Er ist es, der mich hält: Simon Chevrier

Photo sur demande (Stock, 2025) von Simon Chevrier ist ein autofiktionaler Roman, der das Leben eines jungen Mannes über ein Jahr hinweg beleuchtet. Der Roman wurde mit dem Prix Goncourt du Premier Roman 2025 ausgezeichnet, war auch Finalist für andere Preise. Das Buch zeichnet die prekäre Lebenswelt eines jungen Mannes nach, der zwischen abgebrochenen Studien, Escort-Diensten und einer belastenden familiären Situation taumelt. Diese Existenz mündet in eine tiefe persönliche Krise, ausgelöst durch den fortschreitenden Krankheitsverlauf und Tod seines Vaters während der COVID-Pandemie, was eine intensive Sinnsuche und eine fast obsessive Auseinandersetzung mit der „gelöschten“ Geschichte eines Mannes auf einer Fotografie auslöst. Die Entdeckung des Schwarz-Weiß-Fotos ist Auslöser der weiteren Geschichte: Die Suche nach dem Modell verläuft parallel zur inneren Sinnsuche des Erzählers. Stilistisch präsentiert sich der Text als poetischer Erstlingsroman, der sich durch eine Mischung aus autofiktionaler Introspektion, fragmentarischen Notizen und imaginativen Rekonstruktionen auszeichnet, um die Lücken der Realität zu füllen und persönliche Erkenntnis zu fördern. Der Erzähler scheut auch nicht die offene Darstellung von männlicher Vulnerabilität, Sexualität und Identitätssuche, wobei der Akt des Schreibens selbst als kathartischer Prozess und Weg zur Selbstbefreiung aus alten Rollen und Abhängigkeiten fungiert.

Ein tief verwurzeltes Gefühl der Entfremdung und des Nicht-Dazugehörens zieht sich als roter Faden durch das Leben des Erzählers, von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter, und beeinflusst seine Beziehungen und seine Selbstwahrnehmung. Dieses Gefühl beginnt bereits in der Kindheit, als er sich als „im Körper einer Frau“ wahrnimmt und seine Vorliebe für das Spielen mit Mädchen zu seiner Ausgrenzung durch andere Jungen führt: „er ist nicht einer von uns“. Diese frühe Erfahrung des „Andersseins“ durchdringt sein gesamtes Erwachsenenleben. Beruflich erlebt er wiederholt Ablehnung oder Unzufriedenheit in konventionellen Jobs, wie die Antwort von Intermarché belegt, dass sein „Profil nicht ganz passt“, und die Verzweiflung seines Vaters über seine Unfähigkeit, eine passende Tätigkeit zu finden. Diese Schwierigkeiten erstrecken sich auch auf seine Sexarbeit, wo er sich trotz der Tatsache, dass er Objekt der Begierde ist, emotional distanziert und sich während der Begegnungen selbst ablehnt („Ich glaube nicht, dass ich mich jemals im Bett geliebt habe, mit dem Kunden“). Die transaktionale Natur verhindert echte Verbindung und verstärkt seine emotionale Isolation. Schließlich hinterlässt der Tod seines Vaters, zu dem er ohnehin „nicht so nahe“ stand, ein Gefühl des „Verlusts eines Teils von mir“, das als „Amputation, ein Phantomschmerz“ beschrieben wird. Diese kraftvolle Metapher fasst sein anhaltendes Gefühl der Unvollständigkeit und Trennung zusammen und legt nahe, dass seine Suche nach Daniel Schock und nach einer Identität im Grunde eine Suche nach Heilung dieses tief sitzenden Gefühls ist, nirgendwo und niemandem wirklich anzugehören.

Das Werden eines Schriftstellers

Simon Chevrier, geboren 1992, ist ein französischer Autor, hat in Le Havre literarisches Schreiben studiert und lebt in Toulouse. Chevriers Schreibstil wird von der Kritik als nüchtern, klar und präzise beschrieben, manchmal fast „klinisch, technisch“, aber dennoch tiefgründig und sensibel. Die Sprache ist direkt und unverblümt („mots crus“, „brut et sec“). Der Roman ist in Fragmenten geschrieben, die Erinnerungen an die Kindheit mit der Gegenwart verbinden. Chevrier wurde mit Autoren wie Christine Angot, Guillaume Dustan, Denis Belloc, Robin Josserand und Patrick Autréaux verglichen.

C’est pour les études que je suis là. Mais à la fac, je n’y vais plus. À peine quelques heures dans la semaine pour donner l’illusion que j’y crois encore alors que de l’espoir je n’en ai plus. Les gens le savent, mes colocs le savent. Le matin avant de me lever, je m’assure qu’ils soient partis au travail. Ensuite, je vais à la cuisine me faire couler un café, puis je m’assois, prends le temps d’une première gorgée et allume mon ordinateur sur la table. Je consulte ma messagerie. Aujourd’hui une réponse d’Intermarché me parvient. Ils me remercient de mon intérêt pour le poste d’hôte de caisse, mais après examen de ma candidature, mon profil ne correspond pas entièrement.

Sur la table du salon, un carnet vierge souillé de taches roses, du vin rouge d’avant-veille. Quelques feuilles arrachées à la volée et une liste de courses perdue entre deux brouillons de ratures. Je trouve un crayon dans la coupelle du meuble d’entrée et m’affale dans le fauteuil. Je dessine une robe, comme lorsque j’étais enfant. J’arrête et gomme l’esquisse. J’écris sur un angle de page « Frustré », en gras, souligné. J’écris l’écriture comme ça, avec des petites notes. J’écris tout et rien à la fois, et le plus souvent des choses dont je ne parle pas, si bien que les mots s’alignent plus ou moins vite. Quand les textes prennent forme, j’ouvre un document Word et les recopie, parfois je les efface et recommence, me relis et les supprime. Le document Word n’existe plus et je retourne au carnet. À ces petites notes illisibles.

Simon Chevrier, Photo sur demande (Stock, 2025).

Ich bin wegen meines Studiums hier. Aber ich gehe nicht mehr zur Uni. Nur ein paar Stunden pro Woche, um den Anschein zu wahren, dass ich noch daran glaube, obwohl ich keine Hoffnung mehr habe. Die Leute wissen das, meine Mitbewohner wissen das. Bevor ich morgens aufstehe, vergewissere ich mich, dass sie alle zur Arbeit gegangen sind. Dann gehe ich in die Küche, mache mir einen Kaffee, setze mich hin, nehme mir Zeit für den ersten Schluck und schalte meinen Computer auf dem Tisch ein. Ich checke meine E-Mails. Heute habe ich eine Antwort von Intermarché erhalten. Sie bedanken sich für mein Interesse an der Stelle als Kassierer, aber nach Prüfung meiner Bewerbung entspricht mein Profil nicht ganz den Anforderungen.

Auf dem Wohnzimmertisch liegt ein blanko Notizbuch mit rosa Flecken vom Rotwein vom Vortag. Ein paar Seiten sind herausgerissen, und zwischen zwei mit Streichungen versehenen Entwürfen liegt eine Einkaufsliste. Ich finde einen Bleistift in der Schale im Flur und lasse mich in den Sessel fallen. Ich zeichne ein Kleid, wie ich es als Kind getan habe. Ich höre auf und radiere die Skizze aus. In eine Ecke schreibe ich „Frustriert”, fett und unterstrichen. Ich schreibe so, mit kleinen Notizen. Ich schreibe alles und nichts zugleich, meistens Dinge, über die ich nicht spreche, sodass die Worte mehr oder weniger schnell aneinandergereiht werden. Wenn die Texte Gestalt annehmen, öffne ich ein Word-Dokument und tippe sie ab, manchmal lösche ich sie und fange von vorne an, lese sie noch einmal und lösche sie wieder. Das Word-Dokument existiert nicht mehr und ich kehre zu meinem Notizbuch zurück. Zu diesen kleinen unleserlichen Notizen.

Dieser Auszug, der zu Beginn des ersten Teils des Romans steht, führt unmittelbar in die prekäre Lebenswelt des jungen Erzählers ein. Er ist zwar zum Studieren in der Stadt, besucht die Universität jedoch kaum noch und hat die Hoffnung auf einen Abschluss aufgegeben. Seine finanzielle Lage scheint angespannt, wie die Absage auf eine Bewerbung als Kassierer bei Intermarché nahelegt. Diese Beschreibung etabliert eine frühe Form der persönlichen Krise, die nicht nur external (Studienabbruch, Jobsuche), sondern auch internalisiert ist, wie der Verlust der Hoffnung zeigt.

Der Übergang zum Schreiben im zweiten Absatz ist zentral für die autopoetologische Dimension des Buches. Der Erzähler beginnt nicht mit einem klar umrissenen Projekt, sondern mit „kleinen Notizen“ in einem verschmutzten, leeren Notizbuch. Dieser chaotische Anfang spiegelt die Desorientierung seiner Lebenssituation wider. Das Wort „Frustré“ – fettgedruckt und unterstrichen – offenbart die innere Zerrissenheit und Unzufriedenheit des Protagonisten. Es ist ein Schlüsselbegriff, der die tiefe, existenzielle Krise markiert, die den Roman durchzieht und später durch den Tod seines Vaters weiter verstärkt wird.

Der beschriebene Schreibprozess – „tout et rien à la fois“, das Kopieren in ein Word-Dokument, das Löschen und Wiederanfangen, das ranfangen, das Rückkehren zum Notizbuch – ist bereits ein Spiegel des Stils des gesamten Romans, der sich auszeichnet durch fragmentarische Notizen, introspektive Reflexionen und imaginative Rekonstruktionen. Die anfängliche Schwierigkeit, eine adäquate Form zu finden und das ständige Überarbeiten und Verwerfen, antizipiert die narrative Suche nach Sinn und Kohärenz, die der Roman später unternimmt, insbesondere in der Ermittlung um eine Fotografie des Daniel Schock. Die „choses dont je ne parle pas“ sind ein direkter Hinweis auf die Tabubrüche, die der Erzähler später thematisieren wird: seine Sexarbeit als Escort. Diese Dinge existieren in seinem Inneren, finden aber zunächst keinen expliziten Ausdruck, sondern nur diffuse Notizen.

Indem der Erzähler hier bereits den Akt des Schreibens als einen Umgang mit seiner inneren Welt und den äußeren Umständen einführt, wird deutlich, dass das Schreiben nicht nur ein Thema, sondern ein essenzielles Mittel zur Sinnsuche und Verarbeitung ist. Die imaginative Rekonstruktion von Daniel Schocks Leben, die später ein zentrales Element der Handlung wird, ist eine direkte Weiterentwicklung dieser Fähigkeit, „scénarios que je m’invente“ zu schaffen, um Lücken in der Realität zu füllen und Verständnis zu erlangen. Der Rückzug in das Schreiben, weg von einer als unpassend empfundenen Lebenswelt, deutet zudem auf das Schreiben als einen Weg zur Befreiung und zum Neuanfang hin, der am Ende des Romans explizit wird, wenn der Erzähler sein altes Leben aufgibt, um sich dem Schreiben zu widmen.

Der Erzähler reflektiert auch im weiteren Verlauf über seinen eigenen Schreibprozess, seine Vorstellungskraft und die Konstruktion von Bedeutung durch das Erzählen. Später geht er dazu über, wichtigere Erfahrungen direkt auf seinem Mac zu schreiben, was auf eine sich entwickelnde Beziehung zu seinem Handwerk hindeutet und die Bewertung seiner eigenen Erlebnisse unterstreicht. Am Ende des Buches trifft der Erzähler eine bewusste Entscheidung, sein vorheriges Leben (als Escort und Hotelangestellter) aufzugeben und sich dem Schreiben zu widmen, indem er sein Word-Dokument öffnet und „immer weiter“ schreibt. Dies symbolisiert das Schreiben als einen Neuanfang und einen Akt der Befreiung.

Ein wesentlicher Teil der Erzählung besteht aus der imaginativen Rekonstruktion des Lebens von Daniel Schock, insbesondere angesichts fehlender konkreter Informationen. Der Erzähler gibt explizit an, dass er „Szenarien erfindet“ („scénarios que je m’invente“) und „eine Welt um ihn herum erschafft“ („Je me fais un monde autour de lui. J’imagine sa fantaisie, sa sensibilité. Je lui invente une personnalité“). Die Vorstellungskraft füllt Realitätslücken und dient als Mittel zur Verbindung und zum Verständnis, insbesondere wenn eine direkte Verbindung fehlt. Auch Träume dienen als Raum für Verarbeitung und narrative Gestaltung.

Der Erzähler nutzt das Schreiben als Mittel zur Verarbeitung persönlicher Erfahrungen, wie dem Tod seines Vaters und vergangenen Beziehungen. Seine ehemalige Psychologin schlägt ihm das Schreiben vor, um ein „Kapitel abzuschließen“. Die Suche nach Daniel Schock ist nicht nur eine äußere, sondern auch eine innere Suche, bei der die Reflexion über Daniels „ausgelöschte“ Geschichte mit der eigenen Identitätssuche und Selbstwahrnehmung des Erzählers verknüpft wird. Er transponiert literarische Passagen (z. B. von Annie Ernaux), um sie sich zu eigen zu machen, was zeigt, wie er aktiv seine Identität und sein Verständnis durch intertextuelles Engagement konstruiert.

Das Schreiben wird zu einer Form der Befreiung von seinem früheren Leben und einem Weg, seine Identität und Trauer zu verarbeiten. Der Roman selbst, der als „poetischer Erstlingsroman“ beschrieben wird, scheint das Ergebnis dieses vom Erzähler beschriebenen Prozesses zu sein, was auf einen autofiktionalen Ansatz hindeutet, bei dem der Akt des Schreibens die Geschichte selbst oder zumindest ein zentraler Teil der Reise des Protagonisten zur Selbstfindung und „Renaissance“ ist, wie in der allgemeinen Beschreibung erwähnt. Die Reflexion über die Szene aus dem Film „La Pianiste“ bekräftigt zusätzlich, dass das Schreiben einen schmerzhaften, aber lebenswichtigen „Anfang von etwas Neuem“ darstellt.

Letztlich ist Photo sur demande Geburtsgeschichte eines Schriftstellers. Denn nach einer demütigenden Begegnung mit dem verheirateten Familienvater Hugues, der nicht nur den Erzähler als Frau verkleidet sehen möchte, sondern auch Dominanz, Fesseln und physische Gewalt ausübt, reift die Entscheidung des Erzählers zur Transformation. Die sich zuspitzenden Erfahrungen mit Klienten, seine angespannte Wohnsituation sowie die Besorgnis seiner Mutter, die ihn aufgrund der Pandemie und seiner prekären finanziellen Lage wieder zu Hause haben möchte, verstärken seinen Wunsch nach Veränderung. Er beginnt am Ende des Buches unter anderem, intensiver zu schreiben und reflektiert über die Möglichkeit, dass sein Leben sich nun darauf beschränken könnte, Seiten zu füllen, eine Abkehr von seinem bisherigen Lebensstil und ein Neuanfang, bei dem Ausdruck durch das Schreiben im Vordergrund steht.

Epidemie(n)

Die COVID-Epidemie hat im Roman Photo sur demande mehrere wichtige Funktionen, die sowohl die Handlung als auch die thematischen Untertöne des Buches prägen und vertiefen:

Der Roman verortet sich explizit in der Zeit der COVID-Krise und zieht dabei eine direkte Parallele zur – für eine ganze Generation schwuler Männer traumatische – Epidemie der 1980er Jahre: Der Erzähler und seine Generation haben laut dem Text „zwei virale Untergänge ertragen: die Flutwelle von AIDS und die Sturmflut von COVID“. Die Pandemie ist somit nicht nur ein aktuelles Ereignis, sondern stellt auch ein Echo vergangener Krisen dar, die das kollektive Bewusstsein und die individuelle Angst vor Krankheit und Tod prägen.

Die Ausgangssperre zwingt den Erzähler zu mehr Selbstreflexion, wobei er sich mit dem bevorstehenden Tod seines Vaters und seiner eigenen Identität auseinandersetzt. Er konsumiert intensiv Medien, reflektiert über gesellschaftliche Narrative, persönliche Tragödien und die menschliche Existenz im Allgemeinen. Die kollektive Erfahrung der Pandemie, mit ihren Ängsten und Aufforderungen zur Selbstreflexion, bildet einen Hintergrund für die persönliche Sinnsuche des Erzählers.

Die durch COVID bedingten Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen („confinements“) verstärken die bereits bestehende Isolation und das Gefühl des Erzählers, ein „Geist-Erzähler“ zu sein, eine „Abwesenheit“, eine „Leere“. Die „turbulente Lebensphase“ des Erzählers, die durch die Ausgangssperren während der Covid-Zeit geprägt ist, gewinnt allmählich an Bedeutung. Die Schwierigkeit, dauerhafte Beziehungen zu knüpfen und Freude und Liebe zu empfinden („jouir et aimer n’ont jamais été aussi difficile“), wird durch die pandemiebedingten Einschränkungen und das allgemeine Gefühl einer „Welt ohne Zukunft“ noch verstärkt.

Die Pandemie beeinflusst persönliche Begegnungen und soziale Interaktionen. So können die Besuche beim sterbenden Vater in der Klinik nur einzeln stattfinden. Es entstehen neue soziale Normen wie das Tragen von Masken und die Hygiene, die der Erzähler in intimen Momenten mit Louis jedoch bewusst ignoriert. Die Pandemie wirkt sich auch auf die Lebensumstände aus, wie die angespannte Wohngemeinschaftssituation des Erzählers zeigt, der sich mit dem Gedanken an eine mögliche weitere Ausgangssperre mit seinen Mitbewohnern unwohl fühlt. Seine Mutter drängt ihn zudem, wegen steigender Ansteckungszahlen in der Stadt nach Hause zurückzukehren. Die Erzählung beleuchtet die Belastung für „unverzichtbare Arbeitskräfte“ wie einen Notarzt, der aufgrund der Pandemie längere Arbeitszeiten hat.

Die Pandemie erschwert die Suche nach konventionellen Arbeitsplätzen, was die Abhängigkeit des Erzählers von seiner Tätigkeit als Escort unterstreicht. Sie betont die finanziellen Schwierigkeiten und die Ungewissheit der Zeit. Die Sorge um Arbeitslosigkeit und das Aushalten der erzwungenen Nähe zu den Mitbewohnern werden thematisiert.

Der „unsichtbare Feind“ des Virus spiegelt die verborgene Natur von Homophobie, die unausgesprochenen Ängste im Zusammenhang mit HIV/AIDS und die Verletzlichkeit marginalisierter Individuen wider. Dies verstärkt die Themen der Zerbrechlichkeit und der Prekarität des Lebens im Roman.

Obwohl isolierend und herausfordernd, drängen die Umbrüche durch die Pandemie den Erzähler zu einem tieferen Verständnis seiner selbst und letztendlich zu einer Hinwendung zum Schreiben als Form der „Wiedergeburt“. Eine „Wut grollt“ und bricht in einem „Stinkefinger gegen die uns auferlegten Zwänge“ aus, was einen Schritt weg von einem Leben in Heimlichkeit und hin zu einer authentischeren Selbstoffenbarung durch die Kunst symbolisiert.

Escort

Der Titel des Romans, Photo sur demande (Foto auf Anfrage), verweist zunächst auf die kommerzielle und transaktionale Natur der Sexarbeit des Erzählers. Er schaltet Anzeigen auf Dating-Apps wie Grindr und Giton mit dem Text: „Sprachstudent, maßgeschneiderter Liebhaber für kultivierte Männer, Preise und Fotos auf Anfrage“. Die Fotos, die er verschickt, sind sorgfältig inszeniert und bearbeitet, um den Wünschen der Kunden zu entsprechen. Diese kommerzielle Darstellung steht oft im Gegensatz zu seiner Suche nach echter Intimität.

Der Erzähler in Simon Chevriers Roman „Photo sur demande“ gerät aus einer Mischung aus existenzieller Unsicherheit und finanzieller Notwendigkeit in die Sexarbeit als Escort. Er hat sein Anglistikstudium in Toulouse abgebrochen und findet keine herkömmlichen Jobs, nicht einmal als Kassierer in einem Supermarkt, da sein Profil nicht passt. In dieser prekären Lebensphase beginnt er, seine Dienste als Escort anzubieten, indem er eine Anzeige auf einer Dating-App für Männer mit dem Text aufgibt: „Sprachstudent, maßgeschneiderter Liebhaber für kultivierte Männer, Preise und Fotos auf Anfrage“. Diese Entscheidung wird nicht explizit begründet, erscheint aber als ein Ausweg aus dem Limbus.

Die Episoden der Sexarbeit werden mit einer nüchternen, klaren und direkten Schreibweise geschildert. Die Sätze sind kurz und die Worte unverblümt. Chevrier verzichtet auf Emphase und Pathos, was eine fast klinische Beschreibung der Realität schafft. Die Wiederholung der Gesten und Orte der Begegnungen vermittelt ein Gefühl der Monotonie. Der Erzähler springt oft von einem Absatz direkt zum nächsten Kundenbett, was das Gefühl vermittelt, er brauche „die Prüfung des Körpers, des Fleisches und des Schweißes, um sich zu beweisen, dass er noch am Leben ist, während er sich in leeren Tagen auflöst“. Die Sexarbeit ist eine Form der „Selbstzerstörung“, die aber auch als Möglichkeit dient, sich „lebendig zu fühlen“ und dem „Nichts“ entgegenzuwirken.

Das eigene Begehren und die homosexuellen Gefühle des Erzählers sind komplex und oft widersprüchlich. Er nutzt Apps wie Grindr und Giton. Schon als Kind empfand er eine tiefe Distanz zur traditionellen Männlichkeit. Er identifizierte sich als Mädchen, spielte mit Mädchen und trug gerne Kleider und hohe Absätze seiner Großmutter. Die ablehnende Reaktion seines Vaters auf dieses Verhalten hinterließ eine tiefe Wunde. Diese Erfahrungen prägten seine Anziehung zu Männern, die ebenfalls „abseits“ standen und sich von der Masse abhoben. Trotz des kommerziellen Sex ist seine persönliche Suche nach Liebe und echter Verbindung spürbar. Er sehnt sich nach „tatsächlicher Wärme“ und echten Beziehungen, die über rein körperliche Begegnungen hinausgehen. Er träumt davon, dass ein Mann ihn „natürlich“ anspricht und die „richtige Person“ eines Tages einfach so auftauchen könnte, nicht nur über eine App. Seine sexuellen Präferenzen ändern sich nach der Nachricht von der Krankheit seines Vaters; er möchte nicht mehr penetriert werden und gibt sich auf Grindr als „aktiv“ an. Diese Veränderung symbolisiert möglicherweise einen Kontrollverlust oder eine psychische Abwehrreaktion angesichts der bedrohlichen Realität. Die Angst vor AIDS ist ein wiederkehrendes Thema, das ihn sogar in Albträumen verfolgt und durch seine Recherche über Daniel Schock, der an AIDS starb, verstärkt wird. Nach einer ungeschützten Begegnung nimmt er Post-Expositions-Prophylaxe (PEP) und wird wiederholt auf HIV getestet.

Es werden zahlreiche Szenen berichtet, die die Begegnungen mit Kunden detailliert beschreiben. Vor jedem Termin zündet er eine Zigarette an und nimmt ein Lutti Mint-Bonbon, manchmal hat er es noch unter der Zunge, wenn er den Kunden küsst. Er fordert das Geld zu Beginn ein. Die Kunden haben unterschiedliche Persönlichkeiten und Erwartungen, von wortkarg bis gesprächig, von fordernd bis devot.

Thibaut: Mit Thibaut, einem seiner Liebhaber, der aber auch Kunde war, funktionieren die Dinge sexuell nicht mehr, da der Erzähler Liebe für ihn empfindet, was ihn „impotent“ macht. Thibaut bleibt lieber ein Freund und schlägt vor, stattdessen Kreuzworträtsel zu lösen. Später erfährt der Erzähler, dass Louis, ein Mann, mit dem er eine Beziehung eingehen wird, ebenfalls Zeit bei Thibaut verbrachte und dort das Foto von Daniel Schock sah.

Valentin: Ein 59-jähriger Mann, der bei seinem alten Vater lebt und nachts in einem Hotel arbeitet. Er ist übergewichtig und schämt sich für seinen Körper, sagt, er sei früher schön gewesen. Er empfängt den Erzähler zu Hause, während sein Vater beim Physiotherapeuten ist, und drückt Zuneigung und Respekt aus, betont aber, dass andere Escorts nur „einfache Huren“ seien. Er ist oft von der Art und Weise enttäuscht, wie andere Escorts handeln und wie wenig Zeit für Gespräche und Zärtlichkeit bleibt.

Hugues: Ein Finanzdirektor, der den Erzähler als Frau verkleidet sehen will und sadomasochistische Praktiken wünscht, die der Erzähler als schmerzhaft empfindet und die er nur erträgt, um das Geld zu erhalten. Er bietet ihm einen Vertrag an, um sein „Besitz“ zu werden, gegen eine American Express Karte mit viel Geld.

Michel: Ein 60-jähriger verheirateter CEO mit drei Kindern, der dem Erzähler Geld schickt, auch wenn die Treffen abgesagt werden, und sehr spezifische sexuelle Wünsche hat, die sich um orale Befriedigung und körperliche Nähe drehen. Er versichert, er habe so viel Geld, dass er dem Erzähler ohne Probleme helfen könne.

„L’homme“ (der Mann): Ein älterer Mann, bei dem der Erzähler für eine Zeit lang wohnen wird. Er bietet ihm eine günstige Miete an und scheint an Gesellschaft interessiert zu sein. Er stellt sehr persönliche Fragen und berührt den Erzähler unangemessen, was zu einer Situation führt, in der der Erzähler auf dem Schlafsofa aufwacht. Später wird seine Fürsorge als übergriffig empfunden; er möchte den Erzähler bekochen und bemuttern, während der Erzähler sich immer mehr zurückzieht und sich in seinem Zimmer einschließt.

Das sich ergebende Bild der Sexarbeit ist das einer transaktionalen Tätigkeit, die dem Erzähler finanziellen Halt gibt. Obwohl sie finanzielle Unabhängigkeit bietet und eine gewisse Struktur im Leben des Erzählers schafft, ist sie emotional meist leer und entfremdend. Die Begegnungen sind oft kurz und ohne tiefe emotionale Verbindung. Der Erzähler erlebt die Kunden als „Fremde“, deren Namen er sich nicht immer merkt. Er ist sich bewusst, dass er dabei oft „Positionen einnehmen muss, die ihm nicht gefallen“, und dass er die Kunden nicht küssen oder riechen möchte. Die Sexarbeit dient als eine Art Überlebensstrategie und als Beweis des eigenen Daseins in einer Phase, in der sich der Erzähler „auflöst“. Sie ist ein Ausweg aus dem Limbus.

Die Körper und Begegnungen werden direkt und ungeschönt beschrieben. Es wird auf Details wie Haare, Größe, Muskeln, aber auch auf Körpergerüche geachtet. Die körperlichen Begegnungen sind oft schnell und funktional. Der Erzähler beschreibt, wie er beim Sex mit einem Kunden dessen lange Narbe auf der Brust entdeckt oder sich vor einem anderen Kunden ekelt, wenn er dessen Pickel und Haare sieht. Die Sexarbeit wird auch als eine Art „Selbstschädigung“ oder „Selbstzerstörung“ beschrieben, die den Wunsch nach Nähe und Zuneigung widerspiegelt, aber nicht erfüllt. Es gibt Momente, in denen er emotionale Distanz wahrt, aber auch solche, in denen er von der Sinnlichkeit der Begegnungen überrascht wird. Er bemerkt die „Rundheit der Gliedmaßen des anderen Mannes gegen die Feinheit seiner Knochen“.

Neben den anonymen Kunden und den rein sexuellen Begegnungen gibt es einige wiederkehrende männliche Figuren im Leben des Erzählers:

Thibaut passt auch in diesem Kategorie, als Liebhaber und Freund, bei dem der Erzähler zum ersten Mal das Foto von Daniel Schock entdeckt. Die Beziehung zu Thibaut ist sexuell frustrierend für den Erzähler, als Liebe ins Spiel kommt. Später versuchen sie erneut eine Beziehung, aber der Erzähler hat sich bereits von ihm emotional distanziert und strebt nach einer tieferen Verbindung.

Louis ist ein weiterer Liebhaber, der Thibauts neuer Partner ist, nachdem dessen Beziehung zum Erzähler endet. Der Erzähler entwickelt Gefühle für Louis, die über bloße sexuelle Anziehung hinausgehen. Die Beziehung ist jedoch kompliziert, da Louis nicht bereit für eine feste Bindung ist und sich noch von einer früheren Beziehung erholt. Louis ist Arzt in der Notaufnahme und arbeitet viel.

Alexis lernt der Erzähler über die Online-Datingplattform Grindr kennenlernt. Sie treffen sich in Cafés, aber der Erzähler fühlt sich während der Begegnung sexuell nicht zu ihm hingezogen, besonders als er viele Muttermale auf seinem Körper entdeckt.

Anton: Ein 19-jähriger Kunststudent, den der Erzähler über Grindr trifft. Ihre Begegnung führt zu ungeschütztem Sex, was den Erzähler dazu zwingt, ein Medikament zu nehmen, um eine HIV-Infektion nachträglich zu verhindern.

Victor ist ein 30-jähriger Bankangestellter, den der Erzähler über Grindr trifft und mit dem er zu Abend isst. Es stellt sich heraus, dass Victor auch Louis trifft, was die „kleine“ Homosexuellen-Szene und die Überlappung der Beziehungen verdeutlicht.

Heimlichkeiten

Es wäre verkürzt, den Roman nur als Text über einen Escort für Männer zu lesen. Heimlichkeiten werden auf verschiedene Weisen thematisiert, sowohl auf der Ebene des Erzählers als auch im Kontext anderer Charaktere und gesellschaftlicher Umstände. Schon als der Erzähler nach einer neuen Wohngemeinschaft sucht, lügt er über seine akademischen Pläne und seine Arbeit, um „normal“ zu wirken und den Erwartungen potenzieller Mitbewohner zu entsprechen. Dies ist ein weiteres Beispiel für seine Verstellung und das Verbergen seiner realen Lebensumstände.

Der Erzähler selbst versteckt das bei Treffen mit Männern an diskreten Orten verdiente Geld in einer Keksdose unter seinem Bett, was die heimliche Natur dieser Einkünfte unterstreicht. Seine Tätigkeit wird als „clandestine“ beschrieben. Die Männer, die die Dienste des Erzählers in Anspruch nehmen, leben häufig eine völlig andere öffentliche Existenz, zum Beispiel wird ein Klient als „verheiratet und zwei Kinder habend“ beschrieben. Ein anderer Klient, Michel, ist ebenfalls verheiratet und hat Kinder, bietet dem Erzähler finanzielle Unterstützung an und äußert explizite sexuelle Wünsche. Die Tatsache, dass viele Profile auf den Dating-Apps keine Fotos zeigen, deutet ebenfalls auf den Wunsch nach Anonymität und Heimlichkeit hin.

Der Erzähler empfindet eine Art Erleichterung beim Gedanken an den bevorstehenden Tod seines Vaters, da es ihn vom „paternalen Blick“ befreien würde. In einem imaginären Brief an seinen verstorbenen Vater entschuldigt er sich dafür, nicht der Sohn gewesen zu sein, den er sich gewünscht hätte, und dass seine Handlungen – implizit seine Homosexualität und Sexarbeit – nicht dem entsprächen, was der Vater für ihn gewollt hätte. Dies deutet darauf hin, dass er Aspekte seiner Identität während des Lebens seines Vaters verborgen hielt.

Bereits in seiner Kindheit empfand der Erzähler eine Geschlechtsnonkonformität. Er zeichnete als Kind nur Frauen und Prinzessinnen und wünschte sich, sein Körper möge diesen Heldinnen ähneln. Er liebte es, die Kleider seiner Großmutter anzuprobieren und High Heels zu tragen, doch sein Vater reagierte auf diese „Verkleidung“ mit einem Ausdruck, den der Erzähler „noch nie vorher gesehen hatte“ und der von einem „liebenden Vater“ zu etwas völlig anderem wechselte. Der Erzähler und eine Freundin hörten sofort auf, sich zu verkleiden, wenn sie die Stimme des Vaters hörten, was die Notwendigkeit der Heimlichkeit aufgrund der elterlichen Missbilligung verdeutlicht. Er „wagte nicht, seinem Vater zu erzählen, dass er in der Schule kein Junge war“.

Das Model auf dem Foto, Daniel Schock, der u.a. als „Geist“ und „verschwundener Mann“ beschrieben wird, dessen Geschichte jenseits des Fotos „gelöscht“ scheint, dient als Spiegel für die Unsichtbarkeit und die oft unzureichend dokumentierten Leben vieler homosexueller Männer, insbesondere in der Ära vor und während der AIDS-Krise. Daniels frühes Schminken im Alter von fünf Jahren und sein Gefühl, „nicht von diesem Planeten zu stammen“, parallelisieren die Kindheitserfahrungen des Erzählers mit Geschlechtsnonkonformität und dem Gefühl des Andersseins.

Die Bedrohung durch die AIDS-Epidemie schwebt generell über dem Roman: Louis, einer der Liebhaber des Erzählers, deutet an, dass das Foto von Daniel Schock die „Anfänge der Aids-Jahre, die völlige Sorglosigkeit und die Exzesse, denen sich die Männer damals hinzugeben pflegten“, vorwegnimmt, und dass er Daniel als einen „bereits toten Mann“ sieht. Der Erzähler selbst erlebt einen Albtraum, in dem er mit HIV infiziert ist, was seine tiefsitzende Angst vor der Krankheit zeigt. Insbesondere in Verbindung mit der AIDS-Krise wird Homosexualität in der Familie heimlich behandelt oder tabuisiert, hier etwa um den Vater zu schützen.

Im Akt des Schreibens und in der Untersuchung von Daniel Schocks Leben erfährt der Erzähler schließlich eine Möglichkeit, seine eigene Existenz zu verankern und zu verarbeiten. Am Ende des Romans löscht er seine Profile auf Grindr und Giton und kündigt seine Stelle im Hotel, um sich vollständig dem Schreiben zu widmen. Dies symbolisiert einen bewussten Schritt weg von einem Leben der Heimlichkeit und hin zu einer authentischeren, wenn auch schmerzhaften, Selbstoffenbarung durch die Kunst.

Referenzen

Der Roman enthält eine Vielzahl von intertextuellen und popkulturellen Verweisen, nicht nur Liedern, die in die Erzählung des Ich-Erzählers verwoben sind. Diese Referenzen dienen oft dazu, die inneren Zustände, Beziehungen und die Suche nach Identität des Protagonisten zu spiegeln. Der Roman beginnt mit einem Zitat aus Patrick Autréaux‘ Buch Pussyboy (2021), das homosexuelle Sexualität, Begehren, kulturelle und religiöse Differenz, Identitätszuschreibungen, Genderperformativität und die Grenze zwischen Intimität und gesellschaftlichen Strukturen thematisiert. Inhaltlich geht es in Pussyboy um eine komplexe, körperlich und symbolisch aufgeladene Beziehung zwischen dem Erzähler und Zakaria, einem jungen nordafrikanischen Mann (und dem „arabischen Mann“ als Fantasma). Darüber hinaus wird der Erzähler in Photo sur demande als jemand beschrieben, der von der Literatur „zeitgenössischer“ Autoren wie Autréaux geprägt ist.

Ebenfalls zu Beginn des Romans findet sich ein Zitat aus Denis Bellocs Néons. Dieses autobiografische Werk erschien erstmals 1987 und erzählt die frühen Jahre des Autors: seine Kindheit ohne Vater, die Entdeckung seiner Homosexualität mit elf Jahren, die Inhaftierung mit 15 Jahren und die Prostitution auf den Boulevards von Pigalle. Wenn hier auch Ähnlichkeiten der Geschichte auffallen, sind jedoch beide Bücher stilistisch ziemlich verschieden.

Chevriers Distanzierung (bzw. Die des Erzählers) von Hervé Guiberts Schreibweise über den Tod, die der Erzähler als zu „physisch“ und „abstoßend“ empfindet, unterstreicht die spezifische Art der Authentizität, die Chevrier anstrebt: ehrlich, aber ohne die vom Erzähler als unangenehm empfundene, übermäßige physische Schmerzhaftigkeit, die er bei Guibert wahrnimmt. Er ist auf der Suche nach einem anderen Weg, über Vulnerabilität und Intimität zu sprechen, der dennoch tief berührt.

Alexis, ein Mann, den der Erzähler über die Dating-App Grindr trifft, gibt an, die Bücher von Jean-Luc Lagarce und Édouard Louis zu mögen. Der Erzähler seinerseits nennt Alexis Autoren, die er liest und die Alexis nicht kennt. Die Schwester des Erzählers hat Annie Ernaux‘ Roman Passion simple beendet und ermutigt den Erzähler, ihn zu lesen. Später liest der Erzähler selbst wiederholt eine Passage aus Passion simple und adaptiert sie für seine eigenen Gedanken.

Weitere Referenzen haben mit den Recherchen des Erzählers über die Fotografie von Peter Hujar und den New Yorker Underground der 70er und 80er Jahre zu tun, etwa David Wojnarowicz, Susan Sontag und Fran Lebowitz. Das Schwarz-Weiß-Foto von Peter Hujar aus dem Jahr 1981, das einen jungen Mann namens Daniel Schock zeigt, der sich den Zeh in den Mund steckt. Die Suche nach Daniel Schock und seiner Geschichte, insbesondere im Kontext der AIDS-Jahre, ist ein wiederkehrendes Thema im Roman und repräsentiert die „Sehnsucht nach dem eigenen Ich“ des Erzählers. Das Foto wird als seltsam pornografisch und doch unschuldig beschrieben und erinnert an die Ästhetik von Robert Mapplethorpe und die Androgynie von Patti Smith. Der Erzähler entdeckt auch andere Fotos von Peter Hujar, wie „Man on a Chair (Richard Weinroth)“. Der Erzähler kontaktiert verschiedene Personen aus Peter Hujars Umfeld, darunter Nan Goldin, Joel Smith, Vince Aletti, Jean Foos und Ira Silverberg, in der Hoffnung, mehr über Daniel Schock zu erfahren. So bringt er in Erfahrung, dass Daniel Schock ein Mime, Country-Sänger und Clown war, der in New York auftrat und hoffte, Marcel Marceau in Frankreich zu studieren. Er schuf auch Drachenskulpturen, die im Chelsea Hotel hingen.

Die Suche nach Daniel Schock ist nicht nur persönliche Obsession, sondern auch Auseinandersetzung mit historischem Verlust und einer Verbindung zur Geschichte der queeren Community. Daniel Schock verkörpert die „verlorenen“ Künstler und Aktivisten der AIDS-Jahre. Die wiederholte Betonung des „fehlenden“ Daniel, der für Google nur durch dieses Foto existiert, und die Schwierigkeit, Informationen über ihn zu finden, unterstreicht die Thematik des Vergessens, des Verlusts von Spuren und der gesuchten Authentizität in einer oft flüchtigen Welt.

Viele Einzelthemen werden mit Filmen verdichtet, etwa Dancer in the Dark von Lars von Trier mit Björk, dessen Szene des Geldsparens den Erzähler inspiriert, Contagion mit Marion Cotillard und Jude Law, das während der Pandemie als Referenz für die Realität des Virus dient, das Chelsea Hotel, das in mehreren Filmen wie Léon und Neuf semaines et demie vorkommt. Einige Filme, die der Erzähler und sein Vater gerne zusammen sahen, etwa Mission impossible, Anna, Fast and Furious, Alien, Batman, Mad Max, und Filme mit Bruce Willis, Liam Neeson oder Keanu Reeves. Auch das Sterben des Vaters wird mit einem Film über Sterben und Euthanasie verknüpft, Denys Arcands Les Invasions barbares. Schließlich wird die Endszene von Michael Hanekes La Pianiste mit Isabelle Huppert und Benoît Magimel reflektiert, um Selbstverletzung und Neuanfang des Erzählers zu begleiten.

Unter den Musikstücken, die der Erzähler nennt, sei „Money Can’t Buy It“ von Annie Lennox hervorgehoben, das im Kontext einer Party des Erzählers mit seinen Mitbewohnern thematisiert wird. Der Erzähler schlägt das Lied vor, als niemand eine musikalische Präferenz hat. Die Musik dient lediglich als Hintergrundgeräusch, da die Gespräche wieder aufgenommen werden, während Text und Musik noch „Gestalt annehmen“. In dieser Szene scheint das Lied keine tiefere symbolische Bedeutung zu haben oder eine spezifische Emotion hervorzurufen, die über die bloße musikalische Untermalung hinausgeht. Es füllt eine Leere und ermöglicht es den Anwesenden, ihre Unterhaltungen fortzusetzen, ohne sich auf die Musik selbst konzentrieren zu müssen. Es unterstreicht möglicherweise auch die passive Rolle des Erzählers oder die Belanglosigkeit mancher sozialer Interaktionen, da seine Auswahl von niemandem groß beachtet wird. Und doch ist da der Text.

France Inter, Simon Chevrier : „On ne parle pas d’argent en littérature alors que c’est la clé“ – Nouvelles têtes.

Geld kann es nicht kaufen, Baby. | Sex kann es nicht kaufen, Baby. | Drogen können es nicht kaufen, Baby. | Du kannst es nicht kaufen, Baby.

Ich glaube, dass nur die Liebe diese Dinge für dich tun kann. | Ich glaube an die Liebe allein, ja, ja. | Nimm die Kraft, dich zu befreien. | Tritt die Tür ein und wirf den Schlüssel weg. | Gib deine Bedürfnisse auf. | Deine vergifteten Samen. | Find dich selbst zu einem anderen Glauben berufen

Ich glaube, dass nur die Liebe dir das geben kann | Ich glaube, dass nur die Liebe dir das geben kann | Ich glaube an die Kraft der Schöpfung | Ich glaube an die guten Schwingungen | Ich glaube an die Liebe allein, ja, ja | Sagt mir doch jemand, was auf uns zukommt | Es könnte ewig dauern, bis wir diese Träume wahr werden sehen | Alles Geld der Welt kann dir keinen Seelenfrieden kaufen | Du kannst alles haben, aber du wirst trotzdem nicht zufrieden sein. […]

Solche Referenzen verankern die Erzählung stark in der zeitgenössischen und jüngeren Vergangenheit, insbesondere in Bezug auf die schwule Subkultur und die Erfahrungen mit Pandemien AIDS und COVID. Sie dienen dazu, die emotionalen und sozialen Landschaften des Protagonisten zu vertiefen und seine Suche nach Zugehörigkeit und Sinn zu beleuchten.

Körperbilder

Der Körper des Erzählers wird als ein komplexer Ort der Ambivalenz dargestellt, der ständig äußeren Blicken und inneren Ängsten ausgesetzt ist. Seine detaillierte Selbstbeschreibung verankert ihn zwar, doch dieser Körper wird in seiner Escort-Arbeit vorwiegend zur Ware. Die strikte Regelung der Bezahlung vor Berührung unterstreicht seine Funktion als transaktionales Werkzeug. Diese Objektifizierung steht im krassen Gegensatz zu seinen intensiven körperlichen Ängsten, wie der Panikattacke, bei der er das Gefühl hat, sein „Körper gibt auf“, was die tiefe Verbindung zwischen seinem emotionalen Zustand und seinen körperlichen Empfindungen hervorhebt. Darüber hinaus führt die kindliche Selbstwahrnehmung des Erzählers als „im Körper einer Frau“ und sein anhaltender Wunsch, „immer noch eine Frau sein zu wollen“, eine nuancierte Erkundung von Geschlechtsidentität und Körperbild ein, die über die bloße sexuelle Orientierung hinausgeht. Seine Bereitschaft, sich für Klienten als Frau zu kleiden, legt eine Fluidität und Hinterfragung konventioneller Männlichkeit nahe. Der Körper ist somit nicht nur eine Einnahmequelle oder eine Leinwand für Begehren, sondern ein tiefgründiger Ort der Selbstwahrnehmung, der Angst und einer fluiden Identität, die ständig zwischen inneren Gefühlen und äußeren Anforderungen ausgehandelt wird.

Der Erzähler beschreibt seinen eigenen Körper detailliert und inszeniert ihn bewusst für seine Tätigkeit: Er wählt Fotos „reflektiert in Bezug auf das Licht“ aus und bearbeitet sie mit Photoshop für „Retuschen“, um seine „musculature fragile“ hervorzuheben. Sein regelmäßiges Training im Fitnessstudio („musculation“) und sein Streben nach „Leistung“ sind Formen der Selbst-Ästhetisierung und Körperkontrolle. Der Text stellt auch fest, dass die Worte des Autors „die Körper der Männer mit der gleichen Sensibilität wie die Kamera von Peter Hujar“ beschreiben, was eine explizite ästhetische Herangehensweise an die Darstellung männlicher Körper im gesamten Roman bestätigt.

Quand il traite de sa distance avec la masculinité, aussi. Ses mots dépeignent le corps des hommes avec la même sensibilité que l’appareil photo de Peter Hujar. Enfant, le narrateur ne se sentait pas d’affinités avec les garçons de l’école. Avant de saisir que « ce n’était plus seulement une question de genre », qu’« un garçon, un homme pouvait se démarquer de la masse » — « Ça doit être là que j’ai commencé à mieux les regarder. » Comme le modèle de la photo, dont il apprend qu’à 5 ans il « ne pensait pas venir de cette planète », le narrateur perçoit alors qu’il a trouvé la sienne. Le romancier, aussi.

Stéphane Ehles, “Photo sur demande” de Simon Chevrier, le portrait sensible d’un escort-boy, Télérama, 6. Mai 2025.

Auch wenn er über seine Distanz zur Männlichkeit spricht. Seine Worte beschreiben den Körper von Männern mit derselben Sensibilität wie die Kamera von Peter Hujar. Als Kind fühlte sich der Erzähler nicht mit den Jungen in der Schule verbunden. Bevor er begriff, dass „es nicht mehr nur eine Frage des Geschlechts war“, dass „ein Junge, ein Mann sich von der Masse abheben kann “ – „Da habe ich wohl angefangen, sie genauer anzuschauen.“ Wie das Model auf dem Foto, von dem er erfährt, dass er mit fünf Jahren „nicht glaubte, von diesem Planeten zu stammen“, erkennt der Erzähler, dass er seinen Platz gefunden hat. Der Romanautor ebenfalls.

Die Kindheitserinnerungen des Erzählers an die Wahrnehmung seines Körpers „im Körper einer Frau“ und sein späteres Verstehen, dass „ein Junge, ein Mann, sich von der Masse abheben konnte“, zeigen eine persönliche, von traditionellen Geschlechterrollen abweichende Ästhetik des Männlichen. Sogar die Wünsche seiner Klienten nach bestimmten Körperbildern, wie Hugues‘ Verlangen nach dem Erzähler „als Frau gekleidet“ und epiliert, spiegeln die vielfältigen ästhetischen Interpretationen und Nutzungen des männlichen Körpers wider.

In Simon Chevriers Roman Photo sur demande ist das Schwarz-Weiß-Foto nicht nur ein wiederkehrendes Motiv, sondern fungiert als entscheidender Anker und Katalysator für die tiefgreifende Sinnsuche des Erzählers inmitten einer prekären und chaotischen Lebensphase. Die Handlung um dieses Bild ist untrennbar mit den zentralen Themen des Romans – Identität, Verlust, Sexualität und die Suche nach Verbindung – verbunden.

Der Erzähler entdeckt das Foto zum ersten Mal in der Wohnung seines Liebhabers Thibaut, wo es über dessen Bett hängt. Er ist sofort fasziniert von dem „Cliché in Schwarz und Weiß eines jungen Mannes, der den Körper gebeugt, seinen Zeh lutscht“. Das Bild, 1981 von Peter Hujar, einem „ikonischen“ Fotografen des New Yorker Undergrounds der 1970er und 1980er Jahre, aufgenommen, der 1987 an AIDS starb, wirft sofort Fragen beim Erzähler auf: Wie inszeniert war diese Pose? Ist dieser „Zehenkuss“ eine Geste an alle Betrachter? Während Thibaut in dem Dargestellten den idealen Liebhaber sieht, assoziiert ein anderer Liebhaber, Louis, das Bild aufgrund seiner Entstehungszeit mit den Anfängen der AIDS-Jahre und der damaligen „totalen Sorglosigkeit“ und „riskanten Praktiken“, und für ihn ist der Mann auf dem Foto „bereits tot“.

« Parmi elles, un cliché en noir et blanc d’un jeune homme corps plié, se suçant le doigt de pied. (…) Pour Thibaut ce n’est que l’amoureux qu’il désire. (…) Quand moi je l’observe, je m’interroge sur cette mise en scène, la spontanéité du moment, le sujet, la personne prise dans son jeu. L’écart entre l’acteur et ses propres désirs. Je me demande à quel point cette pose était préméditée. S’il suivait des directives ou s’il était libre de se mouvoir comme il l’entendait. » « Pour Google, Daniel Schook semble n’exister que par cette photo. Chaque lien, chaque clic le ramène à elle. Si je tape en anglais « Who is Daniel Schook ? », les résultats de recherche me rendent compte de son inexistence en tant qu’être humain. » « Je m’imagine sa fantaisie, sa sensibilité. Je lui invente une personnalité. Je sais qu’il existe ou qu’il a existé, mais c’est comme irréel puisque je ne le trouve pas. Si quelqu’un l’a aimé, j’aimerais savoir qui. Si je pouvais lui parler là, s’il était encore en vie, je lui demanderais ce que ça lui procure d’être le sujet de trois photos exposées aux yeux de tous, avec son nom parfois mal orthographié en légende. » « Sa réponse est brève, sèche : « Dan Schock est décédé il y a plus de trente ans. Cordialement. » »

Simon Chevrier, Photo sur demande (Stock, 2025).

„Darunter ein Schwarz-Weiß-Foto eines jungen Mannes, der sich vornübergebeugt den Zeh lutscht. (…) Für Thibaut ist es nur der Geliebte, den er begehrt. (…) Wenn ich ihn betrachte, frage ich mich, wie diese Inszenierung zustande gekommen ist, wie spontan dieser Moment war, wer diese Person ist, die sich so in ihr Spiel hineinsteigert. Die Kluft zwischen dem Darsteller und seinen eigenen Wünschen. Ich frage mich, inwieweit diese Pose geplant war. Ob er Anweisungen befolgte oder sich frei bewegen durfte, wie er wollte.“ „Für Google scheint Daniel Schook nur durch dieses Foto zu existieren. Jeder Link, jeder Klick führt ihn zu ihr zurück. Wenn ich auf Englisch „Who is Daniel Schook?“ eingebe, erinnern mich die Suchergebnisse daran, dass er als Mensch nicht existiert. Ich stelle mir seine Fantasie und seine Sensibilität vor. Ich erfinde eine Persönlichkeit für ihn. Ich weiß, dass er existiert oder existiert hat, aber es ist wie eine Illusion, da ich ihn nicht finden kann. Wenn ihn jemand geliebt hat, würde ich gerne wissen, wer. Wenn ich mit ihm sprechen könnte, wenn er noch am Leben wäre, würde ich ihn fragen, wie es sich anfühlt, Gegenstand von drei Fotos zu sein, die für alle sichtbar ausgestellt sind, mit seinem manchmal falsch geschriebenen Namen in der Bildunterschrift.“ „Seine Antwort ist kurz und knapp: „Dan Schock ist vor über dreißig Jahren verstorben. Mit freundlichen Grüßen.“

Die Entdeckung von Peter Hujars Foto „Daniel Schook, Sucking Toe“ bei Thibaut ist ein Wendepunkt für den Erzähler. Während Thibaut in dem Bild lediglich den „Geliebten, den er begehrt“, sieht, hinterfragt der Erzähler die „Inszenierung“ und „Spontaneität“ der Pose. Diese tiefere Neugier auf Daniels innere Welt und Autonomie („Ob er Anweisungen befolgte oder sich frei bewegen konnte“) spiegelt seine eigene Suche nach Sinn und Kontrolle in seinem ungerichteten Leben wider. Die anfängliche Frustration, dass Daniel Schook in den Weiten des Internets kaum existiert und nur durch dieses eine Foto definiert wird, spiegelt das Gefühl der eigenen Unsichtbarkeit und Vergänglichkeit des Erzählers wider. Trotz der knappen, ernüchternden Bestätigung von Daniels Tod wird die Suche nach ihm nicht beendet, sondern vertieft sich auf einer metaphorischen Ebene. Daniel Schock, eine rätselhafte Figur, die durch ein einziges Bild unsterblich gemacht wurde, wird zum symbolischen Ankerpunkt. Der Erzähler projiziert auf ihn seine eigene „Fantasie, seine Sensibilität“ und „erfindet ihm eine Persönlichkeit“. Diese Imagination hilft ihm, seine Ängste vor dem Verlust, dem Hinterlassen von Spuren und der Bedeutung des eigenen Lebens zu verarbeiten. Daniels „Nicht-Existenz als Mensch“ über das Foto hinaus verstärkt die Dringlichkeit der Suche des Erzählers nach seiner eigenen Realität und Authentizität.

Die anfängliche Faszination des Erzählers wandelt sich rasch in eine regelrechte Besessenheit, das Modell auf dem Foto zu finden. Er beginnt eine systematische Recherche, die sich als äußerst schwierig erweist, da der Name des Modells, Daniel Schook (später zu Daniel Schock korrigiert), kaum Spuren im Internet hinterlassen hat und oft nur im Zusammenhang mit diesem einen Foto auftaucht. Viele potenzielle Zeitzeugen aus Hujars Umfeld sind bereits verstorben. Durch seine hartnäckigen Nachforschungen, die ihn dazu bringen, Peter Hujars Freunde und Archive zu kontaktieren, deckt der Erzähler Daniel Schocks bewegtes Leben auf: Daniel war Country-Sänger, Clown und Pantomime, trat in New York als Straßenkünstler auf, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen und Geld für eine Herzfehlbildung sowie die Suche nach seinen Eltern zu sparen. Im Alter von fünf Jahren wurde er von seiner Mutter getrennt und wuchs bei einem Alkoholiker auf, was sein Leben lang seine Suche nach seinen Eltern prägte. Schließlich findet der Erzähler einen Artikel vom 13. Februar 1991 im Seattle Times, der Daniels Wiedervereinigung mit seiner Mutter nach 28 Jahren beschreibt. Aus diesem Artikel geht auch hervor, dass Daniel Schock HIV-positiv war und aufgrund körperlicher Schwäche seine Tätigkeit als Pantomime aufgab. Die Suche endet mit der traurigen Gewissheit, dass Daniel Schock „vor über dreißig Jahren verstorben ist“, was zu den Informationen über Hujars Tod an AIDS im Jahr 1987 und Daniels eigenem HIV-Status passt. Der Erzähler stellt fest, dass Daniel während seiner eigenen Entdeckungen stirbt.

Die Spurensuche nach Daniel Schock ist weit mehr als eine Detektivgeschichte; sie ist eine tiefgründige Metapher für die Suche nach Sinn und Identität des Erzählers. Erstens führt die Recherche den Erzähler immer wieder zu den AIDS-Jahren zurück. Daniel verkörpert die Verluste einer ganzen Generation von Künstlern und Aktivisten jener Zeit. Diese Auseinandersetzung mit einer vergangenen Epidemie spiegelt sich in der Romanhandlung wider, die sich während der COVID-Pandemie abspielt und somit eine tiefgehende Parallele der viralen Krisen und des Verlusts aufwirft. Zweitens sieht der Erzähler in Daniel Schock ein Spiegelbild seiner selbst und eine Möglichkeit, seine eigene Identität zu ergründen und seine Beziehung zu seinem Körper und seiner Sexualität zu verstehen. Seine eigene Distanz zur traditionellen Männlichkeit und die Art, wie er Männer betrachtet und begehrt, werden durch Daniels Geschichte reflektiert. Drittens dient die Suche nach Daniel als stabilisierender Anker für den Erzähler, dessen eigenes Leben prekär ist: Er hat sein Studium aufgegeben, arbeitet als Escort, und ist mit der Krankheit und dem bevorstehenden Tod seines Vaters konfrontiert. Die Obsession für das Foto gibt seinem Alltag Struktur und einen „Ausweg aus dem Limbus“. Viertens korreliert Daniels Geschichte des Verlassenwerdens und der Suche nach seinen Eltern mit den komplexen Vater-Sohn-Themen im Roman. Der Erzähler muss lernen, „ohne seinen Vater zu sein“, und die Suche nach Daniel hilft ihm, die Leere zu füllen und sich mit dem Erbe und den Ängsten seines Vaters auseinanderzusetzen, einschließlich der Angst des Vaters vor der Homosexualität des Sohnes und HIV. Fünftens treibt die Erforschung des Fotos und Daniels Lebens den Erzähler zu einer neuen Perspektive auf seine eigene Sexualität und Beziehungen. Sie ermöglicht ihm, über bloße körperliche Begegnungen hinauszugehen und eine tiefere Verbindung und Liebe zu suchen. Schließlich trägt die „rohe und trockene“ – aber zutiefst emotionale und poetische – Schreibweise des Romans, oft in fragmentarischer Form, dazu bei, die innere Zerrissenheit und die Suche nach Zusammenhängen zu vermitteln. Diese Reise führt den Erzähler am Ende zu einer Art „Renaissance“, die sich in seiner Entscheidung äußert, seine Escort-Dienstleistungs-Konten zu löschen und sich auf das Schreiben und neue Anfänge zu konzentrieren.

Fotografien

Der Titel des Romans, „Photo sur demande“ (Foto auf Anfrage), ist zentral für das Verständnis der Geschichte und ihrer Themen, da er direkt mit der Berufstätigkeit des Erzählers als Escort-Boy verbunden ist. Er schaltet Anzeigen auf Dating-Apps wie Grindr und Giton mit dem Text: „Sprachstudent, maßgeschneiderter Liebhaber für kultivierte Männer, Preise und Fotos auf Anfrage“. Diese Fotos sind nicht spontan, sondern sorgfältig inszeniert und bearbeitet, beispielsweise mit Photoshop, um den Erwartungen der Kunden gerecht zu werden. Der Titel symbolisiert somit die kommerzielle und transaktionale Natur seiner Sexarbeit, bei der das eigene Bild zum Produkt wird, das je nach Nachfrage und Preis angeboten wird. Es verweist auf eine Welt, in der Beziehungen und Identität über visuelle Medien gehandelt werden. Später im Roman, nach der Nachricht von der Krankheit seines Vaters, ändert der Erzähler seine sexuellen Präferenzen auf Grindr und lädt neue Fotos hoch, was eine Veränderung seiner Selbstwahrnehmung und einen Versuch, die Kontrolle zu übernehmen, widerspiegelt. Am Ende des Romans löscht er alle seine Fotos von den Apps und deinstalliert diese.

Gleichzeitig erhält der Begriff „Foto auf Anfrage“ im Laufe des Romans eine tiefere, existenzielle Funktion, da der Erzähler selbst auf die Suche nach der Geschichte hinter einem bestimmten Foto geht, wodurch sein erratisches Leben allmählich einen Sinn findet. Die Rollen von Fotografien im Buch sind vielfältig und von zentraler Bedeutung:

Die zentrale Fotografie ist ein Schwarz-Weiß-Bild eines jungen Mannes, Daniel Schock (ursprünglich Schook geschrieben), der sich, mit gefaltetem Körper, den Zeh lutscht. Dieses Bild beschreibt der Erzähler als „eine bizarre, fast pornografische Unschuld“. Der Erzähler entdeckt dieses Bild über dem Bett eines Liebhabers, Thibaut. Diese Entdeckung löst eine obsessive Suche nach dem Modell Daniel Schock und dem Fotografen Peter Hujar aus. Die Suche nach Daniel bleibt jedoch schwierig und oft fruchtlos, da viele, die ihn gekannt haben könnten, bereits verstorben sind. Die Suche nach Daniel Schock führt den Erzähler unweigerlich in die Geschichte der AIDS-Epidemie der 1980er Jahre zurück, da Peter Hujar 1987 an AIDS starb und Daniel Schock wahrscheinlich ebenfalls an der Krankheit verstarb. Die Fotografie wird zu einem Symbol für die Verluste und die „Geisterbedrohung“ dieser Zeit.

Der Erzähler identifiziert sich mit Daniel Schock, sieht in den Fotos von ihm sein eigenes Spiegelbild und hinterfragt seine eigene Körperwahrnehmung und Identität. Er fragt sich, wie diese Pose zustande kam, ob sie spontan oder inszeniert war, und ob Daniels Ausdruck ein „Schneiden der Nase“ an ihm oder an alle Betrachter war. Die Abwesenheit von Informationen über Daniel Schock im Internet verstärkt dieses Gefühl des Mysteriums und der vergeblichen Suche nach Spuren. Trotzdem verfolgt der Erzähler seine „kleine Untersuchung“ hartnäckig, indem er sogar Nan Goldin kontaktiert, um mehr über Daniel zu erfahren. Das Bild wird von verschiedenen Charakteren unterschiedlich interpretiert: Während Thibaut darin den idealen Liebhaber sieht, empfindet Louis es als beunruhigend und als Vorbote der AIDS-Jahre und der damit verbundenen Risikobereitschaft, wobei er Daniel als „einen bereits toten Mann“ betrachtet, der „ein ausgeprägtes Verlangen nach Fetischismus und eine starke Neigung zu riskanten Praktiken“ hatte. Die Suche nach Daniel, einem fast vergessenen Künstler, und seine eigene Erfahrung als Escort-Boy, schaffen eine Verbindung zwischen dem Erzähler und Daniel, die über die Fotos hinausgeht und ihn zur eigenen Selbstfindung führt.

Die zu Beginn des Romans beschriebene Anzeige des Erzählers auf Dating-Apps wie Grindr und Giton lautet: „Sprachstudent, maßgeschneiderter Liebhaber für kultivierte Männer, Preise und Fotos auf Anfrage“. Diese Fotos sind nicht nur spontan, sondern inszeniert und nach den Wünschen der Kunden bearbeitet (z.B. mit Photoshop), um ein bestimmtes Bild von sich zu präsentieren. Sie dienen dazu, die finanzielle Transaktion zu erleichtern, da der Erzähler das Geld erst nach Vorlage des Fotos akzeptiert. Die Fotos sind ein Mittel zur Selbstdarstellung und zum Überleben, aber auch ein Werkzeug für die Suche nach einer verlorenen Identität.

Familienfotos werden verwendet, um die Geschichte des Vaters zu erzählen, insbesondere für die Dia-Show bei seiner Einäscherung. Die Mutter wählt ein passendes Bild des Vaters aus, das später gerahmt und als Teil eines kleinen Altars dient. Der Erzähler erinnert sich an seine eigenen Kindheitszeichnungen von Frauen in Kleidern, die seine frühe Geschlechtsidentität widerspiegelten und seinen Wunsch, eine Frau zu sein. Er stößt auf verblassende, unscharfe Model-Fotos von sich selbst aus seiner kurzen Zeit in der Modebranche, die das Gefühl des Scheiterns und der fehlenden Anerkennung hervorheben. Er versucht auch, Posen von Influencern nachzuahmen, um bessere Fotos für seine Apps zu machen, ist aber oft unzufrieden mit dem Ergebnis. Diese persönlichen Bilder helfen dem Erzähler, seine Vergangenheit zu verarbeiten und einen Sinn in seiner Gegenwart zu finden.

Fotografien sind somit im Roman Photo sur demande nicht nur ein zentrales Motiv, sondern dienen als Katalysatoren für die Selbstfindung des Erzählers. Sie verbinden die persönliche, emotionale Welt des Erzählers mit den gesellschaftlichen Realitäten von Sexarbeit, Identität und dem Vermächtnis der AIDS-Jahre. Die präzise und beinahe klinische Sprache des Autors verstärkt die Wirkung dieser visuellen Elemente, ohne in Pathos umzuschlagen. Sie ermöglichen es dem Leser, die Emotionen des Erzählers nachzuvollziehen, selbst wenn sie nicht explizit ausgedrückt werden.

Abschied vom Vater

Papa, Même si plusieurs fois tu as dit m’aimer, et qu’à certaines occasions tu étais fier de moi, j’ai toujours eu le sentiment de n’avoir pas réussi à te plaire. Toute ma vie j’ai eu peur de ne pas être le fils que tu désirais. Maintenant que tu n’es plus là, je me sens plus libre de mes choix. Et si de là-haut tu me surveilles, je suis désolé de ce que tu découvres. J’ai conscience que mes actes ne correspondent pas à ce que tu aurais voulu pour moi.

Simon Chevrier, Photo sur demande (Stock, 2025).

Papa, auch wenn du mir oft gesagt hast, dass du mich liebst, und ich manchmal gesehen habe, dass du stolz auf mich warst, hatte ich immer das Gefühl, dass ich dir nicht gefallen habe. Mein ganzes Leben lang hatte ich Angst, nicht der Sohn zu sein, den du dir gewünscht hast. Jetzt, wo du nicht mehr da bist, fühle ich mich freier in meinen Entscheidungen. Und wenn du von dort oben auf mich herabblickst, tut es mir leid, was du siehst. Ich bin mir bewusst, dass meine Taten nicht dem entsprechen, was du dir für mich gewünscht hast.

Der Handlungsstrang um den Vater und die Position des Erzählers innerhalb seiner Familie bildet ein fundamentales Gerüst für die Sinnsuche und Identitätsfindung des Protagonisten. Dieser Teil des Romans ist geprägt von den Themen Verlust, Erbe, sexueller Identität und der komplexen Beziehung zwischen Vater und Sohn. Denn der Vater des Erzählers befindet sich in der Endphase einer schweren Krankheit. Der Erzähler berichtet, wie er von der Krankheit des Vaters durch ein Telefonat erfährt, dessen „Stimme blass“ war, und die Nachricht „ohne Überraschung“ aufnimmt, obwohl er die Emotion „umgekehrt“ empfindet. Diese bevorstehende Abwesenheit des Vaters zwingt den Erzähler dazu, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, „ohne ihn sein zu müssen“. Das Ende des Vaters ist nicht nur ein physischer Abschied, sondern auch ein Moment der Ablösung von einem prägenden elterlichen Blick. Einerseits ist der Erzähler traurig über den Verlust des Vaters, den er liebt, andererseits empfindet ein Teil von ihm auch Erleichterung, dass dieser väterliche Blick nicht mehr präsent sein wird, was ihm „ein Gewicht nimmt“. Diese Ambivalenz ist zentral für die Entwicklung des Erzählers.

Pour sa maladie, je l’ai su comme ça, lors d’une conversation au téléphone. Quand j’ai décroché, il avait la voix pâle. Il m’a parlé d’une masse au côlon et de métastases au foie. » « Pour mon homosexualité, je suis sûr qu’il a tout de suite pensé au VIH, à se dire qu’en plus de tous les malheurs qui pouvaient m’arriver il y avait ça. Ça venait au-dessus de la pile de tous les drames. » « Le virus prend de l’ampleur, se répand partout dans le monde et ne faiblit pas. À l’annonce d’un possible confinement, j’ai pensé à mon père, aux kilomètres qui nous séparent, et j’ai pris le bus. Sur la route, je me demande de quoi les prochaines semaines seront faites, entre lui mort et nous tristes, enfermés à la maison. » « Pour lui, c’est un homme déjà mort. Il n’y a pas de doute. C’est certain. L’orteil dans la bouche, l’air coquin, évoque un goût prononcé pour le fétichisme, une forte appétence pour les pratiques à risque. Tout le monde ne se mettrait pas dans une telle position pour le désir d’un photographe. Lui, Daniel, il en a envie, et dans ses yeux ça se voit. »

Simon Chevrier, Photo sur demande (Stock, 2025).

Von seiner Krankheit habe ich einfach so erfahren, bei einem Telefonat. Als ich abnahm, klang er blass. Er erzählte mir von einem Tumor im Dickdarm und von Metastasen in der Leber. « Was meine Homosexualität angeht, bin ich mir sicher, dass er sofort an HIV gedacht hat, dass er sich gesagt hat, dass ich neben all dem Unglück, das mir schon widerfahren ist, auch noch das habe. Das kam noch zu all den anderen Dramen hinzu.» « Das Virus breitet sich aus, verbreitet sich weltweit und lässt nicht nach. Als die mögliche Ausgangssperre angekündigt wurde, dachte ich an meinen Vater, an die Kilometer, die uns trennen, und stieg in den Bus. Unterwegs frage ich mich, wie die nächsten Wochen aussehen werden, zwischen seinem Tod und unserer Trauer, eingesperrt zu Hause. » « Für ihn ist er bereits tot. Daran besteht kein Zweifel. Das ist sicher. Der Zeh im Mund, der verschmitzte Blick, zeugen von einer ausgeprägten Vorliebe für Fetischismus, einer starken Neigung zu riskanten Praktiken. Nicht jeder würde sich für die Wünsche eines Fotografen in eine solche Position begeben. Er, Daniel, will es, und man sieht es ihm an. »

Der Roman ist tief von der allgegenwärtigen Präsenz von Krankheit und Tod durchdrungen, die sowohl persönliche Tragödien als auch größere gesellschaftliche Ängste widerspiegeln. Die Krebsdiagnose des Vaters, die dem Erzähler lakonisch am Telefon mitgeteilt wird, führt zu einem tiefen Gefühl des bevorstehenden Verlustes. Diese persönliche Trauer ist eng mit der Angst des Erzählers vor HIV verbunden, die er explizit mit seiner Homosexualität verknüpft und die für seinen Vater als „über allen anderen Dramen“ wahrgenommen wurde. Dies deutet auf eine tief verwurzelte, internalisierte Furcht innerhalb der queeren Gemeinschaft hin. Die Erzählung wechselt nahtlos zur globalen COVID-Pandemie, die das Gefühl der Verletzlichkeit und Isolation noch verstärkt („zwischen ihm, der tot ist, und uns, die wir traurig und zu Hause eingesperrt sind“). Die Ausgangsbeschränkungen spiegeln die emotionalen und physischen Einschränkungen wider, die durch Krankheit auferlegt werden. Louis’ Interpretation von Daniel Schocks Foto als Darstellung eines „bereits toten Mannes“ aufgrund der „Anzeichen der AIDS-Jahre“ und seiner „Neigung zu riskanten Praktiken“ verbindet die Suche des Erzählers direkt mit dem historischen Trauma der AIDS-Epidemie. Diese Verknüpfung von vergangenen und gegenwärtigen Gesundheitskrisen prägt die Wahrnehmung von Begehren, Risiko und Sterblichkeit der Figuren und unterstreicht, wie diese Erfahrungen Körper, Beziehungen und die gesamte Weltanschauung des Erzählers beeinflussen.

Die Beziehung zum Vater ist tief und von unausgesprochenen Ängsten geprägt. Der Vater war stets besorgt um den Erzähler; bei kleinen Verletzungen reagierte er mit Wut, die seine Angst kanalisierte. Besonders die Homosexualität des Sohnes scheint den Vater zutiefst beunruhigt zu haben, wobei er sofort den Gedanken an HIV/AIDS damit verknüpfte, was für ihn „oben auf dem Stapel aller Dramen“ stand. Diese elterliche Angst, verbunden mit der unbewussten oder bewussten Botschaft, dass er nicht der gewünschte Sohn war, belastete den Erzähler sein Leben lang. Er hatte das Gefühl, nie wirklich gefallen zu können und nicht der Sohn zu sein, den der Vater sich wünschte. Dies spiegelte sich auch in der körperlichen Distanz wider; Umarmungen waren selten und flüchtig, meist nur bei offiziellen Anlässen wie dem Abitur.

In seiner Kindheit hatte der Erzähler zudem ein tiefes, frühkindliches Bewusstsein seiner weiblichen Identifikation. Er fühlte sich nicht als Junge, obwohl er das entsprechende Geschlecht hatte, spielte mit Mädchen und liebte es, Kleider und hohe Absätze seiner Großmutter zu tragen. Die ablehnende Reaktion seines Vaters auf dieses Verhalten, als er ihn einmal in Frauenkleidern überraschte, hinterließ eine tiefe Wunde und eine „Expression, die ich noch nie gesehen habe“. Auch in der Schule erfuhr er Ablehnung und physische Gewalt von Jungen, die ihn nicht als „einen von ihnen“ betrachteten. Diese Erfahrungen prägten seine spätere Distanz zur traditionellen Männlichkeit und seine Anziehung zu Männern, die ebenfalls „abseits“ standen. Er erkennt, dass seine Faszination für Männer nicht nur eine Frage des Geschlechts ist, sondern eine Suche nach jenen, die sich von der Masse abheben.

Hatte der eigene Vater auch eine heimliche Seite wie sein Sohn? Man mag die folgende Bemerkung vielleicht in dieser Richtung lesen, mit einer nicht-männlichen Stimme, die sich aber Gehör verschaffen kann:

Quand il lui parlait au téléphone, ma mère était surprise par ses intonations féminines. Puis elle s’y est habituée. Elle était même un atout de séduction, sa voix, comme une signature. Mon père savait être écouté et aimait qu’on l’écoute. Il parlait de politique, de littérature. Mais en réalité il pouvait parler de tout. Il faisait la cuisine, très bien même. Il repassait le linge, excellait en bricolage. Il gagnait convenablement sa vie et ne cessait d’évoluer. À cinquante ans il a démissionné de son poste de direction pour créer sa société. Ça impressionnait son entourage qu’il sache tout faire. Il aimait être occupé, avoir des projets. Il travaillait beaucoup, souvent trop, et en oubliait de passer du temps avec nous.

Simon Chevrier, Photo sur demande (Stock, 2025).

Als er mit ihr telefonierte, war meine Mutter überrascht von seiner weiblichen Stimme. Aber dann gewöhnte sie sich daran. Seine Stimme war sogar ein Reiz, eine Art Markenzeichen. Mein Vater wusste, wie man sich Gehör verschafft, und er liebte es, wenn man ihm zuhörte. Er sprach über Politik und Literatur. Aber eigentlich konnte er über alles reden. Er kochte sehr gut. Er bügelte die Wäsche und war ein begnadeter Heimwerker. Er verdiente gut und entwickelte sich ständig weiter. Mit fünfzig kündigte er seine Führungsposition, um sein eigenes Unternehmen zu gründen. Seine Umgebung war beeindruckt davon, dass er alles konnte. Er war gerne beschäftigt und hatte gerne Projekte. Er arbeitete viel, oft zu viel, und vergaß dabei, Zeit mit uns zu verbringen.

Der Vater selbst wird als eine komplexe Figur dargestellt: ein Mann, der gut in seinem Beruf war, gerne Projekte hatte und alles zu können schien, aber oft zu viel arbeitete und darüber vergaß, Zeit mit der Familie zu verbringen. Trotzdem war er eine Bezugsperson, deren Stimme (mit „femininen Intonationen“) für den Erzähler auch nach seinem Tod noch präsent ist, da Anrufer ihn in der Stimme des Erzählers wiedererkennen. Die Entscheidung des Vaters, in seinen letzten Monaten tiefe Sedierung oder Euthanasie in Betracht zu ziehen und einen Abschiedsfilm für seine Familie zu drehen, zeigt seinen Wunsch nach einem würdevollen Ende und die Erkenntnis, das „Hier und Jetzt“ wertzuschätzen. Der Erzähler, seine Mutter und Schwester sind beim Vater, halten seine Hand und verabschieden sich mit liebevollen Worten. Der Erzähler verlässt das Zimmer, bevor der Arzt die Sedierung einleitet. Er beschreibt die Trauer als eine aggressive, blendende „weiße Farbe“. Nach dem Tod fühlt er eine Art „Phantomschmerz“ und den Verlust eines Teils seiner selbst, obwohl sie nicht immer sehr eng waren. Später hat er einen Traum, in dem sein verstorbener Vater ihn umarmt und er dessen Geruch und Tränen wahrnimmt, was eine tiefe Sehnsucht nach Nähe offenbart.

Die Auseinandersetzung mit dem Sterben des Vaters erfolgt während der COVID-Pandemie, was eine Parallele zu den durch das AIDS-Virus verursachten Verlusten zieht, die der Erzähler durch seine Suche nach Daniel Schock erkundet. Der Erzähler kehrt ins Elternhaus zurück, und die Familie durchlebt den Prozess des Abschieds und der Trauer gemeinsam. Die Mutter und die Schwester bleiben wichtige Bezugspersonen, die seine Sorgen teilen und ihn unterstützen. Obwohl der Erzähler sich weigert, seinen Vater im Sarg zu sehen, weil er befürchtet, an seinen Körperteilen schon den Tod zu sehen, ist das Ereignis der Beisetzung und die „grausamen Details“ des Anblicks entscheidend für seine Trauerverarbeitung. Der Traum, in dem er vom Vater umarmt wird und dessen Geruch wahrnimmt, deutet auf eine tiefe, emotionale Verarbeitung des Verlustes hin, die über die bewusste Ebene hinausgeht.

Diese familiäre Konstellation, insbesondere die Beziehung zum Vater, bildet den emotionalen Nährboden für die Entscheidungen und das Verhalten des Erzählers. Seine anfängliche Orientierungslosigkeit nach dem Studienabbruch, seine Arbeit als Escort, und seine Schwierigkeiten, tiefe romantische Beziehungen einzugehen, können als Ausdruck seiner Suche nach Identität und Autonomie verstanden werden, die durch die prägende, aber auch belastende Vater-Sohn-Beziehung geformt wurde. Das Schreiben selbst wird zu einem Ventil für Unausgesprochenes und zu einem Weg, die Beziehung zum Vater zu verarbeiten, indem er ihm posthum einen Brief schreibt und sich entschuldigt, nicht der gewünschte Sohn gewesen zu sein. Letztlich ermöglicht diese tiefgehende familiäre Auseinandersetzung dem Erzähler eine Art „Renaissance“, indem er am Ende Dating-Apps löscht und sich dem Schreiben zuwendet, um „Seiten zu füllen“.

Der Roman endet mit einem Traum des Erzählers, in dem sein verstorbener Vater ihn hält. Dieser Traum symbolisiert eine tiefgreifende Intimität, Trost und die Möglichkeit einer inneren Versöhnung mit seinem Vater und seiner Vergangenheit. Es ist ein Moment der emotionalen Katharsis und des Neuanfangs.

C’est un rêve. Je rêve et suis allongé sur le côté droit, dans mon lit. Je sais que je dors, que je me repose. Je suis allongé et je sens un corps derrière le mien qui m’enlace, qui me serre. Je crois entendre des mots, mais ce n’est pas si clair puisque je rêve. J’entends des pleurs et reconnais l’odeur de mon père. Dans le rêve, j’ouvre les yeux et je comprends que c’est lui qui m’entoure.

Simon Chevrier, Photo sur demande (Stock, 2025).

Es ist ein Traum. Ich träume und liege auf der rechten Seite in meinem Bett. Ich weiß, dass ich schlafe, dass ich mich ausruhe. Ich liege da und spüre einen Körper hinter mir, der mich umarmt, mich festhält. Ich glaube, Worte zu hören, aber es ist nicht ganz deutlich, da ich träume. Ich höre ein Weinen und erkenne den Geruch meines Vaters wieder. Im Traum öffne ich die Augen und verstehe, dass er es ist, der mich hält.


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