Heimat, bald
Gilbert Sinoués Au couchant, l’espérance inszeniert die Entstehung nationaler Unabhängigkeit als Spiegel und Gegenfolie eines individuellen Freiheitskampfs. Der Roman koppelt die politische Befreiung Marokkos an die innere Rekonstruktion seines Protagonisten Hussein Chaoui: Was sich politisch am 16. November 1955 mit der Rückkehr des Sultans Mohammed V und am Ende mit der Unabhängigkeit erfüllt, erscheint erzählstrategisch als späte Antwort auf eine biografische Kette von Verlusten, Verwundungen und Sprachlosigkeiten. Die Schlussszene, in der Hussein – vom Jubel über den heimkehrenden Sultan getragen – zur Bahn schreitet, „bald“ in Casablanca anzukommen hofft und „gewiss“ ist, dass Marokko „bald wieder frei sein würde. So wie er“, verschränkt zwei Semantiken der Erlösung: nationale Souveränität und personale Entlastung aus Trauma und Schuld. Die Poetik des Romans besteht darin, diese beiden Linien nicht zu harmonisieren, sondern sie als spannungsvolle Parallelbewegung zu montieren, die von Diskontinuitäten, asymmetrischen Zeiterfahrungen und gebrochener Kommunikation gezeichnet ist.
Die erzählerische Klammer setzt mit einem historischen Akt der Entmächtigung ein: 1912, kurz nach der Konvention von Fès, verzichtet Sultan Moulay Abd el-Hafid auf den Thron; in einer symbolisch hoch aufgeladenen Szene zerstört er den Herrschaftsparasol, bevor er an Bord des französischen Kreuzers Du Chayla geht. Lyauteys geflügeltes Wort – „Und jetzt werden wir Marokko machen“ – markiert die koloniale Startbehauptung, die den Roman als Geschichtserzählung motiviert und als Trauma im Gedächtnis der Figuren sedimentiert. Die Szene wirkt als Auftakt eines halben Jahrhunderts, in dem „leuchtende Augenblicke“ und „Finsternisse“ einander ablösen; zugleich stellt sie die Äquivalenz von Symbol und Macht infrage: Die verbrannten Embleme lassen die Aura verschwinden, nicht die Erinnerung.
Vor diesem Hintergrund breitet der Roman Hussein Chaouis Lebensweg aus: den Krieg im Rif, an dem sein Körper wie sein Gedächtnis zerbrechen; die Entscheidung für das Wort (Journalismus, Flugblatt, Artikel) als Gegenmacht; die Liebe zu Violette, die Freundschaft und lebenslange Nähe zu Léa und deren Eltern Esther und David; die Exilerfahrung im Exil des Anderen – Husseins Besuch beim verbannten Abd el-Krim auf La Réunion –; die Repression der frühen 1950er-Jahre; die Massaker auf der Straße; die psychische Lähmung; der Verkauf des eigenen Blattes; das verdichtete, fast atemlose Finale des Jahres 1955, wenn die Masse mit dem Sultan durch Rabat strömt. Die letzte Sequenz führt Husseins Körper – noch schwankend, die Knie weich – zum Bahnhof: Heimkehr in die Heimat, „bald“, nach „drei langen Jahren“ der Trennung, als analoges Bewegungsbild zur Heimkehr des Königs. Der Schluss verdichtet Nationalgeschichte zur Choreografie des Gehens: von der Flugplatzrampe über Bouregreg-Brücken und Triumphbögen bis zur Bahnsteigkante, wo der Einzelne seine Gegenwart wieder in Besitz nimmt.
Aspekte der Interpretation
Liebe, Loyalität und Sprache
Die zentrale Konstellation entfaltet sich zwischen Hussein, Violette und Léa. Violette steht für eine mutige und pragmatische, zugleich zärtliche Ethik der Zuwendung. In La Réunion ermöglicht sie Husseins Zugang zu Abd el-Krim – ein Passierschein, signiert von Théodore Steeg persönlich, öffnet das Verwaltungsraster und macht Information überhaupt erst möglich; Violettes Handeln ist so die operative Voraussetzung für Husseins spätere Artikulation im Text. Die Szene mit dem Kapitän Vérines (mit Augenklappe) vor dem heruntergekommenen „Château Morange“ legt – in der Spiegelung von Husseins fehlendem Arm und Vérines’ fehlendem Auge – die Verwundungserfahrung der Zeit frei, während das Haus selbst als verfallene „residenzielle“ Hülle des Exils und als Gefängnis des Herzens erscheint.
Léa verkörpert die politisch denkende, seelisch verletzliche Intellektuelle, deren unglückliche Liebe zu Hussein weniger romantischer Topos als ethischer Prüfstein ist: In einem Gespräch mit Esther beharrt sie darauf, dass Hussein sie liebe, „ohne sich dessen bewusst zu sein“ – ein Satz, der nicht nur psychologischen Selbstschutz anzeigt, sondern die strukturelle Unmöglichkeit, dass privates Glück Vorrang vor – oder gar Schutz vor – der Geschichte haben könnte. Der plötzliche Tod Davids, entdeckt von Esther und Léa in der Werkstatt, verschiebt die Rollen: Léa wird zur Hüterin familiärer Kontinuitäten – ein Amt, das sie souverän erfüllt, als sie später Hussein und Violette im Haus aufnimmt, damit „das Haus weiterlebe“. In dieser großen Geste der Aufnahme liegt die Ethik des Romans: dass Zugehörigkeit gestiftet werden kann, wo Verwandtschaft zerreißt.
Esther und David sind das moralische Fundament der Erzählung. Ihre jüdische Ritualpraxis – der Kaddisch über Esther, das kleine, an den Herzschlitz gesetzte Stück zerrissenen Stoffs, die bescheidene Trauermahlzeit – markiert eine Kultur des Maßes gegen die Exzesse der Gewalt. Hussein, der Muslim, ist ihr Sohn „aus Liebe“, für den sie, ohne ihre Religion zu verleugnen, „muslimisch“ sind, indem sie seine Lebensform achten. Im Bild dieser Wahlverwandtschaft schreibt der Roman ein Gegen-Narrativ zur kolonialen Rassenrhetorik ins Familiäre.
Als Negativfolie dieser Wahlverwandtschaft agiert Eyraud, der Kolonialpublizist, in dessen Mund die zynische Rede von „höheren Rassen“ die Sätze der „Zivilisierungsmission“ noch einmal entäußert. In Husseins „Libres, monsieur, tout simplement libres!“ liegt die formelhafte Kondensation des nationalen Begehrens, aber auch die prosaische Nüchternheit, die den Roman vor pathetischer Überhöhung bewahrt. Dass Hussein am Ende sein Blatt nicht an Eyraud, sondern an eine nationalistische arabische Zeitung verkauft, affirmiert die symbolische Ökonomie der Zugehörigkeit.
Historische Zäsuren und intime Schwellen
Der Roman verweigert lineare Übersicht zugunsten einer Chronologie aus Schnitten, Rückblenden und Parallelmontagen. Auf den proto-historischen Prolog (1912, Du Chayla) folgen Episoden der 1920er- und 1930er-Jahre (Oujda, La Réunion, Casablanca), die die politische und persönliche Semantik schrittweise verdichten. Husseins Artikel „L’exilé de La Réunion“ wird – zwei Wochen nach Fertigstellung – in Rabat vom Résident général vorgelesen; die Zeitverzögerung stiftet erzählerisch den Effekt einer anlaufenden Kausalität zwischen Wort und Wirkung. Die historische Panorama-Schau kulminiert 1955 in der minutiös getakteten Ankunft des Sultans: „Er ist um 11.25 Uhr gelandet“; „11.42 Uhr“ – die Uhrzeit als Bühnenzeit macht das Politische zur Szene: Aus dem chronologischen Datum wird dramatische Präsensform. Der Schluss hebt den Zeitsprung – „bald“ – in den Modus der Hoffnung an: Der Roman entlässt den Leser nicht in erfüllte Gegenwart, sondern in den Transit.
Öffentliches und privates Drama
Der politische Strang reicht von Lyauteys Programm über Abd el-Krims Niederlage und Exil bis zur Rückkehr Mohammeds V. Besonders eindrucksvoll ins „Wieder-Ankommen“ des Sultans 1955: ein choreografierter Staatskörper aus Offerten, Bannern, Palmwedeln, Milch und Datteln – Rituale des Empfangens, die zugleich eine verarmte politische Sprache affektiv aufladen. Der Slogan „Dieu, la patrie, le roi“ wirkt im Roman nicht als Dogma, sondern als Atem eines Kollektivs, das Sprache im Jubel wiedererlernt.
Der private Strang erzählt Husseins Weg durch Gewalt und Verstummen. Nach einem Blutbad in Casablancas Straßen – Steine gegen Maschinengewehre, der Fall eines Mannes neben ihm, die panische Flucht, der verhängte Ausnahmezustand – versinkt Hussein in tagelanges Schweigen. Später diagnostiziert ein Arzt das Nachbeben des Rif-Traumas; keine Medizin außer Ruhe. Das Verstummen ist im Roman keine dramaturgische Pause, sondern ein Ersatz des Sprechakts: Es macht hörbar, was der Körper nicht mehr zu fassen vermag. Aus dieser Leere folgt die Entscheidung, das eigene Blatt aufzugeben – ein symbolischer Rückzug aus der Sphäre des Wortes, der jedoch nicht in Selbstaufgabe mündet, weil das Wort sich anderswo (im nationalen Kollektivkörper und in Husseins Artikeln) neu verschaltet.
Topografien des Kolonialismus und der Erinnerung
Die Erzählung lässt Räume „sprechen“. Casablanca erscheint zuweilen als Kartografie der Entfremdung: Straßennamen wie Gallieni oder Dumont-d’Urville reihen sich in Husseins Wahrnehmung als „fremde Namen“, die seine innere Lage ausstellen: Kenntnis geographischer Nähe (Témara, Safi, Nador, Ouarzazate) versus Unkenntnis kolonialer Fernsignale. Der Gang zum jüdischen Friedhof an der Rue Kranz wird zum Parcours der Erinnerung: Grabsteine werden zu Archiven, die Sentenz auf Davids Stein („Du bist nicht länger, wo du warst, doch du wirst überall sein, wo wir sein werden“) verhandelt eine Poetik des Fortlebens, die Religion, Ethnie und Sprache übergreift.
La Réunion ist nicht „exotische Kulisse“, sondern Labor des Exils. Das „Château Morange“ – groß an Quadratmetern, klein an Würde – wird als „oasis carcérale“ lesbar: Abd el-Krim darf „die Hundert Schritte“ im Hof gehen, Post wird geöffnet, Presse zensiert, Politik verboten; ausgerechnet im Überschuss an Zimmern wird die Enge der politischen Welt anschaulich. Husseins Artikel entprivatisiert dieses Wissen und zwingt die Résidence, das Exil als anstößige Praxis wahrzunehmen. Der Ort produziert damit Wahrheit wider Willen.
Rabat, im Finale, gerinnt zur Festarchitektur: Bouregreg-Brücke, Triumphpforten, rote Draperien im Mechouar – eine Staatsästhetik, die sich, weil sie den Souverän zurückholt, nicht als Kitsch, sondern als rituelle Reparatur der Ordnung darstellt. Dass die Masse sich selbst ordnet, indem sie Milch und Datteln spendet, verlagert politische Souveränität in die Mikropraktiken des Alltags.
Protokoll, Reportage, Beschwörung
Der Roman verschränkt drei Erzählregister. Erstens das dokumentarische Register: Zeitangaben, Dienstgrade, Namen der Verwaltung, exakte Ortsnennungen, die numerische Dimension der Menge („hunderttausende“) – all dies stiftet eine faktische Oberfläche, die historische Nachprüfbarkeit suggeriert, aber nicht mimetisch im Historischen aufgeht. Zweitens das szenische Register: Die Werkstatt mit Davids lebloser Gestalt; der Arzt, der Esthers Atemnot diagnostiziert; Husseins Körper, der mit „leerem Blick“ an der Wand hinunterrutscht; der Blick in Violettes Gesicht am Grab. Drittens das lyrische Register: Sentenzen („Die großen Wege unseres Lebens sind gezeichnet“), liturgische Formeln (Kaddisch), epiphanische Bilder (der verbrannte Parasol, der weiße Burnus des Sultans). Die Überblendung erzeugt eine „epische Reportage“, in der Protokoll und Beschwörung einander wechselseitig beglaubigen.
Stark ist die Technik der eingebetteten Rede. Husseins Artikel über Abd el-Krim erscheint im Roman als Fließtext, der im Büro des Résidenten übersetzt und vorgelesen wird; so wird ein Text zum Ereignis, ein Urteil zum Akt. Ebenso markant sind die performativen Einlassungen: Lyauteys Sterbesatz „Le Maroc n’était qu’une province de mon rêve … je meurs de la France“ wird als Zitat eines „Eingeweihten“ (ein Gendarm oder Offizier) überliefert; die Quelle bleibt prekär, die Wirkung – das Entzaubern des „großen Mannes“ durch dessen eigenes spätes Urteil – ist maximal. Die Poetik des Hörens-Sagens entlarvt das Offizielle, ohne es zu verleumden.
Rhetorische Wucht und heilendes Schweigen
Dialoge werden im Roman nie nur durch Figuren, sondern durch Diskurse geführt. Eyrauds Kolonialvokabular („zivilisatorisch“, „höhere Rassen“) exponiert sich selbst; Husseins lakonische Erwiderung – „frei, ganz einfach frei“ – spricht wiederum weniger als sie richtet. In der Szene mit Abd Allah el-Ayyachi wird die Sprache des Widerstands brutal pragmatisch: Man foltert in Marokko, jeder würde reden, weil niemand „Stunden der Folter“ überstehe; nur die Toten haben nichts verraten, weil sie „keine Zeit mehr hatten“. Das ist keine Metaphorik, sondern Protokoll: Sprache steht hier als Warnung, als logistisches Dispositiv des Untergrunds. Auf der anderen Seite stehen die Sprechakte des Rituals: der Kaddisch, das „Mektoub“ Esthers, das „Gott, Vaterland, König“ der Menge. Dazwischen: Husseins Tage des Schweigens, in denen Sprache suspendiert ist, damit sie später – gereinigt – wiederkehren kann.
Rituale und Symbolik
Sinoué macht Rituale zu Scharnierelementen. Politische Rituale mit Pforten und Draperien, Allégeance in Asilah, die Sprengkraft einer einfachen Uhrzeitangabe, die Kolonnen der Begleitung; religiöse Rituale wie Kaddisch, Kleiderzerreißen, der Satz aus dem islamischen Totenbrauchtum von den „vierzig Tagen“, in denen die Seele noch bei den Lebenden weilt. Die semantischen Felder durchdringen sich: Der Staat „kehrt zurück“ wie ein Toter, dessen Geist noch nicht gewichen ist; die Familie „bewahrt“, damit das Haus weiterlebt. Der Roman antwortet auf die Frage, wie Zugehörigkeit neu gestiftet wird, mit der Choreografie kleiner Handlungen.
Körper als Archive
Der Text legt besondere Aufmerksamkeit auf Körper. Hussein kehrt vom Rif „einarmig“ zurück; Vérines trägt die Augenklappe; Esther atmet mühsam, Lippen und Nägel sind blau; der Mann neben Hussein fällt im Kugelhagel; Violette und Léa altern sichtbar – graue Strähnen, Furchen im Gesicht; die Menge drängt, der Sultan zeigt „kleine Gesten“ der Hand. Die politischen Kräfteverhältnisse sind körperlich codiert: Wer spricht, zittert; wer schweigt, sackt zusammen; wer regiert, fährt stehend im offenen Wagen. Selbst Lyauteys letzter Satz markiert Müdigkeit als Erkenntnisform, nicht als Schwäche. Der Roman „liest“ Körper wie Quellen.
Journalismus im Roman
Husseins Artikel „L’exilé de La Réunion“ ist ein Schlüsseltext: Er re-kodiert Wissen, indem er die administrativ verborgene Realität (Zensur, Postkontrolle, Armut, religiöser Unterricht im Exil) in ein öffentliches Narrativ überführt. Die Szene in der Résidence zeigt das typische Paradox der Kolonialbürokratie: Die Macht ist überinformiert und doch überrascht; sie „hört“ ihren Skandal und bleibt unter dem Zwang der eigenen Verfahren. Das Feuilletonistische – ein Freund liest den Text, nennt ihn „Bombe“ – kontrastiert die trockene bürokratische Lektüre; beide bekennen auf ihre Weise, dass Sprache mehr als Medium ist: ein Ereignis.
Zugehörigkeiten: jüdisch, muslimisch, französisch, arabisch
Der Roman unterläuft homogene Identitätsphantasien. Er zeigt jüdisch-muslimische Nähe im geteilten Haus, arabische Presse als Gegenöffentlichkeit, französische Sprache als Medium der Anklage gegen die französische Verwaltung, den französischen Kolonialbeamten als Interpreten arabischer Texte. Selbst die feindliche Rede muss übersetzt werden – und verliert damit ihre Unangreifbarkeit. Wenn Léa Hussein im Haus behält, wenn Violette im Caftan heiraten will, wenn Esther „Mektoub“ sagt, entstehen Interferenzen, die koloniale Rigidität (Rasse, Rang, Sprache) de-naturalisiert.
Poetische Mikroszenen – die Macht des Details
Sinoués Stärke liegt in Mikroszenen, in denen wenige, genau gewählte Details semantische Räume öffnen: das Rascheln des zerschnittenen Stoffs über Esthers Herz; die Schilderung der billigen Speisen nach dem Begräbnis; der Satz an der Grabplatte; der unscheinbare Burnus, den Hussein trägt; die „kleinen Handbewegungen“ des Sultans; die Armutssymbole im „Château Morange“ – verlassener Brunnen, bröckelnde Balustrade. In Summe bilden die Details eine Poetik der Genauigkeit, die den großen historischen Ton vermeidet und doch Geschichte schreibt.
Endlich frei?
Der Schluss ist kein triumphaler Schlusspunkt, sondern ein doppelt offener Übergang. National gilt: „Nach 44 Jahren Protektorat ist Marokko endlich frei“ – eine deklarative Setzung von Souveränität, die performativ von der Masse getragen wird. Personal gilt: Hussein bricht zur Bahn auf; seine Freiheit wird in der Logistik der Heimkehr antizipiert, nicht in ihrer Erfüllung. Der Satz „bald“ inszeniert das Noch-Nicht; „wie er“ (wie Marokko frei sein) spiegelt, dass Subjektivität hier nicht aus sich selbst heraus, sondern in Harmonie – oder wenigstens in Resonanz – mit der politischen Zeit entsteht. Die Synchronisierung bleibt zugleich fragil: Husseins Trauma ist nicht ausradiert; die Toten bleiben anwesend, „vierzig Tage“ und darüber hinaus; die Liebe Léas bleibt unerlöst und zugleich sublimiert in Fürsorge; Violettes Mut bleibt hintergründig, aber wirksam. Der Roman schließt deshalb als Ethik der Erinnerung: Die Hoffnung des Titels ist kein teleologischer Endpunkt, sondern eine Haltung, in der der Einzelne – wie Hussein – wieder gehen kann.
Au couchant, l’espérance zeigt, wie Erzählen – im doppelten Sinn von narrativem Gestalten und öffentlichem Sprechen – kollektive und individuelle Subjektivität formt. Der verbrannte Parasol des Jahres 1912, das ungerettete Exil des Abd el-Krim, der zusammengebrochene Körper in der Werkstatt, der gerissene Stoff, die leere Zeitungsschale nach dem Verkauf, der rituelle Empfang des Sultans, der Gang zur Bahn: Diese Motive bilden eine Galerie von Gesten, in denen Geschichte sichtbar wird. Sinoué meidet die Versuchung, den Freiheitsbegriff pathetisch zu überhöhen; er zeigt ihn als Arbeit am Wort, am Körper, am Haus, am Ritual. Der Roman endet dort, wo Politik und Biografie sich im Bewegungsbild des Gehens kreuzen.