Inhalt
Der Körper des schönen Dunklen außerhalb des Gewebes der Worte
Caroline Lamarches Roman Le bel obscur (2025) legt eine dichte, poetische und zugleich analytische Erkundung von Liebe, Erinnerung und Geschlechteridentitäten vor. Im Zentrum steht eine Erzählerin, die nach dem Zerbrechen ihrer Ehe mit Vincent – einem Mann, der sich einem jüngeren Geliebten, Nikolaï, zugewandt hat – versucht, ihr eigenes Begehren, ihre Rolle als Frau und Partnerin, aber auch ihre genealogische Vergangenheit zu verstehen. In den Archiven der Familie entdeckt sie die rätselhafte Figur Edmond, einen Vorfahren, der im 19. Jahrhundert aus den Familienannalen getilgt wurde und dessen „dunkle Schönheit“ zwischen Männlichkeit, Androgynität und gesellschaftlichem Skandal steht. In der Konfrontation mit dieser Figur, mit Erinnerungen an die Liebe zu Vincent und in Auseinandersetzung mit vielfältigen Texten – von alchemistischen Rezepten bis zu Foucaults Herculine Barbin – formt die Erzählerin ein neues Verständnis von sich selbst.
Der Titel des Buches, Le bel obscur, ist ein zentrales Bild, das sich durch den gesamten Text zieht. Die direkteste Interpretation liefert ein Zitat von Francis Ponge aus L’avenir des paroles, das als Motto dem Buch vorangestellt ist: „Der Körper des schönen Dunklen außerhalb des Gewebes der Worte […]“ („Le corps du bel obscur hors du drap des paroles […].“) Dies deutet darauf hin, dass der „schöne Obskure“ eine Realität oder eine Wesenheit repräsentiert, die jenseits der Grenzen der Sprache liegt, etwas, das nicht vollständig in Worte gefasst oder erklärt werden kann, sondern erlebt oder gefühlt werden muss. Es suggeriert eine Wahrheit, die sich konventionellen Beschreibungen entzieht. Im Verlauf der Erzählung wird der Titel eng mit der Figur von Edmond verknüpft, dem Vorfahren der Erzählerin, dessen Leben und Schicksal sie zu ergründen versucht. Die Erzählerin bezeichnet Edmond explizit als „Un bel obscur“ und bekräftigt später nach einem Traum: „Le bel obscur, c’est lui“. Das Dunkle, Obskure, Unklare bezieht sich auf Edmonds verborgenes Leben und die Geheimnisse, die seine Existenz umgeben. Er wurde aus dem Stammbaum der Familie gestrichen, eine Art „damnatio memoriae“. Seine Homosexualität, die zu seiner Zeit keinen Namen hatte und als gesellschaftlich inakzeptabel galt, führte zu seiner Ausgrenzung und möglicherweise zu seinem Selbstmord in jungen Jahren. Sein Leben war „zu kurz“ und von Unglück geprägt, ein „Schlemihl“. Diese Dunkelheit rührt auch von den gesellschaftlichen Zwängen und dem moralischen Kodex einer puritanischen Epoche her, die ihn in „ein Parallelwelt“ abdrängten. Die Erzählerin vermutet, dass seine „verborgene Existenz“ von „Sucht“ oder „Exzessen aus Mangel an Liebe, Unterstützung, Anerkennung“ begleitet gewesen sein könnte.
Trotz der tragischen Umstände seines Lebens wird Edmond als „schön“ beschrieben. Dies kann sich auf sein physisches Erscheinungsbild beziehen, wie es auf dem Foto in Bergmannskostüm festgehalten ist, wo er „unendlich viel verführerischer“ und „strahlend von einer erstaunlichen Anmut“ erscheint. Es könnte aber auch seine inneren Qualitäten meinen, wie seine Intelligenz und Sensibilität. Seine Fähigkeit, zwei Menschen vor dem Ertrinken in der Maas zu retten, zeugt von Mut und Stärke. Am Ende der Erzählung beschreibt die Erzählerin den gealterten Edmond in ihrem Traum als jemanden, dessen Schönheit „diskret durch die Abnutzung der Zeit gemacht“ ist und der „durch das Wesentliche verführt: Höflichkeit, Aufmerksamkeit“. Der Titel verkörpert somit die paradoxe Natur von Edmonds Existenz: eine Schönheit, die in der Dunkelheit und Geheimhaltung verborgen ist, ein Leben, das aufgrund gesellschaftlicher Normen unterdrückt wurde, aber dennoch eine faszinierende Anziehungskraft besitzt. Die Erzählerin, die sich in gewisser Weise mit Edmond als ihrem „astrologischen Zwilling“ identifiziert und Aspekte ihres eigenen Kampfes um Identität und Freiheit in seiner Geschichte wiederfindet, versucht, diese verborgene Schönheit ans Licht zu bringen und Edmond einen Platz in der Familiengeschichte zurückzugeben. Der Titel fasst die Themen der verborgenen Identitäten, unterdrückten Wahrheiten, der Schönheit des Unkonventionellen und des Kampfes gegen gesellschaftliche Zwänge zusammen, die das Kernstück der Erzählung bilden.
Der Roman ist zugleich ein Familien- und Liebesroman, ein essayistisches Tagebuch, eine Spurensuche im Archiv und eine Reflexion über Natur, Geschichte und Sprache. Die Erzählung durchzieht eine tiefe Frage: Welche Formen der Liebe und des Begehrens sind möglich, und welche werden unsichtbar gemacht? Die Erzählerin tastet nach einer Sprache für ihre Situation als „épouse d’un homosexuel“, eine Position, die gesellschaftlich kaum offen sichtbar ist, und verwebt ihre persönliche Geschichte mit Naturmetaphern, mit Metallurgie und mit Fluidität. Der Roman zeigt, dass die Suche nach Identität und Wahrheit nicht linear verläuft, sondern in Spiralen, Wiederholungen, Träumen und Gesten. Am Ende steht kein geschlossenes Resultat, sondern eine poetische Öffnung: eine Liebe, die nicht Besitz, sondern ein „lien inflexible mais léger“ ist, ein unsichtbares Band, das durch das Erzählen selbst lebendig wird.
Die leitenden Fragen des Romans sind klar erkennbar: Wie werden heterosexuelle, homosexuelle und queere Konstellationen dargestellt, und welche Rolle spielt die Dreiecksbeziehung zwischen Erzählerin, Vincent und Nikolaï? Wie werden Weiblichkeit und Männlichkeit konstruiert, unterlaufen oder in hybride Figuren überführt, sei es in der Gestalt Edmonds, in der Figur Vincents oder in der Erzählerin selbst? Welche Bedeutung haben Archive, Briefe, Träume, genealogische Dokumente, astrologische oder graphologische Lektüren für das Erzählen? Wie verzahnen sich Gegenwart, Vergangenheit und Traum in der Zeitstruktur? Welche Rolle spielen Metaphoriken von Pflanzen, Tieren, Metallen, Perlen, Wasser und Kino? Und schließlich: wie schafft die Ich-Erzählung eine Vermittlung zwischen persönlichem Bekenntnis, essayistischer Reflexion und dokumentarischem Gestus? All diese Fragen laufen auf die zentrale Pointe hinaus, die am Schluss in poetischer Form erscheint: Worauf läuft die gesamte Geschichte hinaus, auf welche Transformation der Liebe, der Geschlechterordnung, der Erzählung?
Der Roman dekonstruiert die binären Geschlechterordnungen, indem er Figuren zwischen den Polen sichtbar macht und marginalisierte Positionen – wie die Ehefrau eines homosexuellen Mannes – literarisch rehabilitiert. Liebe erscheint nicht als Besitz oder institutionelle Dauer, sondern als fluides, unsichtbares Band, das durch Erzählen und Erinnerung fortbesteht. Die Erzählerin präsentiert sich selbst als Medium, das zwischen den Zeiten, den Archiven, den Lebenden und den Toten vermittelt. Und schließlich: die literarische Form selbst – hybrid, fragmentarisch und essayistisch – ist eine ästhetische Antwort auf die fragmentierte Geschlechterordnung und das prekäre Begehren.
Formen der Liebe und des Begehrens
Die Liebe im Roman erscheint in vielfältigen Modi: als kindliches Spiel mit Schmetterlingen, als leidenschaftliche Ehe mit Vincent, als Dreiecksbegehren mit Nikolaï, als genealogisches Interesse an Edmond, als Traumbilder, in denen Kino und Körper verschmelzen. Die Erzählerin betont: ohne die dritte Figur – „sans le trois, le deux s’effondre“. Das Paar, in der klassischen Konstellation von Vincent und Nikolaï, erscheint ihr unzureichend, steril, während sie selbst überzeugt ist, dass das Dritte die Lebendigkeit, die Krise und die Wahrheit der Liebe ist. Hier wird eine alternative Ethik des Begehrens sichtbar: nicht die exklusive Zweierkonstellation, sondern die Wendung ins Offene.
Outre les poèmes d’Apollinaire, mes mantras en temps de crise, j’écume divers essais traitant du couple, des textes de philosophes, de sociologues, de psychologues, et je dévore des romans. Les contemporains n’instruisant guère l’excentricité de ma propre existence, j’en relis de plus anciens, La Femme changée en renard de David Garnett ou encore L’Histoire de ma femme de Milán Füst, ce qui ne m’empêche pas d’avancer à l’aveugle comme dans un rêve confus. Vincent, lui, depuis qu’il est avec Nikolaï, semble marcher en pleine lumière, guidé par l’obsession commune : le couple, toujours le couple, ses querelles, ses réconciliations, l’usure ou les reprises, le chiffre deux érigé en inusable idéal du vieillir-ensemble, ce qui, étant donné leur écart d’âge, s’annonce pour lui comme une sorte d’ultime plan de carrière. Ce repli, après la vie que nous avons menée, me surprend et m’irrite. Non que je sois particulièrement étonnée d’avoir été écartée au profit d’une jeunesse – issue assez banale pour une femme de mon âge – mais je suis persuadée que, sans le trois, le deux s’effondre. Deux tours de clé verrouillent les portes, un troisième force le mécanisme, pulvérise les serrures, laisse entrer la tempête, les monstres, la beauté et la joie, tout ce qui marchait de concert au temps des expériences risquées, des aveux transparents, des rétablissements acrobatiques. Le temps d’avant la Grande Simplification.
Neben den Gedichten von Apollinaire, meinen Mantras in Krisenzeiten, durchforste ich verschiedene Essays über Paarbeziehungen, Texte von Philosophen, Soziologen und Psychologen und verschlinge Romane. Da meine Zeitgenossen wenig über die Exzentrizität meines eigenen Lebens wissen, lese ich ältere Werke wie Die Frau, die sich in einen Fuchs verwandelte von David Garnett oder Die Geschichte meiner Frau von Milán Füst, was mich jedoch nicht daran hindert, blindlings wie in einem verwirrenden Traum voranzuschreiten. Vincent hingegen scheint, seit er mit Nikolaï zusammen ist, im hellen Licht zu wandeln, geleitet von einer gemeinsamen Obsession: das Paar, immer das Paar, seine Streitigkeiten, seine Versöhnungen, die Abnutzung oder die Wiederaufnahmen, die Zahl zwei, die zum unverwüstlichen Ideal des gemeinsamen Alterns erhoben wird, was sich für ihn angesichts ihres Altersunterschieds als eine Art letzter Karriereplan ankündigt. Dieser Rückzug nach dem Leben, das wir geführt haben, überrascht und irritiert mich. Nicht, dass ich besonders erstaunt wäre, zugunsten einer Jugend beiseite geschoben worden zu sein – was für eine Frau meines Alters ziemlich banal ist –, aber ich bin überzeugt, dass ohne die Drei die Zwei zusammenbricht. Zwei Umdrehungen des Schlüssels verschließen die Türen, eine dritte zwingt den Mechanismus auf, pulverisiert die Schlösser, lässt den Sturm herein, die Monster, die Schönheit und die Freude, all das, was in Zeiten riskanter Experimente, transparenter Geständnisse und akrobatischer Wiederherstellungen zusammenwirkte. Die Zeit vor der großen Vereinfachung.
Vincent verkörpert eine doppelte Ambivalenz: als Helfer, wie einst bei einem Autounfall, wo er zwei Menschen zu retten versuchte, aber scheiterte, und als Verräter, der seine Frau verlässt. Seine Homosexualität ist zugleich Erfüllung seiner eigenen Identität und Schmerz für die Erzählerin. Nikolaï ist einerseits Rivale, andererseits Projektionsfläche für Jugend und Lebenskraft. Die Erzählerin bewegt sich in einem paradoxen Raum: sie liebt noch, sie begehrt, aber sie ist ausgeschlossen.
Edmond, die historische Figur, fügt sich in diese Konstellation als Spiegelbild ein. Sein „travesti“-Bild, seine rätselhaften Briefe und seine Auslöschung aus den genealogischen Aufzeichnungen markieren ihn als „bel obscur“: eine androgyne, queere Figur, die an den Rändern der Geschlechterordnung existierte und deshalb ausradiert wurde. In ihm erkennt die Erzählerin eine genealogische Linie der Unsichtbaren, der sie sich zugehörig fühlt.
Edmond als bel obscur
Edmond, die rätselhafte Gestalt aus den Archiven, bildet ein obskures Zentrum von Caroline Lamarches Le bel obscur. Von ihm aus lässt sich der gesamte Roman erschließen: seine Auslöschung aus der genealogischen Überlieferung, seine ambivalente Erscheinung auf Fotografien, seine Nähe zu männlichen Freunden, sein Tod in einem Hotelzimmer fern der Heimat – all das macht ihn zur schönen und zugleich unlesbaren Figur, die das Begehren ebenso anzieht wie die Scham der Familie provoziert.
Le shako de travers, le béguin fémininement lâché, la lampe-collier, la gourde, le curieux récipient ovoïde… De ce mariage d’attributs se dégageait une scène hybride, comme si l’on avait voulu composer un personnage qui, pour tenir de l’étudiant, du mineur et du travesti, n’en disait pas moins autre chose. Même déconstruite, l’image tenait de l’énigme.
Der quer getragene Schako, die auf feminine Weise lose sitzende Haube, die Lampenhalskette, die Feldflasche, das seltsame eiförmige Gefäß … Aus dieser Mischung von Attributen ergab sich eine hybride Szene, als ob man eine Figur zusammenstellen wollte, die, indem sie sowohl vom Studenten, vom Bergmann als auch vom Transvestiten zeugte, doch noch etwas anderes aussagte. Selbst dekonstruiert blieb das Bild ein Rätsel.
Der Begriff „travesti“ wird explizit von Thomas verwendet, um ein weiteres Foto von Edmond zu beschreiben, was die Erzählerin sofort alarmiert und die Möglichkeit des Cross-Dressings für Edmond ins Spiel bringt. Auch wenn die Erzählerin später erfährt, dass Edmonds Bergmannskostüm auf der anderen Fotografie eine offizielle Universitätsuniform war und kein „déguisement“ (Verkleidung), interpretiert sie die Mischung der Attribute auf diesem Bild als „hybride Szene“, die Elemente des „travesti“ enthält. Edmonds Erscheinung stellt starre Geschlechternormen der Zeit in Frage und deutet eine „verbotene Begierde“ an. Die Kombination aus militärischer Pose, offiziellem Kostüm und persönlichen, anachronistischen Elementen wie der Mate-Kürbisflasche erzeugte ein Bild, das über die bloße Identifikation als Student oder Bergmann hinausging und eine tiefere, möglicherweise queere Identität des „schönen Obskuren“ suggerierte.
Edmond steht für die verdrängte Genealogie queerer Subjektivität. Seine Löschung aus dem Stammbaum ist keine zufällige Leerstelle, sondern eine getilgte Erinnerung, die die Familie über eine Identität verhängt, die nicht in die bürgerlichen Normen von Männlichkeit und Fortpflanzung passte. Gerade diese Leerstelle zieht die Erzählerin an: Indem sie Edmonds Spur verfolgt, erkennt sie ihre eigene marginalisierte Position – als Ehefrau eines homosexuellen Mannes, die gesellschaftlich ebenso unsichtbar ist wie Edmond im Familienarchiv. Edmond wirkt somit als Spiegel und Vorläufer, als genealogische Resonanzfigur.
Die Fotografie, die ihn travestiert zeigt, markiert die Sprengkraft seiner Existenz. Travestie bedeutet hier nicht bloß Verkleidung, sondern ein Durchkreuzen der Geschlechterordnung. Sie konfrontiert die Familie mit einer hybriden Gestalt, die nicht mehr eindeutig männlich lesbar ist. Die Folge ist Ausschluss und Schweigen. Doch die Erzählerin deutet diese Ambivalenz positiv um: Edmond wird für sie zum Symbol einer „anderen“ Schönheit, die nicht der Norm entspricht, sondern ihre Kraft aus dem Dazwischen, aus der Unbestimmbarkeit bezieht.
Selbstmord ist die ultimative Transgression der Ordnung, da Edmond, der nicht bereit war, seine wahre Identität zu leugnen, von der Gesellschaft und seiner Familie in den Untergang getrieben wurde. Sein Tod ist somit nicht nur eine persönliche Tragödie, sondern auch ein symbolischer Akt des Widerstands und des Scheiterns einer repressiven Ordnung. Sein Tod im Hôtel d’Orléans, bezeugt von einem Künstler, verweist auf die Möglichkeit queerer Gemeinschaften jenseits der Familie. Dass gerade ein Künstler, Pietro Gallici, am Sterbebett steht, betont den Zusammenhang zwischen Kunst, Subversion und queeren Lebensformen. Die Konstellation lässt ahnen, dass Edmond in einer Welt lebte, die sich nicht mehr in den offiziellen Registern abbilden ließ. Hier liegt die Parallele zur Erzählerin, die ihr eigenes Leben durch Träume, Metaphern, Archive und poetische Sprache rekonstruiert – gegen den Konsens, der sie unsichtbar machen will.
Von Edmond aus betrachtet, erscheint der gesamte Roman als ein Projekt der Restitution. Le bel obscur rehabilitiert die verdrängten Figuren, die an den Rändern der Geschlechterordnung existierten. Edmonds „dunkle Schönheit“ ist das Leitmotiv: sie erlaubt, Weiblichkeit und Männlichkeit als fluide, instabile Kategorien zu denken. Sie eröffnet der Erzählerin den Raum, ihre eigene Erfahrung nicht als Defizit, sondern als Teil einer verschwiegenen, aber realen Genealogie zu begreifen. So läuft die Geschichte am Ende auf eine poetische Gerechtigkeit hinaus: Edmond, einst ausgelöscht, lebt in der Sprache der Erzählerin weiter und weist ihr den Weg in ein anderes Verständnis von Liebe, Begehren und Identität.
Das Liebesdreieck
Die Perspektive des Ehemanns Vincent
Aus der Sicht Vincents erscheint Le bel obscur als Geschichte einer Befreiung. Vincent hat sich von der Ehe mit der Erzählerin gelöst, um mit dem jüngeren Nikolaï eine neue, offenere Form von Liebe zu leben. Seine Homosexualität ist dabei nicht als plötzliche Enthüllung, sondern als eine lange verdrängte Wahrheit zu verstehen, die sich erst spät Bahn bricht. Die Entscheidung für Nikolaï ist zugleich eine Entscheidung gegen die Lüge einer normierten Ehe. Dennoch bleibt Vincent ambivalent: er ist ein Retter, der in der Jugend Menschen aus dem Wasser zog, ein Held für andere, aber für die Erzählerin wird er zum Verräter. Aus seiner Perspektive bedeutet die „Grande Simplification“, von der im Roman die Rede ist, eine Rückkehr zur klassischen Zweisamkeit, die er mit Nikolaï sucht, während die Erzählerin das „Dritte“ für unverzichtbar hält. Vincent steht zwischen Mut und Konvention: mutig im Coming-out, konventionell in der Suche nach der Zweierordnung.
Die Perspektive des Geliebten Nikolaï
Für Nikolaï, den jüngeren Geliebten, ist die Geschichte eine Initiation. Er tritt in eine bereits gelebte Lebensgeschichte ein, die ihn zugleich überfordert und fasziniert. Nikolaï verkörpert Jugend, Vitalität, körperliche Energie, aber auch eine gewisse Naivität. Er erscheint als Projektionsfläche für Vincent, der in ihm eine Verlängerung seiner eigenen Jugend und Begehrensfähigkeit sucht. Aus Nikolaïs Perspektive ist die Erzählerin kaum mehr als eine Schattenfigur, die das alte Leben Vincents repräsentiert. Doch die Tatsache, dass die Erzählerin ihre Stimme erhebt, rückt Nikolaï in ein anderes Licht: er ist nicht bloß Liebhaber, sondern ungewollt auch Auslöser einer Neuordnung, in der das alte Modell von Ehe und Treue zerbricht. Nikolaï wird so zu einem Katalysator für die Offenlegung der verborgenen Wünsche und Brüche.
Die Perspektive der Erzählerin
Aus der Sicht der Erzählerin ist es ein Roman der Unsichtbarkeit und ihrer Überwindung. Als Ehefrau eines homosexuellen Mannes sieht sie sich doppelt ausgeschlossen: aus der heterosexuellen Norm wie auch aus der schwulen Gemeinschaft, die ihr keinen Platz zugesteht. Sie findet in der Figur Edmonds einen Spiegel ihrer eigenen Marginalisierung. Ihr Erzählen ist ein Akt der Selbstbehauptung gegen das Schweigen, das ihr auferlegt wird. Während Vincent im „Zwei“ sein Heil sucht, beharrt sie auf der Notwendigkeit des „Dritten“ – auf der Unruhe, der Mehrstimmigkeit, die das Leben reich macht. Ihre Perspektive zeigt die Kosten des queeren Coming-out für die zurückgelassenen Partnerinnen, aber sie wandelt den Schmerz in poetische Sprache, die ihr neue Räume eröffnet. Am Ende gewinnt sie eine Form von Freiheit: die Liebe wird für sie ein „lien inflexible mais léger“, ein unsichtbares Band, das jenseits von Besitz und Ausschluss existiert.
Ja, sie hat Vincent geliebt – aber nicht in einem romantisch reinen Sinn. Ihre Liebe ist von Anfang an durch Ambivalenzen geprägt. Es gibt Momente, in denen sie von seiner Anziehungskraft, seiner Intelligenz, seiner „schönen“ Gestalt berichtet. Für die Erzählerin war Vincent jemand, der Mut, Stärke und Fürsorge verkörperte. Diese Dimension von Bewunderung und Dankbarkeit hat ihre Zuneigung geprägt. Gleichzeitig war die Ehe ein Arrangement, das stark von Erwartungen und sozialen Skripten bestimmt war. Die Erzählerin tritt mit der Heirat in ein Modell ein, das sie zugleich hinterfragt und dennoch vollzieht. In diesem Sinn war die Ehe ein gesellschaftlicher Vertrag, der Sicherheit, Anerkennung und eine Form von Normalität versprach.
Analysen
Konstruktionen und Kommunikationen
Was sie in der Ehe gehalten hat, war neben ihrer Zuneigung zu Vincent auch eine Mischung aus Loyalität, Schuldgefühl und Hoffnung. Loyalität, weil sie an die Institution und an den gemeinsamen Weg glaubte. Schuld, weil sie spürte, dass Vincents Homosexualität für ihn selbst ein verdrängtes, schmerzvolles Geheimnis war, und sie vielleicht glaubte, durch Geduld und Liebe könne sie ein Auskommen mit dieser Spannung finden. Hoffnung schließlich, weil sie – wie sie es später formuliert – auf das „Dritte“ vertraute: darauf, dass ein offenes, nicht exklusives Modell von Liebe möglich sein könnte. Die Ehe war also für sie nicht nur ein Gefühl, sondern ein Gefüge aus sozialer Erwartung, Begehren, Loyalität und Projektion. Die Liebe zu Vincent war real, aber sie war nie frei von Brüchen. Im Rückblick erkennt die Erzählerin, dass sie auch an einem Bild festhielt: Vincent als Retter, Vincent als männliche Kraft, Vincent als Mittelpunkt einer normativen Geschichte. Gerade weil dieses Bild zerbrach, musste sie am Ende ihr eigenes Narrativ neu entwerfen – und fand es im Erzählen selbst.
Die Erzählerin reflektiert ihre Rolle als Frau im 20. und 21. Jahrhundert, konfrontiert mit einer Mutter, die ihr ein Collier schenkte als Zeichen, dass Heirat Glück bringe, und mit einer sozialen Norm, in der Männer die Arbeit verrichten, die Kraft haben, während Frauen dekorativ und fürsorglich bleiben sollen. Gegen diese Norm rebelliert sie, indem sie die nicht einheimische, eingeschleppte Pflanze Buddleia eigenhändig ausreißt – eine Geste, die körperlich erschöpfend, aber symbolisch befreiend ist.
Vincent verkörpert einen Typus von Männlichkeit: attraktiv, intelligent, zugleich aber verletzlich, immer auf der Suche nach Rettung und Bestätigung. Seine Homosexualität dekonstruiert das heteronormative Familienmodell, doch er reproduziert zugleich ein klassisches Schema: der ältere Mann mit einem jüngeren Geliebten.
Edmond schließlich entzieht sich gänzlich. Er ist in Uniform abgebildet, aber auch in einem travestierten Kostüm, und seine Nähe zu Männern wie Gratiniano Obando oder Pietro Gallici deutet auf queere Beziehungen. Seine Auslöschung aus dem Stammbaum illustriert, wie Familienarchive nicht neutrale Speicher, sondern Orte der Macht sind, die unerwünschte Geschlechteridentitäten zum Schweigen bringen.
Die Erzählerin nutzt vielfältige Kommunikationskanäle: Briefe, archivalische Dokumente, genealogische Notizen, Graphologie, astrologische Symbole, alchemistische Rezepte, Träume. Alles wird zum Medium, um das Unsichtbare sichtbar zu machen. Besonders wichtig sind die Archive: dort, wo die Familie Schweigen auferlegt hat, wo Edmonds Existenz ausgelöscht wurde, produziert die Erzählerin einen Gegenkanon.
Ebenso zentral sind die Träume. Sie eröffnen eine poetische, nicht-rationale Kommunikation mit den Toten, mit Edmond, mit der eigenen Vergangenheit. Auch das Kino am Ende ist eine Kommunikationsform: ein Raum kollektiver Bilder, in dem die Erzählerin jedoch keinen Platz findet – sie wird hinausbegleitet. Das verweist auf die Ambivalenz: Gemeinschaft wird ihr verwehrt, doch sie findet Trost im Bild des unsichtbaren Bandes.
Zeitstruktur und Metaphorik
Die Zeitstruktur des Romans ist nicht linear, sondern palimpsestartig. Gegenwart – das Ende der Ehe, die Isolation der Erzählerin – verschränkt sich mit der genealogischen Vergangenheit Edmonds, mit historischen Katastrophen wie der Flut von 2021, mit persönlichen Erinnerungen an Kindheit, Ehe und Geliebte sowie mit Träumen. Der Text folgt der Logik der Assoziation, nicht der Chronologie.
Die Erzählperspektive ist ein Ich, das zugleich subjektiv bekennt, essayistisch reflektiert und dokumentarisch zitiert. Diese Hybridität ist das ästhetische Programm: es gibt keine reine Wahrheit, nur Spuren, Fragmente, Stimmen. Das Erzählen selbst wird zu einem Akt der Selbstermächtigung – gegen die genealogische Auslöschung Edmonds, gegen die damnatio memoriae, die auch ihr selbst durch Vincents Vergessen droht.
Die Metaphern sind dicht und vielfältig. Der Buddleia als invasive, giftige, scheinbar schöne Pflanze, die aber die Biodiversität zerstört, steht für trügerische Beziehungen und falsche Dauer. Schmetterlinge, die gefangen und wieder freigelassen werden, sind Metaphern für Liebesbeziehungen – intensiv, kurz, kostbar, aber vergänglich. Vögel, Bienen und Pferde tauchen auf als Spiegel des Begehrens.
Besonders stark ist die Metallurgie und Alchemie: die Lektüre der Alchimistes grecs strukturiert den Text. Das Verschmelzen von Elementen, das „trempe du fer indien“, wird zur Metapher einer Fusion von Geschlechtern, einer hybriden Identität. Die Perlen wiederum werden durch ein grausames Verfahren wieder glänzend gemacht, indem man sie in den Körper zurückschiebt. Dieses Bild wird zur Metapher für Gewalt, die Schönheit hervorbringt – analog zu Beziehungen, die Schmerz und Schönheit zugleich enthalten. Wasser, Flüsse, Überschwemmungen und Rettungsversuche im Wasser symbolisieren Leben, Tod, Übergang und Verlust. Schließlich das Kino, das am Ende als Symbol für kollektive Imagination, aber auch für Ausschluss erscheint.
Fluidität und Transformation
Der Schluss bündelt die Motive des Romans. Die Erzählerin formuliert die Liebe als „lien inflexible mais léger“ – ein unsichtbares, unscheinbares, aber unzerstörbares Band. Damit verabschiedet sie sich von der Vorstellung einer institutionellen Ehe, von der Dauerhaftigkeit des Paares, und ersetzt sie durch eine poetische Form der Bindung: leicht wie Luft, aber stark wie ein unsichtbarer Faden. Das Begehren wird als etwas gedacht, das nie ganz auf zwei festgeschriebene Positionen reduzierbar ist, sondern immer offene Fluchtlinien und Mehrfachbindungen erzeugt. Hinzu kommt, dass die Erzählerin ihre Erfahrung nicht primär als „Heterofrau neben Homomann“ beschreibt, sondern als eine Form der Unsichtbarkeit, die strukturell mit Edmonds Auslöschung aus dem Archiv verbunden ist. Beide Figuren – Edmond und die Erzählerin – stehen für Identitäten, die in den kulturellen Narrativen nicht vorkommen: Edmond als queere, androgyne Gestalt, die genealogisch getilgt wurde; die Erzählerin als „épouse d’un homosexuel“, für die es keine kulturelle Figur gibt. Damit verschiebt der Roman den Fokus von der Polarität hetero/homo hin zu Fragen der Repräsentation, der Sichtbarkeit und der narrativen Räume, die bestimmte Lebensweisen erhalten oder verweigern. Auch die Metaphorik verweist auf ein Jenseits der Binarität: die Alchemie, die Verschmelzung von Metallen, die Travestie auf Edmonds Fotografie, das Bild des „unsichtbaren Bandes“. Alles deutet darauf hin, dass der Roman Geschlecht und Begehren als fluide, unabschließbare Prozesse denkt.
Lui, je m’en aperçus à l’instant du départ, s’était montré nettement plus inspiré, et par ma propre garde-robe : jupe plissé soleil, chemisier bouffant sur faux seins maladroits, paupières bleu mésange et rouge à lèvres débordant, perruque platine, enfin, extraite du coffre à chiffons de nos filles. Ce travestissement semblait l’amuser, un peu comme un enfant se déguise.
Ich bemerkte sofort, dass er sich deutlich inspirierter gezeigt hatte, und zwar von meiner eigenen Garderobe: Plisseerock, bauschige Bluse über ungeschickten falschen Brüsten, blaugrüne Augenlider und überlaufender Lippenstift, platinblonde Perücke, die schließlich aus der Kleiderkiste unserer Töchter stammt. Diese Verkleidung schien ihm Spaß zu machen, ein bisschen wie ein Kind, das sich verkleidet.
Dieser Passus beschreibt Vincent, wie er sich für eine Kostümparty aus der Garderobe der Erzählerin verkleidet. Er trägt einen Rock, eine weite Damenbluse, falsche Brüste, auffälliges Make-up und eine platinblonde Perücke. Dieses „travestissement“ wird als spielerisch und kindlich beschrieben, was die Erzählerin jedoch irritiert, da es ihr eigenes Ideal diskreter Androgynität stört und ihre heimliche Fantasie eines „Paares von Männern“ zerstört. Es ist ein klares Beispiel für einen Mann in Frauenkleidern, das Vincents Bereitschaft zur spielerischen Geschlechterüberschreitung zeigt, aber gleichzeitig die gesellschaftlichen Normen und Erwartungen an männliche (oder vermeintlich heterosexuelle) Maskulinität offenbart, als Vincents Auftritt von anderen Gästen als „effeminiert“ wahrgenommen wird.
Cependant un saint Jean-Baptiste avait rejoint les femmes. Dressé au bord du chœur, il était mince, la barbe courte et soigneusement taillée, les yeux rêveurs, la bouche petite et pulpeuse. D’une main gracile il bénissait l’assemblée, l’autre supportant un globe terrestre de bois doré. Le Christ, même souffrant sur la croix, avait un torse d’athlète. Le Baptiste, lui, nourri de sauterelles et de miel sauvage, était nettement plus fluet. Je me dis qu’on l’avait placé du côté des femmes pour représenter le troisième genre, comme disait Hirschfeld. Il se trouvait non loin d’elles mais tout seul, vêtu de poil de chameau et prêchant dans le désert.
Ein Heiliger Johannes der Täufer hatte sich jedoch zu den Frauen gesellt. Er stand am Rand des Chors, war schlank, hatte einen kurzen, sorgfältig gestutzten Bart, verträumte Augen und einen kleinen, vollen Mund. Mit einer zierlichen Hand segnete er die Versammlung, während er in der anderen einen vergoldeten Holzglobus hielt. Selbst als er am Kreuz litt, hatte Christus den Oberkörper eines Athleten. Der Täufer hingegen, der sich von Heuschrecken und wildem Honig ernährte, war deutlich schlanker. Ich dachte mir, dass man ihn neben die Frauen gestellt hatte, um das dritte Geschlecht zu repräsentieren, wie Hirschfeld es nannte. Er stand nicht weit von ihnen entfernt, aber ganz allein, gekleidet in Kamelhaar und predigend in der Wüste.
Während eines Besuchs in einer Kathedrale in Freiberg entdeckt die Erzählerin eine Statue des Heiligen Johannes des Täufers, die sich unter den Frauenstatuen befindet. Sie beschreibt ihn als „mince“ (schlank), mit „yeux rêveurs“ (verträumten Augen) und einer „bouche petite et pulpeuse“ (kleinen und vollmundigen Mund), Eigenschaften, die im Vergleich zum athletischen Körper des Christus als feminin wahrgenommen werden. Sie interpretiert seine Platzierung und sein Aussehen als Repräsentation des „dritten Geschlechts“, eine Anspielung auf Magnus Hirschfelds Konzept. Dieser Auszug erweitert das Thema über individuelle Personen hinaus auf eine symbolische und historische Ebene, indem er die Idee der Geschlechterfluidität oder des „dritten Geschlechts“ in einem religiösen Kontext und damit in der Kunst aufgreift. Es zeigt, wie bestimmte Figuren durch ihre Darstellungsweise oder ihre Eigenschaften jenseits binärer Geschlechterkategorien wahrgenommen werden können.
Man könnte also sagen: Le bel obscur nimmt die Opposition Heterosexualität vs. Homosexualität ernst als biographische Erfahrung der Figuren, aber als literarischer Text hat er diese binäre Ordnung bereits hinter sich gelassen. Ihn beschäftigen vor allem Fragen der Sichtbarkeit, des Verlusts, des poetischen Überlebens und des unsichtbaren, aber wirksamen Bandes, das Menschen verbindet – jenseits aller Kategorien.
Im Traum vom Kino wird sie abgewiesen: man verweigert ihr den Eintritt, sie darf den Film nicht sehen. Das Kino als kollektiver Raum der Repräsentationen verweigert ihre Position – die Position der Ehefrau eines homosexuellen Mannes, die keine Figur in der kulturellen Vorstellungswelt hat. Doch zugleich wird sie von einem Mann „mit einer perfekten Einfachheit“ in die Nacht hinausbegleitet. Diese Geste ist klein, aber tröstlich: sie deutet auf eine andere Form von Gemeinschaft, jenseits der normierten Bilder.
Die Geschichte läuft auf diese doppelte Erkenntnis hinaus: Es gibt keine endgültige Versöhnung mit Vincent, keine Rückkehr zur Zweierkonstellation. Aber es gibt eine andere Form von Liebe: eine unsichtbare, leichte, unzerstörbare Bindung, die im Erzählen, im Erinnern, im Träumen fortlebt. Die Erzählerin findet Trost nicht in gesellschaftlicher Anerkennung, sondern in der poetischen Transformation des Verlustes.
Zur Preiswürdigkeit des Romans
Die belgische Schriftstellerin Caroline Lamarche hat es mit Le bel obscur auf die erste Auswahlliste für den Prix Goncourt geschafft, weil der Roman auf mehreren Ebenen außergewöhnlich ist. Lamarche verbindet autobiographisches Erzählen, essayistische Reflexion, genealogische Recherche und poetische Bildlichkeit. Der Text wechselt zwischen Roman, Essay und Traumprosa. Politisch brisant ist, dass der Roman eine unsichtbare Position – die der Ehefrauen homosexueller Männer – thematisiert und literarisch sichtbar macht. Er rehabilitiert queere Genealogien und dekonstruiert Geschlechterbinaritäten. Poetisch beeindruckt er durch seine dichte Metaphorik, von der Alchemie bis zur Biologie, von Pflanzen bis zu Metallen. Zeitdiagnostisch reflektiert er über Biodiversitätsverlust, Klimawandel, Überschwemmungen und die „Grande Simplification“ einer Welt, die Vielfalt verliert. Und schließlich besitzt er universelle Relevanz, da sich in einer individuellen Liebesgeschichte die Fragilität menschlicher Beziehungen, die Unsichtbarkeit bestimmter Identitäten und die Möglichkeit, durch Erzählen Sinn zu schaffen, spiegelt.
Caroline Lamarche hat mit Le bel obscur einen Roman geschaffen, der gleichzeitig intim und universal, essayistisch und poetisch, politisch und literarisch ist. Die Geschlechterordnung wird nicht einfach kritisiert, sondern dekonstruiert, durch Archive, Metaphern und Träume neu geschrieben. Die Liebe erscheint nicht als Besitz, sondern als unsichtbares Band. Die Erzählerin verwandelt ihr persönliches Leiden in eine universelle poetische Erfahrung.