Inhalt
Mythische Genealogie
Der Autor und Literaturwissenschaftler David Diop – Sohn einer französischen Mutter und eines senegalesischen Vaters, geboren in Paris, aber aufgewachsen im Senegal – gehört seit seinem preisgekrönten Roman Frère d’âme (2018) zu den wichtigsten Stimmen der franko-senegalesischen Literatur. In Où s’adosse le ciel (Julliard, 2025) führt er eine poetische und zugleich historiographische Suche fort, die bereits in seinen früheren Büchern sichtbar wurde: das Bestreben, afrikanische Geschichte jenseits kolonialer Narrative zu rekonstruieren. Das Neue an diesem Roman ist, dass er die Verbindungslinien nicht nur zwischen Kolonialzeit und Gegenwart zieht, sondern zwischen einer mythischen Vergangenheit – dem Ägypten der Ptolemäer – und dem Senegal des 19. Jahrhunderts. Eine Art afrikanischer Klassizismus. Die Epigraphen des Buches zitieren Léopold Sédar Senghor, der von verlorenen Überlieferungen und verborgenen Schätzen im Sahara-Sand spricht, Marguerite Yourcenar über den Wiederaufbau von Monumenten mit authentischen Steinen, und Yoro Diaw, der die Besiedlung Westafrikas durch ägyptische Invasionen beschreibt. Diese Verweise betonen die Themen verlorener Geschichte, kultureller Wiederaneignung und die tiefe Verbindung zwischen Ägypten und Westafrika.
Der Roman entwirft eine alternative Geschichtlichkeit, die nicht auf Schrift, Monument oder Archiv basiert, sondern auf mündlicher Überlieferung und Erinnerung. Der Protagonist Bilal Seck stammt aus Maka, einem senegalesischen Dorf in der Nähe von Saint-Louis. Er kennt die Genealogien der Könige und Königinnen des Waalo, Kayor, Sine und Djolof, die alle Regionen im heutigen Senegal sind. Bilal ist ein Griot (ein „louangeur“, lobpreisender Sklave), dessen Familie seit jeher an ein königliches Geschlecht gebunden ist. Griots haben eine tiefgreifende Kenntnis der Geschichte und Genealogien, und ihr Wissen ist die Grundlage der Macht der Könige. Trotzdem wird Bilals Blut als „unrein“ angesehen, eine alte Überzeugung, die so weit geht, dass er bei seinem Tod nicht in seinem Heimatdorf begraben werden darf, sondern an einem Baobab-Baum aufgehängt werden muss. Diese soziale Degradierung seiner Kaste basiert auf einer „Ursünde“ eines Vorfahren. Bilal selbst hinterfragt diese Ungerechtigkeit. In dieser Geschichtlichkeit wird eine Kontinuität zwischen dem alten Ägypten und dem Senegal sichtbar, vermittelt durch die Stimme des Griots Bilal Seck. Dieser wird zum „72. maillon“, dem 72. Glied einer Kette von Erzählern, die einen „chant des origines“ tragen. Damit setzt Diop ein Gegengewicht zur französischen Kolonialgeschichte, die Afrikas Vergangenheit zum Schweigen brachte, und bietet zugleich eine Identitätsstiftung für das Wolof und den Senegal.
Die These der genealogischen Kontinuität zwischen Ägypten und Senegal ist poetisch, nicht historisch. Archäologisch lässt sie sich nicht nachweisen. Diop entwirft eine alternative Geschichtlichkeit: Ounifer führt sein Volk nach Westen, bis zum „Bel Horizon“. Diese Bewegung ins Senegalesische hinein schafft eine mythische Genealogie. Der Senegal wird nicht als Kolonie Frankreichs, sondern als Erbe Ägyptens vorgestellt. Damit wird die Geschichte Afrikas von innen heraus gedacht. Dieses Motiv hat auch eine politische Dimension: Es widerspricht der kolonialen These von der „Geschichtslosigkeit“ Afrikas. Stattdessen konstituiert der Roman Senegal als Teil einer uralten, ehrwürdigen Tradition, die mit den Hochkulturen Afrikas verbunden ist.
Handlungsstruktur und Figurenkonstellation
Drei Räume strukturieren den Roman: die Wüste, Bel Horizon und das Lazarett von Djeddah. Die Wüste ist einerseits Todesraum, Ort der Krankheit und Verlassenheit; andererseits ist sie ein Raum der Läuterung, in dem das Gedächtnis sich klärt. Sie fungiert als Transit- und Zwischenraum, in dem Geschichte in Mythos übergeht. Bel Horizon ist der mythische Endpunkt der ägyptischen Wanderung. Es wird beschrieben als Ort, wo sich Himmel und Erde berühren, eine utopische Landschaft jenseits von Kolonialismus und Unterdrückung. Dass dieses Ziel nie endgültig erreicht wird, verweist auf einen utopischen Charakter der afrikanischen Selbstvergewisserung: Identität ist eine Bewegung, kein abgeschlossener Zustand. Das Lazarett schließlich ist ein Raum der Isolation, wo Bilal mit Toten und Sterbenden liegt. Doch gerade hier entfaltet sich seine produktivste Erinnerung. Inmitten der Cholera-Toten beginnt er, die Worte Ounifers zu rezitieren. Das Lazarett wird so zum paradoxen Ort der Wiedergeburt – ein literarischer „liminal space“, in dem Leben und Tod, Vergangenheit und Gegenwart ineinanderfließen.
Der Roman ist doppelt gebaut. Auf der einen Ebene steht die Geschichte des Griots Bilal Seck, der 1893 auf dem Weg nach Mekka in Djeddah an Cholera erkrankt. Eingesperrt im Lazarett, zwischen den Leichen anderer Pilger, beginnt er, sein einziges Gut auszubreiten: die Worte, die ihm durch 71 Vorgänger überliefert wurden. Bilal erinnert sich an sein Leben in Saint-Louis, an seine Ausbildung, an die Demütigungen in der französischen Kolonialschule und an seinen Verrat durch Yérim Thiaw, der ihn nach Mekka gelockt und schließlich in der Fremde preisgegeben hat.
Parallel dazu erzählt Bilal die Geschichte von Ounifer, einem ägyptischen Priester zur Zeit der ptolemäischen Herrschaft. Ounifer rebelliert gegen die griechischen Besatzer und führt eine Gruppe von Anhängern ins Exil. Mit ihm reisen der nubische Krieger Antef, der General Ptahhotep, die schöne und trügerische Kémi und andere Figuren, die allesamt symbolische Rollen verkörpern. Ihr Ziel ist „Bel Horizon“, jener mythische Ort „où s’adosse le ciel“ – wo sich der Himmel anlehnt.
Die beiden Erzählstränge sind nicht linear miteinander verbunden, sondern überblenden sich: Bilal spricht mit der Stimme Ounifers, zitiert seine Worte, setzt die Kette fort. Dadurch wird eine zyklische Zeitstruktur etabliert: Vergangenheit und Gegenwart, Mythos und Geschichte, Senegal und Ägypten sind keine getrennten Räume, sondern Teile einer übergeordneten Erzählung.
Die Figuren sind archetypisch und zugleich konkret: Bilal Seck ist Griot und Hüter der Tradition, aber zugleich sozial Ausgestoßener. Sein Blut gilt als unrein, er darf nicht „normal“ begraben werden. Diese Ausgrenzung ist paradoxerweise die Bedingung seiner Stärke: Nur der Marginalisierte kann das Gedächtnis bewahren. Yérim Thiaw ist die Figur des Verräters. Einst Freund Bilals, wird er zum Chef de canton, indem er französischen Interessen dient. Er symbolisiert die Kollaboration mit der Kolonialmacht. Ounifer ist Prophet und Widerstandskämpfer zugleich. Er repräsentiert das Prinzip der Erinnerung und des Aufbegehrens gegen Fremdherrschaft. Antef steht für Treue und Loyalität, aber auch für die Zerrissenheit zwischen Pflicht und Liebe. Ptahhotep fungiert als Wächterfigur, Vertreter einer alten ägyptischen Weisheit. Kémi wiederum ist ein ambivalenter weiblicher Archetyp, der an mythische Verräterinnenfiguren erinnert. Diese Konstellationen erzeugen Spiegelungen: Bilal und Ounifer entsprechen einander, Yérim Thiaw und Kémi fungieren als Verräterfiguren, Antef und Ptahhotep als loyal-treue Gegenpole.
Blut und Körperlichkeit
Das Motiv des Blutes ist zentral. Es durchzieht den Roman auf zwei Ebenen: der afrikanischen Tradition und der kolonialen Wissenschaft. In der Tradition gilt das Blut der Griots als „unrein“. Sie dürfen nicht in die Erde begraben werden, sondern müssen an Bäumen aufgehängt werden, da ihr Blut die Erde „verderben“ würde. Dieses mythische Motiv entstammt kastischen Strukturen westafrikanischer Gesellschaften. Es markiert die Ambivalenz der Griots: Sie sind unrein, aber unentbehrlich, ausgeschlossen und doch zentrale Träger des Gedächtnisses. – In der kolonialen Situation wird Blut zum Objekt der Medizin. Der Arzt Jousseaulme will Bilals Blut analysieren, um herauszufinden, warum er die Cholera überlebt. Blut wird hier zu einer biologischen Substanz, zu einem „Sample“. Bilal weigert sich: „Non“. Dieses Nein ist doppeldeutig – es verweigert die koloniale Aneignung des Körpers und es bekräftigt die eigene, kulturell eingebettete Bedeutung des Blutes. Blut wird so zum Schnittpunkt zweier Diskurse. Es ist ein Medium der Ausgrenzung (unrein) und zugleich ein Medium der Erinnerung (das Blut als Träger von Tradition). Die Ambivalenz verweist auf die Konstruktion von „Reinheit“ als soziale und politische Kategorie.
Die Cholera-Epidemie ist mehr als ein historisches Detail. Sie fungiert als Metapher für die Durchdringung von Körper und Geschichte. Der Tod im Lazarett, die Verwesung der Leichen, die Maden, die Fliegen – diese naturalistischen Bilder erinnern an die drastische Körperlichkeit von Frère d’âme. Dort wie hier wird die Zersetzung des Körpers zum Symbol für die Zersetzung sozialer Ordnungen. Bilal überlebt die Cholera – aber nur, um zum Träger einer Erinnerung zu werden, die seine Gesellschaft selbst als „unrein“ markiert. Krankheit wird damit zur Schwelle: Sie zerstört, aber sie eröffnet auch die Möglichkeit einer neuen Stimme.
Während die Obsession mit Gewalt in Frère d’âme den Erzähler in den Wahnsinn trieb, wird hier die Nähe zum Tod zum Auslöser von Erinnerung. Bilal liegt zwischen Toten, aber er rezitiert. Der Tod wird so nicht Endpunkt, sondern Schwelle. Diop setzt damit ein Motiv der Auferstehung ein: In der Nähe des körperlichen Untergangs wird das Gedächtnis neu geboren. Krankheit wird nicht nur als biologisches Phänomen gezeigt, sondern als Metapher für die koloniale Situation: Zersetzung, Fremdbestimmung, Auslöschung – und doch Überleben. Der Körper ist in diesem Roman ein Text: Blut, Krankheit, Wunden werden wie Zeichen gelesen. Bilal verweigert die Blutabnahme, weil er weiß, dass der koloniale Diskurs den Körper in Daten zerlegen will. Er selbst aber schreibt mit seiner Stimme einen anderen Körpertext, einen Text des Erinnerns.
Postkoloniale Dimension im Werkvergleich
Die Konstellation Bilal–Yérim Thiaw ist mehr als eine persönliche Tragödie. Sie steht für ein grundlegendes Motiv in kolonialen Gesellschaften: die Ambivalenz zwischen Solidarität und Kollaboration. Yérim verdankt Bilal seine Karriere, doch er nutzt diese Position, um sich den Franzosen zu nähern. Verrat wird so zum Mechanismus der kolonialen Herrschaft: Sie stabilisiert sich nicht nur durch äußere Gewalt, sondern durch innere Spaltungen. Bilals Reaktion auf den Verrat ist jedoch nicht nur Anklage. Er integriert Yérim in seine Erzählung, macht ihn zum Teil der Kette. Verrat gehört zur Geschichte, wie auch Treue und Erinnerung dazugehören. Diese Haltung verweist auf eine Dialektik, die Mbembe in Sortir de la grande nuit (2010) beschreibt: Postkoloniale Subjektivität entsteht im Spannungsfeld von Gewalt, Komplizenschaft und Widerstand. Auf der ägyptischen Ebene spiegelt sich dieses Motiv in der Figur der Kémi, die Ounifer verrät. Auch hier ist Verrat nicht nur moralische Schwäche, sondern strukturelles Element einer Gesellschaft im Umbruch. Der Roman zeigt, dass Identität nicht aus reiner Treue besteht, sondern immer durch Brüche hindurchgeht.
Frankreich tritt im Roman in Gestalt der Schule und der Medizin auf. Bilal erinnert sich an die école des otages in Saint-Louis, wo er gezwungen wurde, französische Geschichte zu lernen. Als er fragt: „Warum lernen wir die Geschichte Frankreichs und nicht die des Senegal?“, wird er beschimpft und bestraft. Hier zeigt sich die koloniale Logik der Geschichtslosigkeit: Die Kolonisierten sollen keine eigene Vergangenheit haben, sondern die Geschichte des Kolonisators übernehmen. Die Medizin funktioniert ähnlich: Der Arzt Jousseaulme sieht Bilal nicht als Subjekt, sondern als Objekt seiner Forschung. Bilals Blut soll zur Probe, zum Material werden. Frankreich erscheint so als Macht, die Körper und Erinnerungen aneignet. Frankreich entscheidet, was zählt, was untersucht, was überliefert wird. Afrikanisches Gedächtnis wird abgewertet, afrikanische Körper werden ausgebeutet. Doch Diop entwirft eine Gegenbewegung: Bilal erzählt. Seine Worte sind nicht „Wissen“ im westlichen Sinne, sondern „parole“. Aber genau diese Parole entzieht sich der kolonialen Aneignung. Sie ist nicht messbar, nicht objektivierbar. Bilal spricht Französisch, aber er nutzt die Sprache, um eine Wolof-Erinnerung auszudrücken. Er verwandelt das Medium des Kolonisators in ein Werkzeug der Gegen-Geschichte. Hier zeigt sich, was Homi Bhabha als „hybridity“ bezeichnet hat: Die koloniale Sprache wird nicht nur imitiert, sondern transformiert.
Frère d’âme erzählte vom Wahnsinn eines senegalesischen Soldaten im Ersten Weltkrieg. Dort war der Monolog litaneiartig, die Bildlichkeit drastisch, die Stimme zerrissen zwischen Trauma und Erinnerung. La Porte du voyage sans retour rekonstruierte den Sklavenhandel im 18. Jahrhundert, vermittelt durch die Notizen eines französischen Botanikers. Où s’adosse le ciel verbindet beide Strategien: den monologischen Gesang aus Frère d’âme und die historische Reflexion aus La Porte du voyage sans retour. Neu ist die mythische Dimension: die Behauptung einer genealogischen Verbindung zwischen Ägypten und dem Senegal. Damit entwirft Diop eine umfassendere „africanité“, eine Geschichte, die nicht im Kolonialismus beginnt, sondern tief in mythische Ursprünge zurückreicht.
Poetik und Oralität
Die Poetik des Romans lebt von starken Bildern: Blut als Symbol für Reinheit/Unreinheit, aber auch für Erinnerung. Es verweist auf soziale Kastensysteme und koloniale Biologie. Der Titel verweist auf einen kosmischen Ort, an dem Himmel und Erde sich berühren. Der Himmel ist hier nicht christlich, sondern mythisch – ein Bild für die Einheit von Vergangenheit und Zukunft. Griots sollen nach ihrem Tod an Bäumen aufgehängt werden. Der Baum wird so zum Symbol für Erinnerung, für die Verbindung von Himmel und Erde. Der Nil in Ägypten, das Meer zwischen Afrika und Arabien, die cholera-verseuchten Brunnen – Wasser ist sowohl Lebensquelle als auch Todesbringer. Die Wüste schließlich ist Ort des Übergangs, des Exils, der Läuterung. Diese Bildwelt stiftet Verbindungen zwischen Ägypten und Senegal, zwischen Mythos und Gegenwart. Das Motiv Bel Horizon ist zentral: Es ist eine Metapher für das Utopische, ein Ort, der zugleich real (Senegal) und mythisch (Ort des Ursprungs) ist. Die Sprache ist durchzogen von mythischen Anspielungen (Osiris, Isis, Abydos) und afrikanischen Symbolen (Baobab, Wolof-Sprichwörter). Daraus ergibt sich eine Hybridität der Poetik, die koloniale Grenzen überschreitet.
Diops Sprache in Où s’adosse le ciel ist von Wiederholung und litaneiartiger Struktur geprägt. Bilals Erzählungen erinnern an Psalmen oder Gesänge. Diese Form evoziert mündliche Traditionen, in denen Wiederholung nicht Redundanz, sondern Verstärkung ist. Diop orientiert sich konsequent an der mündlichen Tradition. Der Erzähler Bilal Seck definiert sich selbst als griot, also als Träger einer Kultur, die nicht in Büchern, sondern in Stimmen, in Liedern, in performativer Erinnerung weitergegeben wird. „L’histoire de l’indignité de ma caste est arrivée jusqu’à moi au bout d’une chaîne de paroles rapportées par soixante et onze maillons vénérables. J’en suis le soixante-douzième“ – in dieser Selbstdefinition wird deutlich, dass Geschichte als „chaîne de la parole“, als Kette des Wortes gedacht wird.
Die westliche Tradition privilegiert die Schrift, weil sie Dauer und Objektivität suggeriert. Diop setzt dem ein anderes Modell entgegen: Geschichte lebt in Stimmen, die weitergegeben werden, aber auch verändert, angepasst, neu belebt werden. Die Oralität ist fragiler, aber auch dynamischer. Sie ermöglicht eine alternative Historiographie, die nicht auf Monumenten, sondern auf performativen Akten beruht. Mündlichkeit wird von Diop im Textstil nachgeahmt: Repetition, Litanei, rhythmische Sequenzen erzeugen den Eindruck einer gesprochenen Rede. Der Text ist nicht still zu lesen, sondern verlangt nach einem imaginären Zuhörer. Damit erinnert er an die Tradition der epischen Erzählung, wie sie in Afrika von den Griots gepflegt wurde.
Der Roman ist auch eine Hommage an das Wolof. Immer wieder verweist Bilal auf Sprichwörter, auf die Weisheit der Sprache, auf die poetische Kraft des Wolof. In einer Zeit, in der Französisch die hegemoniale Sprache ist, erinnert der Roman an die kulturelle Tiefe der lokalen Sprache. So entsteht eine doppelte Strategie: Der Roman ist auf Französisch geschrieben – also in der Sprache des Kolonisators –, aber er verweist beständig auf Wolof als Quelle. Die Kolonialsprache wird relativiert, indem sie die Erinnerung einer anderen Sprache transportiert.
Die Frage der Generationen: Diops Beitrag zur afrikanischen Literaturgeschichte
Das vielleicht wichtigste Bild des Romans ist die „chaîne de la parole“, die Kette des Wortes. Bilal beschreibt sich selbst als „soixante-douzième maillon“, als 72. Glied einer langen Überlieferung. In diesem Bild verdichtet sich eine alternative Theorie der Geschichtsschreibung: Geschichte ist nicht das, was in Archiven oder Monumenten niedergelegt ist, sondern das, was von Mund zu Mund weitergetragen wird. Diese Überlieferung ist fragil, bedroht durch Vergessen, Krankheit, Verrat. Aber sie ist zugleich widerständig, denn sie überlebt, selbst wenn Schrift und Monumente zerstört werden, ein kulturelles Gedächtnis, das über Generationen hinweg Werte, Mythen und Identitäten bewahrt. Bei Diop ist es nicht Schrift, sondern Stimme, die dieses Gedächtnis trägt.
Formal verbindet der Roman Fragmente mit Gesängen. Die Kapitel sind nicht linear, sondern wirken wie mündliche Episoden, die lose verbunden sind. Dieses Fragmentarische ist Teil der Poetik: Es spiegelt die Oralität, die nicht auf Vollständigkeit, sondern auf performativer Gegenwart basiert. Gleichzeitig sind viele Passagen gesangartig. Wiederholungen, rhythmische Sätze, fast liturgische Strukturen – der Text will nicht nur informieren, sondern klingen. Damit verbindet Diop die schriftliche Form des Romans mit der mündlichen Form des Gesangs.
Bilal sieht sich selbst als 72. Glied einer Kette. Doch die Frage ist: Wem übergibt er das Wort? In Djeddah, zwischen Toten, scheint er ohne Nachfolger zu sein. Hier liegt eine tragische Dimension: Das Gedächtnis könnte mit ihm enden. Der Roman suggeriert, dass das bloße Aussprechen schon eine Übergabe ist. Der Leser – und in der Binnenfiktion die imaginären Zuhörer – werden zu Erben des „chant des origines“. Damit schreibt sich der Roman selbst in die Kette ein. Das Buch ersetzt die mündliche Weitergabe nicht, sondern transformiert sie in literarische Form. Das Motiv der Generationsübergabe verweist zugleich auf eine kollektive Identität. Nicht das Individuum zählt, sondern die Kette. In einer Zeit, in der koloniale Macht individuelle Karrieren belohnt (wie bei Yérim), stellt der Roman ein anderes Modell von Subjektivität vor: das des Kettenglieds. Bilals Reise von Mekka über Ägypten bis nach Djenné und schließlich zurück nach Saint-Louis du Sénégal ist eine Suche nach seinen Ursprüngen und eine Auseinandersetzung mit der ihm überlieferten Geschichte. Er strebt danach, die „wahre“ Bedeutung der Überlieferung zu entschlüsseln und sieht sich als „Sehender“ und „Chronist der Schicksale“.
Der Name von Bilals Tochter, Nételli, bedeutet auf Wolof „Erzählen“. Diese Wahl ist für Bilal von entscheidender Bedeutung, da er hofft, dass seine Tochter die 73. Übermittlerin der Ursprungsgeschichte wird, obwohl sie von Geburt an stumm ist. Es mag eine tragische Ironie sein, dass sie nicht sprechen kann, trotzdem symbolisiert der Name die Hoffnung auf weitere Überlieferung. Nételli findet eine neue Form der Überlieferung durch Schreiben, was die Fortführung der Geschichte in die Zukunft sichert. Die Heirat seiner Tochter mit dem Sohn der adligen Familie Thiaw (Yérim Thiaws Familie) soll zugleich die Unterscheidung zwischen „reinem“ und „unreinem“ Blut auflösen.
Am Ende entwirft Diop eine radikale Alternative: Geschichte ist nicht, was Frankreich erzählt, sondern was die Griots singen. Geschichte lebt nicht im Archiv, sondern in der Kette der Worte. Identität ist nicht Reinheit des Blutes, sondern Kontinuität des Gesangs. Diese alternative Geschichtlichkeit ist zugleich eine Utopie. Sie überschreitet die Gewalt der Kolonialzeit, die Krankheiten, den Verrat. Sie führt zurück zu einer mythischen Einheit, in der Ägypten und Senegal verbunden sind, analog zum europäischen Klassizismus. Damit ist Où s’adosse le ciel mehr als ein historischer Roman. Literatur will hier eine zerschnittene Vergangenheit wieder zusammenfügen.
Diop ergänzt somit die Gedächtnisthematik der vergangenen Romane: Frère d’âme erzählte die traumatische Erinnerung des Ersten Weltkriegs. La Porte du voyage sans retour rekonstruierte die verdrängte Erinnerung an den Sklavenhandel. Où s’adosse le ciel nun entwirft eine mythische Erinnerung, die bis ins alte Ägypten zurückreicht. In allen drei Romanen geht es um Stimmen, die zum Schweigen gebracht wurden – der Soldat, der Sklave, der Griot. Diop gibt ihnen eine Sprache, die zugleich poetisch und politisch ist. Der neue Roman zeigt, dass afrikanische Literatur nicht nur von Kolonialtraumata handeln muss, sondern auch von eigenen Genealogien singen kann. Diop positioniert den Senegal nicht am Rand, sondern im Zentrum einer uralten Tradition. So entsteht eine alternative Geschichtlichkeit, die nicht beweisen, sondern erzählen will. Sie zeigt, dass Geschichte mehr ist als Archive: Sie ist Gesang, Blut, Erinnerung, Kette. Und sie zeigt, dass Afrika seine Zukunft aus einer mythischen Vergangenheit heraus denken kann, die noch immer in den Stimmen der Griots lebt.