinnerungen und Erkenntnisse zu ordnen und ihnen durch das Schreiben einen Sinn zu geben. Das Buch ist eine Einladung, die „Lethargie“ zu durchbrechen und sich den unbequemen Wahrheiten des eigenen Lebens und der familiären Beziehungen zu stellen. Es endet mit einer hoffnungsvollen Note, da R. den Text des Vaters liest und autorisiert, was eine Form der Heilung und Verständigung innerhalb der Familie symbolisiert.
1. Die „zuckersüße Lethargie der Familien“ als Verschleierungsmechanismus
Leclair legt dar, wie Familien, sowohl in der Fiktion als auch in der Realität, eine subtile Form der Lethargie pflegen, die es ihnen ermöglicht, tief verwurzelte Probleme und unbequeme Wahrheiten zu ignorieren. Dies führt zu einer oberflächlichen Ruhe, unter der sich jedoch Spannungen aufbauen, die sich letztendlich in Krisen entladen.
Ce n’est en effet qu’un peu plus tard, ce soir-là, qu’a émergé de votre confusion la métaphore de l’arc électrique déchirant la ouate de la routine pour y dévoiler un bref instant les arcanes de ce que vous appelez désormais la doucereuse léthargie des familles : celle-là même qui, de fait, imprègne par toutes ses fibres la trame de La Métamorphose, dont l’économie narrative entremêle au secret des affects familiaux les plus archaïques un fatras de questions d’argent aussi déterminantes qu’elles se révéleront fallacieuses sinon mensongères ; cette doucereuse léthargie des familles, aussi bien, sous laquelle, pendant des mois, des années sans doute, ont couvé les crises à venir de votre fille, R., sans que vous n’en preniez jamais conscience malgré les signes annonciateurs, rétrospectivement si nombreux ; cette même doucereuse léthargie, enfin, qui avait depuis et quoique vous en vouliez repris ses droits dans l’appartement familial, estompant peu à peu de ses émanations soporifiques le souvenir des deux crises successives de votre fille…
Bertrand Leclair, Transformations, Actes Sud, 2025.
Erst etwas später an diesem Abend tauchte aus Ihrer Verwirrung die Metapher des Lichtbogens auf, der die Watte der Routine zerreißt und für einen kurzen Moment die Geheimnisse dessen enthüllt, was Sie nun als die süße Lethargie der Familien bezeichnen: genau das, was mit jeder Faser das Gefüge von Die Verwandlung durchdringt, dessen Erzählstruktur die geheimsten familiären Gefühle mit einem Wirrwarr von Geldfragen vermischt, die ebenso entscheidend wie trügerisch, wenn nicht gar verlogen sind; diese süßliche Lethargie der Familien, unter der monatelang, wahrscheinlich jahrelang, die kommenden Krisen Ihrer Tochter R. brodelten, ohne dass Sie sich dessen trotz der im Nachhinein so zahlreichen Vorzeichen jemals bewusst wurden; diese gleiche sanfte Lethargie schließlich, die seitdem und trotz Ihrer Bemühungen wieder Einzug in die Familienwohnung gehalten hatte und mit ihrer einschläfernden Wirkung nach und nach die Erinnerung an die beiden aufeinanderfolgenden Krisen Ihrer Tochter verblassen ließ…
Leclair prägt den Begriff der „douceuse léthargie des familles“ (zuckersüßen Lethargie der Familien), um einen Zustand kollektiver Selbsttäuschung zu beschreiben. Diese Lethargie ist ein schützendes Gewebe der Routine und des Schweigens, das familiäre Konflikte, wie sie in Kafkas Verwandlung thematisiert werden (z. B. finanzielle Probleme und archaische Affekte), unter der Oberfläche brodeln lässt. Er stellt eine direkte Parallele zu den unbemerkten Anzeichen der psychischen Krisen seiner eigenen Tochter her, die sich unter dieser trügerischen Ruhe über Jahre hinweg entwickelten. Die Lethargie verhindert die frühzeitige Konfrontation mit Problemen und lässt sie bis zum explosiven Ausbruch schwelen.
L’oubli qu’organise la léthargie n’est pas tant un oubli du passé qu’un oubli qui se joue au présent le plus présent, celui qui nous file entre les phrases comme l’eau entre les doigts, jusqu’à ce que mort s’ensuive : un oubli comparable à celui qui se produit au moment où vous oubliez vos clés, ignorant que vous les oubliez pour n’en prendre conscience qu’au moment d’en avoir besoin – c’est-à-dire toujours déjà trop tard, comme à l’instant de la mort, peut-être, lorsque toute la vie passée qui défile, selon la légende populaire, n’accumule sans doute pas les images des réussites sociales ou des blâmes moralistes, mais tout autre chose, qui jamais ne figurera dans aucune nécrologie.
Bertrand Leclair, Transformations, Actes Sud, 2025.
Das durch Lethargie organisierte Vergessen ist weniger ein Vergessen der Vergangenheit als vielmehr ein Vergessen, das sich in der gegenwärtigsten Gegenwart abspielt, das uns zwischen den Sätzen wie Wasser zwischen den Fingern entgleitet, bis der Tod eintritt: ein Vergessen, vergleichbar mit dem, das eintritt, wenn man seine Schlüssel vergisst, ohne zu wissen, dass man sie vergessen hat, und es erst bemerkt, wenn man sie braucht – also immer schon zu spät, wie vielleicht im Moment des Todes, wenn das ganze vergangene Leben vorbeizieht und sich, der Volksweisheit zufolge, nicht aus Bildern sozialer Erfolge oder moralischer Vorwürfe zusammensetzt, sondern aus etwas ganz anderem, das niemals in einem Nachruf stehen wird.
Leclair vertieft die Idee der Lethargie als einen gegenwärtigen „Akt des Vergessens“, der nicht nur die Vergangenheit ausblendet, sondern auch die unmittelbare Realität verzerrt. Dieses Vergessen ist kein passiver Zustand, sondern ein aktiver Mechanismus, der es ermöglicht, die „tragischen“ Aspekte des Lebens auszublenden und sich an der Oberfläche zu halten. Das Zitat vergleicht es mit dem Vergessen von Schlüsseln, einem allzu menschlichen Versäumnis, das jedoch auf eine tiefere Weigerung hindeutet, sich mit den unbequemen Aspekten des Daseins auseinanderzusetzen, bis es unausweichlich wird. Die Lethargie schützt so vor der Angst vor dem Tod, indem sie die Realität des Lebens selbst in eine oberflächliche, konsumorientierte Existenz verwandelt.
2. Die Metamorphose als Auslöser radikaler familiärer Transformation
Leclair argumentiert, dass die anfängliche, fantastische Transformation Gregors in „Die Verwandlung“ lediglich der Katalysator für eine tiefgreifende und realistische Metamorphose der gesamten Familie Samsa ist. Diese kollektive Transformation ist die eigentliche „Lektion“ des Textes.
Le fait est : d’une lecture à l’autre et à plusieurs décennies de distance, vous avez basculé d’un côté l’autre des portes de la chambre de Gregor, entraînant l’action principale avec vous. Dès lors, la leçon centrale du récit ne vous semblait plus porter sur la transformation physique de Gregor, transformation qui a déjà eu lieu lorsque s’écrit la première phrase, mais sur le cycle infernal des transformations qui en découlent autour de lui, entraînant la profonde modification de tout ce que côtoie Gregor, à commencer par ses parents et plus encore sa sœur, tous dévoilant à leur corps défendant une vérité jusqu’alors si profondément enfouie qu’eux-mêmes en ignoraient tout.
Bertrand Leclair, Transformations, Actes Sud, 2025.
Tatsache ist: Von einer Lektüre zur nächsten und im Abstand von mehreren Jahrzehnten haben Sie die Türen zu Gregors Zimmer auf der einen oder anderen Seite geöffnet und die Haupthandlung mit sich genommen. Von diesem Moment an schien Ihnen die zentrale Lehre der Erzählung nicht mehr in der physischen Verwandlung Gregors zu liegen, die bereits beim Schreiben des ersten Satzes stattgefunden hat, sondern auf den Teufelskreis der Verwandlungen, die sich um ihn herum vollziehen und eine tiefgreifende Veränderung von allem mit sich bringen, was Gregor umgibt, angefangen bei seinen Eltern und noch mehr bei seiner Schwester, die alle wider Willen eine Wahrheit offenbaren, die bis dahin so tief verborgen war, dass sie selbst nichts davon wussten.
Hier formuliert Leclair explizit seine zentrale Neuinterpretation: Die physische Verwandlung Gregors ist nur der Ausgangspunkt. Die eigentliche Erzählung entfaltet die weitreichenden und oft grausamen „Transformationen“ der Familie um Gregor herum. Durch Gregors Andersartigkeit werden die wahren Charaktere und verborgenen Wahrheiten seiner Eltern und insbesondere seiner Schwester Grete offenbart, die sich von einer fürsorglichen Vertrauten zu einer grausamen Anklägerin wandelt. Die äußere Absurdität der Verwandlung dient dazu, die innere, psychologische Realität der Familie bloßzulegen.
En réalité, c’est l’ensemble de l’appartement qui se métamorphose, subissant au long des trois parties du récit plusieurs révolutions dont la chambre de Gregor est toujours l’épicentre. D’abord méticuleusement vidée de son contenu humain pour être transformée en sorte de cage géante sur l’injonction de Grete, cette chambre va devenir dans un deuxième temps, à la manière d’une cave ou d’un grenier, le débarras hétéroclite où amasser les meubles et un fatras d’objets plus ou moins rebutants qui ont été retirés du reste de l’appartement quand la nécessité économique a contraint d’y faire de la place : c’est qu’il en fallait, pour accueillir trois messieurs barbus en guise de pensionnaires grotesques…
Bertrand Leclair, Transformations, Actes Sud, 2025.
Tatsächlich verwandelt sich die gesamte Wohnung und durchläuft im Laufe der drei Teile der Erzählung mehrere Umwälzungen, deren Epizentrum stets Gregors Zimmer ist. Zunächst wird sie auf Grete’s Geheiß hin akribisch von allen menschlichen Gegenständen geräumt und in eine Art riesigen Käfig verwandelt, um dann in einem zweiten Schritt, ähnlich einem Keller oder Dachboden, einem bunten Abstellraum, in dem Möbel und ein Durcheinander von mehr oder weniger abstoßenden Gegenständen angehäuft werden, die aus dem Rest der Wohnung entfernt wurden, als die wirtschaftliche Notlage Platz schaffen musste: Denn dieser wurde benötigt, um drei bärtige Herren als groteske Untermieter aufzunehmen…
Leclair unterstreicht die Idee, dass die Transformation über Gregor hinausgeht und den gesamten Raum der Familie, die Wohnung, erfasst. Gregors Zimmer wird zum „riesigen Käfig“ und später zum „Abstellraum“, was die schwindende Menschlichkeit und den zunehmenden Nutzdenken der Familie Samsa widerspiegelt. Die Einführung der skurrilen Untermieter verdeutlicht die ökonomische Notwendigkeit, die die Familie zu ihren Handlungen antreibt, und verstärkt das groteske Bild ihrer Anpassung an die neue Realität, die letztlich Gregors Marginalisierung und Tod besiegelt. Es ist ein „Walzer der Transformationen“, der die gesamte familiäre Struktur erfasst und neu definiert.
3. Delirium als Flucht vor unerträglicher Realität
Leclair deutet psychische Krisen als einen Versuch des Individuums, eine unerträgliche Realität zu verarbeiten und neu zu gestalten, und betont dabei die subjektive, oft befreiende Dimension des Deliriums.
Vous laissez vos propres pensées dériver à leur tour sur ce monde qui va mal, ayant appris d’expérience que le délire est toujours une ligne de fuite, une échappée hors d’une réalité insoutenable, dès lors que cette réalité n’est plus perçue qu’à la façon d’une suite d’entraves, d’interdits et d’obligations de paraître ce que l’on ne parvient plus à être – sans ignorer que la fuite comme l’échappée désigne nécessairement un dedans et un dehors, et qu’il est bien difficile de dire, ici, si la fuite ressemble à celle du lièvre échappant du dehors à la meute ou à celle de la vapeur échappant du dedans à la bouilloire, puisque l’individu délirant échappe du même mouvement à ce qui le persécute dans la réalité et à ce que l’on nomme communément la raison, constitutive de la doxa, le lieu du commun : leur échappe au risque d’en devenir aussitôt aliéné.
Bertrand Leclair, Transformations, Actes Sud, 2025.
Sie lassen Ihre eigenen Gedanken über diese Welt, die aus den Fugen geraten ist, schweifen, da Sie aus Erfahrung gelernt haben, dass Wahnsinn immer eine Fluchtlinie ist, ein Ausweg aus einer unerträglichen Realität, sobald diese Realität nur noch als eine Abfolge von Hindernissen, Verboten und Verpflichtungen wahrgenommen wird, so zu sein, wie man nicht mehr sein kann – ohne zu vergessen, dass die Flucht wie die Flucht aus einer Situation notwendigerweise ein Innen und ein Außen bezeichnet und dass es sehr schwer zu sagen ist, ob die Flucht hier der eines Hasen gleicht, der von außen vor der Meute flieht, oder der von Dampf, der von innen aus dem Wasserkocher entweicht, da der wahnsinnige Mensch mit derselben Bewegung sowohl dem entflieht, was ihn in der Realität verfolgt, als auch dem, was man gemeinhin als Vernunft bezeichnet, die die Doxa ausmacht, dem Ort des Gemeinplatzes: Sie entflieht ihnen auf die Gefahr hin, sofort entfremdet zu werden.
Leclair versteht Delirium als einen „Fluchtweg“ aus einer als unerträglich empfundenen Realität. Es ist eine Abkehr von gesellschaftlichen Normen und Erwartungen („obligations de paraître ce que l’on ne parvient plus à être“). Diese Flucht kann sowohl eine Befreiung von äußeren Zwängen als auch von der „Vernunft“ sein. Der Vergleich mit dem entweichenden Hasen oder dem Dampf verdeutlicht die Ambiguität dieser Flucht: Sie ist sowohl ein Entkommen als auch ein Verlust der Kontrolle, der zur Entfremdung führen kann. Für den Betroffenen ist das Delirium jedoch zunächst ein Ventil für angestaute psychische Leiden.
Car cet état où un match peut subitement prendre une importance déterminante pour la vie même parce qu’il en révélerait les arcanes secrets ou les enjeux vitaux, vous le reconnaissiez, écoutant votre fille en dévider l’histoire perpétuelle. Vous le reconnaissiez de l’avoir connu à un degré heureusement plus modeste, une fois au moins en votre vie, et cette fois encore c’était une histoire d’enfermement avant d’être une histoire de toute-puissance : puisque vous vous souvenez parfaitement d’un combat du même ordre que vous aviez livré au même âge ou quelques années plus jeune, ce jour où vous aviez mis en jeu rien de moins que votre libération à l’occasion d’une finale de Roland-Garros dont vous aviez été exceptionnellement autorisé à suivre la retransmission en direct dans la petite salle de télévision de la maison d’arrêt de Béthune, où vous étiez en détention provisoire…
Bertrand Leclair, Transformations, Actes Sud, 2025.
Denn diesen Zustand, in dem ein Spiel plötzlich eine entscheidende Bedeutung für das Leben selbst annehmen kann, weil es dessen geheime Geheimnisse oder lebenswichtige Herausforderungen offenbart, kannten Sie, als Sie Ihrer Tochter zuhörten, wie sie die immer gleiche Geschichte erzählte. Sie erkannten dies, weil Sie es glücklicherweise in einem geringeren Ausmaß mindestens einmal in Ihrem Leben erlebt hatten, und auch damals handelte es sich eher um eine Geschichte der Gefangenschaft als um eine Geschichte der Allmacht: Denn Sie erinnern sich noch genau an einen ähnlichen Kampf, den Sie im gleichen Alter oder einige Jahre jünger geführt hatten, an diesem Tag, an dem Sie nichts Geringeres als Ihre Freilassung aufs Spiel gesetzt hatten, anlässlich eines Finales der French Open, das Sie ausnahmsweise live im kleinen Fernsehraum des Gefängnisses von Béthune verfolgen durften, wo Sie in Untersuchungshaft saßen…
Leclair illustriert die „rekonstruktive“ Natur des Deliriums anhand seiner eigenen Erfahrung der „Allmacht“ während einer Inhaftierung. Er beschreibt, wie er in dieser extremen Situation einem Tennismatch eine lebensentscheidende Bedeutung zuschrieb, in der Hoffnung, dass dessen Ausgang seine Freilassung beeinflussen würde. Dies zeigt, wie das menschliche Denken unter extremem Druck eine alternative Realität schafft, um mit unerträglichen Umständen umzugehen. Er zieht eine direkte Parallele zur Erfahrung seiner Tochter, die in ihrem Delirium ebenfalls eine „Wirklichkeit“ konstruiert, die für sie sinnstiftend ist. Das Delirium wird somit als eine intensive Form der inneren Arbeit zur Bewältigung von Not und Isolation dargestellt.
Kafka-Bezüge
Gregors Verwandlung und die Reaktion der Familie
„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“. Dies ist der berühmte erste Satz, der die physische Transformation Gregors etabliert. Leclairs Buch ist durch und durch von Franz Kafkas „Die Verwandlung“ durchdrungen, wobei er sowohl inhaltliche Parallelen als auch strukturelle und thematische Bezüge herstellt, die seine Neuinterpretation des Werkes stützen.
Dès lors, la leçon centrale du récit ne vous semblait plus porter sur la transformation physique de Gregor, transformation qui a déjà eu lieu lorsque s’écrit la première phrase, mais sur le cycle infernal des transformations qui en découlent autour de lui, entraînant la profonde modification de tout ce que côtoie Gregor, à commencer par ses parents et plus encore sa sœur, tous dévoilant à leur corps défendant une vérité jusqu’alors si profondément enfouie qu’eux-mêmes en ignoraient tout.
Bertrand Leclair, Transformations, Actes Sud, 2025.
Von diesem Moment an schien Ihnen die zentrale Botschaft der Erzählung nicht mehr in der physischen Verwandlung Gregors zu liegen, die bereits stattgefunden hat, als der erste Satz geschrieben wurde, sondern auf den Teufelskreis der Verwandlungen, die sich um ihn herum vollziehen und eine tiefgreifende Veränderung von allem mit sich bringen, was Gregor umgibt, angefangen bei seinen Eltern und noch mehr bei seiner Schwester, die alle wider Willen eine Wahrheit offenbaren, die bis dahin so tief verborgen war, dass sie selbst nichts davon wussten.
Leclair verlagert den Fokus von Gregors isoliertem Schicksal auf die Folgeerscheinungen seiner Verwandlung innerhalb des Familiensystems. Während Kafka die Verwandlung als Faktum präsentiert, sieht Leclair darin den Katalysator, der die bereits vorhandenen, aber unterdrückten Probleme und Charaktereigenschaften der Familie Samsa ans Licht bringt und eine Kaskade von „Transformationen“ in Gang setzt, die letztendlich zur physischen und psychologischen Umgestaltung der gesamten Familie führt.
Die Natur des „Ungeziefers“ und Kafkas Anweisungen zur Darstellung
Kafka benennt die genaue Art des Insekts nicht explizit. Im Text selbst werden Merkmale wie „panzerartig harten Rücken“, „gewölbter, brauner Bauch“, „viele, kläglich dünne Beine“ und später der Begriff „Mistkäfer“ verwendet. Wichtig ist auch der Hinweis, dass Kafka die Illustration des Insekts auf dem Bucheinband ablehnte, da es nicht „einmal von weitem gezeigt werden kann“.
C’est uniquement parce que la métamorphose de Gregor est une fantasmagorie au plus noir qu’on puisse imaginer, ou au plus ‚dégoûtant’… que le récit peut éclairer si puissamment les structures familiales qui auront conditionné, chez les Samsa, une mécanique de l’exclusion qui peut paraître d’un autre siècle – quand bien même il demeurerait si fréquent, dans la réalité contemporaine la plus ordinaire, que des jeunes gens provoquent un enchaînement de réactions violentes le jour où ils révèlent leur penchant sexuel au sein d’une famille confite en préjugés, préjugés qui se révéleront autrement solides que l’amour parental résistant mal au son fêlé qu’émet aussitôt la cloche narcissique familiale.“ Er betont auch: „…l’interdit expressément formulé par Kafka lorsque le premier éditeur de Die Verwandlung a suggéré de représenter l’animal sur la couverture du livre : ce dernier ne saurait être dessiné davantage qu’il n’est identifié, ‚il ne peut même pas être montré de loin‘, insiste Kafka – et pour cause, puisque le principe même est que ce soit lui qui voie le monde depuis son nouvel état, jamais l’inverse…
Bertrand Leclair, Transformations, Actes Sud, 2025.
Nur weil Gregors Verwandlung eine Phantasmagorie ist, wie sie düsterer und „widerlicher“ kaum sein könnte… dass die Erzählung so eindringlich die familiären Strukturen beleuchten kann, die bei den Samsas einen Mechanismus der Ausgrenzung bedingt haben, der aus einem anderen Jahrhundert zu stammen scheint – auch wenn er in der in der gewöhnlichsten Gegenwart, dass junge Menschen eine Kette gewalttätiger Reaktionen auslösen, wenn sie ihre sexuelle Neigung in einer von Vorurteilen geprägten Familie offenbaren, Vorurteile, die sich als ebenso fest verwurzelt erweisen wie die elterliche Liebe, die dem schrillen Klang der narzisstischen Familienglocke kaum standhält.“ Er betont auch: „… das ausdrückliche Verbot Kafkas, als der erste Verleger von Die Verwandlung vorschlug, das Tier auf dem Buchcover abzubilden: Es darf nicht mehr gezeichnet werden, als es erkennbar ist, ‚es darf nicht einmal aus der Ferne gezeigt werden‘, betont Kafka – und das aus gutem Grund, denn das Prinzip ist, dass er die Welt aus seiner neuen Perspektive sieht, niemals umgekehrt…
Leclair beleuchtet, wie Kafkas absichtliche Vagheit bezüglich Gregors genauer Gestalt entscheidend für die Wirkung der Erzählung ist. Die „Fantasmagorie“ des Ungeziefers ist der Schlüssel, um die „Mechanik der Ausgrenzung“ in der Familie Samsa zu entlarven. Leclair zieht eine mutige Parallele zur Ausgrenzung von Homosexuellen in Familien, um zu zeigen, dass die „Transformation“ oft im Blick derer stattfindet, die das „Abweichende“ nicht akzeptieren können. Kafkas Weigerung, das Insekt abzubilden, unterstreicht die Notwendigkeit, die Welt aus Gregors Perspektive zu sehen und das Unsagbare, Unbegreifliche als solches stehen zu lassen, was die Geschichte zu einer allgemeingültigen Parabel macht.
Die finanzielle Situation und Gregors Rolle als Ernährer
Gregor erfuhr nun zur Genüge – denn der Vater pflegte sich in seinen Erklärungen öfters zu wiederholen…–, daß trotz allen Unglücks ein allerdings ganz kleines Vermögen aus der alten Zeit noch vorhanden war… Nun genügte dieses Geld aber ganz und gar nicht, um die Familie etwa von den Zinsen leben zu lassen; es genügte vielleicht, um die Familie ein, höchstens zwei Jahre zu erhalten, mehr war es nicht. Es war also bloß eine Summe, die man eigentlich nicht angreifen durfte, und die für den Notfall zurückgelegt werden mußte; das Geld zum Leben aber mußte man verdienen. [Kafka, Die Verwandlung.]
allant jusqu’à vouloir amplifier ses activités commerciales dans le but d’offrir à sa jeune sœur l’avenir musical dont elle rêvait en lui payant le conservatoire, modeste pygmalion désireux d’entendre Grete délivrer grâce à lui une petite musique envoûtante et pour tout dire des plus incestueuses, comme la suite de l’histoire le montrera.
Bertrand Leclair, Transformations, Actes Sud, 2025.
Er wollte sogar seine geschäftlichen Aktivitäten ausweiten, um seiner kleinen Schwester die musikalische Zukunft zu ermöglichen, von der sie träumte, indem er ihr das Konservatorium bezahlte. ein bescheidener Pygmalion, der Grete dank ihm eine bezaubernde, aber, wie sich im weiteren Verlauf der Geschichte herausstellt, auch höchst inzestuöse Musik spielen hören will.
Leclair hebt Gregors selbstlose Hingabe an seine Familie hervor, die bis zur Finanzierung der musikalischen Ausbildung seiner Schwester reicht. Gleichzeitig entlarvt er die Heuchelei des Vaters, der trotz eines versteckten Vermögens Gregors übermäßige Arbeitslast zuließ. Diese Enthüllung der „faulen Geheimnisse“ der Familie durch Gregors Verwandlung ist für Leclair ein Kernpunkt: Sie zeigt, dass die Familie, obwohl von Gregors Einkommen abhängig, bereits über eine Notreserve verfügte, was ihre spätere Entsorgung Gregors noch zynischer erscheinen lässt.Leclair hebt Gregors selbstlose Hingabe an seine Familie hervor, die bis zur Finanzierung der musikalischen Ausbildung seiner Schwester reicht. Gleichzeitig entlarvt er die Heuchelei des Vaters, der trotz eines versteckten Vermögens Gregors übermäßige Arbeitslast zuließ. Diese Enthüllung der „faulen Geheimnisse“ der Familie durch Gregors Verwandlung ist für Leclair ein Kernpunkt: Sie zeigt, dass die Familie, obwohl von Gregors Einkommen abhängig, bereits über eine Notreserve verfügte, was ihre spätere Entsorgung Gregors noch zynischer erscheinen lässt.
…c’est le père qui révèle disposer d’une épargne secrète, au soulagement de Gregor qui, écoutant aux portes, réalise que sa transformation n’entraînera pas si brutalement qu’il avait pu le craindre la famille tout entière dans la déchéance (le craindre, vraiment ?).
Bertrand Leclair, Transformations, Actes Sud, 2025.
… Es ist der Vater, der zu Gregors Erleichterung verrät, dass er über geheime Ersparnisse verfügt. Gregor, der an der Tür lauscht, erkennt, dass seine Verwandlung nicht so brutal zur Folge haben wird, wie er befürchtet hatte, die ganze Familie in den Ruin zu stürzen (befürchtet er das wirklich?).
Die drei Türen von Gregors Zimmer
Gregors Zimmer hatte „drei Türen“, was Kafkas eigener Wohnsituation entsprach, da er in einem Durchgangszimmer lebte und sich von seiner Familie gestört fühlte.
…le rôle déterminant des trois portes de la chambre de Gregor Samsa telles qu’elles ne cessent de claquer pour mieux se verrouiller dans un sens puis dans l’autre, au grand théâtre qu’est le monde : une apparition précédée d’une fulguration dont vous avez mis plusieurs heures à comprendre qu’elle n’avait pas chamboulé l’espace autour de vous, ainsi que vous l’aviez cru d’abord, mais le temps, puisque la vision qui en a résulté vous a projeté quatre ans en arrière devant une tout autre porte, une porte beaucoup trop blanche et bizarrement dansante que vous n’avez eu aucune difficulté à identifier comme étant celle de la chambre de R., votre fille…
Bertrand Leclair, Transformations, Actes Sud, 2025.
…die entscheidende Rolle der drei Türen von Gregor Samsas Zimmer, die immer wieder zuschlagen, um sich dann in die eine oder andere Richtung zu verriegeln, in diesem großen Theater, das die Welt ist: eine Erscheinung, der ein Blitz voranging, von dem Sie mehrere Stunden brauchten, um zu verstehen, dass er nicht den Raum um Sie herum durcheinandergebracht hatte, wie Sie zunächst geglaubt hatten, sondern die Zeit, denn die daraus resultierende Vision versetzte Sie vier Jahre zurück vor eine ganz andere Tür, eine viel zu weiße und seltsam tanzende Tür, die Sie ohne Schwierigkeiten als die Tür zum Zimmer Ihrer Tochter R. identifizieren konnten…
quatre-vingts pages durant et à tour de rôle les trois portes de la chambre de Gregor Samsa ne cessent de s’ouvrir, se fermer, claquer comme au théâtre lorsqu’elles ne sont pas verrouillées du dedans d’abord, du dehors ensuite : puisque, verrouillées, elles l’ont d’abord été de l’intérieur de la chambre par Gregor lui-même… Die drei gleichen Türen sind dann von außen…
Bertrand Leclair, Transformations, Actes Sud, 2025.
Achtzig Seiten lang öffnen und schließen sich abwechselnd die drei Türen von Gregor Samsas Zimmer und schlagen wie im Theater, wenn sie nicht zuerst von innen und dann von außen verschlossen sind: denn sie wurden zunächst von Gregor selbst von innen verriegelt… Die drei gleichen Türen sind dann von außen…
Die Türen sind für Leclair mehr als nur architektonische Details; sie sind zentrale Symbole für die Kommunikationsbarrieren und die sich verändernde Kontrolle innerhalb der Familie. Sie verkörpern die Isolation Gregors und die Versuche der Familie, ihn einzusperren oder sich vor ihm zu schützen. Leclairs persönliche „Vision“ der Tür zu seiner Tochter R.’s Zimmer verbindet Kafkas literarisches Motiv unmittelbar mit seiner eigenen Erfahrung von familiärer Distanz und dem Kampf um das Verständnis des „Anderen“. Die Türen symbolisieren die Schwierigkeit, in die Welt des Deliriums einzudringen und gleichzeitig die Familie vor der „Monstrosität“ zu schützen.
Das Ende der Erzählung und Gretes Transformation
Nach Gregors Tod fühlt sich die Familie Samsa erleichtert und optimistisch. Die Geschichte endet mit der Beobachtung, wie Grete zu einer „schönen und stattlichen jungen Dame“ heranreift und bereit für die Ehe ist.
…à la transformation de Gregor qui ouvre le livre répond celle, inversée, de sa jeune sœur, Grete, telle qu’elle s’accomplit aux ultimes phrases ; voilà que subitement… Grete se lève et s’arrache d’un long étirement à la chrysalide de l’enfance pour déployer ’son jeune corps‘ dans l’espace de la page, transmuée d’un coup de texte magique en ‚belle et plantureuse jeune fille‘ dès lors destinée à se marier bientôt et avoir beaucoup d’enfants : fin de l’histoire, et tout est pour le mieux qui peut recommencer du début.
Bertrand Leclair, Transformations, Actes Sud, 2025.
…auf die Verwandlung von Gregor, mit der das Buch beginnt, folgt die umgekehrte Verwandlung seiner jüngeren Schwester Grete, die sich in den letzten Sätzen vollzieht; da plötzlich… Grete steht auf und reißt sich mit einer langen Dehnung aus dem Kokon der Kindheit los, um „ihren jungen Körper” auf der Seite zu entfalten, durch einen magischen Textzug verwandelt in ein „hübsches und üppiges Mädchen”, das nun bald heiraten und viele Kinder bekommen wird: Ende der Geschichte, und alles ist gut, sodass von vorne begonnen werden kann.
Leclair betont die zirkuläre Struktur von Kafkas Erzählung. Gregors Tod, die extreme Konsequenz der Ausgrenzung, ebnet den Weg für Gretes symbolische Wiedergeburt als „schöne und stattliche junge Frau“. Dies ist eine zutiefst ironische „Transformation“, da das Glück der Familie auf Gregors Verschwinden basiert. Leclair sieht darin die „zuckersüße Lethargie“ wiederhergestellt: Die Familie kehrt zur Normalität zurück, indem sie das Problem eliminiert und alle Spuren des Ungeziefer-Daseins vergisst, was einen neuen Zyklus des Ignorierens und der Konformität einleitet.
Kafkas Schreibprozess und autobiografische Bezüge
Kafka klagte über seinen anstrengenden Beruf als Reisender. Er beschreibt, wie er an dem Tag, an dem er Die Verwandlung zu schreiben begann, aufgrund einer „Traurigkeit“ lange im Bett lag und zögerte aufzustehen, bis ein Brief von Felice Bauer ihm neue Kraft gab. In seinen Tagebüchern äußerte er oft seine Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen und der Schwierigkeit, Schreiben und Beruf zu vereinbaren. Er sah Das Urteil, Der Heizer und Die Verwandlung thematisch als zusammengehörig an und wollte sie unter dem Titel Die Söhne veröffentlichen, da sie alle den Konflikt mit dem Vater darstellten.
La vie érotique de Gregor semble certes avoir été confondante de pauvreté de son vivant de voyageur de commerce, la nécessité qu’il éprouve d’en défendre le souvenir n’en est que plus âpre : décidé à faire barrage de son corps pour protéger le joli cadre doré, s’apprêtant, si nécessaire, à méchamment ’sauter à la figure de Grete‘, il s’extirpe de sa cachette pour grimper jusqu’à l’image de la dame habillée de fourrure et ’se presser contre le verre‘ de son ‚ventre brûlant’…
Bertrand Leclair, Transformations, Actes Sud, 2025.
Das erotische Leben von Gregor scheint während seines Lebens als Handelsreisender zwar von Armut geprägt gewesen zu sein, doch umso bitterer ist sein Bedürfnis, die Erinnerung daran zu verteidigen: Entschlossen, seinen Körper als Schutzwall aufzubauen, um den schönen goldenen Rahmen zu schützen, und bereit, wenn nötig, „Grete bösartig ins Gesicht zu springen”, kramt er sich aus seinem Versteck hervor, klettert bis zum Bild der pelzgewandeten Dame hinauf und „presst sich mit seinem brennenden Bauch gegen das Glas”…
Si la première impulsion de La Métamorphose est venue à Kafka ce dimanche 17 novembre au matin, c’est bien parce qu’il était lui-même rendu incapable de se lever par l’attente ‚en pleine détresse‘ d’une lettre de Felice Bauer en retard de plusieurs jours. C’est qu’il anticipait déjà son échec amoureux, soupçonnant que Felice se gardait de répondre pour avoir compris entre les lignes tout ce qui ne va pas chez lui, dessous le détonnant mélange de rouerie et de sincérité absolue que trament ses lettres à cette époque où la correspondance connaît une inflation irrationnelle, et il n’est pas rare que se croisent quatre ou cinq missives en une seule journée.
Bertrand Leclair, Transformations, Actes Sud, 2025.
Der erste Impuls zu Die Verwandlung kam Kafka an jenem Sonntagmorgen, dem 17. November, weil er selbst unfähig war, aufzustehen, da er „in tiefer Verzweiflung” auf einen Brief von Felice Bauer wartete, der mehrere Tage überfällig war. Er ahnte bereits sein Scheitern in der Liebe und vermutete, dass Felice ihm nicht antwortete, weil sie zwischen den Zeilen all das erkannt hatte, was mit ihm nicht stimmte, hinter der explosiven Mischung aus List und absoluter Aufrichtigkeit, die seine Briefe in dieser Zeit prägten, in der die Korrespondenz eine irrationale Inflation erlebte und es nicht ungewöhnlich war, dass vier oder fünf Briefe an einem einzigen Tag hin- und hergeschickt wurden.
Leclair verbindet Gregors berufliches Elend und seine emotionale Isolation direkt mit Kafkas eigenen Lebensumständen und seinem Ringen um die literarische Existenz. Er interpretiert Gregors Festhalten am Bild der Pelzdame als Ausdruck seiner unterdrückten Sexualität und seines „armseligen“ erotischen Lebens, was Kafkas eigenen Schwierigkeiten in Beziehungen und seinem Wunsch, die Ehe und Vaterschaft zu meiden, entgegensteht. Die Entstehung der Verwandlung wird direkt mit Kafkas Angst und Traurigkeit aufgrund der ausbleibenden Post von Felice Bauer verknüpft, was seine Unfähigkeit, das Bett zu verlassen, widerspiegelt. Für Leclair ist Kafkas Schreiben selbst ein Akt der „Selbstbefreiung“ und ein Ausdruck seiner Konflikte mit dem Vater und der bürgerlichen Welt, die er als „Lethargie“ empfindet.
Schluss
Bertrand Leclairs Werk Transformations als Auseinandersetzung mit Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung ist primär als autobiografisch inspirierter Essay zu verstehen, der durch die persönlichen Erfahrungen des Autors mit der psychischen Krise seiner Tochter R. und dem Umgang seiner Familie damit gefiltert wird. Transformations ist gattungsmäßig gemischt, lässt die Grenzen zwischen autobiografischem Essay, literarischer Analyse und Familienroman verschwimmen. Es ist ein Akt des „Wiederaufbaus“, in dem Leclair versucht, chaotische Erinnerungen und Erkenntnisse zu ordnen und ihnen durch das Schreiben einen Sinn zu geben, indem er sie durch die Linse von Kafkas Text filtert. Das Buch verschmilzt persönliche Erzählungen mit literaturwissenschaftlicher Analyse und nutzt seine eigene Geschichte, um Kafkas Werk neu zu beleuchten und dessen Relevanz für das Verständnis familiärer Dynamiken herauszuarbeiten.
Bertrand Leclair verlagert den Fokus von Gregors physischer Mutation auf die daraus resultierende, tiefgreifende Transformation der gesamten Familie Samsa und ihres Lebensraums verlagert. Er beleuchtet die „zuckersüße Lethargie der Familien“ als Mechanismus, der unbequeme Wahrheiten und Konflikte aktiv unterdrückt, was letztlich zur brutalen Ausgrenzung desjenigen führt, der diese Probleme sichtbar macht – exemplarisch in Gretes Wandel zur Anklägerin („Weg muss es“). Beeinflusst durch die psychische Krise seiner eigenen Tochter, deutet Leclair Delirium und psychische Krisen nicht primär als Pathologie, sondern als einen „Wiederaufbauversuch“ und eine „Fluchtlinie“ vor einer unerträglichen Realität, die tiefgründige, wenngleich oft chaotische, Erkenntnisse und Befreiung ermöglichen kann.
Leclairs anderer Blick auf Kafkas Verwandlung ist weitreichend: Er beschreibt einen Zustand kollektiver Selbsttäuschung, die sich in der „zuckersüßen Lethargie der Familien“ äußert. Diese Lethargie unterdrückt unbequeme Wahrheiten und Konflikte, was letztlich zur brutalen Ausgrenzung desjenigen führt, der diese Probleme sichtbar macht – ein Mechanismus, der sich in Kafkas Verwandlung exemplarisch an Gregors Schicksal und der daraus resultierenden, radikalen Transformation der Samsa-Familie zeigt. Leclair weitet diese Perspektive auf psychische Krisen aus, die er, beeinflusst von den Erfahrungen mit seiner Tochter R., nicht nur als Pathologie, sondern als einen „Wiederaufbauversuch“ oder eine „Fluchtlinie“ vor einer unerträglichen Realität begreift, die tiefgründige Erkenntnisse und Befreiung ermöglichen kann.
Betrachtet man Bertrand Leclairs jüngstes Werk Transformations im Kontext seines früheren Malentendus (Actes Sud, 2013), offenbart sich eine Kontinuität in seiner Auseinandersetzung mit den tiefgreifenden Auswirkungen von „Andersartigkeit“ auf familiäre und gesellschaftliche Strukturen. Transformationen interpretiert Kafkas Erzählung neu, indem sie die fantastische physische Metamorphose Gregors als Auslöser einer tiefgreifenden Transformation der gesamten Familie Samsa beleuchtet und dabei die „zuckersüße Lethargie der Familien“ sowie das Delirium als „Wiederaufbauversuch“ hervorhebt, Malentendus schildert wiederum eine reale Familienkrise: die familiäre und gesellschaftliche Reaktion auf die Gehörlosigkeit eines Kindes (eines der vier Kinder von Bertrand Leclair wurde gehörlos geboren). Beide Werke entlarven eindringlich die Mechanismen der Verdrängung und Stigmatisierung, die darauf abzielen, das „Unerträgliche“ oder „Abweichende“ zu eliminieren, ob es nun Gregors monströse Erscheinung ist oder die „unzulässige genetische Fehlleistung“ der Taubheit. Leclairs beide Texte zeigen, wie wohlmeinende elterliche Kontrolle und der Wunsch nach „Normalität“ oft zu einer „unbewussten Feindseligkeit“ führen können, die letztlich in Isolation und Zerstörung mündet.
Die tiefere Relevanz von Leclairs Transformations liegt somit nicht nur in seiner besonderen Kafka-Lektüre, sondern in der darüber hinausgehenden Aufforderung, die eigene „Lethargie zu durchbrechen“. Das Werk zwingt uns, die Mechanismen der Ausgrenzung – sei es in der Familie, in der Gesellschaft oder im Umgang mit psychischer „Andersartigkeit“ – kritisch zu hinterfragen. Es beleuchtet, wie sehr unser Blick und unsere sozialen Konventionen die „Verwandlung“ des Anderen in etwas Unerträgliches oder zu Stigmatisierendes erst erzeugen. Indem Leclair seine persönliche Geschichte mit Kafkas Fiktion verwebt, schafft er selbst einen „Akt des Wiederaufbaus“, der über die bloße Analyse hinausgeht und die Leser ermutigt, sich einer komplexen Realität zu stellen und eine Gesellschaft zu entwerfen, die auf Verstehen und Inklusion statt auf Verdrängung und Stigmatisierung basiert. Dies wirft die Frage auf, ob unsere gegenwärtigen Systeme, insbesondere die institutionalisierte Psychiatrie, nicht oft die „Folie“ stabilisieren oder eliminieren, anstatt die Wahrheit und das Potenzial zur Neuerfindung zu suchen, das sie freisetzen kann.