Interpretationswahn
Pierre Bayard, der Professor der Literaturwissenschaft an der Universität Paris 8 und der Psychoanalytiker, bietet in seinem Buch Hitchcock s’est trompé („Hitchcock hat sich geirrt“) eine umfassende Neuinterpretation des Films Fenster zum Hof (Originaltitel: Rear Window) von Alfred Hitchcock. Die zentrale These Bayards ist, dass Hitchcock sich in seinem Meisterwerk geirrt hat und die allgemein anerkannte Lösung des Verbrechens – dass der Nachbar Lars Thorwald seine Frau ermordet und zerstückelt hat – gar nicht zutrifft. Stattdessen lenkt der Film die Aufmerksamkeit von einem tatsächlich geschehenen Verbrechen ab.
Il est impossible de croire sérieusement, comme les deux héros du célèbre film d’Hitchcock Fenêtre sur cour, que leur voisin aurait tué sa femme, puis l’aurait découpée en morceaux devant les fenêtres ouvertes d’une trentaine d’appartements. Mais leur délire d’interprétation n’a pas pour seule conséquence de conduire à accuser un innocent. Il détourne l’attention d’un autre meurtre – bien réel celui-là – qui est commis devant les spectateurs à leur insu et mérite l’ouverture d’une enquête.
Pierre Bayard, Hitchcock s’est trompé, Ed. Minuit, 2023.
Es ist unmöglich, ernsthaft zu glauben, wie die beiden Helden des berühmten Hitchcock-Films Fenster zur Hof, dass ihr Nachbar seine Frau ermordet und dann vor den offenen Fenstern von etwa dreißig Wohnungen zerstückelt hat. Aber ihre wahnhafte Interpretation führt nicht nur dazu, dass ein Unschuldiger beschuldigt wird. Sie lenkt auch von einem anderen Mord ab – einem sehr realen –, der vor den Augen der Zuschauer begangen wird, ohne dass diese davon wissen, und der die Einleitung einer Untersuchung verdient.
Das Zitat formuliert die zentrale These von Bayards Neuinterpretation von Hitchcocks Fenster zum Hof. Er stellt die grundlegende Annahme des Films – dass Lars Thorwald seine Frau ermordet hat – von Grund auf in Frage. Bayard zufolge ist es unplausibel, dass ein solches Verbrechen so offen und unbemerkt vor so vielen Zeugen hätte stattfinden können. Er diagnostiziert bei den Protagonisten Jeff und Lisa einen „délire d’interprétation“ (Interpretationswahn), bei dem sie fragmentarische Beweise in eine vorgefasste Erzählung pressen und dabei reale, offensichtliche Ereignisse ignorieren. Der Clou seiner „polizeilichen Kritik“ ist die Behauptung, dass das tatsächliche Verbrechen im Film der Mord am Hund ist, der sich vor aller Augen (und denen des Zuschauers) ereignet, aber in der Fixierung auf den menschlichen Mord übersehen wird. Hier zeigt sich Bayards Methode, das Offensichtliche als Ablenkung zu entlarven und das tatsächlich Verborgene aufzudecken. Bayards Interpretation des Films lässt sich in mehrere Schlüsselpunkte gliedern:
Bayard argumentiert, dass die Beweise gegen Thorwald äußerst dünn und unglaubwürdig sind. Thorwalds Handlungen, wie das Reinigen seines Badezimmers oder seine nächtlichen Ausflüge mit einem Koffer, werden von Jeff (James Stewart) und Lisa (Grace Kelly) sofort als Beweis für einen Mord interpretiert. Bayard schlägt jedoch vor, dass diese Handlungen viel harmloser gedeutet werden können, etwa als Vorbereitung auf einen Umzug. Selbst Thorwalds angebliches Geständnis am Ende des Films ist für Bayard nicht überzeugend, sondern ein Missverständnis, das sich aus Jeffs Anschuldigung ergibt.
Bayard verlagert den Fokus des Films vom Voyeurismus, dem er für Jeff nur eine geringe pathologische Relevanz beimisst, hin zu einer Analyse von Paranoia und Interpretationswahn (délire d’interprétation). Jeff ist zunächst gelangweilt und beginnt, eine fiktive Geschichte zu konstruieren, um die Realität spannender zu gestalten. Seine Vorgehensweise ist ein Beispiel für totalisierende Interpretation: Sobald die Idee eines Mörders in seinem Kopf ist, werden alle noch so unbedeutenden Ereignisse (wie ein grabender Hund oder das Schließen eines Koffers) in sein System integriert, während widersprüchliche Informationen vollständig ausgeblendet werden. Bayard sieht in Jeffs Handlungen auch einen Mechanismus der Projektion, bei dem Jeff seine eigenen unbewussten Ängste und Konflikte (insbesondere seine Furcht vor der Ehe) auf Thorwald projiziert.
Jeffs Freundin Lisa und seine Krankenschwester Stella werden im Laufe des Films in diesen Wahn hineingezogen. Bayard bezeichnet dies als „Folie à deux“ (kollektiver Wahn), bei der eine Person das Wahnsystem einer anderen übernimmt und mitgestaltet. Er behauptet, dass der Film den Zuschauer durch seine Struktur subtil in diese „doppelte Paranoia“ hineinzieht, sodass Millionen von Zuschauern die absurde These ohne Widerstand akzeptieren.
Das eigentliche Verbrechen im Film ist für Bayard nicht der imaginierte Mord an Thorwalds Frau, sondern der reale Mord am Hund. Dieser Mord, der tatsächlich im Film stattfindet und von den Protagonisten mit Bestürzung, aber ohne tiefere Untersuchung wahrgenommen wird, gerät in den Hintergrund, weil die Aufmerksamkeit der Charaktere und des Publikums auf den fiktiven menschlichen Mord fixiert ist.
Bayard betrachtet es als bemerkenswert, dass ein Regisseur wie Hitchcock, der das Motiv des „ungerechtfertigt Beschuldigten“ in seinem Werk obsessiv behandelt, in Fenster zum Hof einen Unschuldigen beschuldigt und einen realen Mord übersieht. Er schlägt vor, dass spätere Hitchcock-Filme wie Über den Dächern von Nizza (To Catch a Thief) oder der Kurzfilm Mr. Blanchard’s Secret als „Œuvre-repentir“ (Sühne- oder Reuewerk) verstanden werden können. In diesen Filmen greift Hitchcock ähnliche Themen von Fehlinterpretationen oder unschuldig Beschuldigten auf, was darauf hindeuten könnte, dass er unbewusste Zweifel an der Lösung von Fenster zum Hof hatte. Dies wird auch durch das Konzept der „Autonomie der Charaktere“ untermauert, das besagt, dass Charaktere sich über die ursprüngliche Absicht des Autors hinaus entwickeln und unvorhergesehene Handlungen begehen können, wie im Fall der Hundebesitzer.
Cette parodie de Fenêtre sur cour, réalisée par Hitchcock lui-même au contraire de la plupart des films de la série télévisée, a selon moi le même statut d’œuvre-repentir que La Main au collet. Elle montre comment le cinéaste, au plus profond de lui-même, entretenait des doutes plus ou moins conscients quant à la solution que le film tend à privilégier et les a exprimés dans les œuvres suivantes. Comment expliquer qu’un créateur, surtout aussi averti des questions policières qu’Hitchcock, ait pu commettre une double erreur judiciaire, en ne se contentant pas d’accuser un innocent d’un meurtre improbable, mais en passant complètement à côté du meurtre d’un animal, alors même que son cadavre était présent aux yeux de tous ? L’hypothèse la plus vraisemblable est celle que j’ai défendue dans mes différents essais de critique policière, à savoir l’autonomie des personnages.
Pierre Bayard, Hitchcock s’est trompé, Ed. Minuit, 2023.
Diese Parodie auf Fenêtre sur cour, die im Gegensatz zu den meisten Filmen der Fernsehserie von Hitchcock selbst gedreht wurde, hat meiner Meinung nach denselben Status als Werk der Reue wie La Main au collet. Sie zeigt, wie der Filmemacher tief in seinem Inneren mehr oder weniger bewusste Zweifel an der Lösung hatte, die der Film zu bevorzugen scheint, und diese in seinen folgenden Werken zum Ausdruck brachte. Wie lässt sich erklären, dass ein Schöpfer, der sich vor allem in Kriminalfragen so gut auskannte wie Hitchcock, einen doppelten Justizirrtum begangen hat, indem er sich nicht damit begnügte, einen Unschuldigen eines unwahrscheinlichen Mordes zu beschuldigen, sondern den Mord an einem Tier völlig übersah, obwohl dessen Leiche für alle sichtbar war? Die wahrscheinlichste Hypothese ist die, die ich in meinen verschiedenen kriminalistischen Essays vertreten habe, nämlich die Autonomie der Figuren.
Hier führt Bayard das Konzept der „œuvre-repentir“ (Reue- oder Sühnewerke) ein. Er schlägt vor, dass spätere Werke Hitchcocks, wie der Kurzfilm Le Secret de M. Blanchard (eine Parodie auf Fenster zum Hof), unbewusste Zweifel des Regisseurs an der Richtigkeit der Auflösung seines eigenen Films widerspiegeln könnten. Der Kern dieser Idee ist Bayards wiederkehrende These von der Autonomie der Charaktere. Er argumentiert, dass fiktive Figuren ein Eigenleben entwickeln können, das über die ursprüngliche Absicht des Autors hinausgeht. Im Fall von Fenster zum Hof bedeutet dies, dass die Hundebesitzer (die den Hund ermordet haben) sich so autonom verhalten, dass sie einen tatsächlichen Mord verüben, den der Regisseur (und das Publikum) übersehen, weil sie auf den falschen Mord (Thorwalds imaginäres Verbrechen) fixiert sind. Diese Methode zeigt Bayards Fähigkeit, die psychologischen Dynamiken zwischen Autor und Figur zu analysieren und zu behaupten, dass Autoren von ihren eigenen Schöpfungen „getäuscht“ werden können.
Bayards Kritik
Pierre Bayards Neudeutung von Fenster zum Hof ist Teil einer längeren Reihe von Werken, in denen er sich der „critique policière“ oder auch „critique interventionniste“ (polizeiliche bzw. interventionistische Kritik) widmet. Diese Methode ist ein von Pierre Bayard entwickeltes Konzept der Literaturkritik, die kanonische literarische oder filmische Werke neu untersucht, um ihre etablierten Schlussfolgerungen zu „korrigieren“ oder in Frage zu stellen.
Charakteristische Merkmale seiner Arbeitsweise, die sich in Hitchcock s’est trompé und seinen anderen Büchern finden, sind:
Hinterfragen etablierter „Wahrheiten“: In weiteren seiner Werke, sei es Qui a tué Roger Ackroyd?, Enquête sur Hamlet, L’Affaire du chien des Baskerville oder Oedipe n’est pas coupable, zweifelt Bayard die allgemein akzeptierte Lösung eines zentralen Rätsels an. Er argumentiert, dass die ursprüngliche Interpretation, oft die des „Detektivs“ oder „Autors“ innerhalb des Werks, fehlerhaft oder gar „wahnhaft“ ist.
Suche nach dem „Verborgenen“ oder „Übersehenen“: Bayard legt degt den Fokus auf Details, die von der traditionellen Lesart oder den Figuren des Werks übersehen oder falsch interpretiert wurden. In Fenster zum Hof ist dies der Hundemord, in Qui a tué Roger Ackroyd? der „Mensonge par omission“ (Lüge durch Auslassung) des Erzählers, in L’Affaire du chien des Baskerville die wahre Täterin Béryl Stapleton, die ihren Mann inszeniert, und in Oedipe n’est pas coupable die Unschuld des Oedipus selbst. Sophokles‘ König Ödipus bildet die Grundlage für Freuds Ödipuskomplex. Bayard stellt fest, dass, obwohl Freuds These oft kritisiert wurde, kaum jemand die grundlegende Frage der tatsächlichen Schuld Ödipus‘ hinterfragt hat. Er argumentiert, dass eine sorgfältige Lektüre des Sophokles-Textes, unter Berücksichtigung moderner wissenschaftlicher und kritischer Erkenntnisse, Zweifel an Ödipus‘ Schuld aufkommen lässt.
Curieusement, si la thèse freudienne a été l’objet de nombreuses critiques, peu de lecteurs à ma connaissance se sont posé la question principale, qui aurait pourtant dû être le préalable à toute discussion sérieuse sur le recours à la pièce de Sophocle comme modèle psychologique : Œdipe est-il bien l’assassin de son père ? Or quand on relit le texte de Sophocle avec un peu d’attention et à la lumière des progrès de la science et de la critique modernes, il est plus que douteux qu’Œdipe ait pu commettre le meurtre dont on l’accuse et il apparaît alors comme indispensable, si l’on est un tant soit peu rigoureux, de commencer par reprendre l’enquête.
Pierre Bayard, Oedipe n’est pas coupable, Ed. Minuit, 2021.
Seltsamerweise wurde die Freudsche These zwar vielfach kritisiert, doch haben meines Wissens nur wenige Leser die wichtigste Frage gestellt, die doch jeder ernsthaften Diskussion über die Verwendung von Sophokles‘ Stück als psychologisches Modell vorausgehen müsste: Ist Ödipus wirklich der Mörder seines Vaters? Wenn man jedoch den Text von Sophokles mit etwas Aufmerksamkeit und im Lichte der Fortschritte der modernen Wissenschaft und Kritik erneut liest, ist es mehr als zweifelhaft, dass Ödipus den Mord begangen hat, dessen er beschuldigt wird, und es erscheint dann, wenn man auch nur ein wenig streng ist, unerlässlich, die Ermittlungen von vorne zu beginnen.
Seine Methode fordert eine rigorose „Neuuntersuchung“ des Falles, um Ungereimtheiten („invraisemblances“) und verborgene Wahrheiten aufzudecken, die über Jahrtausende hinweg übersehen wurden. Dieses Zitat veranschaulicht Bayards Ansatz, selbst die grundlegendsten Mythen und Interpretationen der Kultur infrage zu stellen und als Detektiv der Literatur aufzutreten, der Gerechtigkeit für die unschuldig Beschuldigten sucht.
Diagnose des Interpretationswahns: Ein wiederkehrendes Schlüsselkonzept ist der „délire d’interprétation“. Bayard stellt fest, dass Charaktere (wie Jeff oder Hercule Poirot), aber auch Kritiker und das Publikum selbst, dazu neigen, Beweise in ein vorgefasstes Schema zu pressen und abweichende Informationen zu ignorieren. Er argumentiert, dass Freud selbst in seiner Oedipus-Deutung einem solchen Wahn unterlag. Im Kontext von Agatha Christies Der Mord an Roger Ackroyd stellt Bayard die allgemein akzeptierte Schuld des Erzählers, Dr. Sheppard, in Frage. Er weist darauf hin, dass sowohl Bewunderer als auch Kritiker des Romans die zentrale Annahme von Sheppards Schuld unkritisch akzeptieren.
Curieusement, les admirateurs du livre comme ses adversaires se rejoignent sur l’essentiel : aucun ne songe à mettre en doute le point le plus important de toute l’affaire, à savoir la culpabilité du docteur Sheppard. Or, avant de se demander s’il est ou non légitime de dissimuler l’assassin derrière le narrateur, il paraît judicieux de régler cette question préalable et de se demander si le coupable est bien celui que l’enquête désigne. Tel sera ici notre projet. Nous dégageant de l’opinion couramment admise suivant laquelle le meurtrier serait le docteur Sheppard, et tentant de nous frayer une troisième voie entre l’admiration et la réprobation, nous nous contenterons, n’acceptant aucune affirmation qui ne soit préalablement démontrée, de répondre à la question simple de savoir qui a tué Roger Ackroyd.
Pierre Bayard, Qui a tué Roger Ackroyd?, Ed. Minuit, 1998.
Seltsamerweise sind sich die Bewunderer des Buches und seine Gegner in einem Punkt einig: Keiner von ihnen stellt den wichtigsten Aspekt der ganzen Angelegenheit in Frage, nämlich die Schuld von Dr. Sheppard. Bevor man sich jedoch mit der Frage beschäftigt, ob es legitim ist, den Mörder hinter dem Erzähler zu verbergen, erscheint es sinnvoll, diese Vorfrage zu klären und zu untersuchen, ob der Schuldige tatsächlich derjenige ist, den die Ermittlungen benennen. Das soll hier unser Vorhaben sein. Wir lösen uns von der allgemein akzeptierten Meinung, dass Dr. Sheppard der Mörder ist, und versuchen, einen dritten Weg zwischen Bewunderung und Verurteilung zu finden. Wir geben uns mit der Beantwortung der einfachen Frage zufrieden, wer Roger Ackroyd getötet hat, und akzeptieren keine Behauptungen, die nicht zuvor bewiesen wurden.
Bayard positioniert sich hier als Detektiv, der die ursprüngliche Untersuchung von Hercule Poirot, die er als „wahnhaft“ („délirante“) bezeichnet, neu aufrollt und auf „Unwahrscheinlichkeiten“ („invraisemblances“) prüft. Seine Methode ist es, keine Behauptung zu akzeptieren, die nicht zuvor bewiesen wurde, und damit die scheinbare Logik des Kriminalromans zu untergraben. Dies ist ein Paradebeispiel für seine Vorgehensweise, etablierte „Wahrheiten“ zu dekonstruieren und den Leser zu einer kritischeren, unabhängigen Lesart zu ermutigen.
Infragestellung der Erzählerzuverlässigkeit und der textuellen Geschlossenheit: Bayard betont, dass Erzähler oft unzuverlässig sind und bewusst oder unbewusst wichtige Informationen weglassen oder falsch darstellen. Er argumentiert, dass Texte keine „geschlossenen“ Einheiten sind, sondern durch die subjektive Interpretation des Lesers „vervollständigt“ werden. Dies führt zum Konzept der „livres-écrans“ (Bildschirm-Bücher) oder „livres-fantômes“ (Geister-Bücher), die eher Projektionen unserer Erwartungen und Fantasmen sind als die „realen“ Texte.
Die Autonomie der Charaktere: Für Bayard sind fiktive Figuren keine bloßen „Papierwesen“, sondern eigenständige Wesen, die unabhängig vom Willen ihres Schöpfers handeln und sogar Verbrechen begehen können, die dem Autor entgehen. Dies wird in L’Affaire du chien des Baskerville besonders deutlich, wo die wahre Mörderin Béryl Stapleton Sherlock Holmes täuscht und ihre Rache inszeniert, ohne dass Conan Doyle es beabsichtigt hätte.
Nutzung psychoanalytischer Konzepte: Bayard integriert häufig Konzepte Freuds (z.B. Projektion, Erinnerungsbilder, Ambivalenz, unbewusste Schuldgefühle wie das „Besoin d’avouer“ (Bedürfnis zu gestehen)) oder Lacans, um die psychologischen Mechanismen der Fehlinterpretation zu beleuchten. Gleichzeitig kritisiert er Freud für seine eigene Tendenz zur „übermäßigen Interpretation“ oder „Wahrheitsverwirrung“.
Das „Doppelte“ oder Ambiguität der Realität/Texte: Seine Analysen zeigen auf, wie Ereignisse oder Sätze mehrere, teils widersprüchliche Bedeutungen haben können. Das „discours à double entente“ (doppeldeutige Rede) in Qui a tué Roger Ackroyd? ist ein Paradebeispiel dafür.
Spielerischer und provokativer Ton: Bayard untergräbt konventionelle kritische Ansätze mit einem oft ironischen und paradoxen Stil. Er fordert den Leser explizit auf, die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen und sich nicht von vermeintlichen „Evidenzen“ blenden zu lassen.
Im folgenden Zitat aus L’Affaire du chien des Baskerville entfaltet Bayard seine radikalste These: Literarische Charaktere sind keine bloßen „Papierwesen“, sondern lebendige Kreaturen mit einer eigenen Autonomie. Er behauptet, dass sie sogar Verbrechen begehen können, von denen der Autor selbst nichts weiß oder die er nicht beabsichtigt hat.
Comment Conan Doyle a-t-il pu se tromper à ce point ? Il lui manquait sans doute, pour résoudre une énigme aussi complexe, les outils de la réflexion contemporaine sur les personnages littéraires. Ceux-ci ne sont pas, comme on le croit trop souvent, des êtres de papier, mais des créatures vivantes, qui mènent dans les livres une existence autonome, allant parfois jusqu’à commettre des meurtres à l’insu de l’auteur. Faute de mesurer cette indépendance, Conan Doyle ne s’est pas aperçu que l’un de ses personnages avait définitivement échappé à son contrôle et s’amusait à induire son détective en erreur. Cet essai, en engageant une véritable réflexion théorique sur la nature des personnages littéraires, leurs compétences insoupçonnées et les droits qu’ils peuvent revendiquer, se propose donc de rouvrir le dossier du Chien des Baskerville et de résoudre enfin l’enquête inachevée de Sherlock Holmes, permettant par là à la jeune morte de la lande de Dartmoor, errante depuis des siècles dans l’un de ces mondes intermédiaires qui environnent la littérature, de trouver le repos.
Pierre Bayard, L’Affaire du chien des Baskerville, Ed. Minuit, 2008.
Wie konnte Conan Doyle sich so irren? Um ein so komplexes Rätsel zu lösen, fehlten ihm zweifellos die Werkzeuge der zeitgenössischen Reflexion über literarische Figuren. Diese sind nicht, wie allzu oft angenommen wird, Wesen aus Papier, sondern lebendige Kreaturen, die in Büchern ein eigenständiges Leben führen und manchmal sogar ohne Wissen des Autors Morde begehen. Da Conan Doyle diese Unabhängigkeit nicht erkannte, bemerkte er nicht, dass eine seiner Figuren sich endgültig seiner Kontrolle entzogen hatte und sich einen Spaß daraus machte, seinen Detektiv in die Irre zu führen. Dieser Essay, der eine echte theoretische Reflexion über das Wesen literarischer Figuren anstellt, ihre ungeahnten Fähigkeiten und die Rechte, die sie für sich beanspruchen können, und schlägt vor, den Fall des Hundes von Baskerville wieder aufzurollen und endlich die unvollendete Ermittlung von Sherlock Holmes aufzuklären, damit die junge Tote aus der Dartmoor-Heide, die seit Jahrhunderten in einer der Zwischenwelten der Literatur umherirrt, endlich ihre Ruhe finden kann.
Im Fall von Der Hund von Baskerville argumentiert Bayard, dass Conan Doyle, gefangen in seinen eigenen psychischen Konflikten (insbesondere seinem Hass auf Sherlock Holmes, den „complexe de Holmes“), nicht erkannte, dass eine Figur wie Béryl Stapleton das Verbrechen inszenierte und Sherlock Holmes in die Irre führte. Dies ist ein „Mord durch Literatur“ („meurtre par littérature“), bei dem die Realität durch die Erzählkunst des wahren Mörders verzerrt wird. Bayard fordert daher die Wiedereröffnung des Falls, um die unvollendete Untersuchung von Holmes zu einem gerechten Abschluss zu bringen und die „junge Tote der Dartmoor-Heide“, die seit Jahrhunderten in einem der Zwischenwelten der Literatur umherirrt, zur Ruhe kommen zu lassen.
Insgesamt verfolgt Bayard in seinen Werken das Ziel, die subjektive, konstruktive und oft unbewusste Natur des Lesens und Interpretierens aufzudecken. Er zeigt, dass unsere „Lektüren“ der Welt – sei es ein Film, ein Roman oder die Realität selbst – tief in unseren eigenen „inneren Büchern“ und „Paradigmata“ verwurzelt sind, die oft zu „Fehlern“ führen, aber auch neue Bedeutungen freisetzen können.
Epilog
Pierre Bayards Buch Hitchcock s’est trompé zeigt im Epilog auf, dass der Film nicht nur die Geschichte eines vermeintlichen Mordes an Thorwalds Ehefrau erzählt, sondern auch einen „doppelten Justizirrtum“ begeht. Die Hauptpunkte, mit denen Bayard das Buch abschließt, sind:
Entgegen der allgemeinen Annahme und der Schlussfolgerung der Filmfiguren Jeff und Lisa argumentiert Bayard, dass Thorwald seine Frau nicht ermordet hat. Jeff und Lisas Schlussfolgerung wird als „Wahnkonstruktion“ („construction délirante“) bezeichnet.
Bayard enthüllt, dass das wahre Verbrechen, das im Film unbemerkt bleibt, der Mord am Hund ist. Dieses Verbrechen, das in der Gerichtslaube des Innenhofs stattfindet und dessen Leiche für alle sichtbar war, wurde weder von den Charakteren noch von den Kritikern des Films untersucht.
Bayard interpretiert Hitchcocks späteren Kurzfilm Le Secret de M. Blanchard (Mr. Blanchard’s Secret) als ein „œuvre-repentir“ (als Werk der Reue). Dieser Kurzfilm, der selbst eine Parodie von Das Fenster zum Hof ist, deutet an, dass Hitchcock möglicherweise selbst „tief in sich selbst Zweifel an der Lösung hegte, die der Film zu bevorzugen scheint“. Damit wird suggeriert, dass Hitchcock unbewusst seine eigenen Zweifel an der von ihm präsentierten Lösung des Films ausdrückte, indem er einen Unschuldigen (Thorwald) eines unwahrscheinlichen Mordes bezichtigte, während er den tatsächlichen Mord an einem Tier vollständig übersah.