Inhalt
Philippe Bessons Roman Les jours fragiles (Julliard, 2004) geht von den letzten Lebensjahren des Dichters Arthur Rimbaud aus und zeichnet ein intimes Porträt aus der Perspektive seiner Schwester Isabelle. Der Roman ist eine suggestive Rimbaud-Fiktion, die die komplexen Beziehungen innerhalb der Familie und Isabelles innere Welt beleuchtet, während sie sich dem Mythos ihres Bruders nähert.
Das Verweben von Wirklichkeit und Legende
Bessons Roman bedient sich einer Mischung aus verbürgten biographischen Fakten und subtilen intertextuellen Bezügen, um die vielschichtige Persönlichkeit Arthur Rimbauds und das Wesen seiner Existenz zu ergründen. Die zentrale Handlungsachse – Arthurs Rückkehr aus den kolonialen Weiten Afrikas, die leidvolle Amputation seines Beines in Marseille und sein darauf folgender Tod – bildet das historische Gerüst, das der Autor mit dem subjektiven Empfinden Isabelles, ihrer aufopferungsvollen Pflege und ihren inneren Kämpfen um das Familienerbe verknüpft. Der Roman zeichnet Arthurs rastlosen Lebensweg nach, der ihn von den ungeliebten Ardennen über Paris und London bis in ferne Länder wie Abessinien, Harar, Aden und Zypern führte, wobei diese Stationen entweder durch Arthurs eigene fragmentarische Erinnerungen oder Isabelles Beschreibungen lebendig werden.
Intertextuell entfaltet sich der Roman durch die direkte Benennung und thematische Verarbeitung von Rimbauds Werken. Die einleitende Passage aus Rimbauds Une Saison en enfer setzt von Beginn an einen Ton der bitteren Resignation und der Suche nach einer neuen, physisch robusten Identität, die er sich in den Tropen zu schmieden hoffte. Auch Gedichte wie „Le Cœur supplicié“ werden nicht nur namentlich erwähnt, sondern dienen als Katalysator für Arthurs Geständnisse über traumatische Erlebnisse. Die Erwähnung von Paul Verlaine und des berüchtigten Vorfalls in Brüssel, bei dem Rimbaud angeschossen wurde, fügt dem biographischen Puzzle eine weitere, dunkle Facette hinzu und beleuchtet die turbulente Vergangenheit des Dichters. Dass Besson am Ende des Buches bspw. Jean-Jacques Lefrères Rimbaud-Biografie als Inspirationsquelle nennt, unterstreicht den recherchierten Hintergrund des Romans, auch wenn er sich die Freiheit nimmt, die Geschichte aus einer inneren, fiktionalen Perspektive zu erzählen und dabei die Grenzen zwischen belegter Tatsache und psychologischer Interpretation bewusst verschwimmen lässt. Die Erzählung wird so zu einer literarischen Auseinandersetzung mit der Konstruktion einer Künstlerbiografie.
Echokammern: die Rolle wörtlicher Zitate
Ein stilistisches Merkmal von Bessons Roman, das die Grenzen zwischen Historie und Fiktion noch weiter aufweicht, ist die Verwendung von kursiv gesetzten Passagen. Diese werden explizit als „phrases réellement prononcées ou écrites soit par Isabelle Rimbaud, soit par Arthur Rimbaud“ ausgewiesen. Diese „wörtlichen Zitate“ sind weit mehr als bloße Verweise; sie dienen als Ankerpunkte in der historischen Realität, die der ansonsten fiktiven Erzählung Authentizität verleihen und Isabelles Rolle als Chronistin und potenzielle Bearbeiterin der Geschichte ihres Bruders hervorheben. Sie schaffen eine Art doppelte Erzählstimme, in der die Vergangenheit unmittelbar in Isabelles Gegenwart und ihre Gedankenwelt eindringt.
Beispiele hierfür sind Arthurs Schilderungen seiner unerträglichen Schmerzen in einem Brief, die direkt aus überlieferten Korrespondenzen stammen. Auch seine poetischen „fantastischen Visionen“, die er unter dem Einfluss von Mohntee oder Morphium erlebt, werden in kursiv präsentiert, was ihren Status als authentische Ausdruck eines gequälten Geistes ausweist. Isabelles eigene Tagebucheinträge enthalten ebenfalls kursive Reflexionen, die den Eindruck erwecken, als handele es sich um unverfälschte Einblicke in ihre Gefühlswelt und ihre überlieferten Aufzeichnungen. Durch diese Technik wird dem Leser eine direkte Verbindung zu den historischen Figuren angeboten, während gleichzeitig das Nachdenken über die Natur der Erinnerung und die Konstruktion biografischer „Wahrheit“ angeregt wird. Es ist ein Spiel mit der Illusion, das die „reale“ Stimme der Vergangenheit in die fiktionale Erzählung einspeist.
Arthurs radikaler Geist und Isabelles fromme Bürgerlichkeit
Das zentrale Spannungsfeld des Romans und der Antrieb von Isabelles innerem Drama ist der tiefgreifende Gegensatz zwischen Arthurs ungestümer, radikaler Natur und Isabelles beständiger, frommer und bürgerlich verwurzelter Haltung. Diese Opposition ist nicht nur ein Charakterkonflikt, sondern eine tiefgehende Auseinandersetzung mit grundlegenden Lebenshaltungen.
Arthur wird als ein „surdoué scandaleux“ beschrieben, der schon früh die Grenzen seiner Heimat, der Ardennen, als „pays de gel, dur et noir“ empfand und nach Freiheit und Weite strebte. Er verachtete die Landarbeit und sah seine Kindheit und seine Poesie durch die Prägung seiner Mutter beeinträchtigt. Isabelles Beschreibungen Arthurs sind geprägt von der Anerkennung seiner „Insolenz und Arroganz, Sarkasmus und Grausamkeit“, Eigenschaften, die sie trotz ihres eigenen Wesens akzeptiert und zu verstehen versucht. Er ist der „unheilbare Ungläubige“, der „auf die Verse pisste“ und seine Bauernzeit verachtete. Sein Leben ist eine einzige Flucht vor Konventionen und die Suche nach „Sonne“ und Freiheit, die ihn in die Kolonien trieb. Er glaubt, dass die Geschichte nur das Schwere und Tragische bewahrt, nicht „L’eau de rose“.
Isabelle hingegen ist im Buch die „ruhige Seele“, die ihr Leben im Schatten ihres älteren Bruders verbrachte und von der Mutter dazu angehalten wurde, an die Scholle gebunden zu bleiben. Sie ist die verkörperte Disziplin, Frömmigkeit und das Pflichtgefühl. Ihre natürliche „Zurückhaltung“ und „Kälte“ spiegeln die Eigenschaften der Mutter wider und machen sie zu einer Hüterin der bürgerlichen Fassade. Ihr Leben ist von harter Arbeit auf dem Hof geprägt, und sie ist oft erschöpft von dieser Bürde. Ihre „Frömmigkeit“ steht in diametralem Gegensatz zu Arthurs „Blasphemien“, und sie betet inständig für seine Seele, in der Hoffnung, ihn zu „retten“.
Die Mutter, eine „kalte“ und verschlossene Figur, repräsentiert diese strenge bürgerliche Moral und Isabelles tief verwurzeltes Pflichtgefühl. Die Konflikte zwischen Arthur und seiner Mutter, insbesondere in Bezug auf seine Poesie und seinen unkonventionellen Lebensstil, hallen in Isabelles innerem Kampf wider, da sie versucht, zwischen diesen beiden Polen zu vermitteln und Arthurs „Würde“ zu wahren. Die Mutter sieht Arthurs Krankheit sogar als „châtiment de Dieu“ für seine Sünden, eine Perspektive, die Isabelle zwar registriert, aber insgeheim ablehnt. Isabelles Bestreben, Arthurs Geschichte zu „zensieren“ und „anzupassen“, um „Schande“ von der Familie abzuwenden und ihn „rein und makellos in die Nachwelt“ treten zu lassen, ist ein direkter Ausdruck dieser bürgerlichen Moral und ihres Versuchs, die radikale Natur ihres Bruders in konventionelle Bahnen zu lenken. Diese Opposition ist somit nicht nur eine Charakterstudie, sondern eine fast allegorische Darstellung des ewigen Konflikts zwischen der Freiheit der Kunst und der Enge bürgerlicher Konventionen, zwischen der ungebändigten Suche nach Selbstverwirklichung und den Fesseln der Tradition, zwischen Glauben und Atheismus.
Die schmerzliche Enthüllung
Die Frage der Homosexualität Rimbauds wird im Roman offen und ungeschützt thematisiert, vor allem durch Arthurs eigene Geständnisse an Isabelle und deren entsetzte Reaktionen. Arthur offenbart Isabelle die traumatische Vergewaltigung in der Kaserne von Babylon, die in seinem Gedicht „Le Cœur supplicié“ angedeutet wird. Die „innommables étreintes“ und die brutalen Details dieser Erfahrung sind für die sexuell unerfahrene Isabelle „schrecklich“ und „grauenhaft“, die sie „sprachlos vor Entsetzen“ machen. Dies ist eine zutiefst verstörende Enthüllung für Isabelle, die ihre christlichen Überzeugungen und ihr idealisiertes Bild des Bruders auf die Probe stellt.
Darüber hinaus gesteht Arthur Isabelle seine tiefe Liebe zu Djami, einem jungen Abessinier, den er in Afrika traf. Diese Beziehung wird als transformierend und rettend dargestellt, eine Erfahrung, die ihm seine Jugend zurückgegeben habe („redonné la jeunesse“) und die er als wahre „histoire d’amour“ bezeichnet. Dies steht im krassen Gegensatz zu den früheren traumatischen Begegnungen und zeigt eine Entwicklung in Arthurs emotionalem Leben.
Isabelles Reaktion auf diese Enthüllungen ist ein Spiegelbild ihres inneren Kampfes. Sie ist von Ekel, Scham und einem tiefen Wunsch nach Reinheit und Schutz des Familiennamens geprägt. Ihre Absicht, Arthurs Geschichte für die Nachwelt zu „zensieren“ und „anzupassen“, um „Schande“ von der Familie abzuwenden und ihn „rein und makellos“ erscheinen zu lassen, ist ein zentraler Aspekt ihrer Rolle im Roman. Dies offenbart, wie Isabelle, vielleicht stellvertretend für andere historische Akteure, aktiv an der Konstruktion des Rimbaud-Mythos beteiligt war, indem sie unliebsame Wahrheiten unterdrückte. Die Szene im Garten, als Isabelle Arthurs scheinbares Interesse an einem jungen Mann bemerkt und sofort eingreift, um „Ordnung zu schaffen“ und diese „verwerfliche Vertrautheit“ zu unterbinden, verdeutlicht ihre tiefe Abneigung und ihren unbedingten Willen, solche „Fehler“ zu eliminieren. Ihre eigenen sexuellen Erfahrungen sind nicht existent, und sie projiziert ihre Angst und ihr Unverständnis auf Arthurs intime Geständnisse. Selbst als Arthur ihr seine Nacktheit offenbart, reagiert sie mit Abwehr und einer kränkenden Bemerkung, die ihren Ekel und ihre Hilflosigkeit verbirgt. Die Thematisierung der Homosexualität ist somit nicht nur eine biografische Offenbarung, sondern auch ein Mittel, um Isabelles Rolle als Hüterin moralischer Konventionen und als treibende Kraft hinter der späteren Geschichtsschreibung Rimbauds zu beleuchten.
Arthurs Verzicht und seine koloniale Existenz
Der Roman interpretiert Rimbauds Abwendung von der Literatur und sein Schweigen als Dichter als eine bewusste, aber auch tief tragische Entscheidung, die aus Enttäuschung, Rebellion und der Suche nach einer alternativen Existenz erwuchs. Arthur selbst verhöhnt seine Poesie als „Unsinn“ und „würdeloses Gebrabbel“ und behauptet, er habe „auf diese Verse gepisst“. Dies kann als Ausdruck einer tiefen Desillusionierung oder als radikale Absage an eine frühere Identität gedeutet werden, die er hinter sich lassen wollte. Er glaubt, dass die Literatur nur die „Schwere“ und den „Désespoir“ bewahrt, nicht die „Légèreté“. Die symbolische Geste des Verbrennens seiner Manuskripte, die Isabelle beobachtet, ist ein Bild für diesen Bruch und den bewussten Akt der Auslöschung eines Teils seiner selbst. Sein Schweigen wird im Roman auch als eine Form der Resignation oder des Scheiterns interpretiert – eine Hingabe an die „Sprache des Schweigens“.
Sein Übergang zum Handel in den Kolonien wird nicht nur als wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern auch als radikale Suche nach einem anderen Leben, nach Freiheit und der ersehnten „Sonne“ interpretiert. Die Existenz in den Kolonien wird als physisch anstrengend und gefährlich beschrieben, geprägt von Krankheiten, Isolation und ständigen Kämpfen gegen die Trägheit, Korruption und Gewalt der Umwelt. Doch es ist auch eine Welt, die ihm ein Gefühl von Macht, Selbstbestimmung und des „Jemandsseins“ gab, das er in Frankreich nicht finden konnte. Er floh vor dem „ewigen Herbst“ der Ardennen, dem „Land des Frostes, hart und schwarz“.
Isabelle spekuliert, dass er in Harar ein „livre nègre“ schrieb, ein „Buch gegen Gott, ein Buch eines Verdammten“, bevor er seine Feder für immer niederlegte. Dies deutet an, dass seine Erfahrungen in Afrika, seine Wut und sein Leiden, möglicherweise seine letzte „literarische“ Ausdrucksform waren, die sich radikal von seiner früheren Poesie unterschied. Trotz seines erklärten Verzichts auf die Poesie und seine physische Schwäche zeigen die morphinbedingten „Visions fantastiques“ und seine letzten Bemühungen, einen Brief zu diktieren, dass die Sprache in ihm nie ganz verstummt ist und der Drang zur Flucht und zur Schaffung von Welten bis zum Schluss existierte. Sein Leben in den Kolonien war mit Besson eine Fortsetzung seiner Flucht vor den Fesseln der europäischen Gesellschaft und eine kompromisslose Verfolgung einer individuellen Freiheit.
Die Ambivalenz des Abschieds
Der Schluss des Romans offenbart die Vielschichtigkeit der Beziehungen und die Unauflöslichkeit des Rimbaud-Mythos. Die scheinbare Konversion Arthurs zum Glauben kurz vor seinem Tod wird von Isabelle als ein „Wunder“, als Erfüllung ihres tiefsten Wunsches, ihn zu „retten“, gefeiert. Der Abbé Chaulier, der Priester, deutet jedoch an, dass man „manchmal das Glück erzwingen muss“, was die Authentizität dieser Bekehrung in Frage stellt und suggeriert, dass Isabelles starker Glaube und ihr Wunsch nach Erlösung Arthurs letzten Atemzug interpretiert und möglicherweise geformt haben. Isabelle selbst trägt dazu bei, indem sie seine Geständnisse zensieren will, um sein Andenken zu „reinigen“. Es ist ihre triumphale Interpretation eines Moments, der vielleicht nur ein Ausdruck der Schwäche und des Deliriums des Sterbenden war.
Die Mutter bleibt bis zum Schluss eine enigmatische und kalte Figur. Sie weigert sich, nach Marseille zu kommen, und hält Arthurs Tod vor allen anderen geheim, erlaubt nur Isabelle die Teilnahme an der Beerdigung. Dies kann als ein letzter, grausamer Akt der Kontrolle interpretiert werden, um den Sohn, der ihr so viel „Schande“ bereitet hat, ein letztes Mal von der Gesellschaft fernzuhalten. Oder es ist die Vollendung ihres „Sieges“ über ihn, indem sie ihn, zumindest in ihrer Welt, endgültig kontrolliert und „bewahrt“. Ihr eisiges Schweigen und ihre Kälte dominieren die letzte Szene und unterstreichen die emotionale Zerrüttung der Familie.
Arthurs Tod an einem generalisierten Karzinom ist eine unerbittliche Realität. Seine Heimkehr nach Charleville in einem Sarg ist eine bittere Ironie: Er, der sein Leben lang geflohen ist, wird von der Heimat, die er verabscheute, für immer in Empfang genommen. Die „Regentropfen, die auf das Holz seines Sarges fallen“ statt der von ihm gesuchten „Sonne“, unterstreichen diese tragische Ironie und das Scheitern seiner ultimativen Flucht. Er findet keine Ruhe in der Erde, die er so sehr verabscheute.
Isabelle schwört, ihre Mutter zu überleben und Arthurs Vermächtnis zu „schützen“ und „rein“ zu halten. Sie wird zur alleinigen Hüterin seiner Erinnerung, die entscheidet, was der Nachwelt über ihn bekannt sein soll. Sie will die „scabreux détails“ und „scandaleux épisodes“ aus seiner Geschichte tilgen, um den Dichter „pur et sans taches“ in die Geschichte eingehen zu lassen. Der Roman endet mit Isabelles Übernahme dieser Machtposition und dem Wissen, dass sie die Autorität besitzt, die Geschichte ihres Bruders zu formen – notfalls durch Zensur und selektive Wahrheit. Ihr Gefühl, dass sie die am besten geeignete Person dafür ist, wird deutlich.
Der finale Satz des Romans, „Je doute qu’il repose en paix“, ist von Melancholie und Ambivalenz geprägt. Er spiegelt Isabelles anhaltende Zweifel und die Unmöglichkeit wider, eine so widersprüchliche und turbulente Seele wie Rimbaud wirklich zu erlösen oder zur Ruhe zu bringen. Trotz all ihrer Bemühungen, sein Andenken zu „reinigen“ und zu „erlösen“, bleibt die wahre, komplexe Natur Arthurs bestehen, unversöhnlich und unbezähmbar, selbst im Tod. Dieser Satz untergräbt die vermeintliche „Bekehrung“ und betont, dass der Dichter und sein Leiden über jeden Versuch der Einordnung oder Idealisierung hinausgehen. Er steht für ein Nachdenken über die Unfassbarkeit eines Genies, dessen Geist keine endgültige Ruhe finden kann.