Josefs Lebensbahn
Antoine Wauters’ Haute-Folie (Gallimard, 2025) entfaltet sich als Familien- und Lebensgeschichte um Josef, dessen Geburt mit einem Bild von Feuer und Zerstörung verbunden ist. Josef ist weder Heiliger noch Fall für eine Diagnose; er ist – wie der Erzähler sagt – „ein Gespenst, das andere Gespenster heimsuchen“ („Josef, c’est un fantôme que hantent d’autres fantômes“). Das Bild konkretisiert die Genealogie aus Tragödienelementen, die der Sohn erst lesen muss: „…wie meine Großmutter Blanche meinen Großvater Jünger tötete, wie Gaspard sich aufhing, wie Blanche sich das Leben nahm… und wie ich die Fusion daraus war“ („…comment ma grand-mère Blanche assassina… comment Gaspard finit pendu… comment Blanche en vint à s’ôter la vie… j’étais la fusion de tout ça“). Die Figur Josef wird nicht psychologisiert, sondern in Motiven gezeichnet: Gehen, Schweigen, Notieren, Entsagen. Sein Abtauchen in die Einsiedelei ist kein Kaprizieren auf Exzentrik, sondern – so die Selbstformel – „Ich kann mich offenbar nur mit mir selbst mischen“ („Finalement, il semble que je ne puisse me mélanger qu’à moi-même“). Der Satz steht poetologisch für den Text: Er mischt Stimmen, um letztlich die Einzelstimme freizulegen.
Von Anfang an ist er durch eine genealogische Last gezeichnet: Brand, Schuld und Tod durchziehen seine Herkunft. Seine Geburt ist mit einem apokalyptischen Bild verknüpft: „Mitternacht, als der Blitz die alte Linde trifft … und als Fackel zur Hofstatt hinaufsteigt“ („Minuit cet été-là quand la foudre frappe le vieux tilleul… puis, changée en torche, … remonte jusqu’à la ferme“). Das Kind wird „im Brand“ geboren – Bild einer Herkunft als Wunde. Josef wächst im ländlichen Milieu auf, wird Lehrer und Liebender, heiratet, verliert, und wird schließlich durch den Krieg und familiäre Tragödien aus der Gemeinschaft herausgeschleudert. Die Dorfgemeinschaft stempelt ihn als „Verrückten“, sein Gegenzug ist die Isolation, ein Schweigen, das ihn zugleich schützt und verzehrt. Schon hier legt der Roman die zentrale Spannung zwischen Sprache und Verstummen, Erinnerung und Verdrängung an.
Wauters schreibt diese Herkunft als Kreisfigur aus: „Die Vergangenheit ist langsam zu heilen … Es ist ein Kreis. Eine Schleife“ („Le passé est une chose longue et lente à guérir… C’est un cercle. Une boucle.“). Der verdichtete Gestus ist aphoristisch, die Sätze wirken oftmals wie eingeschlagene Pflöcke im Textfluss. Die Lebensbahn Josefs ist von Brüchen und Rückzügen gekennzeichnet. Er lebt mit der Erinnerung an Fermine, die früh stirbt, und mit Juliette, genannt Bec, die ihn begleitet, doch nicht in die Tiefe seines Schweigens vordringen kann. Kriegserlebnisse, Verrat und familiäre Katastrophen – Selbstmorde und Morde in der Verwandtschaft – verstärken das Gefühl der Verlorenheit. Josef arbeitet als Steinmetz, später als Einsiedler, und schreibt obsessiv in Hefte, die sein ganzes Leben begleiten. Diese Notizbücher sind eine stille Chronik, die die verdrängte Familiengeschichte aufbewahrt: Schuld, Gewalt, Einsamkeit, aber auch die Suche nach einer Art innerem Frieden.
Am Ende tritt der Sohn Josefs als Erzähler hervor. Er liest die Hefte, entdeckt in ihnen die verdrängte Genealogie und setzt damit die unterbrochene Erzählkette fort. Er reist an den Ort des Vaters, markiert ihn mit der Inschrift „Hier lebte mein Vater“ und schreibt selbst weiter, um „das Schweigen nicht siegen zu lassen“. So mündet die Geschichte in eine doppelte Geste: Rückkehr und Weitergabe. Aus der zerstörerischen Familiengeschichte entsteht ein Werk der Erinnerung, das in poetischer Sprache und in den Metaphern von Brand, Sand, Meer und Stein die Wunde sichtbar macht und zugleich eine Spur des Überlebens sichert.
Der Roman öffnet mit einer Poetik des Fortwirkens von Toten und Orten: „Ich glaube, dass manche Wesen uns nicht verlassen, selbst wenn sie sterben … Ebenso verlassen uns gewisse Orte nicht; sie bewohnen uns, sie spuken in uns“ („Je crois que certains êtres ne nous quittent pas, même quand ils meurent … De même, quand on pense les avoir oubliés, certains lieux ne nous quittent pas. Ils nous habitent, nous hantent“). Die syntaktische Parallelisierung, die Anaphern („sie bewohnen … sie spuken …“), das Kreisen um ein Thema statt linearer Ausführung – das ist der Ton, den eine Rezension als „Prosagedichte“ beschrieben hat: rhythmisch-epigrammatisch, von Wiederholungen und Insel-Sätzen getragen. Schon das Wittgenstein-Motto des Buchs, „Die Lösung des Problems, das du im Leben siehst, ist eine Lebensweise, die das Problem verschwinden lässt“ („La solution du problème… c’est une manière de vivre…“), signalisiert, dass hier nicht nur erzählt, sondern existenziell gedacht wird.
Gattungszuordnung
Haute-Folie entzieht sich einer eindeutigen gattungspoetischen Zuordnung, da Antoine Wauters bewusst zwischen Erzählweisen wechselt. Der Roman entwirft die Lebensgeschichte einer Figur, Josef, mit biographischen Stationen, familiären Konstellationen und einem Generationenverhältnis, das im Erzähler (dem Sohn) weitergeführt wird. Doch die Art der Darstellung rückt den Text zugleich in Grenzbereiche. Zum einen trägt Haute-Folie Züge des Familienromans: Schuld, Gewalt, Schweigen und Wiederkehr prägen eine Genealogie, die der Sohn aus den Heften des Vaters rekonstruiert. Dabei handelt es sich um eine Konstellation, die auch an die Tradition der französischen „romans de filiation“ anschließt, also Texte, die die Bruchstellen familiärer Überlieferung aufarbeiten (etwa Didier Eribon, Annie Ernaux oder Patrick Modiano).
Zum anderen besitzt das Buch deutliche Merkmale von Prosagedicht und lyrischem Roman. Ganze Passagen wirken wie selbständige poetische Einheiten: kurze, verdichtete Sätze, rhythmisierte Parataxen, aphoristische Sentenzen. Insofern kann man hier von „lyrischer Prosa“ oder „poetischem Roman“ spreichen. Schließlich gibt es auch eine Nähe zum autofiktionalen Schreiben: Der Erzähler-Sohn ist zugleich literarisches Konstrukt und Medium einer sehr persönlichen Auseinandersetzung mit Schweigen, Herkunft und Erinnerung. Gattungsmäßig lässt sich Haute-Folie wohl am treffendsten als poetischer Familienroman beschreiben – ein hybrides Werk zwischen Romanhandlung, Prosagedicht und autofiktionaler Reflexion, dessen formale Eigenheit gerade darin besteht, keine feste Kategorie einzuhalten, sondern Gattungsgrenzen bewusst zu überschreiten.
Kommunikationsformen
Haute-Folie ist ein Roman über Sprechen und Verstummen. Zentral sind vier Kommunikationsweisen, die sich im Verlauf des Textes immer wieder ineinander verschränken und die Figur Josefs wie auch die Erzählinstanz bestimmen. Zunächst ist da das Schweigen als vermeintliche Heilkraft: Die Dorfblicke stempeln Josef ab – „Schön, sagen die einen. Unheilvoll, sagen die anderen. Und sie schreien: der Verrückte“ („Magnifique, disent les uns. Maléfique, disent les autres. Et de crier au fou“). Das soziale Sprechen fixiert ihn, sein Gegenzug ist Rückzug, ein Schweigen, das Schutz und Selbstverlust zugleich bedeutet. Doch dieses Verstummen wird punktuell von einer zweiten Form unterbrochen: den Briefen. Sie brechen die Isolation in flüchtigen Öffnungen, in denen Reue und Selbstberuhigung aufscheinen. So schreibt er: „Teure Anna, ich schreibe dir, damit du weißt, dass es mir gut geht … Verzeih mir … Nach Hause zurückkehren: unmöglich“ („Bien chère Anna… Pardonne-moi… Quant à rentrer, impossible“). Der briefliche Ton bleibt schlicht, fast karg, und wirkt wie eine Gegenformel zur stauenden Stummheit: Schreiben als Abfuhr von innerem Druck. Ergänzt wird diese Form durch die Hefte, die Josef lebenslang füllt – über hundert an der Zahl. Sie sind gleichsam ein Lebensersatz, eine Speicherform der unterdrückten Genealogie, deren Lektüre durch den Sohn zu einer Art Rückgeburt wird: „Ich habe alles gelesen: Gaspard, Blanche, Anna, Léo, Fermine … seine ungeheure Einsamkeit“ („J’ai tout lu : Gaspard, Blanche, Anna, Léo, Fermine… Son immense solitude“). Schließlich kulminieren diese Kommunikationsformen in der Stein-Inschrift, die der Sohn am Ende in den Fels schlägt: „Hier lebte mein Vater“ („Ici vécut mon père“). Damit wechselt das Medium von der flüchtigen Stimme zur dauernden Spur, von der Schrift zur Skulptur, von der inneren Rede zur öffentlichen Markierung. Sprache wird Material, Erinnerung wird eingemeißelt – ein Akt gegen das Schweigen, das die Geschichte ansonsten ausgelöscht hätte.
Bildfelder
Die Metaphorik des Romans kreist um vier große Bildfelder: Brand, Meer, Sandkorn und Stein. Der Brand markiert sowohl Ursprung als auch Wiederkehr; das Feuer wird zur inneren Textur der Figur und ersetzt oft psychologische Analyse durch Bildsprache. „Der alte Brand brennt ihn weiter“ („C’est le vieil incendie qui continue de le brûler“) – diese Formel steht exemplarisch für eine Poetik der Parataxen und Alliterationen, in der der Klang die Erklärung ersetzt. Dem gegenüber stehen Meer und Wüste als Erfahrungsräume von Entzug und Askese, die auf die Tradition der Wüstenväter anspielen. Josef notiert: „Draußen arbeiten heißt, der Verzweiflung so wenig Angriffsfläche wie möglich zu lassen“ („Travailler dehors… c’est laisser au désespoir le moins de prise possible“). Das Meer, die Arbeit, das Gehen erscheinen hier als Anti-Rhetoriken, als Strategien des Selbstschutzes gegen das „Zuviel“ der Geschichte. In einer anderen Bildwelt tritt „das Sandkorn“ auf, das für das schicksalhafte Minimum steht, das Lebensbahnen umlenkt: „Das Glück existiert, aber man beugt das Schicksal nicht … die Ironie, die Schönheit: das Unvermeidliche lieben“ („Le bonheur existe… On n’infléchit pas le destin… chérir l’inévitable“). Diese Sentenzen klingen orakelhaft und zugleich weich; sie geben dem Text die Gestalt eines Prosagedichts, das zur Ethikformel wird. Schließlich verschmelzen Stein und Schrift: Werkzeuge wie der Epinceur verweisen auf das Handwerkliche, doch am Ende wird die Erinnerung selbst zum Stein, eingemeißelt in den Fels. Damit entsteht ein ikonisches Bild für das Überleben von Sprache – von der vergänglichen Notiz zur dauerhaften Spur, die bleibt.
Stimmenchoreographie
Der Roman arbeitet mit einer beweglichen Erzählinstanz: ein „ich“ (der Sohn Josefs) spricht, doch erzählt häufig in der 3. Person über „Josef“, schaltet apostrophische Passagen ein (Anrede, Ratschläge), und unterlegt alles mit eingeschobenen Notaten aus Josefs Heften. So entsteht eine Mehrstimmigkeit, die formale Grenzen (Memoir, Familienchronik, Legende) durchlässig macht. Signifikant sind die kursiven Abschnitte voller Reflexionen – Mini-Essays über Zeit, Wiederkehr, Notwendigkeit. Beispiel einer Selbsterklärung des inneren Bildes: „Ganz tief in mir gibt es einen Bahnhof … Ein kleiner Junge … wartet ewig auf einen Zug, der nie kommt“ („Tout au fond de moi… il y a une gare… un petit garçon… un train qui ne passera jamais“). Das ist kein Plotdetail, eher eine Art innere Ikonographie, Kern des Wauters’schen Erzählens.
Stilistisch dominieren in Haute-Folie Reihungen, Anaphern, Nominalphrasen und sinnliche Inventare, die dem Text eine eigentümlich rhythmische, fast liturgische Gestalt verleihen. So etwa, wenn der Erzähler die dörfliche Wahrnehmung Josefs aufruft: „Schön, sagen die einen. Unheilvoll, sagen die anderen. Und sie schreien: der Verrückte“ („Magnifique, disent les uns. Maléfique, disent les autres. Et de crier au fou“). Hier wirkt die kurze, anaphorische Struktur wie eine Beschwörung: Sinn wird nicht argumentiert, sondern in den Klang von Gegensätzen und Wiederholungen gelegt. Auch in den Aufzeichnungen Josefs begegnet man dieser Technik, häufig weniger Erzählung als vielmehr Beschwörung. Hier tritt das Inventarhafte an die Stelle narrativer Vermittlung, wodurch die Geschichte nicht linear, sondern in Form von Resonanzen und Echoeffekten erzählt wird.
Der Eindruck von so etwas wie einem Prosagedicht rührt daher, dass Wauters’ Stil auf den Klang und die Rhythmik vertraut, mehr als auf Argumentation oder kausale Erklärung. Ganze Abschnitte wirken wie Litaneien – etwa dort, wo das Arbeiten draußen, das Gehen, das Schweigen aneinandergereiht werden: „Draußen arbeiten heißt, der Verzweiflung so wenig Angriffsfläche wie möglich zu lassen“ („Travailler dehors, c’est laisser au désespoir le moins de prise possible“). Eine wiederholte, rhythmische, oft beschwörende Abfolge von Sätzen oder Satzfragmenten dient weniger der Mitteilung von Information als einer quasi-rituellen Wirkung. In Haute-Folie finden sich zahlreiche solche Sequenzen, die den Eindruck eines Prosagedichts erzeugen und über den Familienroman hinausweisen. Schon zu Beginn wird das Motiv des Urbrandes als eine Art Beschwörung eingeführt: „Mitternacht, als der Blitz die alte Linde trifft. Der Baum, gespalten. Flammen, die sich bis zum Hof ausbreiten. Eine Fackel, die den Weg hinaufsteigt“ („Minuit, quand la foudre frappe le vieux tilleul. L’arbre fendu. Les flammes gagnant la ferme. Une torche qui remonte le chemin“). Hier ersetzt die Abfolge kurzer, fast stichwortartiger Sätze jede narrative Vermittlung. Die Form wirkt wie eine Litanei, die das Bild im Leser verankert, indem sie es Schritt für Schritt und mit insistierender Wiederholung evoziert.
Ein weiteres Beispiel ist die Aufzählung der Familienkatastrophen, die Josef in den Heften festhält: „Wie Blanche meinen Großvater Jünger tötete. Wie Gaspard sich aufhängte. Wie Blanche sich später das Leben nahm. Wie ich die Fusion von alldem war“ („Comment Blanche assassina mon grand-père Jünger. Comment Gaspard finit pendu. Comment Blanche en vint à s’ôter la vie. Comment j’étais la fusion de tout ça“). Die vierfach wiederholte anaphorische Parallelisierung „Wie…“ („Comment…“) gibt dieser Passage die Gestalt einer liturgischen Rezitation. Es ist kein nüchternes Erinnern, sondern ein rituelles Wiederaufgreifen der familiären Katastrophe, das der Sprache etwas Priesterliches, Beschwörendes verleiht. Auch im Mittelteil, wenn Josef seine innere Askese beschreibt, wird die litaneiartige Struktur deutlich: „Gehen, um zu vergessen. Gehen, um zu überleben. Gehen, um nicht zu ersticken. Gehen, um bei sich zu bleiben“ („Marcher pour oublier. Marcher pour survivre. Marcher pour ne pas étouffer. Marcher pour rester avec soi-même“). Die parallele Satzbildung „Gehen, um…“ entfaltet hier eine fast mantraartige Wirkung, die den Akt des Gehens nicht beschreibt, sondern ihn rituell vollzieht.
Schließlich im Schlusskapitel, als der Sohn Josefs Hefte liest und den Vater in sich „wiederauferstehen“ lässt, endet diese litaneiartige Form in einer Beschwörung der Namen: „Gaspard. Blanche. Anna. Léo. Fermine… Seine ungeheure Einsamkeit“ („Gaspard. Blanche. Anna. Léo. Fermine… Son immense solitude“). Auch hier handelt es sich weniger um eine Erzählung als um ein Totengedenken, eine Rezitation der Namen, die wie in einer Messe den Verstorbenen Präsenz verleihen. Diese wiederkehrenden Litanien strukturieren den Text durchgehend: am Anfang (Brand), in der Mitte (Gehen, Schweigen, Familienkatastrophen), am Ende (Namen, Inschrift). Sie machen den Roman zu einer Art Gebetbuch der Erinnerung, in dem die Familiengeschichte nicht linear erzählt, sondern rituell beschworen wird. Deshalb ist Haute-Folie gattungsmäßig als lyrisch-ritualisierter Familienroman zu charakterisieren, der die narrative Ebene immer wieder in litaneiartige Prosagedichte überführt.
Der Romanschluss: Schrift gegen Schweigen
Die letzten Seiten bündeln Motivik und Erzählverfahren exemplarisch. Der Sohn, der im „Land der Fjorde“ lebt, liest Josefs Hefte, nimmt seine Wege in Besitz und schreibt: „Ich habe alles gelesen… Ich ließ ihn in mir wiederauferstehen…“ („J’ai tout lu… À le laisser renaître en moi…“). Dann meißelt er in der Grotte die Formel: „Hier lebte mein Vater“ („Ici vécut mon père“). Materialisierte Sprache ersetzt das genealogische Loch. Die Schlusssätze sind doppelt performativ: Der Erzähler heiratet, bekommt einen Sohn (Niels), und schreibt nachts Josefs Geschichte, „damit das Schweigen am Ende nicht siegt“ („pour que le silence ne gagne pas à la fin“). Der Roman schließt, indem er sein eigenes Zustandekommen ausstellt – die Hefte werden zum Buch, die intime Lektüre zum öffentlichen Text. Die genealogische Wunde bleibt sichtbar (nichts „wird gut“ im trivialen Sinn), aber sie ist eingeschrieben statt weggeschwiegen.
Antoine Wauters’ Haute-Folie entfaltet sich in einer streng komponierten Abfolge von Kapiteln, deren Titel jeweils ein Leitmotiv des Buches setzen. Gleich zu Beginn wird mit L’incendie der Brand als Urbild eingeführt: Josefs Geburt fällt in die Nacht eines Gewitters, als ein Blitz eine alte Linde spaltet und den Hof in Flammen setzt. Das Feuer wird zum Symbol für Ursprung, Schuld und Wiederkehr, ein Bild, das Josef fortan begleitet. In Le pacte zeigt sich, wie er mit seinem Leben einen stillschweigenden Vertrag eingeht, ein Abkommen mit dem Unausweichlichen, das keine Erlösung, sondern nur Duldung verspricht. In Je n’y suis pas arrivé, pardon tritt er selbst in einer Art Brief-Bekenntnis hervor, bekennt sein Scheitern und bittet um Verzeihung. Damit etabliert der Text die Kommunikationsform des Briefes als Gegenpol zum Verstummen. Le silence zeigt den Rückzug in eben dieses Schweigen, das Josef zugleich schützt und isoliert, während Le démon die inneren Kämpfe mit Schuld, Gewalt und Verzweiflung aufruft. Le cercle deutet die Vergangenheit als endlose Wiederholung, als Kreis, dem niemand entkommt, und stellt damit das Grundmuster des Textes vor: das zyklische Erzählen.
Mit La marche erhält das Gehen seine zentrale Bedeutung: Wandern und körperliche Arbeit werden zur Praxis der Selbstbehauptung. La mer weitet den Raum, indem das Meer als Spiegel des Schweigens erscheint, zugleich Weite und Bedrohung. In Le grain de sable wird das unscheinbare Detail zum Symbol des Schicksals, jenes winzigen Sandkorns, das das Leben umlenkt, ohne dass man es beeinflussen könnte. L’internat erinnert an die Jugend im Internat, an frühe Erfahrungen von Isolation und Gemeinschaft, die Josefs späteren Rückzug vorbereiten. La marge beschreibt das Leben am Rand, die soziale und existenzielle Marginalisierung, die zugleich den Raum der Aufzeichnungen bildet – Randnotizen als Lebensspur. L’errance steigert dies zur Obdachlosigkeit, zur rastlosen Wanderung ohne Ziel, die Josefs Dasein prägt.
Das Zentrum des Buches bildet La Haute-Folie, die Grotte, in die Josef sich zurückzieht, sein Ort der Askese und endgültigen Abgeschiedenheit. Der Titel spielt mit der Doppelbedeutung von Torheit und Erhöhung: „Folie“ ist Wahnsinn, „Haute-Folie“ zugleich Ort der Entrückung. Darauf folgt Le doute, in dem Josef seine Zweifel bekennt, die Unfähigkeit, je zur Ruhe zu kommen, und das Fehlen einer endgültigen Erlösung. L’enfant beschwört das innere Kind, den kleinen Jungen, der auf einen Zug wartet, der nie kommt – ein Bild der ewigen Erwartung, das zum poetischen Kern des Romans wird. Mit Le fils Lafleur schließt sich die Bewegung: Der Sohn liest Josefs Hefte, erkennt die verdrängte Genealogie, setzt mit der Inschrift „Hier lebte mein Vater“ ein bleibendes Zeichen und schreibt weiter, damit das Schweigen nicht siegt. Vom Brand der Geburt bis zur eingemeißelten Spur der Erinnerung spannt der Roman einen Kreis, der zeigt, wie zerstörerische Herkunft in Sprache verwandelt werden kann – nicht als Heilung, sondern als Fortbestehen im Zeichen poetischer Beschwörung. Der Schluss ist eine Poetik des Gegen-Schweigens: „Hier lebte mein Vater“ – ein Satz, der zugleich Epitaph, Anfang und ästhetisches Programm ist.