Umzäunte Gärten: Karim Kattan

Der Garten als poetische und geopolitische Figur

L’échange merveilleux, la transaction magique, était qu’il fallait consentir à entrer dans l’enclos, pénétrer dans la fermeture, la traverser et conquérir ses ombres et sa végétation pour, là-haut, au sommet, découvrir l’ouverture et le monde entier à ses pieds… (Hortus conclusus, 2025, S. 12.)

Der wunderbare Tausch, die magische Transaktion bestand darin, dass man bereit sein musste, das Gehege zu betreten, die Umzäunung zu durchschreiten, sie zu überwinden und ihre Schatten und ihre Vegetation zu bezwingen, um dort oben, auf dem Gipfel, die Öffnung und die ganze Welt zu seinen Füßen zu entdecken …

Karim Kattans Gedichtsammlung Hortus Conclusus (2025) ist ein literarisches Werk von tiefer Ambivalenz und großer poetischer Dichte, das die ästhetische Schönheit der Dichtung mit der verstörenden Realität des palästinensischen Alltags verwebt. Geboren in Jerusalem, aufgewachsen in Bethlehem in einer christlichen Familie und heute in Frankreich lebend, ist Kattan selbst eine Inkarnation der „Geobiographie“ des Exils. Seine Gedichte sind eine Reaktion auf die persönliche Erfahrung von Verlust und Vertreibung, aber auch eine universelle Meditation über die Rolle der Kunst angesichts von „anéantissement“ (Vernichtung) und kolonialer Gewalterfahrung. Dabei stehen sie in motivischer Nähe zu seinem Roman Eden à l’aube (vgl. die Rezension in diesem Blog).

Der Titel der Sammlung, „Hortus Conclusus“ (lateinisch für „umzäunter Garten“), ist mehr als eine bloße Metapher: Er ist ein Schwellenraum, ein Brennpunkt von Erinnerung, Utopie und kolonialer Zerstörung. Dieser Begriff entstammt dem biblischen Hohelied Salomos und prägte in der christlichen Tradition die Ikonographie der Maria als Symbol für Reinheit und behütete Fruchtbarkeit. Bei Kattan wird diese Symbolik umgedeutet und aufgesprengt: Der Garten ist gleichermaßen Zufluchtsort und Ort der Konfrontation, von Ursprung und Verlust. Das zentrale Paradoxon „le dehors qu’on trouve dedans“ (das Draußen, das man drinnen findet) durchzieht den gesamten Band und lässt Kolonialisierung, Apartheid und Vernichtung im Inneren widerhallen.

Zu Beginn seines Werks stellt Kattan sich die existenzielle Frage: „A quoi bon écrire de la poésie alors que Gaza meurt ?“ (Wozu Poesie schreiben, wenn Gaza stirbt?). Obwohl die Gedichte selbst vor den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 geschrieben wurden (vgl. S. 9), erklärt der Autor, dass sich alles nach Gaza ändere – Gaza bezeichne nun einen Ort, einen Moment, eine Tat und zugleich ein Scheitern. Diese unmissverständliche Verankerung des Werks in der Leidensgeschichte Palästinas und der Region Nahost ist ein Manifest poetischer Verantwortung.

Der vorliegende literaturwissenschaftliche Aufsatz schlägt eine Lektüre von Hortus Conclusus anhand folgender eng verzahnter Hypothesen vor: Der Garten fungiert als komplexe Metapher einer poetischen Geopolitik, in der sich intime Topographie, politische Realität und mythologische Tiefe durchdringen. Die Sammlung artikuliert eine Poetik der Kontingenz, in der das Erleben, Erinnern und Begehren radikal ortsgebunden sind, diese Bindung wird jedoch durch koloniale Gewalt, Exil und mediale Überlagerung prekär. Hortus Conclusus lässt sich als planetarische Sarha lesen – ein nomadisches, poetisches Umherwandern, das reale und imaginierte Räume überlagert. Das Werk entwickelt eine autofiktionale Topographie der Entgrenzung, in der queere Identität, palästinensische Herkunft und postkoloniale Reflexion untrennbar miteinander verwoben sind. Schließlich stellt die Sammlung eine radikale Meditation über Gewalt und Sichtbarkeit dar, die sich in einer Dichtung der Schwelle, des Übergangs und der imaginären Subversion äußert.

Der Garten als zentrale Metapher und geopolitische Figur

Der Hortus Conclusus ist das kontemplative Zentrum von Kattans Poetik, ein Motiv, das die gesamte Sammlung durchdringt und das Verhältnis von Innerem und Äußerem, von Bewahrung und Zerstörung artikuliert. Der reale Klostergarten in Artas, unweit von Kattans Elternhaus in Bethlehem, war einst ein Ort unbeschwerter Kindheitsausflüge, insbesondere zu Weihnachten. Doch die zunehmende Gewalt von Siedlern und Soldaten hat dieses „kleine verzauberte Eden“ „unzugänglich gemacht“. Die Klosterschwestern rieten 2024 von einem Besuch ab, da sich Soldaten auf dem Hügel befänden. In Kattans Worten hat sich der Hortus „in diesem Jahr zurückgezogen, avalonisch, aus unserer Welt“.

Trotz dieser physischen Sperrung bleibt der Garten „préservé“ (erhalten) auf den Gedichtseiten. Poesie wird hier zu einem Akt des Widerstands gegen die „koloniale Austrocknung des Territoriums und die Verwüstung der Landschaft“. Die Gärten im Buch sind „weder Vorwände noch Metaphern“, sondern eine „vitale Kraft“, die das „Multiple und Irreduzible“ repräsentieren und sich der Einheitslogik der Kolonialmacht widersetzen. Wo Kolonialisierung „aridité“ (Trockenheit) erzeugt, bietet der Garten „luxuriance“ (Üppigkeit).

Die „valeur poétique“ (poetische Wertigkeit) des Gartens liegt in seiner doppelten Struktur: Er ist ein Ort des Rückzugs und der Öffnung. So findet sich in seiner „Verschlossenheit“ paradoxerweise der „Zugang zu einer unerwarteten Welt“ und die Möglichkeit, „die Öffnung und die ganze Welt zu seinen Füßen zu entdecken“. Dieser innere, imaginierte Garten wird so zu einem utopischen Möglichkeitsraum, der der physischen Dystopie entgegensteht.

Die Gewalt der Sichtbarkeit und repressive Geografie

Kattans Poesie ist tief von der „tragédie palestinienne“ (palästinensischen Tragödie) geprägt, die ihn stets einholt. In der Einleitung wird betont, dass die Gedichte nicht ohne den Kontext der „Zerstörung von Gaza“ existieren können, ein Name, der wie bereits erwähnt „nun gleichzeitig einen Ort, einen Moment, einen Akt und ein Scheitern bezeichnet“. Kattans öffentliches Engagement, den Krieg als Genozid zu benennen, unterstreicht die Dringlichkeit und politische Schärfe seines Schreibens.

Dies zeigt sich besonders im Gedicht „Je m’étais promis de ne jamais [Checkpoint 300]“. Hier reflektiert der Sprecher die Paradoxie, dass der Checkpoint nicht beschrieben werden kann, da jede Beschreibung seine Brutalität banalisieren würde. Dennoch muss er benannt werden, „damit man weiß, dass sie mir das angetan haben“. Der Akt des Schreibens wird zur „widerständigen Spur“ (trace résistante), die die „oppressive géographie“ (unterdrückende Geografie) festhält. Kattan beschreibt, wie er an den Checkpoints das Gefühl hat, „rien“ (nichts) zu sein, wie die „blauen Augen“ der Soldaten ihn als „sous-race“ (Untermenschen) sehen und wie alles auf seine „destruction“ (Zerstörung) ausgelegt scheint. Die „administrative Prüfung, banal, aber gewalttätig“, bildet das „Rückgrat der Apartheid“.

In „Tu n’as pas traversé la porte encore [Porte d’Ishtar]“ dient die Stadt Babylon als Projektionsfläche für die koloniale Überlegenheit und Nicht-Zugehörigkeit. Der Sprecher „brennt vor Neid, Hass, Begehren“ und wünscht sich, „alles in Babylon zu verbrennen“ und zu „schlachten“, da es ihm nicht gehört und „gegen dich, trotz dir, ungeachtet deiner“ existiert. Diese Poetik der negativen Identifikation reflektiert die radikale Ausschließung und das Gefühl, sich selbst zu hassen, weil man nicht gesehen wird.

Das Wadi al-Ward (Tal der Rosen), das auf Karten von 1870 verzeichnet war, später jedoch verschwand, symbolisiert den Verlust von Territorium und Erinnerung. Kattans Suche nach diesem „verlorenen, nicht mehr benannten Ort“ in seiner Erinnerung und seinen Träumen ist ein Akt des Widerstands und der Bewahrung dessen, was physisch zu verschwinden droht. Er imaginiert spirituell einen „titanischen Gärtner-Sämann“, der einst die wilden Rosen dort säte, eine Anspielung auf den auferstandenen Christus als Gärtner. Dies verleiht dem Tal eine mythische, fast paradiesische Qualität und transformiert den Verlust in eine Quelle imaginativer Energie.

Planetarische Sarha und fluide Identitäten

Ein zentrales Motiv des Bandes ist das pilgernde „Umherziehen“ (pérégrination). Kattan beschreibt seine Gedichte als „sarha et safar, excursion et voyage, promenade et aventure“ (Ausflug und Reise, Spaziergang und Abenteuer). Diese „planetarische Sarha“ ist keine Flucht vor der Realität, sondern eine poetische Re-Territorialisierung. Orte wie Kyoto, Glastonbury, der Olymp, Pangäa und Endor werden zu Stationen einer „géobiographie“, die geografische Orte, persönliche Erinnerungen und universelle Themen miteinander verwebt.

In „La neige ce jour-là faisait luire Kamogawa [Kyoto]“, wird Kyoto zum Ort eines inneren Stillstands, einer „Zustimmung zum Nichts“ (consentement au rien). Gleichzeitig verweist die Anwesenheit der Großmutter in den 1930er Jahren in Kyoto auf eine unerwartete familiäre Verbindung über Zeit und Raum hinweg. Im Gegensatz dazu wird in „Grotte du dieu-cerf [Glastonbury Tor]“ die britische Landschaft zur Bühne eines queeren Rituals, das scheitert, da der Gott nicht antwortet. Der Text reflektiert die Ambivalenz spiritueller Suche, touristischer Geste und queerer Einsamkeit.

Kattans Artus-Gedichte, wie „Dans ma chambre nouvelle [Camelot]“ und Viviane (was in den Arthur-Referenzen impliziert wird), unterwandern patriarchale Heroismen. Der Sprecher wird zur „dame au lac“ (Dame vom See), zum Zauberer, zur Geliebten, zum Tier. Identität wird flüssig, und Camelot erscheint als „rêve enfiévré“ (fiebriger Traum). Diese Entgrenzung der Identität ist eng verbunden mit einer queeren Identität sowie der postkolonialen Reflexion, die Kattan in seiner autofiktionalen Topographie entwickelt.

Exkurs 1: Zur queeren Dimension von Hortus conclusus

Die queere und schwule Dimension in Karim Kattans Hortus conclusus ist vielfältig und explizit. Sie durchzieht verschiedene Textebenen und ist eng mit den zentralen Themen des Bandes wie Identität, Gefangenschaft, Befreiung und der Kraft der Imagination verknüpft. Eines der deutlichsten Beispiele ist der Abschnitt „Port Island“. Die einleitende Zeile „Il m’encule“ (Er fickt mich) ist eine direkte und ungeschönte Darstellung männlicher Homosexualität. Die sexuelle Handlung wird hier in einer Höhe von dreißigtausend Stockwerken als Akt der Befreiung und des Rückzugs von einer feindseligen Welt inszeniert: „Dass es dort oben sicherer ist als unten – das wissen er und ich.“ Der Sprecher empfindet dabei ein Aufsteigen der Seele („mon âme qui affleure“) und ist „gebadet in Rosa“, wodurch die sinnliche und beinahe transzendente Dimension dieser Erfahrung hervorgehoben wird. Dies ist ein Ort der Zuflucht und der Erfüllung unkonventioneller Sehnsüchte. Auch die Sehnsucht nach einem „Babylonien beau comme une Babylonienne“ in „Tu n’as pas traversé la porte encore [Porte d’Ishtar]“ deutet auf gleichgeschlechtliches Begehren hin. Der Abschnitt „Zeus doigte Ganymède comme on caresse un chat [Olympe]“ ist eine zentrale queere Referenz. Die Verführung und erzwungene „Domestizierung“ Ganymeds durch Zeus wird als Allegorie für Machtmissbrauch, Identitätsverlust und die Sehnsucht nach Autonomie gelesen. Zeus‘ „sanfte Tyrannei“ („tyrannie douce“) und Ganymeds erzwungene „ewige Kindheit“ („enfance éternelle imposée“) spiegeln nicht nur universelle Unterwerfungsdynamiken wider und können zudem auch als Kommentar zu spezifischen Machtbeziehungen innerhalb queerer Kontexte oder als Metapher für die koloniale Kontrolle über die palästinensische Identität interpretiert werden. Die Sehnsucht Ganymeds, Flügel wachsen zu lassen und nach Hause zurückzukehren, steht für den Drang nach Befreiung.

Der Band betont ausdrücklich die „endlose[n] Verdoppelung von Identitäten, Geschlechtern“ („re-doublement interminable des identités, des genres“). Dies wird besonders anschaulich in „Dans ma chambre nouvelle [Camelot]“. Der Sprecher nimmt dort diverse und wechselnde Rollen an: „Jägerin König Fee / nicht mehr ganz König noch Fee noch Ritter / alles das gleichzeitig bestimmt“. Später heißt es explizit: „Der König wurde zur Zauberin oder die Dame wurde zum König.“ Durch diese Dekonstruktion binärer Geschlechterrollen wird das Werk in einem queeren Kontext der Identitätserforschung positioniert. Selbst in der Urzeit, in „Saturne violet cobalt pluton [Pangée]“, wird eine ursprüngliche Verschmelzung der Identitäten beschrieben: „du, der du ich bist und ich, der ich du bin“, was eine fundamentale Fluidität des Seins andeutet. Das „Château de Joyeuse Garde“ in „Toi du lac moi des îles“ wird zum Schauplatz einer zärtlichen und aufopferungsvollen gleichgeschlechtlichen Liebe. In der Geschichte legt der Eroberer Lancelot seine Waffen aus Liebe ab und widmet sich freiwillig „häuslicher Bestimmung“ („la domesticité“). Die Eroberung der Welt wird zur „Eroberung der Welt in mir“, die dem Geliebten dargebracht wird – eine Umleitung traditioneller männlicher Eroberungslust in eine innere, liebevolle Transformation. Die einst schmerzhafte Festung wird durch die gemeinsame Anwesenheit „freudig“ („joyeuse“), was die transformative Kraft der Liebe betont. Der Akt der „Wiederaneignung“ („prendre leur roi et leurs magiciennes“) im Abschnitt „Grotte du dieu-cerf [Glastonbury Tor]“, wo der Sprecher mythologische Figuren und Orte übernimmt, ist ebenfalls ein Akt des Widerstands gegen die Entrechtung des eigenen Landes und Gottes. Dies kann eine queere Dimension der Subversion und Neudefinition von Normen implizieren.

Exkurs 2: Artusreferenzen

Avalon wird als „Maß unserer Träume“ und eine „unmögliche“ Insel beschrieben, die auf tiefe Sehnsüchte nach einem verlorenen Paradies und die Suche nach Hoffnung verweist, während der realweltliche Ort Artas durch die drohende Vertreibung „avalonisch“ wird, sich also aus der greifbaren Welt zurückzieht. Der Besuch des Sprechers am Glastonbury Tor, einem mit Arthur, Lancelot und Morgane verbundenen Ort, ist zunächst ernüchternd und realitätsnah. Doch die Geste, „ihren König und ihre Zauberinnen, ihre Insel und auch ihren König zu nehmen“, weil „sie mir meinen Gott und mein Land nehmen“, ist eine provokante Geste der Wiederaneignung und des symbolischen Widerstands gegen die kolonisierende Macht. Sie ist auch eine Bestärkung der eigenen Identität angesichts des Verlusts. Camelot wird als Ort der Verwandlung und der fluiden Identität dargestellt. Dort wird der Sprecher zur „Dame am See“ oder zum „König, der zur Zauberin wurde“ wird. Dies weist starre Geschlechter- und Rollenzuschreibungen zurück und unterstreicht die „endlose Verdoppelung von Identitäten und Geschlechtern“. Gleichzeitig ist es ein „Luftgefängnis, ein Karzerwald“, wordurch die omnipräsenten Themen der Gefangenschaft und des Eingeschlossenseins aufgegriffen werden. Diese Dimensionen liegen auch dem Titel des Bandes, Hortus conclusus, der „Einschluss und Befreiung“ artikuliert, zugrunde. Camelot erscheint als vergangenes Ideal oder Ruine, als ein „sanfter Traum von Türmen und Festungen“, „die Überreste eines fieberhaften Traums, nichts, die Abfälle eines Reiches“, was den Zerfall großer Erzählungen und die Zerstörung des Landes widerspiegelt. Die Referenz auf Château de Joyeuse Garde, verbunden mit Lancelot, erzählt von einer tiefgreifenden Liebe und freiwilligen Unterwerfung, bei der der Eroberer seine Waffen niederlegt und die „Häuslichkeit“ anstelle der Eroberung des Universums wählt. Die „Festung, die einst schmerzhaft war“, wird durch die gemeinsame Anwesenheit „freudig“, was die transformative Kraft der Liebe und eine Verlagerung des Eroberungsdrangs nach innen, auf die „Eroberung der Welt in mir“, verdeutlicht. Schließlich ist das Val sans Retour ein mythisches Tal, in dem Männer in der Erinnerung einer Zauberin gefangen gehalten werden, ein Ort der Immobilisierung, Stasis und eines paradoxen „Friedens“, an dem die Gefangenen „von Begierde und Zeit entfernt“ sind. Es verkörpert eine kontrollierende weibliche Figur und illustriert die verführerische, aber erstickende Natur bestimmter Formen der Verzauberung oder Kontrolle, in denen die Sehnsucht nach Freiheit (dem „Meer“) schmerzhaft unerreichbar bleibt. Insgesamt werden die arthurischen Mythen neu kontextualisiert, um die palästinensische Erfahrung von Exil, Widerstand, Fragmentierung und Suche nach (Wieder-)Beheimatung zu reflektieren. Dadurch kann der Autor die Brutalität der Realität mit der Kraft der Imagination verbinden, wie es im Zitat „Le haut du jardin est là où se fait la jonction entre la brutalité et le rêve“ zum Ausdruck gebracht wird. Diese Figuren und Orte dienen als „Dienerinnen der Kräfte des Glanzes“ („servantes des puissances de l’éclat“), die dem Anéantissement mit der Macht des Imaginären begegnen und zur „endlose[n] Verdoppelung von Identitäten, Geschlechtern, Kriegen und Frieden“ im Hortus conclusus beitragen.

Weitere Bezüge, die Kattans Dichtung motivisch vernetzen, sind biblische Erzählungen, Bezüge zu Babylon und den antiken nahöstlichen Zivilisationen, die griechische Mythologie mit Knossos und Pasiphaë, Olymp und Zeus/Ganymed, das Orakel von Dodone, dann die ägyptische Himmelsgöttin Nout, der urzeitliche Kontinent Pangäa als erste Erde, außerdem Endor, Waqwaq, ein persischer Berg und eine bretonische untergegangene Stadt. All diese Bezüge tragen dazu bei, die realen Erfahrungen von Kolonialisierung, Verlust und Vertreibung in Palästina auf eine universelle, archetypische Ebene zu heben. Sie schaffen eine „endlose Verdoppelung von Identitäten, Geschlechtern, Kriegen und Frieden“ und zeigen, wie die Imagination als „Dienerin der Kräfte des Glanzes“ („servantes des puissances de l’éclat“) genutzt wird, um der Brutalität der Realität zu begegnen und einen Weg des Traums und der Widerstandsfähigkeit zu finden.

Intakt und zerstört, sakral und profaniert

Oft kontrastiert Kattan Orte, die einst intakt waren oder in ihrer Idee intakt bleiben, mit der physischen Realität ihrer Zerstörung oder Unzugänglichkeit. So wird Bethlehem als „überall in Scherben“ beschrieben, das aber gleichzeitig als Stadt, die „bewässert und ausstrahlt“. Das „Wadi al-Ward“ ist ein auf alten Karten verzeichneter, aber verschwundener Ort, der die „koloniale Austrocknung des Territoriums und die Verwüstung der Landschaft“ symbolisiert. Die Kolonialisierung erzeuge „aridité“ (Trockenheit) dort, wo sie nicht war, und „unicité“ (Einzigartigkeit) dort, wo Vielfalt existierte.

Das Sakrale wird den profanen und gewalttätigen Realitäten Palästinas gegenübergestellt. Der „Hortus Conclusus“, ein Ort mit „marialer Thematik“ und Symbol der „fruchtbaren Reinheit“, wird durch die Präsenz von Siedlern und Soldaten profaniert und zu einem gefährlichen Ort gemacht. Der Ort „Ras al-Bustan“, dessen Name einen Garten am „sommet de l’unique, primordial, jardin“ (Gipfel des einzigartigen, ursprünglichen Gartens) evozieren könnte, beherbergt ein Militärzentrum der Besatzung. Die dortige „administrative Prüfung“ wird als „banale mais violente“ (banal, aber gewalttätig) und als „colonne vertébrale de l’apartheid“ (Rückgrat der Apartheid) bezeichnet.

In „Je m’étais promis de ne jamais [Checkpoint 300]“ führt die Konfrontation mit der „unterdrückenden Geografie“ zu einer „Demütigung meiner Seite, meiner Seele“. Das Gefühl, zu „nichts“ (rien rien) reduziert zu werden, ist eine tiefgreifende Profanierung der menschlichen Würde. Auch in „Zeus doigte Ganymède comme on caresse un chat [Olympe]“ wird die göttliche Machtausübung zur Tyrannei, die den Körper, die Erinnerung und die Identität Ganymeds profaniert und ihn in ewiger Kindheit gefangen hält. Das wiederholte „tue-le“ (töte ihn) in „Alors, tue-le [en Aulide]“ ist eine erschütternde Profanierung der Kindheit und des menschlichen Lebens selbst und zeigt die Dystopie des palästinensischen Alltags und die Verzweiflung angesichts profanierter Unschuld auf.

Liebe, Körper und Gemeinschaft

Die Gedichtsammlung deutet an, dass inmitten von Zerstörung und Verlust „amours“ (Lieben) eine Rolle spielen. Das Gedicht „Toi du lac moi des îles [Château de Joyeuse Garde]“ zeugt von der transformativen Kraft der Liebe, in der der Sprecher, einst ein Eroberer, seine Ehre für die Scham der Hingabe an den Geliebten eintauscht. Hier wird die Welt nicht erobert, um zu herrschen, sondern um sie dem Geliebten schenken zu können. Die Festung, die einst „douloureuse“ (schmerzvoll) war, wird „joyeuse“ (freudig), weil sie nun gemeinsam bewohnt wird. Dies offenbart eine persönliche Versöhnung und inneren Frieden.

Der Garten der Mutter in „Sans un citronnier [Gan Eden]“ ist ein Ort der Familienliebe und Bewahrung. Ihre Hände, die den Garten formten, symbolisieren Fürsorge und die Schaffung von Leben. Der Garten repräsentiert ihr „Glück und ihr einziges Leben“ und wird zu einem Ort der „gemeinsamen Präsenz“, an dem die Mutter und ihre unerfüllten Identitäten wiedergefunden werden können. Dies zeigt, wie Liebe und familiäre Bindungen über physische Abwesenheit und Verlust hinweg Bestand haben.

Die Gemeinschaft selbst wird durch die Kolonialisierung fragmentiert und durch Checkpoints in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Doch die Literatur fungiert als ein Ort der Gemeinschaft und Verbindung. Das Beispiel des aus Gaza stammenden Dichters Refaat Alareer, der durch Gedichte und Bücher jede Ecke Jerusalems kannte, obwohl er die Stadt aufgrund der 70 Kilometer, die Gaza von Jerusalem trennen, nie besuchen konnte, unterstreicht die Macht der Literatur („pouvoir de la littérature“). Sie schafft ein „Palästina, das viel größer ist als das der ‚unterdrückenden Geographien‘, der Mauern und der Kolonisierung“. Diese imaginierte, durch Poesie zugängliche Heimat wird zu einem Raum der Zugehörigkeit und des Widerstands gegen die Trennung.

Das Gedicht „Retrouvailles [Pont Allenby]“ (Wiedersehen [Allenby-Brücke]) ist ein expliziter Ausdruck von Versöhnung und Frieden. „Retrouvailles“ beschreibt nicht nur eine physische Begegnung, sondern auch einen „inneren Zustand und Ort der Erinnerung“, an dem die Abwesenden in uns weiterleben. Die „unbeherrschbare Lachen bei der Totenwache“ und die „ruhige Freude“ zeigen die Resilienz des Geistes, inmitten von Trauer Frieden zu finden. Die Überquerung des Jordan in diesem Gedicht symbolisiert eine metaphysische Reise zu einem „einzig wahren Himmel“, eine Pilgerfahrt über reale und imaginäre Grenzen hinweg. Dadurch wird Heimat nicht nur als physischer, sondern auch als spiritueller und erinnerter Raum definiert.

Der Garten als utopisches Echo der Resilienz

Hortus Conclusus ist kein „Trostbuch“, sondern ein „Buch der Möglichkeiten“. Es verweigert sich einer einfachen Darstellung von Zerstörung, indem es das Trauma umkreist und in Mythen, Szenen und Körper einbettet. Kattan macht keine direkten politischen Vorschläge, besteht aber auf der Sichtbarkeit des Leidens – „ils m’ont fait ça“ (sie haben mir das angetan). Das Gedicht wird zur „Geste der Zeugenschaft“ und der Persistenz, zum „Willen zur Sprache“, der der Gewalt nicht das letzte Wort lässt.

Der Garten, verstanden als Ort der inneren und äußeren Bewegung, der Transformation und der Erinnerung, wird so zur Metapher einer Dichtung, die die Gewalt nicht verschweigt, ihr aber auch nicht die Oberhand lässt. In einer Welt, in der Kolonialisierung nicht nur Land, sondern auch Imagination zu zerstören droht, setzt Kattan eine Poetik der Verbindung entgegen: zwischen Erinnerung und Zukunft, Mythos und Körper, Bethlehem und Avalon.

Der umzäunte Garten ist in Kattans Dichtung eine Utopie, die nicht in einer äußeren, greifbaren Perfektion besteht, sondern in der Resilienz des menschlichen Geistes, der grenzenlosen Kraft der Imagination und der bewahrenden Rolle der Poesie. Er ist eine Utopie der inneren Welt, die dem „Assèchement“ (Austrocknung) und der „Dévastation“ (Verwüstung) der äußeren Welt trotzt und somit einen Gegenentwurf zur bedrückenden Realität Palästinas darstellt. „Dieses Land ist da, wo die Reise und die Imagination sind“, schreibt Kattan. In einer Welt, in der alles zu verschwinden droht, bleibt das Gedicht als ein umzäunter Garten bestehen – ein Ort, an dem das Verlorene durch die Macht der Sprache eine neue Existenz findet. Es ist ein poetisches Echo der Resilienz, das uns lehrt, Schönheit und Verbindung selbst im Angesicht tiefster Verzweiflung zu suchen und zu bewahren. Das Lesen von Kattans Werken ist somit selbst ein Eintritt in diesen umzäunten Garten der Möglichkeiten, eine Einladung, die Präsenz des Abwesenden zu spüren und die Kraft der Imagination als Akt des Überlebens zu erfahren.


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