Übersehenes Interieur: Partikel, Zeichen und Kratzer bei Thomas Clerc

Thomas Clerc als Anti-Odysseus

Comme j’ai été lent à faire le tour de ma maison! 3 ans pourtant c’est 3 fois moins qu’Ulysse revenant de Troie. Ulysse ne voulait pas rentrer à Ithaque, et moi je m’évertue à rester ici, je supplie de ne pas sortir. (Thomas Clerc, Intérieur.)

Wie langsam ich doch war, mein Haus zu erkunden! 3 Jahre sind immerhin 3 mal weniger als Odysseus für seine Rückkehr aus Troja gebraucht hat. Odysseus wollte nicht nach Ithaka zurückkehren, und ich bemühe mich, hier zu bleiben, flehe darum, nicht hinausgehen zu müssen.

Thomas Clercs Intérieur ist eine obsessive Inventur seines 50 Quadratmeter großen Pariser Apartments an der Rue du Faubourg-Saint-Martin, die den Wohnraum als „gläserne Autobiografie“ und „irritierendes Psycho-Mosaik“ des Ich-Erzählers enthüllt. Dieses Werk, das jedes einzelne Element der Räume minutiös beschreibt und Erinnerungen sowie Gedanken des Autors wiedergibt, repräsentiert eine umfassende Kartierung der intimen Innenwelt. Die detailverliebte Erkundung des eigenen, begrenzten Wohnraums stammt von einem Anti-Odysseus, der nicht nur nicht weg will, sondern regelrecht darum bettelt, in seinem Apartment bleiben zu dürfen. Er drückt den Wunsch nach Abgrenzung von der Außenwelt aus und etabliert das Haus als einen Mikrokosmos, der in all seinen Facetten beschrieben werden soll. Es ist ein introspektives Projekt, das die Tiefe und Komplexität des scheinbar Banalen im Inneren sucht. Seine Reinlichkeitsbesessenheit (II, „Qu’est-ce que la propreté ?“) führt zu paradoxen Effekten, da übermäßiges Waschen die schweißregulierenden Zellen zerstören kann. Seine Magenprobleme und Kopfschmerzen, für die er Medikamente aufbewahrt (II, „Inhalt des Medizinschranks“), oder seine Phobie vor Türklinken in öffentlichen Toiletten (III, „Veuve poignée“) sind Ausdruck seiner persönlichen Neurosen und Ängste. Er bezeichnet seine Apotheke als „Autobiographie“.

Bereits in Intérieur deutet Clerc das Verhältnis von Sichtbarem und Verborgenen an, das Cave bestimmen wird. So thematisiert er die Platzierung seiner Freud-Puppe:

Entre slips et chaussettes, sous 1 emballage de cellophane transparent, on peut admirer 1 poupée miniature représentant Sigmund Freud. Vénérant Freud (et déplorant les attaques venues de tous côtés dont est actuellement l’objet ce grand libérateur de l’homme), le fait de l’exiler dans 1 placard à sous-vêtements, loin d’être injurieux, est ma façon de l’honorer, en soulignant l’accent qu’il a lui-même porté sur le sens souterrain des signes. De temps à autre, je dispose cette petite poupée ailleurs, à vue. Tel 1 enfant, j’aime changer les objouets de place afin de donner à ma fantaisie le libre cours que j’espère qu’elle aura toujours. Sortir Sigmund Freud du placard, c’est mettre au jour l’homme qui nous a montré que nous étions tous des séquestrés de nous-mêmes. Ainsi pour mieux éprouver sa puissance, j’ai récemment mis Freud devant de la vodka — mais je crois qu’il rayonne mieux au placard.

Zwischen Unterhosen und Socken, in 1 durchsichtigen Zellophanverpackung, kann man 1 Miniaturpuppe bewundern, die Sigmund Freud darstellt. Da ich Freud verehre (und die Angriffe von allen Seiten bedaure, denen dieser große Befreier der Menschheit derzeit ausgesetzt ist), ist es für mich keine Beleidigung, ihn in 1 Unterwäscheschrank zu verbannen, sondern meine Art, ihn zu ehren, indem ich den Akzent betone, den er selbst auf die verborgene Bedeutung von Zeichen gelegt hat. Von Zeit zu Zeit stelle ich diese kleine Puppe an einen anderen Ort, wo sie gut sichtbar ist. Wie 1 Kind liebe ich es, Gegenstände umzustellen, um meiner Fantasie freien Lauf zu lassen, von der ich hoffe, dass sie mir immer erhalten bleibt. Sigmund Freud aus dem Schrank zu holen bedeutet, den Mann ans Licht zu bringen, der uns gezeigt hat, dass wir alle Gefangene unserer selbst sind. Um seine Macht besser zu spüren, habe ich Freud kürzlich vor einen Wodka gestellt – aber ich glaube, im Schrank strahlt er mehr.

Thomas Clercs Intérieur (2013) und Cave (2021) bilden ein literarisches Diptychon, in dem die vollständige Beschreibung einer Wohnung eine doppelte Poetik des Raums vorlegt. Intérieur kartographiert das Sichtbare, Nutzbare und geordnete Innere mit mikrologischer Präzision, wobei jedes Objekt zum Auslöser autobiographischer, kulturkritischer und poetologischer Reflexion wird. Acht Jahre später ergänzt Cave diese Kartographie um den „vergessenen“ Kellerraum – einen Ort des Dunklen, Verdrängten und Verfalls. Der Nachtrag ist nicht nur physische Vervollständigung, sondern auch meta-poetische Korrektur, die den Anspruch auf Vollständigkeit unterläuft. Gemeinsam offenbaren beide Texte, dass jede totale Inventarisierung zwangsläufig eine Leerstelle produziert, und dass die Literatur im Spannungsfeld von Fixierung und Entzug ihre produktivste Form findet.

Auf den ersten Seiten gesteht Clerc, dass er bei seinem ersten Buch etwas vergessen hatte: die Kellerabteilung, die zu seiner Wohnung gehörte. Dieser „vergessene“ Bereich wird im neuen Text nachträglich begangen – nicht nur als physischer Raum, sondern als poetologische Leerstelle. Cave ist damit ein Supplement, aber auch eine Revision: ein Nachtrag, der die Illusion der Vollständigkeit bricht und zugleich ein neues Zentrum entwirft, das aus Angst, Verfall und Unbewusstem besteht. Diese Erkundung wird metaphorisch zu einer Reise in sein eigenes Unbewusstes, ein „immense inventaire de moi-même“, in dem er versteckte Passagen, unerwartete Entdeckungen und eine vielschichtige, oft verstörende „Unterwelt“ vorfindet, die seine sexuellen Wünsche, Ängste und existenziellen Widersprüche offenbart. Cave gibt die relativ geordnete Raum-für-Raum-Progression zugunsten einer desorientierenderen, labyrinthartigen Struktur auf, die die nicht-lineare Natur des Unbewussten widerspiegelt.

Tu es descendu dans la cave, Thomas, car tu es obscur à toi-même… (Thomas Clerc, Cave.)

Du bist in den Keller gegangen, Thomas, weil du dir selbst ein Rätsel bist…

Der blinde Seher Tirésias führt den Erzähler in die Tiefe seiner eigenen Dunkelheit und konfrontiert ihn mit seiner inneren Wahrheit. Tirésias verkörpert die Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen, Wahrheit und Täuschung, Licht und Dunkel im Inneren des Protagonisten. Das Zitat, gesprochen vom blinden Propheten Teiresias, stellt das ultimative Ziel und die tiefe persönliche Bedeutung der Keller-Erkundung dar: Es ist eine Reise zur Selbsterkenntnis. Der Autor wird mit der Tatsache konfrontiert, dass er „sich selbst dunkel ist“ („obscur à soi-même“). Während Intérieur die äußere, greifbare Realität des Innenraums akribisch erfasst, taucht Cave in einen verborgenen, symbolischen Raum ein, der die Grenzen zwischen realer Topographie und psychischer Landschaft verwischt und die scheinbar objektive Beschreibung zu einem zutiefst persönlichen und introspektiven Werk erweitert, das den Raum des Abstiegs mit der inneren „Zerrissenheit“ des Autors verbindet.

Deutsche Übersetzung von Nicola Denis bei Matthes & Seitz Berlin.

Die These dieses Artikels lautet: Intérieur und Cave bilden zusammen ein Diptychon, in dem Clerc eine Poetik des totalen Raums entwirft, die in Intérieur das Sichtbare, Nutzbare und Begehbare kartographiert und in Cave um das Verdrängte, Dunkle und Unbewusste ergänzt wird. Erst durch die Verbindung beider Bücher wird deutlich, dass Clercs Inventarisierung zugleich ein Verfahren der Enthüllung und der Maskierung ist. Abschließend werden Clercs Paris-Bücher als Ausweitung des Projektes auf den urbanen Raum gelesen.

Thomas Clerc, Intérieur, Gallimard, coll. « L’arbalète », 2013.
Interieur, dt. Übersetzung von Nicola Denis, Matthes und Seitz, 2022.

Thomas Clerc, Cave, Gallimard, coll. « L’arbalète », 2021.

Thomas Clerc, Paris, musée du XXIe siècle: le dixième arrondissement, Gallimard, coll. « L’arbalète », 2007.

Thomas Clerc, Paris, musée du XXIe siècle: le dix-huitième arrondissement, Éditions de Minuit, 2024.

Ethnologie immobilière: Intérieur

Thomas Clercs Intérieur ist eine monumentale Übung in der deskriptiven Literatur, die sich der erschöpfenden Inventarisierung eines 50 Quadratmeter großen Pariser Apartments widmet. Das Buch entfaltet sich als eine Art „Ethnologie immobilière“ oder „gläserne Autobiografie“, die das Innenleben des Erzählers durch die Beschreibung seiner materiellen Umgebung offenbart. Clercs Ansatz ist von einer obsessiven Liebe zum Detail geprägt und verbindet dokumentarische Genauigkeit mit subtiler Ironie und tiefgründigen Reflexionen.

Strukturell begeht Intérieur einen Raum pro Kapitel, vom Eingang zum Schlafzimmer, mit begleitenden Plänen für jeden Raum. Die präzise, fast klinische Beschreibung, die als „chirurgisch“ bezeichnet wird, geht über bloßen Realismus hinaus. Diese Herangehensweise deutet auf eine literarische Sezierung des Selbst und seiner materiellen Erweiterungen hin. Das Alltägliche wird hier seziert, um tiefere, verborgene Bedeutungen zu extrahieren. Der Akt der Beschreibung wird so zu einer Form psychologischer oder philosophischer Untersuchung, bei der die Oberfläche abgetragen wird, um die zugrunde liegenden Strukturen von Identität und Erinnerung sichtbar zu machen. Es handelt sich um eine Dekonstruktion der Häuslichkeit, die deren psychologisches Gewicht offenbart.

Je ne puis dissimuler ce que je suis : mon intérieur est 1 autobiographie en verre où s’est déposée toute 1 archive de particules, de signes et de rayures qui me trahissent. Seul le criminel sait effacer les traces laissées par l’artiste-bourgeois, par l’écrivain-décorateur.

Ich kann nicht verbergen, was ich bin: Mein Inneres ist 1 Autobiografie aus Glas, in der sich 1 ganzes Archiv aus Partikeln, Zeichen und Kratzern abgelagert hat, die mich verraten. Nur ein Verbrecher kann die Spuren des bürgerlichen Künstlers, des Schriftstellers und Dekorateurs verwischen.

Die Wohnung bei Clerc ist ein Ort, an dem sich „Partikel, Zeichen und Kratzer“ ablagern und den Autor „verraten“. Diese metaphorische Beschreibung erstreckt sich bis auf die „Nicht-Bücher“, die in Schränken versteckt sind, da sie nicht der „offiziellen Bibliothek“ des Autors angehören und ein „Höllenreich der Mittelmäßigkeit“ bilden. Doch selbst diese unerwünschten Objekte tragen zu seinem Selbstportrait bei. Der Erzähler zieht eine Parallele zwischen dem Gefühl, durch seine Wohnung zu streifen, und dem Besuch von überladenen Museen, was die Idee seines Apartments als „persönliches Museum“ untermauert, das sogar öffentlich zugänglich gemacht werden könnte. Dieser Wunsch, sein privates Heiligtum für Fremde zu öffnen, unterstreicht die performative und konzeptuelle Dimension seines literarischen Projekts, das über das bloße Schreiben hinausgeht.

Clerc legt Wert auf die sichtbaren „Spuren“ (VI, „La trace est effaçable“) und „Narben“ (V, „Copro“) der Dinge und des Raumes. Der Einbruch (I, „Il entre chez lui“), obwohl traumatisch, liefert ihm „Beweise“ (VII, „1 doigt de cambrioleur“) und Anlass zur Reflexion über Sicherheit und Besitz. Clercs Obsession, alles zu beschreiben und zu archivieren (Notizbücher (V, „Carnets feux“), Archive im Schrank (VII, „L’étagère du haut“)), ist ein Versuch, „Spuren“ zu hinterlassen und dem Verfall entgegenzuwirken. Er plant sogar, sein Apartment nach seinem Tod in ein Museum zu verwandeln und es der Person zu vererben, der das Buch gewidmet ist (VII, „Monsieur teste“). Das Verstecken eines Gedichts in der Fensterleiste für den zukünftigen Besitzer (VII, „Palimpseste tiré sur l’avenir“) ist ein weiterer Ausdruck dieses Begehrens. Viele Objekte tragen die Spuren von Clercs Herkunft. Der „Zahnarztschrank“ (V, „Le meuble de corsaire“) ist eine „Metonymie seines Vaters“ und beherbergte einst dessen Waffe. Die Patère (II, „Patère-mystère“) im Badezimmer stammt von seiner Großmutter, ebenso wie die kleine Napoleon-Statuette in der Bibliothek (VI, „Napoléon chez toi“). Diese Gegenstände verbinden ihn mit seiner Vergangenheit und familiären Beziehungen. Die rote Bademantel (VII, „Fourrure merveille“) seiner Großmutter symbolisiert mütterlichen Schutz und erotische Erinnerungen.

Jedes Objekt wird zum Ausgangspunkt für Anekdoten, philosophische Überlegungen oder literarische Allusionen. Das kaputte Abtropfgestell (IV, „Marécage“) wird zum „verrotteten Le Corbusier“. Obwohl Clerc versucht, systematisch vorzugehen (z.B. alphabetische Ordnung der Bücher (VI, „Rangeant“)), unterbricht er diese Logik oft mit persönlichen Assoziationen und Kommentaren (VI, „Départ d’alpha retardé par 1 considération queer…“). Seine Klassifizierung der Zeitschriften in den Toiletten (III, „Contexte ingrat“) oder der Objekte in der Capharnaüm-Schublade (I, „Capharnaüm“) folgt einer inneren, oft anarchischen Logik. Clerc ringt ständig mit dem Chaos. Der Anblick eines unordentlichen Tisches im Salon (V, „Dérangé“) ist ein „Moment der Ungnade“, während das Chaos im Zahnarztschrank (V, „Cacher/voir“) ihn deprimiert. Er strebt nach Leere und „Entblößung“ im Salon (V, „Mort du living“) als „Rache“ gegen finanzielle Zwänge, doch seine „Livromanie“ (Bücherbesessenheit) (VI, „Le meuble immeuble“) durchbricht dieses Ideal. Er identifiziert sich als jemand, der „Ordnung hält“. Sein Bedürfnis, die Tür doppelt zu verriegeln (I, „Entrant“), selbst wenn keine Einbruchsgefahr besteht, ist Ausdruck des „Wunsches, hermetisch von außen getrennt zu sein“. Der Vorhang im Flur (IV, „Le seuil, le porche“) oder die Trennmauer in der Küche (IV, „Faits et solutions : le mur“) schaffen Grenzen, die das „persönliche“ vom „sozialen“ trennen. Er liebt das Konzept von „Grenzen und Beschränkungen“.

Clercs Beziehung zur Technologie ist ambivalent. Während er sie für seine Arbeit benötigt (Telefon (VI, „Téléphone 2“), Computer (VI, „Maisons mères“)), kritisiert er oft ihre Unzuverlässigkeit und die „Niederlage des Objekts“ (I, „Défaites de l’objet“), wie das defekte Interphone (I, „Interphone“), den kaputten Wecker (VII, „Destruction d’1 Braun“) oder die unzuverlässige Freebox (VI, „Freebox fragile“). Die „Chutes“ (VI, „Chutes“) von Objekten deutet er als „stummen Protest der Dinge“ gegen die Enge. Clercs Neigung zum „Diebstahl“ (Aschenbecher (I, „Plateau“), Karaffe (IV, „Le grand verre“)) oder zur „Aneignung durch Unterlassung“ (Hammer (I, „Marteaux sans maître“)), sowie seine Ablehnung standardisierter Normen (IV, „Odeurs de normes“) sind kleine Akte der Rebellion. Er liebt die Idee, die „Möbel zu bewegen“ (VI, „Déménagement miniature“), um ein Gefühl des „Umzugs“ zu erzeugen und die „Starrheit“ des Raumes zu durchbrechen. Er träumt davon, ein gemietetes Ferienhaus vollständig zu „verschmutzen“, was seinen Wunsch nach Zerstörung und Freiheit von bürgerlichen Konventionen zeigt.

Thomas Clerc über Intérieur, ARTE.

Inventarisierung als Schreibprinzip

Schon der Einstieg in Intérieur zeigt, dass Clercs Projekt nicht in einer impressionistischen Schilderung des Wohnraums aufgeht. Das Verfahren ist streng: Der Text bewegt sich physisch durch die Wohnung, jede Einheit – vom Raum über Möbelstücke bis hin zu einzelnen Objekten – erhält eine eigene Beobachtungssequenz. So wird das „Buffet bas“ in der Entrée nicht nur benannt, sondern in Material, Herkunft und emotionaler Ambivalenz analysiert. Clerc beschreibt das Bild von Bernard Buffet, das er in der Straße fand, als „attractif par son atrocité“, ein „mauvais goût“ mit radikaler Konsequenz. Das Inventar wird damit zugleich zu einer Wertungssammlung, in der Alltagsobjekte ästhetisch und autobiographisch aufgeladen sind.

Mais dans ce carré d’eau c’est l’influence de Jean-Pierre Raynaud surtout qui se fait sentir, par le revêtement de carreaux blancs 15 cm × 15 cm, étalon de sa maison de vie de Jouy-en-Josas à laquelle il a consacré quelque 24 ans d’efforts avant de la détruire. Au sol, 1 carrelage blanchâtre jure légèrement avec le blanc plus franc des murs et celui, indéfini, des plinthes, qui participe à la cohérence tonale de la pièce — son atout majeur (à quoi il faut ajouter le gris pâle des joints). De qualité médiocre, puisqu’il a fallu que j’en refasse quelques-uns récemment, ces joints de sol diffèrent du silicone blanc qui borde la baignoire. Le jointoiement des carreaux est 1 élément déterminant de l’art décoratif : en effet, 1 très beau carreau peut voir sa prestance détruite par la seule présence d’1 joint inutile ou au contraire étiolée par l’absence de délimitation nette entre ses frères et lui : entre les 2 écoles (pas de joint/joint marqué), je penche plutôt pour le joint visible et d’1 couleur qui s’harmonise à celle du carreau ; si le joint n’a pas été peint, 1 sorte de fadeur triste empêche de faire ressortir le ton du carreau, parce que alors c’est le mortier 1 peu sale qui fait frontière. Cette attention à des détails apparemment dérisoires ne l’est pas plus que le rythme syllabique d’1 période ou la transition entre 2 phrases. M’intéressant de près à cette question du jointoiement des carreaux, je ne peux m’empêcher d’y voir le secret du principe esthétique de la délimitation des mots, des formes et des choses. En peinture aussi, les contours gras de Manet ou Léger se remarquent.

In diesem quadratischen Raum ist jedoch vor allem der Einfluss von Jean-Pierre Raynaud zu spüren, der sich in den 15 cm × 15 cm großen weißen Fliesen widerspiegelt, die auch in seinem Wohnhaus in Jouy-en-Josas verwendet wurden, dem er 24 Jahre lang gewidmet war, bevor er es abreißen ließ. Am Boden steht 1 weißliche Fliesen in leichtem Kontrast zum klareren Weiß der Wände und dem undefinierten Weiß der Sockelleisten, die zur harmonischen Farbgebung des Raumes beitragen – sein größter Vorzug (dazu kommt noch das Hellgrau der Fugen). Diese Bodenfugen sind von minderer Qualität, da ich einige davon kürzlich erneuern musste, und unterscheiden sich vom weißen Silikon, das die Badewanne umrandet. Die Verfugung der Fliesen ist 1 entscheidendes Element der dekorativen Kunst: 1e kann eine sehr schöne Fliese allein durch 1 unnötige Fuge ihre ganze Wirkung verlieren oder aber durch das Fehlen einer klaren Abgrenzung zu den benachbarten Fliesen an Ausdruckskraft einbüßen: Zwischen den 2 Schulen (keine Fugen/markierte Fugen) tendiere ich eher zu sichtbaren Fugen in 1 Farbe, die mit der der Fliesen harmoniert. Wenn die Fuge nicht gestrichen wurde, verhindert 1 Art triste Blässe, dass der Farbton der Fliese zur Geltung kommt, da dann 1 leicht verschmutzter Mörtel die Grenze bildet. Diese Aufmerksamkeit für scheinbar unbedeutende Details ist nicht mehr als der Silbenrhythmus von 1 Satz oder der Übergang zwischen 2 Sätzen. Da mich die Frage der Fugen zwischen Fliesen sehr interessiert, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass darin das Geheimnis des ästhetischen Prinzips der Abgrenzung von Wörtern, Formen und Dingen liegt. Auch in der Malerei fallen die fetten Konturen von Manet oder Léger ins Auge.

Diese Passage zur Ästhetik der Fugen zwischen Fliesen ist ein Paradebeispiel für Clercs Fähigkeit, vom Mikro-Detail zur Makro-Reflexion überzugehen. Die Fugen der Fliesen werden zur Metapher für die Abgrenzung von Wörtern, Formen und Dingen in der Kunst und Sprache. Die geringste Abweichung in der Gestaltung oder Farbe der Fuge kann die „Präsenz“ des Objekts zerstören. Diese obsessive Detailgenauigkeit, die sich auf das „Ästhetische Prinzip der Abgrenzung von Wörtern, Formen und Dingen“ ausweitet, zeigt Clercs Verständnis von Ästhetik als einer fundamentalen Struktur des Denkens und Schreibens, und nicht nur als Oberfläche. Sein Werk ist selbst eine akribische „Fuge“ zwischen Dokumentation und Fiktion.

Der streng lineare Rundgang verleiht dem Text eine topographische Stabilität, die der Assoziationsdichte entgegensteht. Der Leser „geht“ mit dem Autor durch die Wohnung, sieht die abgenutzte Tür, das improvisierte Sicherheitsbollwerk, die Portière gegen den Winterzug. Jede Schwelle wird notiert, jede Materialität benannt. In dieser Konstanz liegt die paradoxe Spannung: Das Projekt verspricht Vollständigkeit, aber die Fülle der Assoziationen droht den Raum zu überlagern. Der Parkettboden etwa, mit seiner „dépression“ nahe der Badezimmertür, wird zu einer Reflexion über strukturelle Mängel und die Lust an der potenziellen Katastrophe – der Boden, der nachgibt, als „aphte“ des Raums.

Die Schreibweise ist von mikrologischer Präzision. Farbe, Textur, Herkunft, Gebrauchsspuren – alles wird registriert. Der Stoff der Portière ist nicht nur grün, sondern „épaisse tenture de velours“ mit ungenauer Kantenführung, ein Resultat fehlerhafter Maßberechnung. Selbst funktional banale Objekte – die Schubladen der Metallkommode – werden in ihrem Öffnungsmechanismus und ihrer „autoritären“ Logik beschrieben. Diese Genauigkeit ist nicht neutral. Clerc gibt den Dingen eine Stimme, aber immer durch das Prisma seiner eigenen Wertung und Erinnerung. Das Inventar ist deshalb zugleich Selbstporträt – die Auswahl und die Beschreibung spiegeln ein ästhetisches und moralisches Koordinatensystem.

Clercs Verfahren ist autobiographisch, ohne narrativ zu sein. Die Wohnung wird zum Archiv, in dem Objekte als Auslöser von Lebensfragmenten dienen. Die Episode mit den falschen Schlüsseln nach der Nachricht vom Tod Guillaume Dustans ist emblematisch: Ein alltäglicher Fehler wird zur existenziellen Erfahrung, die sich in das Inventar einschreibt. Es entsteht ein „Autoportrait par les choses“, das weder linear noch vollständig biographisch ist, sondern mosaikartig. Das Buch spielt mit dokumentarischer Autorität – Maße, Datierungen, technische Details –, unterläuft sie aber mit subjektiven Einschüben, ironischen Übertreibungen, bewusst ungesicherten Hypothesen („peut-être que…“). Die Wohnung ist so real wie literarisch konstruiert. Diese Ambivalenz ist zentral: Vollständigkeit ist hier eine literarische Konstruktion, nicht ein messbarer Zustand.

Dans le 2e tiroir sont rangés les dossiers de ma vie pratique (factures, relevés de banque, bulletins de salaires, impôts, etc.) selon 1 ordre changeant, car je ne sais pas s’il est plus facile d’accéder à 1 dossier situé à l’extérieur ou à l’intérieur du tiroir. J’aime les classements mobiles. Le dossier rouge spécifiquement consacré à mon second métier de maître-conférencier, intitulé « administration Nanterre », est très-accessible et j’y puise les documents nécessaires à sa bonne marche technique. Les exigences de la vie sociale font que j’ouvre souvent ce tiroir : l’ennui que la plupart des gens éprouvent devant « la paperasse » m’est étranger et j’aime au contraire l’idée qu’1 vie se trouve sinon résumée, du moins mise sous enveloppes. À l’époque où je la connaissais, 1 actrice célèbre m’avait raconté cette anecdote touchant 1 membre de sa famille, qui avait exposé devant ses yeux 1 vieille enveloppe jaune sur laquelle figurait en lettres noires le mot « JUIF », donnée à la fois essentielle et dérisoire d’1 identité vue au travers du prisme administratif, qui rend les choses inquiétantes et réelles. Il y a en moi 1 graine d’archiviste et je n’aurais pas entrepris ce vaste documentaire si je n’avais la conviction que l’archive, comme la Littérature, dit le vrai. Certes, les qualités discursives témoignent mieux que l’énoncé des faits et des pièces qui condensent sèchement la biographie d’1 homme, mais cet argument a si souvent été employé pour masquer la réalité matérielle des conditions d’existence — comme si l’« âme » était plus noble qu’1 feuille d’impôts — qu’il est hors de question que je passe sous silence les « paroles » et autres traces de mon intérieur.

In der 2ten Schublade sind die Unterlagen zu meinem praktischen Leben (Rechnungen, Kontoauszüge, Gehaltsabrechnungen, Steuern usw.) in 1 wechselnden Reihenfolge abgelegt, da ich nicht weiß, ob es einfacher ist, auf 1 Ordner außerhalb oder innerhalb der Schublade zuzugreifen. Ich mag flexible Ablagesysteme. Der rote Ordner, der speziell meiner zweiten Tätigkeit als Dozent gewidmet ist und „Verwaltung Nanterre“ heißt, ist sehr gut zugänglich und ich hole dort die Dokumente heraus, die ich für die reibungslose Abwicklung meiner Arbeit benötige. Die Anforderungen des sozialen Lebens führen dazu, dass ich diese Schublade oft öffne: Die Langeweile, die die meisten Menschen beim „Papierkram“ empfinden, ist mir fremd, und ich mag im Gegenteil die Vorstellung, dass ein Leben, wenn schon nicht zusammengefasst, so doch zumindest in Umschlägen abgeheftet ist. Als ich sie kannte, erzählte mir eine berühmte Schauspielerin diese Anekdote über 1 Mitglied ihrer Familie, das ihr 1 alten gelben Umschlag mit der schwarzen Aufschrift „JUDE“ gezeigt hatte, 1 ebenso wesentliche wie lächerliche Angabe einer Identität, die durch das Prisma der Verwaltung betrachtet wird und die Dinge beunruhigend und real macht. In mir steckt 1 Archivar, und ich hätte dieses umfangreiche Dokumentationsprojekt nicht in Angriff genommen, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass Archive ebenso wie die Literatur die Wahrheit sagen. Sicherlich sagen diskursive Qualitäten mehr aus als die nackten Fakten und Dokumente, die die Biografie eines Menschen trocken zusammenfassen, aber dieses Argument wurde so oft verwendet, um die materielle Realität der Lebensbedingungen zu verschleiern – als ob die „Seele“ edler wäre als 1 Steuerbescheid –, dass ich auf keinen Fall die „Worte“ und andere Spuren meines Inneren verschweige.

Die Obsession für Klassifizierung und Archivierung von Alltagsdokumenten, wie sie hier im zweiten Schubfach zum Ausdruck kommt, untermauert Clercs grundlegendes Verständnis von Literatur als einem „breiten Dokumentarfilm“. Die Banalität von Rechnungen und Gehaltsabrechnungen wird durch die Hinzufügung einer erschreckenden historischen Anekdote über einen jüdischen Stempel auf einem Umschlag transzendiert. Dies verdeutlicht, wie das Private und das Politische, das Persönliche und das Kollektive, im scheinbar trivialen Objekt zusammenlaufen. Clerc postuliert, dass die „Archive, wie die Literatur, die Wahrheit sagen“, und lehnt es ab, die materielle Realität der Existenz zugunsten einer vermeintlich edleren „Seele“ zu vernachlässigen.

Da die Beschreibung nicht von Handlungen getragen wird, liegt die narrative Energie im Stillstand. Die Wohnung ist Bühne und Archiv, das Leben darin erscheint statisch, und dennoch strömen unzählige Zeitebenen ein: Erwerb, Reparaturen, Ereignisse, die in den Raum sedimentiert sind. Das Inventar ist damit auch ein Zeitbild: Paris um 2010, mit seinen Baujahren, sozialen Schichtungen, Konsumobjekten.

Innen, Außen und Schwellen

Die Tür der Wohnung ist mehrfach beschrieben: als physischer Schutz, als ästhetisches Objekt, als semantisches Feld (Holzmaserung, Schlossmechanik, „porte-qui“ mit Judas). Schwellen markieren den Übergang von Öffentlichkeit zu Intimität, von Gefahr zu Sicherheit – und zugleich die Durchlässigkeit beider Bereiche.

Je pousse la porte avec ce pincement au cœur qui me saisit lorsque je rentre après 1 longue absence, 1 voyage : pourvu qu’il ne soit rien arrivé. Les moulures des panneaux intérieurs rendent cette porte impossible à blinder ; son vieux chêne offre 1 faible rempart aux attaques. La serrure « à l’italienne » avec fermeture à double tour (500 euros) n’est qu’1 bricolage : la barre verticale qui s’enclenche dans les rivets n’a pas été correctement sciée aux 2 extrémités, les vis posées dans le chambranle le sont de manière inégale, et la bague percée dans le parquet où vient se ficher la barre est plus 1 trou qu’1 anneau. Protection rudimentaire, qui pue l’amateurisme, 1 petite cale en bois coincée/vissée derrière la barre est censée la soutenir contre les assauts d’1 pince-monseigneur. J’ai laissé faire 1 spécialiste ; je ne peux pas dire que je l’aie regretté puisque le cambriolage dont j’ai été victime le 8 février 2006 s’est effectué non par la porte mais par la fenêtre du salon, contrairement aux statistiques : 80 % des cambrioleurs passent par l’entrée. Par mesure de précaution, j’ai dû refaire ma serrure ; bien que le cambrioleur soit entré par la fenêtre du salon, je ne suis pas certain qu’il ne soit pas ressorti par la porte à l’aide d’1 des clés que je pose (bêtement) dans l’entrée, pour revenir plus tard. Hypothèse peu probable, mais que je ne pouvais exclure. Si j’avais su de combien d’exemplaires de clés je dispose, j’aurais pu déduire s’il m’en avait subtilisé 1 ; mais j’ignore, comme beaucoup de gens, ce genre de choses : en décrivant aussi fidèlement que possible mon appartement, en en livrant l’inventaire détaillé au lecteur, je corrigerai non seulement l’erreur qui consiste à poser ses clés au vu et au su de tous, mais je serai en mesure d’indiquer le nombre de clés en ma possession. L’écriture n’est-elle pas 1 preuve matérielle ? Comme il m’était impossible de vivre dans le doute et de risquer 1 autre fric-frac, même sans effraction, j’ai rappelé 1 « Louis XVI » pour qu’il change cette serrure inviolée, menacée par 1 clé possiblement imaginaire, possiblement réelle.

Ich drücke die Tür auf und verspüre dieses Ziehen im Herzen, das mich immer überkommt, wenn ich nach 1 langen Abwesenheit, 1 Reise, nach Hause komme: Hoffentlich ist nichts passiert. Die Leisten der Innenverkleidung machen es unmöglich, diese Tür zu verstärken; ihr altes Eichenholz bietet nur 1 schwachen Schutz vor Angriffen. Das italienische Schloss mit Doppelverriegelung (500 Euro) ist nur 1 Bastelei: Die vertikale Stange, die in die Nieten einrastet, wurde an beiden Enden nicht richtig abgesägt, die Schrauben im Türrahmen sind ungleichmäßig angebracht, und der Ring, der in den Parkettboden gebohrt wurde und in den die Stange gesteckt wird, ist eher 1 Loch als 1 Ring. 1 rudimentärer Schutz, der nach Amateurarbeit riecht: 1 kleiner Holzkeil, der hinter der Stange festgeklemmt/verschraubt ist, soll sie gegen die Angriffe von 1 Brechstange schützen. Ich habe einen Fachmann kommen lassen und kann nicht sagen, dass ich es bereut habe, denn der Einbruch, dessen Opfer ich am 8. Februar 2006 wurde, erfolgte nicht durch die Tür, sondern durch das Wohnzimmerfenster, entgegen der Statistik: 80 % der Einbrecher kommen durch den Eingang. Vorsichtshalber habe ich mein Schloss austauschen lassen. Obwohl der Einbrecher durch das Wohnzimmerfenster eingestiegen ist, bin ich mir nicht sicher, ob er nicht mit 1 der Schlüssel, die ich (dummerweise) im Flur liegen lasse, durch die Tür wieder hinausgegangen ist, um später zurückzukommen. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber ich konnte es nicht ausschließen. Hätte ich gewusst, wie viele Schlüssel ich habe, hätte ich herausfinden können, ob er 1 gestohlen hat; aber wie viele andere Menschen weiß ich solche Dinge nicht: Indem ich meine Wohnung so genau wie möglich beschreibe und dem Leser 1 detaillierte Inventarliste liefere, korrigiere ich nicht nur den Fehler, meine Schlüssel für alle sichtbar abzulegen, sondern kann auch die Anzahl der Schlüssel in meinem Besitz angeben. Ist das Geschriebene nicht 1 materieller Beweis? Da ich nicht in Ungewissheit leben und 1 weiteren Einbruch riskieren konnte, auch wenn dieser ohne Einbruch erfolgen würde, rief ich 1 „Louis XVI” an, um dieses unversehrte Schloss auszutauschen, das durch 1 möglicherweise imaginären, möglicherweise realen Schlüssel gefährdet war.

Das Ritual des sofortigen Abschließens („double tour“) ist nicht Ausdruck von Paranoia, sondern ein „geste fondateur“: die Konstitution des Innenraums als eigener Welt. Die Tür ist hier weniger Verteidigungslinie als performativer Akt der Selbstverortung.

Dunkle Geheimnisse in Cave

Mais le motif profond de ne pas descendre à la cave, et pour lequel j’en repoussai la visite, est que la cave me fait peur. […] Lieu idoine pour le mal, les humiliations, la séquestration de personnes, le viol ou la torture, pour tout ce qui se fait dans l’ombre de la morale, la cave suinte d’une ambiance sordide. (Thomas Clerc, Cave.)

Aber der eigentliche Grund, warum ich nicht in den Keller hinuntergehen wollte und meinen Besuch immer wieder aufschob, ist, dass mir der Keller Angst macht. […] Als idealer Ort für Böses, Demütigungen, Freiheitsberaubung, Vergewaltigung oder Folter, für alles, was im Schatten der Moral geschieht, strahlt der Keller eine düstere Atmosphäre aus.

Während Intérieur vor allem das Begehbare und Sichtbare beschreibt, zwingt Cave zum Blick ins Dunkle, ins nicht Gestaltete. Hier gibt es keine dekorativen Arrangements, keine „mise en scène“ der Objekte – nur Ablagerung, Staub, Unordnung. Die Poetik verschiebt sich vom Arrangement zur Konfrontation mit dem formlosen Rest.

Auf eine Publikumsfrage nach „verborgenen Dingen“ in der Wohnung kann Clerc zunächst nicht antworten – später fällt ihm auf der Treppe ein: „J’ai oublié la cave“. Dieser Moment ist Schlüssel und Auslöser: Die cave wird nachträglich inventarisiert, um das Projekt zu „vollenden“. Doch die Vollendung ist ironisch, weil sie zugleich das Unvollständige des ersten Buchs offenlegt. Cave ist durchzogen von Angstbildern: Ratten, Einbrüche, Gefangenschaft, der Fall Natascha Kampusch, dunkle Filmreferenzen (L’Obsédé). Der Keller wird zum locus horribilis, in dem Verfall und das Nicht-Mehr-Gebrauchte lagern. Der „sol en terre battue“ wird mit der Revolution und „le sang“ assoziiert – der Raum speichert historische wie persönliche Sedimente.

In Cave wird das Gefühl der Scham und des Unbehagens des Erzählers vielschichtig beleuchtet. Es äußert sich zunächst in einer bewussten „histrionischen“ Selbstdarstellung, um tiefere Gefühle zu verbergen. Der Erzähler empfindet Scham angesichts seiner „Unfähigkeit“ oder seines „Versagens“ im Leben, insbesondere in Bezug auf intime Beziehungen und seine empfundene „Unreife“ oder sein „Amateurdasein“. Dieses Gefühl wird durch eine ständige „Pénurie“ (Mangel) des Begehrens und der Befriedigung verstärkt, was ihn in einen Zustand des „Dahinsiechens“ versetzt. Tiefes Unbehagen und Selbstekel entstehen durch die Konfrontation mit der „Last der Dinge“ und dem angesammelten Müll, mit dem er sich identifiziert. Soziale Situationen lösen oft Scham aus, sei es durch das eigene Stolpern, die Unfähigkeit, anderen zu helfen, oder die Erfahrung, öffentlich beschimpft und als „cave“ (Naivling/Verlierer) bezeichnet zu werden. Der Erzähler erlebt sich als Gefangener seiner eigenen Ängste, seiner Introvertiertheit und der urbanen Umgebung, was sich in klaustrophobischen Gefühlen und der Furcht vor dem Scheitern manifestiert. Diese innere Qual ist eng mit einem Geheimnis verbunden, dessen Enthüllung keine Erleichterung bringt, sondern weiterhin „quält“. Schließlich resultiert die erlebte Entfremdung von sich selbst und der Welt, das Gefühl des „Verlorenseins“ und der „Zerrüttung“ der eigenen Moral, in einem tiefen, konstanten Unbehagen.

Thomas Clerc über Cave, Librairie Mollat.

Nach der erschöpfenden Beschreibung seines Apartments in Intérieur entdeckt der Erzähler in Cave den vergessenen und unbeachteten Keller. Dieser „Anhang“ ist nicht bloß eine Fortsetzung der Bestandsaufnahme, sondern ein Abstieg in eine „Unter-Realität“ und eine Metapher für die Erkundung der eigenen, verborgenen Psyche. Die Höhle ist ein Ort des Stillstands, des Schmutz, des Stagnierenden, aber auch des Verdrängten und des Begehrens. Die Suche nach „Geheimnissen“ und „Schätzen“ im Keller spiegelt die literarische Neugierde des Autors wider, die über die Oberfläche hinausgeht.

Der Beginn von Cave stellt die Genese des gesamten Projekts dar: die Erkenntnis, dass nach der Publikation von Intérieur ein entscheidender Raum übersehen wurde – der Keller. Zu Beginn des Buches vergleicht der Erzähler sein früheres Werk, Intérieur, explizit mit Eurydike und sich selbst mit Orpheus. Die anfängliche Erkenntnis, dass er „die Höhle vergessen hatte“, wird als sein Verstoß gegen die Orpheus auferlegte Bedingung interpretiert, sich nicht umzublicken, nachdem er Eurydike aus der Unterwelt zurückgeholt hat. Dieses „Vergessen“ der Höhle, des unbewussten oder verborgenen Teils seines eigenen „Hauses“ und seiner Psyche, wird zum Auslöser seiner gegenwärtigen „Abstiegsreise“.

Im Verlauf des Textes wird diese anfängliche Assoziation jedoch umgedeutet und entmythologisiert. Der Erzähler reflektiert später, dass er sich selbst für Orpheus gehalten hatte, während er lediglich Morpheus war. Diese entscheidende Selbstkorrektur signalisiert eine Abkehr vom traditionellen Orpheus-Mythos der erfolgreichen Rückholung und des Triumphs. Als „Morpheus“, der Gott der Träume, impliziert dies, dass seine Reise weniger eine heroische Erkundung mit einem klaren Ziel ist, als vielmehr eine verträumte, vielleicht passive Auseinandersetzung mit inneren Zuständen und Illusionen. Die Aussage, er sei „ein Stubendichter, der keine Eurydike hatte, mit der er hätte aufsteigen können“, ist besonders prägnant. Sie deutet darauf hin, dass es dem Erzähler an einer greifbaren Person, einer liebevollen Beziehung oder sogar einer klaren, kathartischen Erkenntnis mangelt, die er aus der Tiefe der „Höhle“ zurück an die Oberfläche bringen könnte. Die Höhle wird somit nicht zu einem Ort der vorübergehenden Erkundung, sondern zu einem endlosen Labyrinth seines eigenen Inneren, in dem er sich „unendlich verirrt“. Die Suche nach dem „Geheimnis“, insbesondere dem sexueller Natur, und dessen Offenbarung quälen ihn weiterhin, anstatt Erleichterung zu bringen, was die erfolglose Natur seiner orphischen Reise unterstreicht. Gelegentliche, beiläufige Erwähnungen von Orpheus, etwa in der Hoffnung, ihn auf einem Parkplatz zu treffen, fügen eine zusätzliche Ebene der Absurdität und der banalen Enttäuschung hinzu, die den großen mythologischen Vergleich mit der unaufgeräumten Realität des Erzählers kontrastieren.

Die plötzliche „Erleuchtung im Treppenhaus“ signalisiert den Übergang vom sichtbaren Apartment zum verborgenen Untergrund, was nicht nur eine physische, sondern auch eine psychologische Bewegung ist – eine Reise in das Unterbewusste und das bisher Ungedachte. Der Satz „J’ai oublié la cave“ ist die provokante Feststellung, dass die vollständige Selbst- oder Raumdarstellung immer unvollendet bleibt, es sei denn, man wagt sich in die verborgenen Tiefen.

Der Text ist durch „Wortspiele, Analogien, Ideenassoziationen, Polysémie und Anagramme“ gekennzeichnet. 1 Diese stilistischen Entscheidungen sind nicht nur Verzierungen, sondern integraler Bestandteil der thematischen Erforschung des Unbewussten im Roman. Wiederkehrende Obsessionen und Leitmotive bilden Anker im chaotischen Abstieg und repräsentieren die hartnäckigen, oft irrationalen Denkmuster, die die Psyche definieren. Wortspiele, Polysemie und Anagramme destabilisieren feste Bedeutungen weiter und spiegeln die traumähnliche Logik des Unbewussten wider, in der Symbole fließend und Bedeutungen vielschichtig sind.

Elle n’est pas très grande cette cave, cinq ou six mètres carrés dirais-je, à tout casser. Un espace restreint, circonscrit, comme j’aime les arpenter. Elle semble à moitié vide ou à moitié pleine ; mal utilisée, indéniablement. Autant les caves modernes sont géométriques, saines, autant ma cave est petite, noire, voûtée, à l’égal du vieil immeuble qu’elle supporte. (Thomas Clerc, Cave.)

Der Keller ist nicht sehr groß, ich würde sagen, höchstens fünf oder sechs Quadratmeter. Ein begrenzter, abgeschlossener Raum, wie ich ihn mag. Er scheint halb leer oder halb voll zu sein; zweifellos schlecht genutzt. So geometrisch und gesund moderne Keller sind, so klein, dunkel und gewölbt ist mein Keller, ganz wie das alte Gebäude, das er stützt.

Die ausführliche Beschreibung der Höhle als „klein, schwarz, gewölbt“ mit einem „gestampften Erdboden“ kontrastiert stark mit dem „sauberen und zementierten“ Ambiente moderner Keller und unterstreicht die Verbindung zur „Unreinheit“ und dem „Rückständigen“. Die physische „Unordnung“ der Höhle – ein „Capernaüm“ aus unnützen, vergessenen Objekten, die nicht dem Autor gehören oder deren Wert er verloren hat – wird zur Metapher für innere Verwirrung und die Verdrängung der Vergangenheit. Anders als das Grenier, das Charme birgt, bietet die Höhle eine „stagnierende Welt“, in der alles langsam verfällt. Dieser Abstieg in das Schmutzige und Verfallene spiegelt eine tiefere psychologische Bewegung wider, in der das Selbst mit seinem verdrängten Material konfrontiert wird. Es ist keine passive Beschreibung mehr, sondern eine Interaktion mit den „Sub-Realitäten“, die diese unterirdische Welt bereithält, und eine Reflexion über die Gesellschaft, die das Unerwünschte (wie die Armen) verdrängt.

Beim Betreten der Kellerkammer trifft der Erzähler auf allerlei zurückgelassene Gegenstände wie alte Farbdosen, kaputte Möbel und Kartons voller Erinnerungen, die er nicht mehr als „seine“ Sachen empfindet. Er versucht, den Keller zu entrümpeln, doch vieles wirkt vernachlässigt und verrottet langsam vor sich hin. Der Keller steht symbolisch für einen stagnierenden, unveränderten Raum, der sich von der charmanten Patina eines Dachbodens unterscheidet. Das Aufschieben der Aufräumarbeiten ist eine Form der Verdrängung, vergleichbar mit dem Verstecken unangenehmer Wahrheiten. Im letzten Abschnitt reflektiert der Erzähler über die soziale Dimension und die symbolische Bedeutung des Kellers. Während oben in der Stadt Armut und soziale Ausgrenzung zunehmen, bleibt der Keller ein stiller Ort, der als möglicher Zufluchtsort für Menschen dienen könnte. Doch trotz seines Mitgefühls fühlt er sich machtlos, diese Notsituation aktiv zu verändern. So steht der Keller auch für das Spannungsfeld zwischen persönlichem Besitz, gesellschaftlicher Verantwortung und Ohnmacht.

Dunkelheit

In Cave ist das semantische Feld von „obscur“ und „obscurité“ (dunkel/Dunkelheit) zentral für die Selbsterforschung und die Erkundung der menschlichen Psyche. Es umfasst sowohl konkrete als auch metaphorische Bedeutungen: Die Höhle (cave) selbst wird wiederholt als „noire“ (schwarz), „voûtée“ (gewölbt) und „obscure“ beschrieben. Sie ist ein Ort, der oft ohne Licht ist, an dem die Sicht schlecht ist und der mit „trous noirs“ (schwarzen Löchern) und unterirdischen Gängen assoziiert wird. Der Erzähler taucht bewusst „dans le noir épais d’un silence de fond“ (in das dichte Schwarz einer tiefen Stille) ein.

Die Höhle wird explizit mit dem Unbewussten des Erzählers gleichgesetzt: „j’avais tout simplement oublié mon inconscient!“ (Ich hatte einfach mein Unbewusstes vergessen!). Dies weist auf einen verborgenen, vergessenen oder verdrängten Teil seines Selbst hin. Der Abstieg in die Höhle ist eine Reise in diese innere Dunkelheit, um „les faits obscurs de l’existence humaine“ (die obskuren Fakten der menschlichen Existenz) zu beleuchten. Die „obscurité“ bezieht sich auch auf Geheimnisse, sowohl die des Erzählers („je suis un homme secret, masqué, hypocrite“) als auch jene, die in der Höhle gefunden werden, wie die „inscriptions cachées par l’ombre et le salpêtre“ (Inschriften, die von Schatten und Salpeter verborgen waren) oder die „mystères souterrains“ (unterirdischen Mysterien). Das Leben des Erzählers und das anderer sind voller „brumes“ (Nebel) und „opacité“ (Undurchsichtigkeit).

Die Höhle ist ein „lieu idoine pour le mal“ (ein passender Ort für das Böse) und wird mit „humiliations, séquestration, viol ou torture“ (Demütigungen, Entführung, Vergewaltigung oder Folter) sowie einer „ambiance sordide“ (schmutzigen Atmosphäre) assoziiert. Die Dunkelheit und Verborgenheit der Höhle rufen beim Erzähler Angst hervor, insbesondere die Angst vor Ratten und dem Unbekannten. Diese Angst ist ein treibender Faktor für die Erforschung des „obscur“. Die „obscurité“ ist untrennbar mit der Sexualität verbunden. Der Erzähler erforscht sein eigenes „mal“ (Leiden) und seinen „penurie“ (Mangel) in Bezug auf Sex, den er schwer auszudrücken findet und der oft auf verborgene Weise wirkt. Der Sex in der Höhle ist oft roh, ungeschliffen und jenseits konventioneller Moral („tout ce qui se fait dans l’ombre de la morale“). Der Erzähler identifiziert sich selbst als „Thomas l’Obscur“, eine von Teiresias verliehene Bezeichnung, die seine eigene Selbst-Dunkelheit, insbesondere in Bezug auf sein sexuelles Leben und sein Begehren, hervorhebt.

Die „obscurité“ der Höhle und ihrer Inhalte wird oft der „lumière“ (Licht), dem „jour“ (Tag) und der „air libre“ (freien Luft) der Außenwelt gegenübergestellt, die der Erzähler im Allgemeinen bevorzugt. Doch erkennt der Erzähler auch an, dass die Oberflächlichkeit der „monde diurne“ (Tageswelt) und ihrer „air vicié“ (schlechten Luft) oft tiefere Wahrheiten verbergen, die nur in der „silence de fond“ (tiefen Stille) des „noir épais“ (dichten Schwarzes) der Höhle zugänglich sind. Die „obscurité“ ist ein Reich der tiefen, oft unangenehmen Selbsterkenntnis, abseits der trügerischen Klarheit der Oberflächenwelt. Dunkelheit bildet in Cave ein vielfältiges Bedeutungsfeld, das wörtliche Dunkelheit, das Unbewusste, verborgene Wahrheiten, Angst und die rohen, oft verstörenden Aspekte der Sexualität und menschlichen Erfahrung bezeichnet. Der Abstieg des Erzählers in diese „obscurité“ ist eine notwendige, wenn auch furchterregende, Reise der Selbsterkenntnis und Konfrontation mit seinen eigenen verdrängten Begierden und verborgenen Komplexitäten.

Stimmen

Cave verwendet eine komplexe duale Erzählstruktur. Eine Stimme trägt die Haupterzählung, die den physischen Abstieg in den Keller beschreibt, während die andere, in kleineren Zeichen dargestellt, „Erinnerungen, Satzfragmente (oft ante oder post coitum), Liedausschnitte, Obsessionen, die wie Refrains wiederkehren, Leitmotive“ entwickelt. Diese Verflechtung unterschiedlicher Erzählebenen schafft ein „Textlabyrinth“, das die fragmentierte, nicht-lineare und oft widersprüchliche Natur des unbewussten Geistes widerspiegelt. Die Abschnitte in kleinerer Schrift fungieren als rohe und ungefilterte Einbrüche aus dem Unterbewusstsein, die die Linearität der Haupterzählung stören und die assoziative Logik von Träumen und verdrängten Gedanken widerspiegeln.

Die beiden unterschiedlichen Erzählstimmen – die Haupterzählung im Gegensatz zu den Fragmenten in kleinerer Schrift, die Erinnerungen und Obsessionen, oft sexueller Natur, enthalten – können als formale literarische Darstellung freudianischer psychoanalytischer Modelle interpretiert werden. Die Haupterzählung repräsentiert die bewusste Erkundung, den Versuch des Egos, die „Höhle“ zu navigieren und zu verstehen. Die Fragmente in kleinerer Schrift mit ihrem rohen, assoziativen und oft sexuellen Inhalt verkörpern das Es und das Unbewusste – die ursprünglichen Triebe, verdrängten Erinnerungen und wiederkehrenden Obsessionen, die an die Oberfläche drängen. Diese strukturelle Wahl ist nicht nur stilistisch; sie ist ein Versuch, die Topographie der Psyche formal abzubilden, wodurch die Leseerfahrung selbst zu einem Abstieg in das geschichtete Bewusstsein des Erzählers (und vielleicht des Lesers) wird. Die „Polysemie und Anagramme“ spiegeln ferner die Traumarbeit und Verdichtungsmechanismen des Unbewussten wider.

Generell sind beide Bücher voller Referenzen, auch hier vergleichbar einer intertextuellen Inventarisierung, so erwählt Clerc u.a. die Schriftsteller und ihre Figuren: Georges Perec, Roland Barthes, Honoré de Balzac, Gustave Flaubert, Michel Foucault, Marquis de Sade, Sartre, Kafka, Virginia Woolf, Édouard Levé, Guillaume Dustan, Georges Molinié, Rousseau, Sigmund Freud, Pessoa, Tolstoi, Marcel Proust, Maurice Sachs, Mauriac, Stéphane Mallarmé, David Foster Wallace, Georges Simenon, Jean Cocteau, Sacha Guitry, Anaïs Nin, Jacques Lacan, Martin Heidegger, Abélard und Héloïse, Stefan Zweig, Cadiot, Croce, Marcela Iacub, Max Jacob, Juvenal, Kundera, Labarthe, Luzi, McCullers, Nabe, Nabokov, Novalis, Ollier, Ovide, Yves Pagès, Quintane, Racine, Henry Rousso, Tarkos, Marina Tsvetaïeva, Giuseppe Ungaretti, Paul Valéry, Voltaire, Robert Walser, Zabran, Ulrich Zwingli, Barbellion, Jules Renard, Stendhal, Louis-Ferdinand Céline, Paul Chemetov, Francis Ponge, Gaston Bachelard, Jean Genet, Marguerite Yourcenar, Michel Houellebecq, Gilles Deleuze, Judith Butler, Camille Paglia, Guy Hocquenghem, Thomas de Quincey, Raymond Federman, Georges Chaulet, Enid Blyton, Alfred de Musset, Wilhelm Reich. Das Eingangszitat von Mallarmé, „La Décoration ! tout est dans ce mot“, unterstreicht die fundamentale Bedeutung der Dekoration – nicht nur als schmückendes Element, sondern als tiefgreifende Form der Existenz und des Ausdrucks. Clercs wiederkehrende Frage „Je décore ou j’œuvre ?“ (Dekoriere ich oder schaffe ich ein Werk?) spiegelt diese familiäre und künstlerische Ambivalenz wider.

Bildende Künstler, auf die Clerc verweist, sind bspw. Yves Klein, Adolf Loos, Matisse, Daniel Pommereulle, Picasso, Edward Hopper, Modigliani, Eugène Delacroix, Marcel Duchamp, Jeff Koons, Courbet, Bernard Buffet, Michel Blazy, Dufy, Marquet, Douglas Huebler, Brancusi, Giacometti, Tony Cragg, Claude Viallat, Morandi, Toroni, Fontana, Manet, Léger, Jeff Wall, Le Corbusier, Sol LeWitt, William Wegman, Shirley Jaffe, Hans-Peter Feldmann, Pierre La Police, Rodney Graham, August Sander, Gervex.

Auch Filme, Filmemacher oder Schauspieler dienen Clercs Inventarisierungen, u.a. François Truffaut, Robert Mitchum, Brigitte Bardot, Michel Piccoli, Éric Rohmer, Daniel Pommereulle, Christian Marclay, Gérard Philipe, Charles Bronson, James Coburn, Alain Delon, Marie Laforêt, Maurice Ronet, Mia Khalifa, Romy Schneider, Jean-Luc Godard, William Wyler, Jean-Louis Trintignant, Françoise Fabian, Joel Grey, Gus Van Sant, Alfred Hitchcock, Lumière Brüder, Barbet Schroeder, Jacques Dutronc, Walter Ruttmann, Gaspar Noé, Errol Flynn, Tony Curtis, Roger Moore, Anny Duperey, Jeanne Balibar, Richard Fleischer, Daniel Karlin, Raffaëla Anderson, Jean-Pierre Melville. Le Mépris (Jean-Luc Godard, Brigitte Bardot, Michel Piccoli) ist ein zentraler Bezugspunkt für Clercs Angst vor plötzlichen Gefühlswandel und Ablehnung in Beziehungen. Er identifiziert sich mit Paul (Michel Piccoli), dem verlassenen Ehemann. Die wiederkehrende Zeile „Ich verachte dich, Paul“ verdeutlicht seine traumatische Erfahrung. Clercs zerbrochener Kronleuchter wird mit Hitchcocks Complot de famille verglichen, in dem ein Diamant in einem Kronleuchter versteckt ist. Auch der Duschvorhang erinnert an Hitchcocks Psycho, was seine Abneigung gegen dieses Objekt verstärkt.

Begehren

In Cave bezieht sich das Geheimnis auf mehrere Ebenen, die eng mit dem inneren Zustand und der Sexualität des Erzählers verbunden sind. Anfangs wird das Vergessen des Kellers als ein unbeabsichtigtes Auslassen in seiner methodischen Beschreibung seines Apartments, Intérieur, gedeutet, was er selbst als Vergessen seines Unbewussten interpretiert. Diese anfängliche Offenbarung verweist bereits auf ein tieferliegendes persönliches Geheimnis. Das zentrale, quälende Geheimnis ist jedoch sexueller Natur und prägt das Leben des Erzählers nachhaltig. Er beschreibt es als ein „Geheimnis ohne Ruhm“ („secret sans gloire“), das ihn vergiftet und zu einem Zustand der „Consomption“ sowie ständiger Müdigkeit führt. Dieses Geheimnis ist mit einem tiefen Mangel an Begehren und Erfüllung („pénurie“) verbunden und offenbart sich in seiner Schwierigkeit, wahre Intimität zu erleben.

Die sexuelle Realität des Erzählers wird als eine „Betrügerei“ beschrieben, in der der „Puzzleteil“ des Körpers nicht zur „Lücke“ der Liebe passt, wodurch das „Spiel unvollständig“ und „ruiniert“ ist. Dies deutet auf eine tiefsitzende Inauthentizität in seinem Liebesleben hin. Ein weiteres konkretes, „eingebranntes“ Geheimnis, das er entdeckt, ist die Botschaft „Die Schlampen haben keine Angst zu genießen“ („Les salopes n’ont pas peur de jouir“), die als Tätowierung auf den Gesäßbacken einer Frau erscheint, die er berührt, und die er als Botschaft seines verstorbenen literarischen Mentors Guillaume Dustan versteht. Das Schreiben dient ihm als therapeutisches Mittel, um dieses „gasförmige“ Geheimnis zu lüften, obwohl der Akt des Geständnisses es nicht beruhigt, sondern ihn weiterhin quält. Das Geheimnis ist somit eine vielschichtige Offenbarung seiner inneren Leere, unerfüllten Begierde und der damit verbundenen Scham und Qual.

Cave wird explizit auch als „mentaler Abstieg in die Welt des Sex“ und als „eine Art Brain Porn, wenn das Genre existieren würde“ beschrieben. Diese Bezeichnung deutet auf einen Fokus nicht auf explizite Erotik, sondern auf die mentalen Prozesse des Begehrens, der Fantasie und der unbewussten Triebe hin. Die Erforschung des Begehrens entspricht einem surrealistischen Ansatz zur Erforschung bewussten und unbewussten Begehrens. Der Roman unternimmt „eine Reflexion über sich selbst, seine Widersprüche, das Begehren, die Sexualität, die Angst zu sein, den Ballast der Vergangenheit und die Konstitution der Psyche selbst“.

Die „kleineren Schriftfragmente“ sind keine narrativen Beschreibungen sexueller Handlungen, sondern assoziative Gedankenausbrüche, fragmentierte Erinnerungen und Obsessionen, die mit Sexualität und Begehren verbunden sind. Sie repräsentieren den rohen, unvermittelten Zustrom des Unbewussten und zeigen, wie sich Begehren nicht als kohärente Erzählung, sondern als eine Reihe fragmentierter, wiederkehrender mentaler Zustände manifestiert. Diese Stellen des „Brain Porn“ setzen sich intellektualisiert und abstrakt mit Sexualität auseinander, anstatt physische Handlungen darzustellen. Der Begriff verlagert den Fokus vom Visuellen/Physischen (typisch für Pornographie) auf das Interne/Mentale. Dies impliziert eine Kritik an der Oberflächlichkeit konventioneller Erotik oder sogar Autobiographie, die lediglich an der Oberfläche kratzt. Indem Clerc sich auf die mentale Landschaft des Begehrens konzentriert, muss sich der Leser mit den rohen, oft unangenehmen, inneren Mechanismen von Sexualität und Obsession auseinandersetzen. Clerc definiert Intimität neu, nicht als geteilte Erfahrung oder physische Nähe, sondern als einen tiefen, manchmal verstörenden Abstieg in die eigenen unbewussten Triebe. Es ist eine Intimität des Geistes, nicht des Körpers, die den Leser herausfordert, das „faszinierende Schauspiel dessen, was uns abstößt“, ähnlich Baudelaires „La charogne“, zu konfrontieren.

Die Entdeckung der lateinischen Inschrift „fututa hic“ – vulgär übersetzt als „Ich wurde hier gefickt“ – ist ein entscheidender Moment, der die Höhle explizit mit Sexualität und verborgenen „Orgien“ verbindet. Die Höhle, die als „Fundament des ganzen Hauses“ dient, wird zum Sinnbild für die unterdrückten, rohen menschlichen Triebe. Die Inschriften, die sich der Vergänglichkeit widersetzen und Sehnsüchte für die Ewigkeit in Stein meißeln, stellen eine unmittelbare Verbindung zu unbekannten Menschen her und rühren den Erzähler zutiefst. Dieser Moment der „Aufregung“, die seinen „vegetativen“ Zustand vertreibt, kennzeichnet den Übergang von einer rein deskriptiven zu einer erfahrungsbasierten, sinnlichen Erkundung des Raumes und des Selbst, die das Begehren in den Mittelpunkt rückt und zur „Lust, zu zweit zu sein“, führt.

Die Verbindung zwischen dem physischen Körper, mentalen Prozessen und dem literarischen Schaffen wird explizit als „Brain Porn“ beschrieben. Der Erzähler ist besessen vom „Zugang zum Fleisch“, der Konvertierung des „Wortes in Fleisch“, was für ihn die Essenz seines Schreibens als Autor ist. Das sexuelle Hindernis, der „Passage à l’acte“, ist für ihn eine Metapher für die Schwierigkeit, Literatur aus dem rohen Material des Lebens zu schöpfen. Die filmischen Metaphern und die „fehlerhafte“ Projektion unterstreichen die inszenierte, oft gestörte Natur seiner inneren Welt. Die „Stimmen in seinem Kopf“ und die „Verdrehung“ der Informationen durch seinen eigenen Geist betonen die psychische Dimension, die die bloße Beschreibung des Raumes in Intérieur transzendiert und in eine tiefere, oft schmerzhafte, Auseinandersetzung mit dem Begehren mündet.

Guillaume Dustan war für Thomas Leclerc der erste pornografische Autor, dessen Bücher er lesen konnte. Er fungierte als literarischer Mentor für den Erzähler. In Guillaume Dustans autofiktionalem Roman Dans ma chambre – als Theaterstück Dans ma chambre auch auf der Bühne inszeniert – geht es um das exzessive, aber auch von Einsamkeit geprägte Leben des Ich-Erzählers in der schwulen Subkultur von Paris während der 1990er-Jahre, mitten in der AIDS-Krise. Mit einem minimalistischen und schonungslos direkten Stil beschreibt der Autor in fast schon pornografischer Offenheit seine promiskuitiven sexuellen Begegnungen, den Drogenkonsum und die ständige Suche nach Lust, die jedoch stets von der allgegenwärtigen Angst vor Ansteckung und einer tiefen emotionalen Leere begleitet wird. Das Buch ist ein provokantes Porträt eines Lebens, das sich zwischen hedonistischer Befriedigung, der Bedrohung durch die Krankheit und der latenten Sehnsucht nach Liebe und tieferer menschlicher Verbindung bewegt.

Thomas Clerc über Guillaume Dustan.

Dustans „überbordende sexuelle Aktivität“ („activité sexuelle débordante“) wird als so intensiv beschrieben, dass sie ihn bis zu seinem Tod „überrollte“. Er starb im Alter von 39 Jahren, demselben Alter, das der Erzähler zu diesem Zeitpunkt hatte, und sein brutaler und früher Tod verstörte den Erzähler zutiefst. Eine seiner bedeutendsten Beiträge war es, dem Erzähler die „Kontinuität zwischen Sex und Geist“ („continuité entre le sexe et l’esprit“) aufzuzeigen. Interessanterweise wählte Dustan sein Pseudonym, um in Bibliotheken alphabetisch direkt nach Marguerite Duras aufzutauchen, was als „literarische und räumliche Hommage“ an sie verstanden wird. Er hinterließ dem Erzähler auch einen markanten Aphorismus: „Les salopes n’ont pas peur de jouir“ (Huren haben keine Angst zu genießen), den der Erzähler als eine posthume Botschaft deutete. Während Dustan seine Jugend „verprasst“ hatte, zog es der Erzähler vor, Sex nicht mit dem Tod zu verbinden und das Vergnügen nicht auf einmal zu verbrauchen.

Das Treffen mit Guillaume Dustan als literarischem Vorbild im Bereich pornographischen Schreibens, beleuchtet Clercs eigene Herangehensweise. Clerc kritisiert die Stereotypen heterosexueller Pornographie, die entweder nur zur Erregung dient oder klischeehaft und schlecht geschrieben ist. Dustan hingegen repräsentiert für ihn die „Kontinuität zwischen Sex und Geist“, eine Frontalität, die das Schreiben bereichert. Die Begegnung, die auf der „literarischen Ebene“ stattfindet, zeigt, wie Clerc sexuelle Erfahrungen nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Selbstreflexion und als Motor für sein politisches und kreatives Verlangen nutzt, das aus seinem „Mangel“ heraus entsteht. Der Höhepunkt dieser Passage ist das Wiederauftauchen des Aphorismus „Les salopes n’ont pas peur de jouir“ als Tätowierung, die von der zuvor berührten Frau abfärbt. Dies verbindet die physische, erfahrene Realität mit der literarischen Entdeckung und bestätigt, dass die Höhle ein Ort der tiefgreifenden Offenbarung ist, wo sich die Grenzen zwischen dem Körperlichen und dem Textlichen auflösen.

Diptychon von der Ordnung zum Chaos

Gemeinsam gelesen, zeigen Intérieur und Cave, dass Clercs „Poétique de l’intérieur“ immer zweifach ist: Sie fixiert das Reale in minutiöser Beschreibung – und entzieht es zugleich, indem sie Lücken, Auslassungen und unzugängliche Räume einführt. Intérieur ist das Buch der Ordnung, Sichtbarkeit und Systematik. Cave ist das Buch des Chaos, der Dunkelheit und der Auflösung. Zusammen bilden sie ein literarisches Doppelporträt, in dem die Wohnung zur Metapher für das Subjekt wird: ein Ensemble aus bewohnten, erhellten Räumen und einem Keller, in dem das Verdrängte, Überflüssige und Gefürchtete lagert. Clercs Gesamtprojekt ist damit eine radikale Form der literarischen Selbstvermessung: Der Versuch, das eigene Territorium bis in den letzten Winkel zu kartographieren – und zugleich das Eingeständnis, dass jeder Plan einen weißen Fleck enthält, der nicht ausgemessen werden kann.

Der Vergleich zwischen Intérieur und Cave offenbart Thomas Clercs literarisches Projekt, das sich durch eine konsequente, ja obsessive Methodik auszeichnet, die sich jedoch in ihrem Fokus verschiebt und vertieft. In Intérieur steht die physische Umgebung im Mittelpunkt, eine „Objektologie“ des Alltags, die den Erzähler durch die Akkumulation und Anordnung von Dingen abbildet. Die detaillierte Beschreibung seines Apartments – von der Sicherheit der Tür bis zur Klassifizierung der Bücher – ist ein Versuch, das Selbst durch die Beherrschung des Raumes und seiner Inhalte zu erfassen. Die Wohnung wird zum „persönlichen Museum“, eine sichtbare Manifestation des Geistes und der Geschichte des Erzählers. Die Sprachwahl, insbesondere die Verwendung der Ziffer „1“ anstelle von Artikeln, unterstreicht die konzeptuelle, fast klinische Distanz des Autors, während er gleichzeitig eine zutiefst persönliche Autobiografie verfasst.

Cave hingegen markiert einen Abstieg, nicht nur physisch in den Keller des Gebäudes, sondern auch metaphorisch in die Tiefen der Psyche und des Begehrens. Der vergessene, dunkle und unordentliche Keller steht im Gegensatz zur sorgfältig kuratierten Wohnung in Intérieur. Hier, in diesem „stagnierenden“ und „schmutzigen“ Raum, findet der Erzähler keine Ordnung, sondern ein „Capernaüm“ aus Überresten, die er nicht mehr als seine eigenen erkennt. Der Keller wird zum Ort der „Unter-Realitäten“, in dem archaische und sexuelle Energien freigesetzt werden, symbolisiert durch die obszönen Inschriften und die Begegnungen mit Figuren wie Wilhelm Reich und Guillaume Dustan. Der Fokus verlagert sich von der Inventarisierung des Vorhandenen zur Erkundung des Verdrängten und des Unergründlichen.

Die methodische Akribie bleibt in Cave zwar erhalten, wird aber durch eine stärkere Involvierung des Körpers und der Sinne des Erzählers ergänzt und auch subvertiert. Wenn in Intérieur der Erzähler die Welt durch die Brille seiner Besitztümer analysiert, ist es in Cave der eigene Körper, seine sexuellen Impulse und seine Ängste, die die Erzählung vorantreiben. Die „Umwandlung des Wortes in Fleisch“ ist das ultimative Ziel, das Schreiben nicht nur als Beschreibung, sondern als performativen Akt des Zugangs zum Begehren zu verstehen. Während Intérieur eine „Autobiografie in Glas“ ist, die das Sichtbare spiegelt und das Unsichtbare nur andeutet, ist Cave eine Odyssee durch die „innere Höhle“, die das Verborgene, das Unaussprechliche und die Widersprüche des menschlichen Begehrens ans Licht bringt. Das Buch wird zu einem „traité caverneux, imparfait“, einem unvollkommenen Werk, das jedoch die Authentizität des Ringens des Autors mit dem Sex und dem Schreiben offenbart.

Die Beziehung zwischen Intérieur und Cave ist keine einfache Abfolge, sondern eine dialektische Vollendung. Intérieur etablierte die sichtbare Architektur des Selbst, während Cave seine verborgenen, oft beunruhigenden Fundamente ausgräbt. Zusammen bilden sie eine umfassende Spatiographie, die sowohl die manifesten als auch die latenten Aspekte der menschlichen Psyche umfasst, indem sie sich vom beobachtbaren häuslichen Raum zur schwer fassbaren, fragmentierten Welt des Begehrens und des Unbewussten bewegen. Dieses Diptychon argumentiert, dass ein wahres Selbstporträt sowohl die bewusste, geordnete Behausung als auch die chaotischen, unterirdischen Tiefen umfassen muss. Die explizite Verbindung von Cave mit dem Unbewussten und Intérieur mit dem Bewussten (impliziert durch seinen Fokus auf den beobachtbaren häuslichen Raum) erhebt die beiden Romane über bloße literarische Werke hinaus zu einem konzeptuellen Modell der menschlichen Psyche. Dieses Diptychon kann als Clercs literarische Darstellung des vollständigen psychoanalytischen Subjekts angesehen werden, das sowohl das Ego (die geordnete Wohnung) als auch das Es/Unbewusste (den chaotischen Keller) umfasst. Die Spatiographie wird somit zu einer Kartographie des Geistes, was darauf hindeutet, dass wahres Selbstverständnis die Integration dieser beiden scheinbar disparaten Bereiche erfordert. Dies impliziert eine literaturtheoretische Aussage über die Natur der Subjektivität selbst. Thomas Clercs Intérieur und Cave sind nicht nur zwei Bände eines sich erweiternden literarischen Projekts, sondern stellen auch eine Progression in der Selbsterforschung dar. Beginnend mit der detaillierten Kartierung des sichtbaren Wohnraums als Spiegel der Persönlichkeit, taucht Clerc in Cave in die verborgenen Tiefen des Kellers ein, um das Unsichtbare, das Verdrängte und die rohe, oft verstörende, Essenz des Begehrens zu erkunden. Diese Bewegung von der Oberfläche in die Tiefe, von der materiellen Ordnung zur psychischen Unordnung, spiegelt eine dynamische und mutige Herangehensweise an die Autofiktion wider, in der das Schreiben nicht nur abbildet, sondern auch transformiert und das Subjekt selbst formt. Durch scheinbar banale Inventarisierung dringt der Autor zu philosophischen und existentiellen Fragen über Identität, Körper und die Natur der Literatur vor.

Cave stellt eine literaturtheoretische Erforschung des Unbewussten dar, die die verborgenen Dimensionen des Selbst akribisch freilegt, die in Intérieur implizit anerkannt, aber nicht explizit kartiert wurden. Durch seine invertierte orphische Prämisse, die duale Erzählstruktur und den thematischen Fokus auf „Brain Porn“ vervollständigt Cave die in Intérieur begonnene Spatiographie und verwandelt sie von einer Kartierung des häuslichen Raums in eine umfassende Kartographie der Psyche. Dieses Diptychon präsentiert letztendlich ein fragmentiertes, aber vollständigeres Selbstporträt, das traditionelle Vorstellungen von Identität und narrativer Kohärenz in Frage stellt.

Nachtrag: Urbane Inventarisierung in Paris, musée du XXIe siècle

In Intérieur reflektiert Clerc ebenfalls über seine literarische Identität und seine früheren bzw. zukünftigen Werke. Clerc erwähnt auch seine früheren Universitätsarbeiten, wie seine Magisterarbeit über „den dilettantischen Helden in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts“ und seine DEA-Arbeit über die „Literarität des Journals von Jules Renard“. In Intérieur wird seine erste Buchveröffentlichung, Maurice Sachs le désœuvré, erwähnt, in der er die Bibliophilie kritisierte. Er listet auch seine anderen Werke auf, wie den ersten Band von Paris, musée du XXIe siècle und L’homme qui tua Roland Barthes. Er plant ein zukünftiges Buch für sein hohes Alter, die Persönliche Geschichte meiner Bücher, das in 50 Jahren erscheinen soll. Clerc betont, dass die Literatur für ihn eine so große Rolle spielt, dass er sie nicht von anderen Teilen seines Lebens trennen kann. Er sieht seine Lektüren als prägender an als seine Erfahrungen und das Schreiben als Mittel zur Intensivierung des Lebens. Clercs bisherige Bücher werden als eine fortlaufende, sich selbst kommentierende und erweiternde Reihe interpretiert, die sich mit seiner persönlichen Geschichte, seiner Identität, seinen Obsessionen und seiner Beziehung zur materiellen und immateriellen Welt auseinandersetzt. Jedes Werk baut auf dem vorherigen auf und vertieft die Erkundung seines „Inneren“ und seiner „unterirdischen“ Psyche.

Das Confinement (Lockdown) hatte eine grundlegende Bedeutung für den zweiten Band von Thomas Clercs Paris, musée du XXIe siècle. Dieses Werk als Konsequenz während der COVID-Pandemie gleicht einer semiologischen Abhandlung, in der jeder Gegenstand und jeder Winkel des Raumes akribisch erfasst wird. Die auferlegte Beschränkung, sich nur in einem Umkreis von einem Kilometer von zu Hause entfernen zu dürfen, wurde zu einer entscheidenden methodischen Grundlage für das Buch. Diese „globale Klammer“ („parenthèse mondiale“) ermöglichte eine intensive und detaillierte Erkundung des unmittelbaren Viertels des Erzählers, wobei die erzwungene Nähe zu seinem direkten Lebensraum eine fast mikroskopische Beobachtung des städtischen Alltags und seiner Veränderungen während der Pandemie ermöglichte. So wird nicht nur das Tragen von Masken erwähnt, sondern auch die Zunahme der Armut als Folge der COVID-Krise als prägende soziale Realität dieser Zeit dargestellt. Im Wesentlichen prägte das Confinement die Entstehung des Buches als ein einzigartiges, von äußeren Umständen definiertes Werk der topografischen und sozialen Beobachtung.

Thomas Clercs Buch Paris, musée du XXIe siècle stellt eine umfassende Fortsetzung seines topographischen Schreibprojekts dar, das sich von der detaillierten Innenwelt auf die urbane Aussenwelt ausdehnt. Er richtet seinen Blick nun auf die Stadt selbst. Dieses Vorhaben begann 2007 mit einem ersten Band über das 10. Arrondissement, in dem er damals wohnte. Mit dem Band über das 18. Arrondissement, in dem er seit 2018 lebt, setzt Clerc sein Versprechen fort, alle Pariser Arrondissements zu kartieren, auch wenn er dies einst als „Größenwahn“ bezeichnete. Dieser umfangreiche Text zeugt von Clercs obsessiver Neigung zum Sammeln, Erfassen und Typologisieren, was es zum bislang größten seiner Bücher macht.

Clerc durchwandert die 425 Strassen, Plätze und Gassen des 18. Arrondissements akribisch, wobei jede seiner „Déambulations, dérives und notations“ in Form präziser Beschreibungen, persönlicher Anekdoten und reflektierender Kategorien („Bornes“) wie Image mentale, Vie antérieure, Mystère social, Banalité de base oder Performance festgehalten wird. Diese Performances reichen von spielerischen Interaktionen mit Passanten wie dem Anbieten von Hilfe oder dem Nachfragen nach Namen bis hin zu direkten Einmischungen in die Stadtlandschaft, etwa dem Abreißen von Werbeplakaten.

Clercs Herangehensweise an die Beschreibung des 18. Arrondissements ist geprägt von einer Mischung aus wissenschaftlicher Strenge und spielerischer Performance. Er präsentiert sich dabei als „post-konzeptueller“ oder „Performance-Autor“. Für das Buch hat er das Gebiet in vier Zonen unterteilt (La Chapelle, La Goutte-d’Or, Clignancourt und Montmartre, Les Grandes-Carrières). Er agiert als „Wanderer, Beobachter und Historiker“, der kein Detail übersieht – von Ladenschildern und kleinen Geschäften über soziale Konflikte und Freuden bis hin zu Obdachlosen und „Bobos“. Seine Beschreibungen sind reich an literarischen, historischen und soziologischen Referenzen und spiegeln einen politischen Blick auf die Gentrifizierung und die soziale Segregation in diesem „volkstümlichen“ und oft „ungeliebten“ Viertel wider. Clerc nutzt das Schreiben auch als Mittel zur Interaktion mit der Realität, indem er beispielsweise Passanten um ihre Namen bittet oder seine Eindrücke mit Filmzitaten und persönlichen Reflexionen verknüpft. Das Buch ist nicht zuletzt auch eine Form der Selbstreflexion und Autobiografie. Clerc projiziert seine eigenen Gedanken, Erinnerungen und sogar Ängste auf die erforschte Umgebung und macht das Private öffentlich. Er verbindet die Begehung des äußeren Raums mit der Erkundung des inneren Selbst, indem er die Stadt als einen erweiterten Ausdruck seines eigenen Seins begreift und die scheinbar objektive Beschreibung zu einem zutiefst persönlichen und vielschichtigen Werk macht.

Das Parisbild, das sich daraus ergibt, ist alles andere als idealisiert; es ist ein Museum des 21. Jahrhunderts, das in seiner Vitalität und seinem Verfall minutiös dokumentiert wird. Clerc zeigt ein Paris, das geprägt ist von sozialen Kontrasten und Konflikten: Von Obdachlosen und Migrantenlagern auf Mittelstreifen bis hin zu „Bobos“ und Gentrifizierungsprozessen, die „volkstümliche“ Viertel verändern. Er kritisiert die „ville inclusive“ als „aseptisée et artificielle“, die darauf abzielt, das „authentische Chaos“ zu glätten. Die Stadt wird als ein Ort voller paradoxer Realitäten dargestellt: ein „Montmartre du plaisir et du crime“, wo sich Schönheit neben Hässlichkeit, Eleganz neben Elend, und historische Tiefe neben schnelllebigem Konsum finden. Clerc scheut sich nicht, die unangenehmen Seiten zu benennen, sei es die „pollution visuelle“ durch Leuchtreklamen oder die „déshérence“ und „misère“ bestimmter Orte.

Die Struktur des Buches formt somit ein Parisbild, das gleichzeitig zärtlich und unerbittlich ist. Clercs subjektive Präsenz – sei es sein „frisson d’extase érotique“ über Eisenbahnschienen, seine Angst vor Krankheit oder sein „dégoût“ vor den „horreurs“ in Kunstgalerien – verleiht der topographischen Beschreibung eine persönliche Resonanz. Die Stadt wird erlebt, durchlitten und performt. Jede Straße wird zu einem „tableau vivant“, wodurch die Komplexität und Widersprüche des Viertels spürbar werden. Das Ergebnis ist eine „unendliche Wanderung“ durch eine Stadt, die sich wie eine „toile géante“ entfaltet, auf der jede Strasse zu einem „tableau vivant“ wird. Durch diese obsessive Inventarisierung und Archivierung bewahrt Clerc das vielschichtige, sich ständig wandelnde Paris in all seinen Facetten.

Thomas Clerc, Paris, musée du XXIe siècle: le dix-huitième arrondissement, librairie Mollat.

Clercs Paris-Projekt stellt eine urbane Erweiterung des Diptychons dar, das mit Intérieur begann und in Cave fortgesetzt wurde. Während Intérieur eine akribische, quasi „gläserne Inventur“ des privaten Wohnraums des Autors liefert, die auf Ordnung und Transparenz abzielt und sogar die Veröffentlichung seines Grundrisses vorsah, beleuchtet Cave den vergessenen und „unbewussten“ Teil dieses Inventars – einen dunklen, unordentlichen und oft unansehnlichen Keller, der als „dunkles Geheimnis“ fungiert und die verborgenen Aspekte des Selbst symbolisiert. Die Paris-Flânerien dehnen diese methodische, aber zutiefst persönliche Erkundung auf den städtischen Raum des 18. Arrondissements aus. Hierbei werden nicht nur die bekannten und schönen Seiten Paris‘ beschrieben, sondern gezielt auch die „unschönen“, marginalisierten und oft „schmutzigen“ Orte – wie verfallene Gebäude, belebte Märkte, problematische Viertel oder Baustellen – als integraler Bestandteil der Stadtlandschaft. Diese Erforschung des urbanen „Unbewussten“ oder der „verborgenen Wirklichkeiten“ der Stadt, die der Autor auch als „Pilger des Relativen“ unternimmt, spiegelt direkt die Introspektion und das Aufdecken des persönlichen „Kellers“ wider, wodurch das gesamte Werk zu einer umfassenderen „Autobiographie des Raumes“ wird, die vom Intimen zum Öffentlichen reicht und das scheinbar Unbedeutende mit Bedeutung aufladen kann.

Anmerkungen
  1. Marc Decoudun, „Cave – Thomas Clerc“, Marenostrum, 14. Januar 2022.>>>

Neue Artikel und Besprechungen


rentrée littéraire
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.