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Genossenschaft und Zeitgenossenschaft: die Kolchose
À de rares exceptions près, se rappelle Nabokov, toutes les forces créatrices d’esprit libéral avaient fui la Russie de Lénine et Staline. D’où le très haut niveau de leurs colonies, à Berlin ou Paris, et leur capacité à mener, entre soi, une existence bizarre mais nullement désagréable, dans l’indigence matérielle et le luxe intellectuel, parmi des Allemands et des Français fantomatiques, sortes d’aborigènes avec qui nous n’éprouvions le besoin d’entretenir aucune relation. (Emmanuel Carrère, Kolkhoze, Éditions P.O.L., 2025.)
Mit wenigen Ausnahmen, erinnert sich Nabokov, waren alle kreativen Kräfte liberaler Gesinnung aus dem Russland Lenins und Stalins geflohen. Daher auch das hohe Niveau ihrer Kolonien in Berlin oder Paris und ihre Fähigkeit, unter sich ein seltsames, aber keineswegs unangenehmes Leben zu führen, in materieller Armut und intellektuellem Luxus, inmitten schemenhafter Deutscher und Franzosen, einer Art Ureinwohner, zu denen wir keinerlei Beziehung unterhalten wollten.
In der Gegenwart leben Russland und die Ukraine nicht nur in militärischer, sondern auch in symbolischer Auseinandersetzung mit ihrer sowjetischen Vergangenheit. Die Kolchose als Symbol weist auf diese postimperiale Verstrickung: Wer erbt die Geschichte? Wie lassen sich gemeinsame und geteilte Vergangenheiten erzählen – ohne sie zu instrumentalisieren? Carrères für die Rentrée littéraire 2025 gespannt erwarteter Titel Kolkhoze beschäftigt sich nicht nur mit familiären, sondern auch mit ideologischen Verwandtschaften, mit politischen und kulturellen Nachlassverwaltern eines zersetzten Gemeinwesens. Fünf Jahre nach Yoga, seinem introspektiven Werk über Depression und Bipolarität, kehrt Emmanuel Carrère mit einem groß angelegten Familien- und Geschichtsepos zurück. In Kolkhoze widmet sich der Autor erneut seinen russischen Wurzeln. Der neue Roman spannt den Bogen über vier Generationen: von Carrères Urgroßeltern über seine Großeltern und Eltern – darunter ein junger Bourgeois aus Bordeaux und eine staatenlose junge Frau, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg begegnen – bis hin zu Carrère selbst. Der Text verwebt biografische Elemente mit der politischen und kulturellen Geschichte Russlands und der Ukraine im 20. und 21. Jahrhundert und reicht thematisch bis in die Gegenwart des Kriegs. Kolkhoze leistet eine aufschlussreiche Auseinandersetzung mit Herkunft, Identität, Exil und Erinnerung – und setzt Carrères Erkundung der großen und kleinen Geschichte fort.
Der Klang des Wortes Kolkhoze im Französischen ist hart, fremd, sperrig – und trägt ein semantisches Gewicht, mit Assoziationen wie Kälte oder Fremdbestimmung. Die Kolchose ist historisch aufgeladen – als Chiffre für zentrale Themen des Romans, wie sie bereits in der Ankündigung des Buchs angedeutet wurden. Sie ist Symbol sowjetischer Ordnung, eine kollektivierte Landwirtschaftseinheit in der Sowjetunion – ein Zusammenschluss von Bauern in genossenschaftlichen Großbetrieben, eingeführt ab Ende der 1920er Jahre unter Stalin. Die Kolchosen waren ein zentrales Element der stalinistischen Agrarpolitik und des sogenannten „Großen Umbaus“, der mit Gewalt, Enteignungen, Deportationen und Hungersnöten – besonders in der Ukraine (Holodomor) – einherging. Der Begriff steht damit für Zwangskollektivierung, ideologische Durchdringung des Alltags und die Auflösung individueller Lebensformen im Namen eines totalitären Gesellschaftsentwurfs. In einem Roman, der vier Generationen umfasst und sich mit der Geschichte Russlands und der Ukraine beschäftigt, könnte Kolkhoze diese historische Gewaltstruktur symbolisieren – als kollektives Trauma, das über die Jahrzehnte hinweg wirkt.
Der Erzähler von Kolkhoze reflektiert über die „horizontale Dimension des Lebens“ (Liebe, Freundschaft, Allianzen mit Zeitgenossen) und die „vertikale Dimension“ (Beziehungen zwischen Generationen, Ahnen und Nachkommen), wobei letztere im Alter an Bedeutung gewinnt. Seine eigene genealogische Forschung wird als Versuch dargestellt, diese vertikale Dimension zu ergründen. Da Carrère seine Familiengeschichte über vier Generationen hinweg erzählt, lässt sich der Begriff auch als ambivalentes Bild für die Familie verstehen: Die Familie als eine „Zwangsgemeinschaft“, in der individuelle Wünsche und Identitäten unter das kollektive Narrativ der Herkunft, Geschichte oder Zugehörigkeit gezwungen werden. Über die wörtliche Bedeutung hinaus kann „Kolchose“ als Metapher für die Familie als eine Art Kollektiv verstanden werden. Das Buch erforscht die miteinander verwobenen Leben mehrerer Generationen der russisch-georgischen Familie des Autors, geprägt von Exil, politischen Turbulenzen und persönlichen Herausforderungen. Die Familie ist eine Einheit, die durch gemeinsame Erfahrungen, Abstammung und oft auch durch äußeren Druck zusammengehalten wird – ähnlich einem Kollektiv, das gemeinsam Schicksal erleidet und teilt.
Moskau-Reportage 2022: schleichende Entzivilisierung
Muss Emmanuel Carrères 2011 erschienene Biografie Limonov heute als eine kritische Quelle zur ideologischen Vorarbeit des Putinismus gelesen werden – als ein Dokument, das die Ambivalenz eines „populären Faschismus“ aufzeigt, die wir zu lange literarisch verklärt haben? Das Buch erzählt das außergewöhnliche Leben des russischen Schriftstellers, Dissidenten und Politaktivisten Eduard Limonow. Der Autor selbst beschreibt ihn als „voyou en Ukraine“, „soldat perdu dans les guerres des Balkans“ und schließlich als „chef charismatique d’un parti de jeunes desperados“. In seinem Vorwort betont Carrère, dass er sein moralisches Urteil über Limonow aussetzt. Doch der Krieg Russlands gegen die Ukraine, begonnen im Jahr 2014 mit der Krim-Annexion, seit 2022 zu einem offenen Angriffskrieg eskaliert, verlangt heute nach einer neuen Lesart dieser biografischen Fiktion. Der historische Abstand, aber vor allem die politische Gegenwart, stellen das Buch und seinen Gegenstand in ein anderes Licht.
Carrères Porträt lebt von der Spannung zwischen Faszination und moralischer Irritation. Limonow erscheint als Gestalt zwischen Henry Miller, Jack London und Trotski. Seine Biografie ist ein Paradebeispiel der „vie romanesque“, die Carrère explizit als literarisch und exemplarisch zugleich versteht: „C’est une vie qui raconte quelque chose. Pas seulement sur lui, Limonov, mais sur notre histoire à tous depuis la fin de la Seconde Guerre mondiale.“ Diese Formulierung lässt sich heute doppelt lesen: Einerseits als Versuch, ein postideologisches Zeitalter zu verstehen, in dem Dissidenz und Radikalismus keine klaren Lager mehr kennen; andererseits als Verharmlosung einer Figur, die offen für einen russischen Imperialismus und einen autoritären Staat eintrat.
Kapitel 25 von Carrères Roman Kolkhoze (2025) mit dem Titel „LES PREMIERS JOURS DE LA GUERRE“ versetzt den Leser in die unmittelbare, surreale und beängstigende Realität der ersten Tage der russischen Großinvasion der Ukraine am 24. Februar 2022, erlebt aus der Perspektive des Erzählers in Moskau. Das Kapitel schildert eindringlich die Atmosphäre von Angst, Propaganda und Selbsttäuschung, wobei das offizielle Narrativ mit den Ängsten gewöhnlicher Russen kontrastiert wird. Der Erzähler Emmanuel Carrère befindet sich am 24. Februar 2022 in der russischen Hauptstadt, um eine kleine Rolle in einer Verfilmung seines Buches Limonov zu spielen. Um 6:30 Uhr morgens erfährt er von Wladimir Putins Ankündigung einer „speziellen Militäroperation“ und dem sofortigen Beginn der Angriffe auf Kiew und Charkiw. Sein Agent François rät ihm dringend von der Reise ab, indem er die Situation mit dem Anschluss Österreichs 1938 an Berlin vergleicht. Obwohl der Erzähler zunächst zustimmt, beginnt er bald, seine Entscheidung zu bereuen, da die Produzenten das Fortsetzen der Dreharbeiten als einen „Akt des Widerstands“ betrachten. Er entscheidet sich, einen späteren Flug zu nehmen und zu bleiben. Diese Entscheidung, trotz der Möglichkeit zur Ausreise, unterstreicht seinen tiefgreifenden Wunsch, Zeuge dieser historischen Katastrophe zu sein und sie zu dokumentieren. Die Mutter des Erzählers, Hélène Carrère d’Encausse, die renommierte Sowjetologin, ist in diesen ersten Tagen tief „verzweifelt“ und sagt wiederholt: „Ich verstehe nicht. Ich verstehe nicht mehr“. Ihre frühere Überzeugung, Putin sei zwar brutal, aber rational und würde niemals eine solche „Wahnsinnstat“ begehen, hat sich als falsch erwiesen. Diese Episode unterstreicht die Komplexität und Unvorhersehbarkeit politischer Entwicklungen, selbst für erfahrene Experten. Das Kapitel beleuchtet somit die tiefgreifenden Auswirkungen des Konflikts und die damit verbundenen moralischen Komplexitäten auf einer persönlichen Ebene.
Emmanuel Carrères Moskau-Reportage aus dem Frühjahr 2022 für den Nouvel Observateur im Schock des Ukrainekriegs, die auch vom Spiegel übernommen wurde 1 zeigt nicht nur seinen dokumentarischen Stil, sondern auch die tieferliegenden Deutungsmuster und Bewertungen seiner gewählten thematischen Schwerpunkte in dieser besonderen historischen Situation. Auffällig an Carrères Reportage ist, wie die Ukraine als Ort des eigentlichen Kriegsgeschehens physisch abwesend bleibt – und dennoch in jedem Absatz als Referenzpunkt mitschwingt. Der Autor befindet sich in Moskau, doch der Schatten der Bomben auf Kyjiw, Charkiw und Mariupol liegt schwer über seinen Beobachtungen. In Gesprächen mit Russinnen wie Irina oder mit Demonstrierenden wird deutlich: Die Ukraine wird nicht nur als geopolitisches Gegenüber wahrgenommen, sondern zunehmend als moralischer Spiegel. Carrère lässt seine Figuren aussprechen, was vielen auf der Seele brennt: „Die Ukrainer sind Helden. Sie kämpfen. Wir haben nur Angst.“ In dieser Kontrastierung zeigt sich Carrères Respekt für das ukrainische Widerstandsnarrativ, das nicht als nationalistische Pose, sondern als authentischer Ausdruck von Würde erscheint. Gleichzeitig dekonstruiert er die russische Propaganda, die von „Nazis“ in der Ukraine spricht, als hohle, paranoide Rhetorik – mit geradezu grotesken Mitteln vorgetragen, etwa in TV-Sendungen, die in Endlosschleife „Völkermord“ rufen. Carrère benennt diesen Diskurs als „krankhaft“, als etwas, das nicht mehr der Wirklichkeit verpflichtet ist, sondern als Instrument dient, um den Krieg zu entmenschlichen. Ohne die Ukraine direkt zu beschreiben, gelingt es ihm so, ihr eine zentrale Rolle zuzuschreiben: als Land, das leidet – aber nicht passiv, sondern als Subjekt der Geschichte –, das kämpft, hofft und das zum Sinnbild für Freiheit und Selbstbehauptung geworden ist.
Der Aufbau der Reportage zeigt eindringlich die leise Verzweiflung zu diesem Zeitpunkt in Russland. Moskau wirkt äußerlich ruhig, doch die Atmosphäre ist durchsetzt von wachsender Angst, Unsicherheit und ahnungsvoller Spannung. In der Figur Irinas verdichtet sich die Erfahrung vieler Russinnen, die sich plötzlich zwischen Schuld, Scham und Ausweglosigkeit wiederfinden. Ihre Träume, ihr Alltag und ihr familiärer Kontext werden vom Krieg tief erschüttert. Carrère beobachtet, wie binnen Tagen ein Klima der totalen Überwachung entsteht. Neue Gesetze kriminalisieren jede offene Meinungsäußerung, das Wort „Krieg“ selbst wird zum Tabu, Paranoia macht sich breit. Der Zusammenbruch betrifft nicht nur Politik und Medien, sondern den gesamten gesellschaftlichen Alltag. Eine kollektive Rückwärtsbewegung setzt ein, angetrieben von der Willkür eines Einzelnen. Das Paar Olga und Xaver steht exemplarisch für grenzüberschreitende europäische Biografien, die durch den Krieg plötzlich entzweigerissen werden. Ihre persönliche Geschichte wird zum Spiegel historischer Schuld und aktueller Ohnmacht. Anhand kleiner, alltäglicher Veränderungen zeigt Carrère, wie sehr der Krieg selbst scheinbar banale Dinge wie Zahlmethoden oder Markenverfügbarkeit erodieren lässt. Der westlich geprägte Lebensstil löst sich in Echtzeit auf. Die französische Expat-Community in Moskau schwankt zwischen Ironie, Pragmatismus und Fluchtinstinkt. Carrère reflektiert ihre privilegierte Position, aber auch die wachsende Unmöglichkeit, sich der Realität zu entziehen. Freunde versammeln sich im Nowodewitschi-Kloster zu einer privaten Abschiedszeremonie. Der symbolische Akt offenbart, wie tief die Spaltung bereits in persönliche Beziehungen eingreift und wie endgültig das Weggehen geworden ist. Die Idee einer spirituellen Zuflucht in einem Kloster zerbricht, als sich der vermeintliche Hoffnungsträger als Träger staatlicher Propaganda entpuppt. Carrères Glaube an die Unschuld des Religiösen wird in der Begegnung mit Vater Basil erschüttert. In Gesprächen mit Taxifahrern und durch Umfragezahlen tastet sich Carrère an das Meinungsbild der breiten Bevölkerung heran. Die Gesellschaft zeigt sich gespalten, wobei staatlich informierte Zustimmung überwiegt. Absurde und surreale Erlebnisse verdichten sich zu Momentaufnahmen einer entgleisten Realität. Carrère deutet diese Szenen als Symptom einer Gesellschaft, die unter ideologischer Verzerrung leidet. Eine Antikriegsdemonstration ist von leiser Verzweiflung statt von Aufbruchsstimmung geprägt. Carrère zeigt, wie Protest unter permanenter Bedrohung zu einer Geste der Selbstbehauptung wird. Der Text endet mit der resignativen Einsicht, dass viele die Hoffnung bereits aufgegeben haben. Die Gegenwart erscheint als Vakuum, in dem der Rückzug ins Private zum einzigen Schutzraum wird.
Emmanuel Carrères Reportage für den Nouvel Observateur ist kein gewöhnlicher journalistischer Bericht über den Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022. Sie ist vielmehr ein essayistisches, literarisch durchkomponiertes Zeitdokument, das sich zwischen persönlicher Beobachtung, historischer Reflexion und emotionaler Bestandsaufnahme einer Welt im Sturz bewegt. Als „westlicher“ Intellektueller vor Ort beschreibt Carrère nicht nur den Ausbruch des Krieges, sondern auch, wie im angreifenden Land zusehends das Innenleben einer Gesellschaft implodiert. Seine Haltung ist eindeutig, aber nicht polarisierend: Carrère verurteilt den Krieg ohne Pathos, benennt Putin als zentralen Akteur eines desaströsen Kurses und stellt zugleich die russische Bevölkerung nicht unter Generalverdacht. Stattdessen spürt er dem seismischen Zittern nach, das der Krieg in den urbanen Alltag Moskaus sendet – bis in die Cafés, die Taxis, die Stores, die Herzen.
Carrère zeichnet ein scharfes, zugleich psychologisch aufgeladenes Porträt Putins: nicht mehr der „kalte Spieler“ von einst, sondern ein zutiefst isolierter, möglicherweise paranoider Autokrat, der durch sein Handeln das gesamte Land in einen Zustand der Desorientierung stürzt. Putin erscheint nicht als ideologisch getriebener Diktator wie Stalin, sondern als postideologischer, einsamer Despot – abgeschnitten von seiner Umgebung, umgeben von Angst, aber nicht wahnsinnig im klassischen Sinne. Gerade darin liegt das Beunruhigende: in der rationalen Kälte, mit der er einen irrationalen Krieg entfesselt. Der Krieg wird in Carrères Darstellung nicht als militärische Eskalation beschrieben – Krieg wird gezeigt als soziales und psychisches Beben. Moskau gleicht einem Labor der Angst, und Carrère tastet sich vorsichtig an das heran, was im Unsichtbaren geschieht: der Verlust des Vertrauens in die Wirklichkeit selbst. Die Sanktionen, der Wegfall westlicher Technik, die restriktiven Gesetze gegen „Fake News“ – all dies sind nicht bloß politische Maßnahmen, sondern Symptome eines tiefgreifenden Bruchs mit der bisherigen Weltordnung.
Ein wiederkehrendes Motiv in Carrères Reportage ist das Schweigen. Schon das Wort „Krieg“ darf in Russland nicht mehr ausgesprochen werden – wer es verwendet, riskiert Gefängnis. Doch dieses staatlich verordnete Schweigen ist nur die extreme Form eines tiefer sitzenden kulturellen Reflexes. Die russische Bevölkerung erscheint in Carrères Darstellung als traumatisiert, als über Generationen hinweg konditioniert, sich bei Gefahr zurückzuziehen, wegzuschauen, normal’no zu sagen – das viel mehr bedeutet als „normal“: ein Zustand resignierter Anpassung, eine Art überlebensfähiger Fatalismus. Carrère zeichnet dieses Schweigen nicht als Feigheit, sondern als über Jahrhunderte eingeübte Strategie der Selbstrettung. Es ist das Schweigen derjenigen, die gelernt haben, dass Widerstand meist tödlich endet, dass Hoffnung gefährlich sein kann. In dieser Perspektive wird klar: Der Krieg richtet sich nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen das eigene Volk – als Rückfall in autoritäre Kontrollmechanismen.
Ein weiteres zentrales Thema ist das Erleben eines kollektiven Rückschritts. Die Metapher „Wir kehren nach 1919 zurück“ – von einem Gesprächspartner lakonisch formuliert – bringt das Lebensgefühl vieler Figuren auf den Punkt. Carrère beschreibt, wie Menschen in Moskau wieder Festnetztelefone installieren, wie Kreditkarten nicht mehr funktionieren, wie westliche Marken verschwinden. Die moderne Welt mit ihren digitalen Errungenschaften, mit Mobilität, Design und grenzenlosem Konsum zerfällt in Echtzeit – und hinterlässt ein Vakuum, das die Menschen mit Erinnerungen an eine dunkle sowjetische Vergangenheit füllen. Diese Regression ist nicht nur wirtschaftlich oder technologisch, sondern vor allem psychologisch und kulturell. Die Rückkehr der Angst, der Denunziation, der Repression – sie wird spürbar wie eine zweite Haut. Carrère beschreibt dies nicht analytisch, sondern durch Szenen: das ängstliche Flüstern auf der Straße, das Absichern jedes Satzes, die Angst vor willkürlicher Verhaftung.
Das Private wird in Carrères Text immer wieder vom Politischen zerschnitten. Paare trennen sich, weil die Grenze sie auseinanderreißt. Freundeskreise werden aufgelöst, weil manche gehen, andere bleiben müssen. Die Mobilität, die für viele selbstverständlich war – das Pendeln zwischen Moskau und München, die Designmesse in Mailand, das gemeinsame Boot auf dem Fluss – wird von einem Moment auf den anderen zur Unmöglichkeit. Carrère schildert diese plötzlichen Abschiede nicht mit Sentimentalität, sondern mit existenzieller Klarheit. Menschen wissen: Wenn jemand heute das Land verlässt, sieht man ihn vielleicht nie wieder. Diese Trennung betrifft nicht nur Menschen, sondern auch Zugehörigkeit: Die urbane Elite Moskaus, westlich orientiert, polyglott, kosmopolitisch, verliert ihren kulturellen Resonanzraum. Carrère lässt spürbar werden, wie sich eine ganze soziale Schicht von sich selbst entfremdet. Sie sind nicht mehr zu Hause in Russland, aber sie gehören auch nicht mehr dazu im Westen – nicht, solange sie Russen sind. Es ist eine Identitätskrise im historischen Maßstab.
Emmanuel Carrère, geboren 1957 in Paris, zählt zu den bedeutendsten französischen Schriftstellern, Drehbuchautoren und Filmemachern der Gegenwart. Seine literarische und persönliche Biographie ist in besonderer Weise von einer tiefen Auseinandersetzung mit Russland und den Ländern Osteuropas geprägt. Carrère entstammt einer Familie, deren Geschichte eng mit Russland und Georgien verbunden ist. Seine Mutter, Hélène Carrère d’Encausse, war eine renommierte Historikerin und Russland-Expertin. Die mütterliche Linie der Familie stammt aus Georgien und Russland; sein Großvater war russisch-georgischer Herkunft und wurde während des Zweiten Weltkriegs unter tragischen Umständen vermutlich bei Bordeaux erschossen. Die Geschichte dieses Großvaters, der mit den deutschen Besatzern kollaborierte und später aus den Familienannalen getilgt wurde, ist ein zentrales Motiv in Carrères Werk und prägt seine Auseinandersetzung mit der Geschichte Osteuropas.
Carrère hat sich in mehreren seiner Werke intensiv mit Russland beschäftigt. In seinem Buch Un roman russe verbindet er persönliche Recherche mit der Geschichte seiner Familie und den Erfahrungen in Russland. Das Werk führt den Leser in sibirische Weiten und beleuchtet die psychologischen und historischen Verflechtungen zwischen Frankreich und Russland. Carrère beschreibt darin nicht nur die Suche nach seinem Großvater, sondern auch die emotionale Distanz und das Schweigen in seiner Familie, was als Spiegel für die oft schwierigen Beziehungen zwischen West- und Osteuropa gelesen werden kann.
Ein weiteres zentrales Werk ist das erwähnte Limonow, eine biographische Erzählung über den russischen Schriftsteller, Dissidenten und politischen Provokateur Eduard Limonow. Carrère verwebt darin dessen Lebensgeschichte mit seiner eigenen Biographie und bietet damit einen einzigartigen Blick auf die jüngere Geschichte Russlands und Osteuropas. Carrère gelingt es, die Komplexität und Widersprüchlichkeit der postkommunistischen Gesellschaften einzufangen und die Faszination wie auch das Unbehagen des Westens gegenüber dem Osten zu reflektieren.
Während Carrères direkte literarische Auseinandersetzung mit der Ukraine, Georgien und Rumänien weniger prominent ist als sein Fokus auf Russland, sind diese Länder doch implizit Teil seines osteuropäischen Bezugsrahmens. Die georgischen Wurzeln seiner Familie spiegeln sich in seinem Verständnis für die Vielschichtigkeit des postsowjetischen Raums. In Limonow wird zudem die ukrainische Herkunft des Protagonisten thematisiert, was Carrères Blick auf die Region erweitert und differenziert.
Ceaușescus Palast: Reise ins posttotalitäre Rumänien 1990
Im Frühjahr 1990 war Emmanuel Carrère nach Rumänien gereist, wenige Monate nach der gewaltsamen Hinrichtung Nicolae Ceaușescus. Der Reportage-Text, der aus dieser Reise hervorgeht, „Un cauchemar“ aus Il est avantageux d’avoir où aller (Éditions P.O.L., 2016), ist eine faszinierende, beklemmende Mischung aus Beobachtung, Reflexion und literarischer Topographie. Er führt den Leser an einen Ort der Geschichte, der seiner selbst nicht sicher ist – Rumänien als politischer, kultureller und moralischer Zwischenraum: „ni vraiment une dictature, ni vraiment une démocratie“. Carrère zeigt Rumänien zu diesem Zeitpunkt als eine Gesellschaft im Vakuum: Der alte Totalitarismus ist gefallen, aber der neue Pluralismus ist noch nicht angekommen – oder wird bereits wieder unterlaufen. Das Politische erscheint in dieser Zwischenzeit als ein Spiel mit Spiegeln, ein sich selbst reproduzierender Nebel, in dem niemand wirklich weiß, wer Macht hat, wer gegen wen ist, und was Wahrheit ist.
Ein zentrales Bild, das Carrère entwirft, ist der Palast Ceaușescus – ein monumentales Bauwerk, das in seiner Maßlosigkeit und seiner Unbenutzbarkeit zur Allegorie des untergegangenen Systems wird. Der Palast hat „keinen Eingang“, ist leer, unfertig, überdimensioniert, überwacht von zwei jungen Soldaten und einer alten Tzigane, die Postkarten verkauft. Carrère beschreibt ihn als eine „constrution utopique“, als mausoleisches Sinnbild eines Staates, der sich selbst zur Religion erklärt hatte. Diese architektonische Metapher verweist auf die Ideologie des Totalitarismus: eine geschlossene Welt ohne Außen, ohne Relation zur Wirklichkeit. Der Palast ist das gebaute Subjekt des Ceaușescuschen Machtwahns – ein Raum, der nur durch seine Unzugänglichkeit Bedeutung erhält. Carrère stellt ihn neben das ideologische Erbe des Kommunismus: ein verlassener Tempel, der zugleich majestätisch und grotesk wirkt.
Carrère begegnet der Figur Ceaușescus indirekt – durch die Spuren, die er hinterlassen hat, und die Leerstelle, die sein Verschwinden aufreißt. Die vampirische Analogie – gestützt durch die Dracula-Metapher, die in den 1980er Jahren zur westlichen Popikone des Diktators wurde – wird bei Carrère ironisch und symbolisch zugleich aufgegriffen. Der wahre Dracula (Vlad Țepeș) erscheint in seiner Brutalität als historische Figur, als „histoire“. Ceaușescu hingegen habe, so ein rumänischer Historiker, „anti-histoire“ gemacht. Von ihm werde nichts bleiben. Diese Unterscheidung ist zentral für Carrères Verständnis von Geschichte: Geschichte ist nicht einfach das, was geschieht, sondern das, was erinnerungsfähig ist. Ceaușescus Herrschaft hingegen war darauf ausgelegt, Erinnerung zu löschen: ein geschichtsfeindliches System der Uniformierung, das jede Differenz tilgte – und damit letztlich auch sich selbst. Gleichzeitig wird Ceaușescu zum Projektionsobjekt: Für den Westen ist er das „Monster“, das man mit Medienkonstruktionen wie Dracula gleichsetzt. Für viele Rumänen aber – so zeigt Carrère – war er schlicht „le passé“, der zugleich verhasst und unbewusst idealisiert wird. Die Enttäuschung über das Chaos nach der Revolution lässt manche Stimmen den „Stabilitätsvorteil“ der alten Ordnung verklären. Das macht Ceaușescu zu einem politischen Gespenst: tot, aber unerlöst.
In den Gesprächen, die Carrère führt – mit Intellektuellen, Historikern, Schriftstellern –, tritt ein durchgängiges Grundgefühl zutage: Misstrauen. Niemand glaubt an den politischen Neubeginn. Alle sprechen mit Bitterkeit über das „Front de Salut National“, die Partei von Ion Iliescu, Ceaușescus ehemaligem Vertrauten. Die These, dass eine echte Revolution nicht stattgefunden habe, wird zur gemeinsamen Überzeugung: Der Schein des Umbruchs diene nur dazu, alte Machtverhältnisse neu zu etikettieren.
Carrère begegnet zwei Polen: Den resignierten Intellektuellen wie Lucian Boia, der sich ironisch, beinahe aristokratisch vom Volk distanziert – aber dennoch als glaubwürdiger Zeuge erscheint, gerade weil er seine eigene Feigheit bekennt. Den Zynikern an der Macht wie Teodorescu, dem Kulturminister, der sich als „Machiavellist“ inszeniert und mit beängstigender Selbstverständlichkeit über Manipulation und Kontrolle spricht. Diese Konstellation zeigt ein System, das nicht durch Ideologie, sondern durch Zynismus stabilisiert wird. Der neue Totalitarismus ist nicht mehr politisch-utopisch, sondern pragmatisch-entideologisiert. Er spielt mit der Sprache der Demokratie, während er deren Prinzipien leer laufen lässt. Diese politische Simulation wird bei Carrère durch das Bild des „Fernsehstaats“ symbolisiert: Die Medien werden als Mittel zur Massenerziehung instrumentalisiert, die Wahrheit ist beliebig geworden.
Carrères Text ist keine klassische politische Analyse, sondern eine narrative Kartographie des politischen Unbewussten. Er kartiert Ängste, Haltungen, Stimmen – und gibt dem Leser kein eindeutiges Raster zur Deutung. Vielmehr wird das Politische als Geflecht aus Sprache, Affekt, Erinnerung und Widerspruch gezeigt. Die Kapitelstruktur – locker miteinander verbundene Episoden – verstärkt diesen Eindruck: Gespräche, Anekdoten, historische Miniaturen, Selbstreflexionen. Es ist ein „literarischer Spaziergang“ durch eine Landschaft des Umbruchs. Typisch Carrère ist dabei die Verknüpfung von privater Subjektivität und historischer Beobachtung: Was er sieht, ist immer auch Spiegel seines eigenen Denkens – und oft seiner Ratlosigkeit. Auch sein Blick auf die Intellektuellen Rumäniens ist ambivalent: Einerseits bewundert er deren Mut, andererseits sieht er in ihnen eine abgekapselte Elite, unfähig, politisch zu handeln. Die Revolution wird so zur Szene der Ohnmacht: Der Staat ist zwar gestürzt, aber das Denken ist nicht frei.
Carrères Rumänien-Text ist ein Meisterstück politisch-literarischer Reportage. Er zeigt, wie Totalitarismus sich nicht nur in sichtbarer Repression ausdrückt, sondern in Strukturen der Erinnerung, in Sprachspielen, in der Unsicherheit des Denkens. Die Figur Ceaușescu ist dabei nicht nur Diktator, sondern Symbol einer untergegangenen Ordnung, die durch ihre Gespensterhaftigkeit weiterwirkt.
Zum jüngsten Roman Kolkhoze
Nach diesen dreißig Jahre auseinanderliegenden Einführungstexten von Carrère, der Reisereportage aus einem gespenstisch posttotalitären Rumänien und, bei Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine, aus der still implodierenden Moskauer Gesellschaft und ihrer schweigenden Verzweiflung erscheint nun zeitnah Emmanuel Carrères Kolkhoze (Éditions P.O.L., 2025), der Text verwischt bewusst die Grenzen zwischen autobiographischer Erzählung, Familienchronik, Geschichtsschreibung und politischer Philosophie. Der Roman taucht tief in die „horizontale und vertikale Dimension menschlicher Beziehungen“ ein, indem er die persönlichen Schicksale der Familie des Autors – geprägt von russischen, georgischen und französischen Wurzeln – untrennbar mit den großen politischen Umbrüchen des 20. und 21. Jahrhunderts verknüpft. Carrère begibt sich auf eine unerbittliche Suche nach Wahrheit, selbst wenn diese schmerzhaft ist und familiäre oder nationale Mythen zu zerstören droht.
Kolkhoze ist eine Familiengeschichte, aber auch einiges mehr: es ist eine tiefgehende Reflexion über die Natur der Geschichte und politisches Denken mit den Instrumenten der Narration. Carrère untersucht die Schwierigkeit, eine objektive Wahrheit in der Geschichte zu finden, insbesondere im Kontext totalitärer Regime, wo die Realität systematisch invertiert wird. Seine Mutter, als Sowjetunion-Expertin, vertrat oft eine „offizielle Version“ der Ereignisse, die Nicolas als „die Parteilinie“ oder sie selbst als „sowjetische Historikerin“ bezeichnete.
Die ökonomische Theorie der „schöpferischen Zerstörung“ von Joseph Schumpeter, die der Großvater Georges in seiner Dissertation behandelte, wird zu einer Metapher für die Schicksale seiner Familie, die in diesem „permanenten Orkan“ der Geschichte zu „Zerstörten“ werden. Tetyanas Formel „Bestrafung ohne Verbrechen, Verbrechen ohne Bestrafung“ ist eine harsche philosophische Kritik der russischen politischen Kultur. Die kritische Neubewertung russischer Klassiker als imperialistisch und nationalistisch hinterfragt die Rolle von Kunst und Literatur in der Konstruktion nationaler Identität und politischer Legitimation.
I. (Familien-)Geschichte der Verdrängung und Illusion
Der Text konstituiert sich als eine autopoetologische Reflexion über den Schreibakt selbst, die literarische Legitimation und die epistemische Auseinandersetzung mit der Wahrheit, die untrennbar mit der Darstellung der eigenen Familie und Historie verbunden ist. Im Zentrum von Kolkhoze steht die kritische Auseinandersetzung mit den „Fiktionen“ und Verdrängungen, die über Generationen hinweg die Wahrheit über bestimmte Familienereignisse verschleiert haben. Dies manifestiert sich besonders deutlich in der ambivalenten Figur des Großvaters mütterlicherseits, Georges Zourabichvili, dessen Rolle während des Zweiten Weltkriegs in Bordeaux von Geheimnissen umgeben ist.
Carrère schildert, wie die Familie Georges‘ Verschwinden und seine Kollaboration mit den Deutschen mit einem „Schweigegelübde“ belegte: «Il ne faut rien dire» – „Man darf nichts sagen.“ Diese Anweisung prägt Nicolas‘ Leben durch eine „totale Schizophrenie“, in der er nach außen eine Wahrheit vortäuscht und nach innen eine andere lebt, was ihn an beiden Narrativen zweifeln lässt. Durch die Lügen seiner Mutter und Schwester über den Tod seines Vaters entwickelte Nicolas eine Manie des Durchwühlens und Lügens, die er als „Geißel seiner Kindheit und Jugend“ beschreibt. Er litt unter der „kognitiven Dissonanz“, die in der Sowjetunion alltäglich war, wo man glauben musste, was die Partei sagte, nicht was man sah. Carrère nutzt Nicolas‘ Memoiren und seine Bereitschaft, „hinter dem Rücken seiner Schwester“ die Archive zu öffnen, um diese verdrängten Wahrheiten ans Licht zu bringen. Es ist ein Akt der Aufarbeitung, der die moralischen Grauzonen des Krieges und die psychologischen Folgen des Verschweigens beleuchtet.
Nicolas‘ Schwester, also Carrères Mutter, die anerkannte Sowjetologin Hélène Carrère d’Encausse, besaß trotz ihres intellektuellen Scharfsinns eine bemerkenswerte Fähigkeit, an ihren eigenen Fiktionen zu glauben. Sie verkörpert die paradoxe Fähigkeit, als anerkannte Historikerin objektive Wahrheit zu suchen, während sie gleichzeitig an persönlichen Fiktionen und selektiven Erinnerungen festhält, die der Realität widersprechen. Dies wird besonders deutlich in ihrer Weigerung, die Umstände des Todes ihres Vaters (Georges) anzuerkennen, und in ihrer strengen Ablehnung von Carrères frühem Buch Un roman russe, das sich mit diesem Thema befasste. Sie idealisierte ihren Vater und sah jede Infragestellung als Verrat:
Je regrette de lui avoir infligé ce supplice, qui trahit deux choses aussi poignantes l’une que l’autre : à presque quatre-vingts ans, son amour pour son père ne tolérait aucune rivalité – il était à elle, à personne d’autre –, et elle était encore la très jeune fille au nom à coucher dehors qui redoutait, au lycée, d’être traitée de fille de collabo. Cette vérité sur son père, c’était l’épée de Damoclès suspendue au-dessus d’elle depuis son adolescence, elle allait après plus de cinquante ans lui tomber dessus, et le pire de tout était que le fil qui la retenait soit coupé par son fils.
Ich bedauere, ihm diese Tortur zugefügt zu haben, die zwei Dinge verrät, die ebenso ergreifend sind: mit fast achtzig Jahren duldete ihre Liebe zu ihrem Vater keine Rivalität – er gehörte ihr, niemand anderem –, und sie war immer noch das sehr junge Mädchen mit einem unaussprechlichen Namen, das sich in der Schule fürchtete, als Tochter eines Kollaborateurs behandelt zu werden. Diese Wahrheit über ihren Vater war das Damoklesschwert, das seit ihrer Jugend über ihr schwebte, und es würde nach mehr als fünfzig Jahren auf sie fallen, und das Schlimmste war, dass der Faden, der es hielt, von ihrem Sohn durchschnitten wurde.
Dieser Auszug verdeutlicht nicht nur die Tiefe der Liebe und Loyalität seiner Mutter zu ihrem eigenen Vater, sondern auch die verinnerlichte Scham und Angst, die sie durch dessen stigmatisierte Vergangenheit erfahren hatte. Carrère sieht sich hier in der Rolle desjenigen, der diesen schützenden Schleier zerreißt, um eine tiefere, aber schmerzhafte Wahrheit aufzudecken.
Die Vielstimmigkeit der Familiengeschichte zeigt sich beispielsweise in Louis Carrère d’Encausse, der als konservativer Genealogie-Enthusiast die adligen russischen Linien seiner Frau akribisch erforschte, die eigene bäuerliche Herkunft aber vernachlässigte. Seine Arbeiten wurden für den Autor zur zentralen Quelle. Loyal akzeptierte er die komplexe Familiengeschichte seiner Frau. Der künstlerische, linke Onkel des Autors, Nicolas, ist Pianist und wichtige Gegenstimme zu Carrères Mutter. Seine Memoiren bieten eine alternative Perspektive auf die Familiengeschichte, insbesondere auf den Vater Georges. Seine Memoiren bieten eine alternative Sicht, besonders auf Georges. Geprägt vom Algerienkrieg half er dem Autor, das Familiengeheimnis aufzudecken, was zu Konflikten führte.
Carrère beleuchtet das Phänomen der „Uchronie“ totalitärer Regime, die die Vergangenheit umschreiben und kritische Figuren aus der Geschichtsschreibung tilgen (vgl. meinen Artikel in diesem Blog, „Uchronie und Heil: Emmanuel Carrère“ vom 7. April 2025). Er verbindet dies mit der Illusion, Realität von Fiktion trennen zu können, und stellt fest, dass totalitäre Imagination selbst zur realen Tyrannei wird. Als Beispiel dient ihm Lavrenti Beria, der in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie durch einen Artikel über die Beringstraße ersetzt wurde. Dies ist eine Metapher für die systematische Verfälschung der Geschichte, die nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch im heutigen Russland Putins fortbesteht. Carrère reinterpretiert Uchronie nicht als bloße Fiktion, sondern als existenzielle Praxis totalitärer Regime, die durch die Fälschung und Tilgung der Vergangenheit eine alternative Realität schaffen und diese zwangsweise durchsetzen.
II. Das heutige Russland und der Krieg in der Ukraine
Kolkhoze ist auch eine Auseinandersetzung mit dem modernen Russland und dem Ukraine-Krieg. Carrère zeichnet das Bild eines Russlands, das in eine „gigantische Dystopie“ abgleitet, in der Hass gegen den Westen gesät wird und das Symbol „Z“ eine beunruhigende Parallele zum Hakenkreuz zieht: „Aus dem Blog eines russischen Historikers im Exil: ‚Russland wollte das Dritte Rom sein, nun ist es das Vierte Reich geworden.'“ 2
D’un côté, ceux qui veulent arrimer la Russie à l’Occident, aux Lumières, au progrès : Catherine II, qui correspondait avec Diderot ; Tourgueniev, qui était le meilleur ami de Flaubert. De l’autre, ceux qui croient à une tout autre vocation de la Russie : mystique, asiatique, fortifiée contre les valeurs rationnelles et frivoles de l’Occident. Ceux-là ont développé le concept, particulièrement fumeux, de la Troisième Rome. La première Rome, c’était la Rome antique. La deuxième, la Constantinople byzantine. Et la troisième, Moscou, sera le dernier empire terrestre avant la fin des temps.
Auf der einen Seite stehen diejenigen, die Russland an den Westen, die Aufklärung und den Fortschritt binden wollen: Katharina II., die mit Diderot korrespondierte; Turgenjew, der der beste Freund von Flaubert war. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die an eine ganz andere Berufung Russlands glauben: mystisch, asiatisch, gefestigt gegen die rationalen und frivolen Werte des Westens. Diese entwickelten das besonders nebulöse Konzept des Dritten Roms. Das erste Rom war das antike Rom. Das zweite war das byzantinische Konstantinopel. Und das dritte, Moskau, sollte das letzte irdische Reich vor dem Ende der Zeit sein.
Der Autor reflektiert über die anfängliche Fehleinschätzung von Wladimir Putin, die er selbst und sogar seine Mutter teilten: „Meine Mutter hatte es nicht daran gehindert, bis zum Vorabend der Invasion zu wiederholen, dass Putin ein brutaler, aber rationaler Mann sei, der auf sein eigenes Interesse bedacht war, und dass er niemals, offensichtlich niemals, so etwas Verrücktes tun würde.“ 3 Dieser Irrtum, so Carrère, basierte auf der Annahme, dass Gier ein rationales und berechenbares Motiv sei. Erst die Invasion der Ukraine enthüllte, dass Putin eine umfassendere Vision verfolgt, die den Zerfall der Sowjetunion – die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ – rückgängig machen will. Der Konflikt in der Ukraine zwingt den Autor zu einer Neukalibrierung moralischer Koordinaten, indem er die „ewige Entschuldigung der Komplexität“ russischer Geschichte als Vorwand für Aggression entlarvt und die Notwendigkeit einer klaren Verurteilung postuliert.
Die Mutter des Autors vertrat in ihrem Buch Le Malheur russe die These, dass Russland „unheilbar rückständig, gewalttätig, asiatisch“ sei und dass das Unglück eine Notwendigkeit für seine „Berufung als Russland“ sei: „Je unglücklicher der Russe, desto russischer ist er“. Die größte Bedrohung für die Revolution sei das Glück selbst. Der Roman kritisiert die „Nachsicht“, die Carrères Mutter für Russland und Putin pflegte und die dazu führte, dass sie die „Rede des Kremls“ im Élysée vertrat. Carrère distanziert sich von dieser Position, indem er eine klare moralische Haltung einnimmt: „Aber Putin und seine Leute – niemand, der bei klarem Verstand ist, kann glauben, dass die Wahrheit auch nur im Geringsten auf ihrer Seite liegt“ 4. Dieser Satz markiert einen fundamentalen Bruch mit der elterlichen Haltung und betont die Notwendigkeit moralischer Klarheit im Angesicht der russischen Aggression. Der Krieg zerstört die Vorstellung von „Komplexität“ als Ausrede und offenbart einen klaren Aggressor und einen Angegriffenen.
Die Invasion der Ukraine enthüllte, dass Putin eine umfassende Vision verfolgt, die die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ – den Zerfall der Sowjetunion – rückgängig machen will. Carrères Plädoyer beinhaltet die Erkenntnis, dass es im Kontext des Ukraine-Krieges keine moralischen Grauzonen mehr gibt: Es gibt „einen Aggressor und einen Angegriffenen“, und die Komplexität der russischen Geschichte darf nicht als Vorwand dienen, die gegenwärtigen Verbrechen zu relativieren. Er distanziert sich damit auch von der „Nachsicht“, die seine Mutter für Russland und Putin hegte und die dazu führte, dass sie die „Rede des Kremls“ im Élysée vertrat.
Der Roman bindet die Geschehnisse des Ukraine-Krieges unmittelbar in die Erzählung ein und zeigt seine Auswirkungen auf individuelle Schicksale und globale Wahrnehmungen. Carrère erlebt den 24. Februar 2022, Beginn der „speziellen Militäroperation“, persönlich, als er einen Dreh in Moskau absagt. Dies markiert einen Bruchpunkt, an dem die russische Realität nicht mehr zu ignorieren ist.
Die Verwandlung der russischen Gesellschaft in ein „gigantisches Dystopia“, in dem das Z-Symbol zum „Hakenkreuz des Putinismus“ wird, zeigt die beängstigende Gleichschaltung und den wachsenden Hass auf den Westen. Die russische Fernsehpropaganda, die „Nazis“ und „Genozid“ skandiert, spiegelt die historische Praxis der „Inversion“ von Realität wider, die schon Montefiore als Kern des sowjetischen Systems beschrieb.
Die Frage der russischen Expatriierten in Moskau, ob Putin nicht die „Rewind“-Taste drücken wolle, verdeutlicht das Gefühl des tiefen Verlusts und der gescheiterten Illusionen über ein „normales“ Russland. Der „russische Boomer“ Guivi lamentiert über die vielen Leben, die eine Generation in Russland schon gelebt hat, und die erneute Rückkehr in ein „Rattenloch“. Die Geschichte der vazvrachentsy (Rückkehrer), die nach der Revolution in die Sowjetunion zurückkehrten und dort im Gulag landeten, ist eine Mahnung an diejenigen, die an Putins Versprechungen glauben könnten.
Der Georgienkrieg von 2008 wird explizit als „Modell“ für die spätere Invasion der Ukraine bezeichnet. Die gegenwärtige politische Lage in Georgien, mit einer pro-russischen Regierung („Georgischer Traum“), die die europäische Integration untergräbt und kritische Stimmen mit „Agentengesetzen“ mundtot machen will, zeigt die anhaltende Bedrohung durch Russland in der gesamten Region. Die Angst der Georgier, dass Poutine auch sie „entnazifizieren“ könnte, ist real.
Kolkhoze ist somit nicht nur eine Familiensaga, sondern auch ein Roman über die Geschichte des Ukraine-Konflikts, der seine historischen, politischen und psychologischen Dimensionen durch die persönlichen Erfahrungen und Verstrickungen der Charaktere beleuchtet. Carrère nutzt seine eigene Familiengeschichte, um die Ambivalenzen der russischen Identität, die zerstörerische Kraft des Imperialismus und die unerbittliche Wiederholung historischer Muster aufzuzeigen. Das Buch wird zu einer Mahnung vor den Folgen der Geschichtsvergessenheit und der Verklärung totalitärer Narrative, deren Kosten in der Ukraine heute in Blut und Leid bezahlt werden. Es ist ein Plädoyer für moralische Klarheit angesichts komplexer Vergangenheiten und gefährlicher Gegenwarten.
Carrère beschreibt die Verzweiflung der „einfachen Russen“ in der „gloubinka“ (tiefsten Provinz) wie Kotelnitsch, die von der Propaganda gefangen sind und das Gefühl haben, dass ihr Land „auf Jahrzehnte ruiniert“ ist. Er drückt eine tiefe Trauer über die Verwandlung der „russischen Seele“ in etwas so „Schreckliches“ aus: „Was du heute Abend gesehen hast, das ist meine Seele.“ 5 Dieses Bekenntnis von Carrères russischer Lektorin Macha, nach der „Gloire de la Russie“-Zeremonie, ist ein ergreifendes Zeugnis der Ambivalenz und des tiefen Schmerzes, der in der russischen Bevölkerung schlummert. Es zeigt die Fähigkeit des Buches, die „russische Seele“ in ihrer Widersprüchlichkeit zu erfassen, jenseits von Propaganda und Stereotypen.
Ein weiterer kritischer Punkt ist die Neubewertung der russischen Literatur. Ukrainische Akademiker wie Volodymyr Yermolenko und Tetyana Ogarkova fordern eine Dekonstruktion der russischen Literaturgrößen wie Puschkin, Lermontow und Dostojewski, die sie als Verfechter des russischen Imperialismus sehen. Tetyanas prägnante Formel „Bestrafung ohne Verbrechen, Verbrechen ohne Bestrafung“ 6 fasst die russische Mentalität zusammen, die sich der Verantwortung entzieht und Kriminalität glorifiziert. Serhiys sarkastischer Kommentar an seine FSB-Folterer „Lies Dostojewski“ 7 weist auf die Abgründe der menschlichen Erfahrung hin, die über einfache literarische Darstellungen hinausgehen und eine radikale Revision traditioneller Lesarten russischer Literatur erfordern. Die Auseinandersetzung mit literarischen Großfiguren wie Tolstoi und Dostojewski wird zum Schauplatz familiärer Ideologiekonflikte, in denen ästhetische Präferenzen symbolisch für tiefere Weltanschauungen stehen und kulturelle Loyalitäten konstruieren.
Der Großvater Georges Zourabichvili hatte eine „fast religiöse Überzeugung“, dass Dostojewski unübertroffen sei und es sich nicht lohne, Zeit mit Tolstoi zu verschwenden. Er besaß eine „Leidenschaft für Ideen und ein Genie der Bitterkeit“, und seine Briefe ähnelten Dostojewskis Sätzen:
Homme du sous-sol, oui, homme malade et méchant, homme caché dans la cave, homme du ressentiment, homme des phrases répétitives, tortueuses, goudronneuses, ratiocinantes, à quoi les phrases de mon grand-père, dans ses lettres, ressemblent beaucoup.
Mann aus dem Untergrund, ja, kranker und böser Mann, Mann, der sich im Keller versteckt, Mann voller Ressentiments, Mann mit sich wiederholenden, verschlungenen, zähflüssigen, rationalisierenden Sätzen, denen die Sätze meines Großvaters in seinen Briefen sehr ähnlich sind.
Diese Beschreibung bezieht sich auf die Sätze des Großvaters des Erzählers in seinen Briefen und wird im Zusammenhang mit Dostojewskis existentialistischem Roman Aufzeichnungen aus dem Kellerloch verwendet, dessen Anfangsworte „Ich bin ein kranker Mensch. Ich bin ein böser Mensch.“ als Vergleich herangezogen werden. Für Georges war Tolstoi ein „falscher Muschik, dieser falsche Sanfte, dieser falsche Demütige, dieser universelle Besserwisser“, dessen Genie sich verflüchtigte, als er begann, „schlechte Ideen“ zu haben. Die Großmutter Nathalie liebte es hingegen, Krieg und Frieden immer wieder zu lesen, und empfand die Charaktere wie Natascha Rostowa, Prinz Andrei und Pierre Besuchow als „liebe Freunde“. Sie liebte auch das Ende von Tschechows Onkel Wanja, insbesondere die Worte „Wir werden uns ausruhen“. Der Erzähler selbst entdeckte Tolstoi erst spät im Leben, was er als „kopernikanische Revolution“ in den Werten seiner Familie beschreibt. Er bewundert Tolstois Fähigkeit, „alle Aspekte des Lebens in einer einfachen und klaren Prosa zu entfalten“ und sah ihn als eine Art „taoistischen Weisen“.
III. Die Suche nach Identität und moralischer Klarheit
Carrères Kolkhoze ist zutiefst eine Suche nach Identität und moralischer Klarheit, sowohl für den Autor selbst als auch für seine Familie. Es ist kein falscher Akt der „piété filiale“, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit Generationenbeziehungen. Carrère versucht, sich mit seinem eigenen russisch-georgisch-französischen Erbe zu versöhnen und seine Rolle als Schriftsteller zu finden, indem er die Geschichten seiner Vorfahren ehrlich erzählt.
Die Figur der georgischen Präsidentin Salomé verkörpert einen dynamischen Gegenentwurf zu den russlandzentrierten Narrativen der Mutter und symbolisiert den mutigen Kampf um Selbstbestimmung und europäische Integration gegen imperiale Einflüsse: Carrères Reisen nach Georgien und die Verbindung zu seiner Cousine Salomé Zourabichvili, der Präsidentin Georgiens, die sich vehement für einen pro-europäischen Kurs einsetzt, sind eine Suche nach „anderen Wurzeln“, da es für ihn „so schrecklich geworden ist, Russe zu sein“. Salomé verkörpert den Widerstand gegen Russland und ist ein Gegenentwurf zu der russlandfreundlichen Haltung der Mutter:
Salomé, interloquée, objecte qu’elle est diplomate française, de nationalité française, et qu’un diplomate en poste dans un pays qui entre au gouvernement de ce pays, ça n’existe pas, ce n’est jamais arrivé, c’est évidemment impossible. Rien n’est impossible à Micha quand il s’est mis une idée en tête.
Verblüfft wendet Salomé ein, dass sie französische Diplomatin, französischer Nationalität sei, und dass ein Diplomat, der in einem Land stationiert ist und in die Regierung dieses Landes eintritt, so etwas nicht existiert, das ist noch nie passiert, das ist natürlich unmöglich. Nichts ist unmöglich für Micha, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat.
Dieser Auszug zeigt Salomés pragmatische Haltung und gleichzeitig ihren Entschluss, die diplomatischen Konventionen zu brechen, um Georgiens europäische Bestrebungen zu verfolgen. Es ist ein Beispiel für persönliche Entschlossenheit im Angesicht politischer Herausforderungen. Salomés öffentliche Positionierung gegen Putins Russland, symbolisiert durch den Tag „Fuck Russia“ an einer Wand in Tiflis, unterstreicht ihren unerschütterlichen Willen zur Unabhängigkeit und zur europäischen Integration.
Kolkhoze ist in hohem Maße ein autopoetologisches Buch, über das eigene Schreiben und über Literatur. Carrère reflektiert durchgängig über seine Rolle als Autor, die Schwierigkeiten und Motivationen des Schreibens, die Natur von Wahrheit und Fiktion in der Literatur sowie seine literarischen Einflüsse. Seine genealogischen Forschungen werden zu einem Vermächtnis, das ihn dazu anspornt, die Familiengeschichte zu erzählen. Die Entscheidung, in der Ich-Form zu schreiben und intime familiäre Wahrheiten zu enthüllen, ist eine bewusste Überschreitung mütterlicher und akademischer Dogmen, die das objektive „Man“ oder „Wir“ bevorzugen. Dies stellt einen Bruch mit der „troisième personne, objective et académique“ dar.
Er setzt sich mit seinen früheren Werken wie Un roman russe als notwendigen Schritt zur Wahrheit auseinander. Seine Reflexion über die „poetischen Freiheiten“ 8, die er sich erlaubt, vergleicht er mit der poetischen Lizenz Macrons in dessen Grabrede für seine Mutter, was die Konstruktion von Realität durch Erzählung zum Thema macht. Die permanente Selbstreflexion über das Schreiben, die literarischen Einflüsse und die Darstellung des Autors als Figur in der eigenen Erzählung machen Kolkhoze u.a. zu einem autopoetologischen Werk.
IV. Intertextualität
Kolkhoze ist reich an Intertextualität, die das Werk zu einem dichten Geflecht aus Verweisen auf andere Texte, Autoren und kulturelle Phänomene macht. Dies dient nicht nur der Kontextualisierung der Familiengeschichte, sondern auch der Reflexion über Geschichte, Wahrheit, Identität und die Natur des Erzählens selbst.
Der zentrale ideologische Konflikt innerhalb der Familie ist der oben skizzierte Gegensatz zwischen Dostojewski und Tolstoi. Der Großvater Georges hatte eine „fast religiöse Überzeugung“ für Dostojewski, während Carrère selbst Tolstoi spät entdeckte, was er als „kopernikanische Revolution“ in den Werten seiner Familie beschreibt. Diese Debatte wird durch die ukrainische Perspektive erweitert, die Dostojewski als Verfechter des russischen Imperialismus kritisiert.
Historische Intertextualität zeigt sich in den „Potemkinschen Dörfern“. Die Biografien von Katharina II. durch die Mutter des Autors und von Potemkine durch Simon Sebag Montefiore sind wiederkehrende Referenzen. Die „Potemkinschen Dörfer“ werden als Metapher für die russische „Tradition des Simulacrums und der Fälschung“ verwendet, die sich bis in die heutige Zeit erstreckt. Die Eroberung der Krim und der Schwarzmeerregion durch Potemkine wird als Präzedenzfall für Putins Aktionen gesehen. Die „Potemkinschen Dörfer“, eine Legende, die laut Carrères Mutter viel über diese Tradition aussagt, stehen metaphorisch für die Inszenierung einer falschen Realität, die Putin heute im Kontext des Ukraine-Krieges fortsetzt. Die Eroberung und Kolonisierung der Schwarzmeerregion, einschließlich der Krim und Chersons, durch Potemkin und Katharina II. wird als historisches Modell für Putins Annexionen dargestellt. Carrère verbindet dies mit Putins Vorgehen in der Ukraine, indem er die Evakuierung von Potemkins Gebeinen aus Cherson durch russische Nationalisten als symbolischen Akt der historischen Revision deutet. Seine Mutter las die „Prawda“, um die wahren Absichten des sowjetischen Regimes zu entschlüsseln, da die Russen ihre Pläne offen ankündigen, bevor sie handeln.
Carrère reflektiert auch explizit über seine eigenen früheren Werke, wie Un roman russe, das seine Mutter tief verletzte, oder La Classe de neige, das unbewusst eigene Kindheitstraumata verarbeitete (vgl. meinen Artikel „Poetiken der Kindheit: Emmanuel Carrère, La classe de neige (1995)“ vom 15. April 2025). Dies schafft eine Kontinuität in seinem autobiographischen Schreiben und reflektiert die Entwicklung seiner Beziehungen zu den dargestellten Personen. Die Diskussion über die „vertikale Dimension“ des Lebens – Beziehungen zwischen Generationen – ist ein wiederkehrendes Thema, das er mit Marguerite Yourcenars Werk vergleicht.
V. Kolkhoze als Buch über Frankreich
Obwohl der Roman tief in der russischen und georgischen Geschichte verwurzelt ist, ist Kolkhoze auch in vielerlei Hinsicht ein Buch über Frankreich. Die Geschichte beginnt mit einer nationalen Ehrerbietung an Carrères Mutter in Paris, bei der Präsident Macron sie als „Inkarnation der Französischen Republik und ihrer Sprache“ würdigt:
« Vraiment, soupiraient les professeurs, un nom à coucher dehors. » Assez audacieusement, il ne fait l’impasse ni sur son père collaborateur, disparu à la libération de Bordeaux quand elle avait quinze ans, ni sur son fils, moi, qui ai révélé cette vieille histoire dans un livre qui l’a fait souffrir. Légende dorée : notre mère était apatride, le jour où elle est devenue française elle aurait voulu, à la mairie, chanter La Marseillaise, réciter la Constitution, prêter serment sur le drapeau, elle a été déçue qu’on ne lui demande rien de tel.
„Wirklich“, seufzten die Lehrer, „ein Name zum Draußen schlafen.“ Kühn genug übergeht er weder ihren kollaborierenden Vater, der bei der Befreiung Bordeaux‘ verschwand, als sie fünfzehn war, noch ihren Sohn, mich, der diese alte Geschichte in einem Buch enthüllt hat, das ihr Schmerz bereitete. Goldene Legende: Unsere Mutter war staatenlos, am Tag, als sie Französin wurde, hätte sie im Rathaus gerne die Marseillaise gesungen, die Verfassung rezitiert, den Eid auf die Flagge geschworen, sie war enttäuscht, dass nichts dergleichen von ihr verlangt wurde.
Dieser Auszug illustriert die zentrale Rolle Frankreichs als Identitätsgeber und Sehnsuchtsort für die staatenlose Mutter. Ihre Enttäuschung über die bürokratische Einbürgerung betont ihr tiefes, fast romantisches Verlangen nach französischer Identität, das im Kontrast zu ihrer komplexen Herkunft steht. Ihre Karriere in der Académie française und ihre Arbeit am Wörterbuch werden als höchste Form des Dienstes an der französischen Sprache dargestellt.
Das Buch beleuchtet spezifische französische historische Kontexte, wie die Erfahrungen der Familie im besetzten Bordeaux, die Kollaboration des Großvaters und die darauffolgende „épuration“ (Säuberung). Die Geschichte der Familie ist eng mit ihrer Einwanderung und Integration in die französische Gesellschaft verknüpft. Die mütterlichen Großeltern, die Zourabichvilis, suchten Zuflucht in Paris, wo Familienmitglieder französische Schulen besuchten, in französischen Kaufhäusern arbeiteten und Karrieren in Frankreich verfolgten. Die Mutter des Autors, staatenlos geboren, hegte einen tiefen Wunsch nach der französischen Staatsbürgerschaft und nahm die französische Sprache und Kultur begeistert an. Die väterlichen Wurzeln liegen fest in den französischen Pyrenäen. Die Verbindung der Mutter zu umstrittenen rechtsextremen Intellektuellen wie Robert Brasillach und Maurice Bardèche nach dem Krieg bietet einen Einblick in das komplexe französische intellektuelle Leben. Carrère selbst reflektiert seine eigene französische Identität als Schriftsteller, seine Ausbildung an der Sciences Po und seine Auftritte in französischen Literatursendungen wie „Apostrophes“.
VI. Anfang und Ende des Romans
Der Roman beginnt und endet mit Reflexionen über Familie, Geschichte und das Erzählen selbst. Der Anfang ist geprägt von einem nationalen Tribut an die verstorbene Mutter in Les Invalides, einem hochoffiziellen Ereignis, bei dem Präsident Macron ihre russisch-georgische Herkunft und ihren Aufstieg zur „Inkarnation der Französischen Republik“ würdigt. Dieser öffentliche Rahmen kontrastiert scharf mit den privaten, unaufgearbeiteten Geheimnissen der Familie. Das Motiv des „seltsamen Winks der Geschichte“ 9 durch die Verbindung von Pompeius mit den Familienwurzeln des Vaters (Encausse) und der Mutter (Poti/Kolchis) deutet auf eine tiefe, fast schicksalhafte Verflechtung der Genealogien hin.
Der Schluss des Romans konzentriert sich auf das Sterben der Eltern und die Suche nach Wahrheit. Die Mutter stirbt im August 2023 in einem Palliativzentrum, das sie sorgfältig ausgewählt hat, um „würdevoll“ und „unter ihrer Kontrolle“ zu sterben. Ihr Bedauern, das Lexikon der Académie française nicht bis zum letzten Wort „Zz“ fertiggestellt zu haben, obwohl Macron „zygomatique“ fälschlicherweise als letztes Wort nennt, symbolisiert ihren Lebenswillen und den Wunsch nach Vollendung. Der Erzähler akzeptiert diese „poetische Lizenz“ des Präsidenten.
Am Ende des Buches kehrt der Autor zur Sterbeszene seiner Mutter zurück, die im Beisein ihrer Kinder „Kolkhoze macht“ – ein Begriff, der zwar an die kommunistische Landwirtschaft erinnert, hier aber eine intime Familienzusammenkunft in den letzten Momenten des Lebens bedeutet. Es ist eine bewegende Episode über Liebe, Verlust, Geheimnisse und die Suche nach Wahrheit in einem Leben und in einer Welt, die oft widersprüchlich und schwer zu fassen sind.
Ein besonders bewegender Moment ist das Abschiednehmen des Vaters von seiner sterbenden Frau. Obwohl geistig abbauend, lässt er sich selbst auch vom Sohn zu einem letzten Gespräch zu bewegen. Nicolas flüstert der Schwester am Ende zu: „Liebe Hélène, ich bin gekommen“ 10. Dies ist ein zärtlicher Abschluss für die emotionale Dimension des Romans, der die tiefe, wenn auch oft ungesagte Liebe und Verbundenheit in der Familie symbolisiert. Der Vater des Erzählers stirbt kurz nach seiner Mutter, vermutlich aus Gram. Das Buch endet mit dem Erzähler, der die Spuren seines Vaters verfolgt, der einst einen „Abstecher“ machte, um einen Meilenstein zu sehen, der die ferne Verbindung zwischen Frankreich und Georgien symbolisiert. Dies schließt den Kreis zu den genealogischen Forschungen des Vaters und der „vertikalen Dimension“ der Geschichte. Trotz der schmerzhaften Konflikte und Enthüllungen dient das Buch letztlich der Aussöhnung mit dem familiären Erbe und der Fortführung der Geschichten der Verstorbenen, um sie vor dem Vergessen zu bewahren und ihnen posthum eine Stimme zu verleihen. Die „piété filiale“ wird zum Leitstern.
Die Erzählung pendelt so zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen öffentlicher Verehrung und privaten Enthüllungen, zwischen individuellen Schicksalen und globaler Politik. Carrère fungiert dabei als Chronist und Interpret, der die verschiedenen Fäden miteinander verknüpft, Widersprüche aufdeckt und die Komplexität menschlicher und historischer Erfahrungen erforscht. Der Titel Kolkhoze selbst spielt auf die sowjetische Geschichte an, aber auch auf die Idee einer Gemeinschaft von Geschichten, die sich hier versammeln, und schließlich auf die intime, kollektive Geste des Abschiednehmens von der Mutter.
Kolkhoze ist nicht nur eine Familiensaga, sondern auch ein Roman über die Geschichte Russlands und des Ukraine-Konflikts, der seine historischen, politischen und psychologischen Dimensionen durch die persönlichen Erfahrungen und Verstrickungen der Charaktere beleuchtet. Carrère nutzt seine eigene Familiengeschichte, um die Ambivalenzen der russischen Identität, die zerstörerische Kraft des Imperialismus und die unerbittliche Wiederholung historischer Muster aufzuzeigen. Das Buch wird zu einer Mahnung vor den Folgen der Geschichtsvergessenheit und der Verklärung totalitärer Narrative, deren Kosten in der Ukraine heute in Blut und Leid bezahlt werden. Es ist ein Plädoyer für moralische Klarheit angesichts komplexer Vergangenheiten und gefährlicher Gegenwarten. Carrères einzigartige Einschreibung in die französische und russische Literaturgeschichte erfolgt durch die Synthese und den Brückenschlag zwischen diesen beiden Welten, wobei er die „vertikale Dimension“ des Lebens und die unerbittliche Suche nach Wahrheit als zentrale literarische und existentielle Anliegen etabliert.
Anhang: Kapitelübersicht Kolkhoze
AnmerkungenKap. 1. L’HOMMAGE DE LA NATION. – Dieses Eröffnungskapitel erzählt von der nationalen Gedenkfeier für die Mutter des Erzählers in der Cour d’honneur des Invalides, bei der Emmanuel Macron ihre europäische Herkunft und ihren beeindruckenden Lebensweg würdigt. Es dient als Einführung zur zentralen Figur der Mutter, etabliert ihren öffentlichen Status und wirft erste Fragen nach ihrem komplexen Erbe auf.
Kap. 2. GEORGES. – Dieses Kapitel befasst sich mit Georges Zourabichvili, dem mütterlichen Großvater, und seiner georgischen Familie, beginnend mit einer genealogischen Anekdote über Pompeius und der Geschichte von Vano und Nino in Tiflis sowie ihrer Flucht nach der russischen Annexion. Es führt die georgische Linie der Familie ein, die von politischer Unterdrückung und Exil geprägt ist, und stellt Georges als einen jungen, intellektuellen, aber rastlosen Mann dar.
Kap. 3. NATHALIE. – Das Kapitel beleuchtet die Kindheit der Großmutter mütterlicherseits, Nathalie von Pelken, in der italienischen Villa Bosco Bello, ihre komplizierten Familienverhältnisse und ihre spätere Flucht als arme Emigrantin nach Paris. Es ergänzt die familiäre Vorgeschichte der Mutter um die deutsche und russische Adelsseite, die von tiefgreifenden Verlusten und der Suche nach Identität in der Nachkriegszeit gekennzeichnet ist.
Kap. 4. LE PÈRE OLYMPE. – Hier wird der sibirische Priester Vater Olympe Palmine vorgestellt, der nach Kriegsgefangenschaft und der Revolution in Bordeaux eine zentrale Rolle für die Familie des Erzählers spielt. Das Kapitel präsentiert eine Figur des Trostes und der spirituellen Stabilität für die Emigrantenfamilie und zeigt die Bedeutung der orthodoxen Kirche als Anker in Zeiten der Unsicherheit.
Kap. 5. LA GUERRE À BORDEAUX. – Dieses Kapitel schildert die Kriegsjahre in Bordeaux, die Erfahrungen der Familie mit Luftangriffen und die geheimnisvollen Tätigkeiten des Großvaters Georges für die deutschen Dienste, einschließlich Gerüchten über seine Kollaboration und sein plötzliches Verschwinden. Es verdeutlicht die persönlichen Auswirkungen des Krieges und der Besatzung, während es die moralischen Dilemmata und das bleibende Mysterium um das Schicksal des Großvaters aufzeigt.
Kap. 6. NICOLAS. – Fokussiert auf den Onkel Nicolas, der als Kind in Bordeaux die Auswirkungen des Verschwindens seines Vaters und die daraus resultierende familiäre Geheimhaltung erlebte. Es vertieft die psychologischen Folgen des Krieges und der Familiengeheimnisse durch seine von Traumata geprägte Perspektive und etabliert ihn als wichtige, oft widersprüchliche Quelle für die Familiengeschichte.
Kap. 7. LA JEUNE HÉLÈNE. – Das Kapitel beschreibt die Jugend der Mutter Hélène in Bordeaux, ihre Ambitionen, Schauspielerin zu werden, und ihre Auseinandersetzung mit intellektuellen Debatten, insbesondere im Kontext von Camus und Brasillach. Es skizziert die frühe Prägung der Mutter als entschlossene und intellektuell engagierte junge Frau, die bereits in jungen Jahren ihren starken Charakter und ihre Meinung manifestiert.
Kap. 8. LA FAMILLE CARRÈRE. – Dieses Kapitel widmet sich der väterlichen Linie des Erzählers, den Familien Carrère und Dencausse, und den akribischen genealogischen Forschungen des Vaters. Es führt die zweite Familienseite des Erzählers ein und kontrastiert die eher ländliche, französische Herkunft mit dem aristokratischen russisch-georgischen Erbe der Mutter, wobei die Leidenschaft des Vaters für die Genealogie hervorgehoben wird.
Kap. 9. LOUIS. – Charakterisiert den Vater des Erzählers, Louis, seine Kindheit in einem von Konflikten zerrütteten Elternhaus in Bordeaux und seine enge Bindung zur Mutter. Das Kapitel porträtiert den Vater vor seiner Begegnung mit der Mutter und legt den Grundstein für das Verständnis seiner späteren Persönlichkeit und seiner Rolle in der Familie.
Kap. 10. « DEUX ÊTRES TENDUS VERS LA VIE ». – Dieses Kapitel beleuchtet die Anfänge der Beziehung zwischen Hélène und Louis, die Herausforderungen ihres Zusammenlebens als Emigranten in Paris und Louis‘ Bewunderung für Hélènes aristokratische Herkunft. Es erzählt die Geschichte der Familiengründung des Erzählers und zeigt, wie soziale Unterschiede und das Schicksal des Exils ihre Verbindung prägten.
Kap. 11. ABSOLUMENT PAS LE CANCER. – Schildert die letzten Jahre der mütterlichen Großmutter Nathalie, die von Krankheit gezeichnet war, während ihre Familie, insbesondere Hélène, die Realität ihrer Krebserkrankung verleugnete oder herunterspielte. Es markiert einen tiefgreifenden Einschnitt im Familienleben und offenbart Hélènes Tendenz, unangenehme Wahrheiten zu verbergen oder umzudeuten, selbst angesichts des Todes.
Kap. 12. UN JEUNE COUPLE. – Dieses Kapitel beschreibt das junge Ehepaar Hélène und Louis in ihren bescheidenen Pariser Wohnungen, ihre intellektuellen und sozialen Aktivitäten und die Spannungen, die zwischen Hélène und ihrem Bruder Nicolas aufkamen. Es zeigt das Paar im Aufbau ihrer gemeinsamen Existenz in der intellektuellen Welt von Paris und vertieft die komplexen Beziehungen innerhalb der Emigrantenfamilie.
Kap. 13. L’EMPIRE ÉCLATÉ. – Führt den Titel eines berühmten Buches der Mutter ein und behandelt Hélènes Rolle als Russland-Expertin, ihre Arbeit im Centre de documentation und ihre genealogische Verbindung zum Attentat auf Zar Paul I. Es beleuchtet Hélènes intellektuelle Laufbahn und ihre tiefe Verbindung zur russischen Geschichte und Politik, die sie auch als familiäres Erbe versteht.
Kap. 14. LA FEMME QUI NE MENT PAS. – Der Titel spielt ironisch auf die Mutter Hélène an und thematisiert ihre öffentliche Rolle sowie ihre Art, mit der Wahrheit umzugehen, insbesondere in Bezug auf ihre Vergangenheit und politische Ansichten. Es hinterfragt die Authentizität ihrer öffentlichen und privaten Persona und kontrastiert die Vorstellung einer unbestechlichen Persönlichkeit mit der Realität strategischer Kommunikation.
Kap. 15. LA SECRÉTAIRE PERPÉTUELLE. – Beschreibt den Höhepunkt von Hélènes Karriere als Ständige Sekretärin der Académie française, ihre damit verbundene soziale Anerkennung und ihre Liebe zu protokollarischen Pflichten und Kontakten zu Mächtigen. Es dokumentiert ihren triumphalen Aufstieg in die höchsten Kreise der französischen Gesellschaft und ihre Freude an der sichtbaren Verkörperung dieses Erfolges.
Kap. 16. UNE GUERRE À SENS UNIQUE. – Das Kapitel reflektiert über die Berichterstattung und Wahrnehmung des Ukrainekriegs und kritisiert die Simplifizierung komplexer geopolitischer Realitäten in den Medien. Es dient als Metakommentar zur politischen Polarisierung und Propaganda und zeigt die Schwierigkeit, eine differenzierte Wahrheit in Kriegszeiten zu finden.
Kap. 17. SALOMÉ. – Stellt Salomé, die Cousine des Erzählers, und ihre politische Karriere in Georgien vor, ihren Kampf für die europäische Integration des Landes und ihren Widerstand gegen prorussische Einflüsse. Es beleuchtet die aktuellen geopolitischen Spannungen durch eine persönliche Familiengeschichte und zeigt Salomés Wandlung zu einer Symbolfigur für pro-europäische Bestrebungen.
Kap. 18. PAPIER TIMBRÉ. – Dieses Unterkapitel (mit Bezug zu Kapitel 8) widmet sich den akribischen genealogischen Forschungen des Vaters, insbesondere seinem Bestreben, durch offizielle Dokumente und Namensänderungen eine adlige Abstammung der Familie Dencausse zu beweisen. Es illustriert die Besessenheit des Vaters von seiner Familiengeschichte und seinen Wunsch nach sozialer Aufwertung, der ihn zu minutiöser archivarischer Arbeit antreibt.
Kap. 19. LE DÉTROIT DE BÉRING. – Das Kapitel behandelt die sowjetische Praxis der Geschichtsumschreibung, wie im Fall von Lawrenti Beria, dessen Eintrag in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie durch einen über die Beringstraße ersetzt wurde. Es veranschaulicht die Macht totalitärer Regime, die Realität zu verzerren und die Vergangenheit zu löschen, was eine beunruhigende Parallele zu aktuellen politischen Entwicklungen darstellt.
Kap. 20. LA VIEILLE DAME DU MONT-NOIR. – Reflektiert über Marguerite Yourcenar und ihre Familiengeschichte, die der Erzähler als Vorbild für sein eigenes literarisches Projekt sieht. Es dient als metatextueller Kommentar zur Kunst des Biografierens und zur Aufarbeitung der eigenen Herkunft, indem es Yourcenars Ansatz der schonungslosen Ehrlichkeit bewundert.
Kap. 21. LE JEU DE L’ÉCRIVAIN. – Dieses Kapitel reflektiert über den Prozess des Schreibens, die Suche nach der Wahrheit in der Familiengeschichte und die Rolle des Autors als Erzähler. Es untersucht die Grenzen zwischen Realität und Fiktion und die moralischen Verpflichtungen eines Schriftstellers gegenüber seiner eigenen Geschichte und seinen Lieben.
Kap. 22. LE MALHEUR RUSSE. – Bezieht sich auf den gleichnamigen Buchtitel der Mutter und ihre tiefgründige, oft pessimistische Analyse der russischen Geschichte und Identität als eine von „Unglück“ und Rückständigkeit geprägte. Es präsentiert Hélènes intellektuelle Perspektive auf Russlands Schicksal und ihren Einfluss auf die familiäre Wahrnehmung des Landes.
Kap. 23. SALOMÉ RETOURNE AU PAYS. – Beschreibt Salomés Rückkehr nach Georgien nach ihrer Regierungsentlassung und ihren entschlossenen Kampf in der Opposition gegen die prorussische Regierung. Es verfolgt ihren Weg als engagierte Politikerin, die sich dem europäischen Traum Georgiens verschrieben hat und die Widerstände innerhalb ihres eigenen Landes überwinden muss.
Kap. 24. LE DÉCLIN DE MON PÈRE AU TEMPS DU CONFINEMENT. – Dieses Kapitel beschreibt das altersbedingte Abbauen des Vaters während des Lockdowns, seine täglichen Routinen und die Beziehung des Erzählers zu seiner Musik und seiner Mutter, deren Ungeduld wächst. Es reflektiert über das Altern und die Verletzlichkeit, während es die sich wandelnde Dynamik zwischen den Eltern in ihren letzten gemeinsamen Jahren darstellt.
Kap. 25. LES PREMIERS JOURS DE LA GUERRE. – Schildert die unmittelbaren Auswirkungen des Ukrainekriegs im Februar 2022 auf Moskau, die Fluchtbewegungen und die Verwirrung der russischen Bevölkerung. Es verankert den Roman in der aktuellen politischen Landschaft und zeigt die persönliche Betroffenheit und die Ängste der Menschen in Russland zu Beginn des Konflikts.
Kap. 26. LA TROISIÈME ROME. – Dieses Kapitel untersucht das ideologische Konzept Moskaus als „Drittes Rom“, eine slawophile Vorstellung von Russlands einzigartiger mystischer und imperialer Bestimmung, die sich von westlichen Werten abgrenzt; es verknüpft diese historische Ideologie mit dem zeitgenössischen Putinismus. Das Kapitel beleuchtet kritisch die tief verwurzelten historischen und ideologischen Fundamente des russischen Nationalismus und Imperialismus, um die Motivationen hinter dem aktuellen Ukraine-Konflikt zu erklären.
Kap. 27. LA TERRE DE MES ANCÊTRES. – In diesem Kapitel reist der Erzähler mit seiner Cousine Salomé, der pro-europäischen Präsidentin Georgiens, durch das Land ihrer Vorfahren. Sie reflektieren über Georgiens Kampf für Unabhängigkeit und europäische Integration gegen den russischen Imperialismus.
Kap. 28. POTEMKINE. – Dieses Kapitel erforscht die Figur des Fürsten Potemkin und die Legende der „Potemkinschen Dörfer“ als Metapher für russische Fassadenpolitik. Es verbindet historische Täuschung mit gegenwärtigen Ereignissen im Ukrainekrieg, indem es die Exhumierung von Potemkins Gebeinen und die kulturelle Ablehnung russischer Symbole in der Ukraine thematisiert.
Kap. 29. IKARIA. – Beschreibt den Rückzug des Erzählers auf die griechische Insel Ikaria, wo er sich dem Schreiben widmet und über die Biografien von Katharina II. und Potemkin nachdenkt, während er über die Kunst des Lebens in der Gegenwart reflektiert. Das Kapitel fungiert als eine Art meditative Pause und Kontrastpunkt zum Krieg und den familiären Dramen, wo der Erzähler versucht, intellektuelle und persönliche Anker zu finden.
Kap. 30. LE JOB. – Dieses Kapitel konzentriert sich auf die letzten Tage der Mutter, ihre Einweisung in ein Hospiz und die Auseinandersetzung des Erzählers mit ihrem Sterben, einschließlich ihrer Weigerung, dem Vater die Wahrheit zu sagen. Es beleuchtet die emotionalen und ethischen Herausforderungen des Abschieds, Hélènes Kontrolle über ihr eigenes Ende und die tiefgreifenden Auswirkungen auf die Familie.
Kap. 31. « L’AUTEUR DE CES LIGNES ». – Das Abschlusskapitel reflektiert über die Rolle des Erzählers als Autor der Familiengeschichte, seine Beziehung zu seinen verstorbenen Eltern und das Erbe, das sie ihm hinterlassen haben. Es bietet einen metatextuellen Ausblick auf den Schreibprozess und die fortwährende Präsenz der Familie im Leben des Erzählers, während es sein eigenes literarisches Projekt abschließt.
- Emmanuel Carrère, „A Moscou, les Russes face au vertige de la guerre“, Nouvel Observateur, 9. März 2022.>>>
- „Sur le blog d’un historien russe en exil : « La Russie voulait être la Troisième Rome, elle est devenue le Quatrième Reich. »“>>>
- „Ça ne l’avait pas empêchée, jusqu’à la veille de l’invasion, de répéter que Poutine était un homme brutal mais rationnel, soucieux de son propre intérêt, et qu’il ne ferait jamais, évidemment jamais, une chose aussi folle.“>>>
- „mais Poutine et les siens, personne dans son bon sens ne peut croire que la vérité est, même un peu, de leur côté.“>>>
- „Ce que tu as vu ce soir, c’est mon âme.“>>>
- „Châtiment sans crime, crime sans châtiment“>>>
- „Lis Dostoïevski“>>>
- „licences poétiques“>>>
- „clin dʼœil curieux de lʼHistoire“>>>
- „Liénotchka, ia prichol.“>>>