Neuer Raum, neuer Mensch: Agnès Riva

C’est dans ce territoire neuf, où tout semblait possible, qu’il lui avait été permis de rêver à un autre ailleurs.

Agnès Riva, Un autre ailleurs, Gallimard, 2025.

In diesem neuen Gebiet, in dem alles möglich schien, durfte er von einem anderen Anderswo träumen.

Créteil als Imaginationsraum

Agnès Riva wurde 1971 in Charenton-le-Pont geboren wurde und wuchs in Alfortville auf. 1 Ihr Werdegang ist eng mit der urbanistischen Entwicklung der Pariser Banlieue verbunden – insbesondere mit der „ville nouvelle“ Créteil, wo sie in den 1990er Jahren ein Jahrzehnt lang lebte. Ihre Romane – Géographie d’un adultère (2018), Ville nouvelle (2020) und Un autre ailleurs (2025) – widmen sich dem Alltag, den Strukturen und den utopischen Versprechen solcher geplanter Städte. Riva ist eine Autorin, die sich gleichermaßen durch politisches Bewusstsein, autobiografische Verankerung und ästhetische Neugier auszeichnet. Ihre Beziehung zu Créteil ist von einem produktiven Paradox geprägt: Sie hat sich dort nie wirklich zuhause gefühlt, doch gerade diese Entfremdung wurde zum Antrieb für ihr literarisches Schaffen. „Je n’ai pas aimé cet endroit mais, quand j’en suis partie, il a commencé à me hanter“, sagt sie rückblickend – Créteil wurde für sie zum Erinnerungs- und Imaginationsraum, den sie in ihren Texten immer wieder durchquert. Zwar empfindet sie die ästhetische und konzeptionelle Dimension der urbanen Experimente in Créteil als „intellectuellement très stimulante“, doch betont sie auch die soziale Kälte und bauliche Unzulänglichkeit, die sie dort als junge Frau erlebt hat. Dennoch bleibt sie überzeugt davon, dass es notwendig ist, „continuer à faire de la politique de la ville, à imaginer des choses“. Diese Spannung zwischen realer Ernüchterung und utopischem Anspruch prägt auch ihre Figuren – so etwa Gilles in Un autre ailleurs, ein idealistischer junger „animateur global“, der in der Frühzeit von Créteil eine bessere, solidarischere Stadtgesellschaft mitgestalten will.

Farbdetails aus Nouveau Créteil

Agnès Rivas Romane bieten eine vielschichtige Erkundung des Themas der „neuen Stadt“, insbesondere der Stadt Créteil, als Bühne für persönliche und gesellschaftliche Entwicklungen. In Un autre ailleurs (2025) liegt der Fokus auf der Entstehungsgeschichte von Neu-Créteil im Jahr 1973, das als eine „Stadt, die gerade aus dem Boden entsteht“ beschrieben wird. Der Protagonist Gilles ist von dieser Modernität fasziniert und sieht sie als „nagelneue Landschaft, Inkarnation der Zukunft“ und als ein Territorium, in dem „alle Utopien noch möglich waren“.

« Personne n’a vécu dans ce coin-là de la ville avant moi et les autres pionniers », se répétait-il en traversant le pont, se plaisant à s’imaginer en train de cheminer vers un brouillon, une épure, un territoire où il serait permis, justement parce qu’il avait surgi de nulle part, de faire fi du passé et de s’affranchir de toute règle. […] « À espace neuf, homme neuf ! » décréta-t-il, avant de serrer plus fort la main d’Aline dans la sienne.

Agnès Riva, Un autre ailleurs, Gallimard, 2025.

„Niemand hat vor mir und den anderen Pionieren in diesem Teil der Stadt gelebt”, wiederholte er sich, als er die Brücke überquerte, und stellte sich gerne vor, wie er auf einen Entwurf, einen Rohentwurf, ein Gebiet zusteuerte, wo es ihm gerade deshalb, weil er aus dem Nichts aufgetaucht war, erlaubt sein würde, die Vergangenheit zu ignorieren und sich von allen Regeln zu befreien. […] „Neuer Raum, neuer Mensch!“, verkündete er und drückte Alines Hand fester in seiner.

Hier wird das zentrale utopische Ideal des Romans deutlich. Gilles sieht Créteil als einen „Entwurf, eine Skizze, ein Territorium, wo es erlaubt wäre, gerade weil es aus dem Nichts entstanden ist, die Vergangenheit zu ignorieren und sich von allen Regeln zu befreien“. Seine begeisterte Erklärung „Neuer Raum, neuer Mensch!“ fasst die Überzeugung zusammen, dass die neu gebaute Stadt eine tabula rasa darstellt, die es den „Pionieren“ ermöglicht, eine völlig neue Existenz und Gemeinschaft fernab alter Konventionen zu schaffen. Gilles erklärt: „Neuer Raum, neuer Mensch!“. Er unterstützt aktiv die „Pioniere“ dabei, eine Gemeinschaft in diesem visionären Stadtprojekt aufzubauen. Géographie d’un adultère (2017) spielt ebenfalls in Créteil, wobei das Novotel als „neues Hotel“ in einer „ständig im Bau befindlichen Stadt“ dient und Emas persönliche Suche nach einem „Anderswo“ für ihre heimliche Beziehung verkörpert. Emas Kindheitserinnerungen verbinden Créteil mit einem „unvollendeten Raum, einer Geometrie des Anderswo“, was die Rolle der Stadt als Kulisse für Begierde und die Sehnsucht nach größerer Intimität unterstreicht.

Brutalist Paris: Les Choux de Créteil

Ville nouvelle (2020) verlagert die Perspektive in die frühen 1990er Jahre, wo Chrystelle in eine Wohnung aus den 1970er Jahren in einer neuen Stadt zieht, die als „innovativ“ und das „Glück des Lebens“ versprechend präsentiert wird. Ihr Vater, ein Bauarbeiter, betrachtete diese Gebäude als „echte Kunstwerke“, die darauf ausgelegt waren, Familien mit bescheidenem Einkommen und Einwanderer unterzubringen. Chrystelle nimmt die Idee von „großen Räumen, wo sich Menschen treffen und austauschen können“, zunächst begeistert auf und empfindet den Panoramablick als Luxus. Sie erlebt jedoch später eine Desillusionierung mit dem starren, teils „gewalttätigen Urbanismus“ der Stadt und hinterfragt, ob sie jemals wirklich eine „Seele“ entwickeln kann. Dieses Werk thematisiert die Kluft zwischen den utopischen Idealen der Stadtgründer und der komplexen Realität des Lebens in diesen geplanten Umgebungen. Zusammengenommen bieten Rivas Romane eine facettenreiche „Geografie“ dieser neuen urbanen Räume, wobei Un autre ailleurs die ursprüngliche optimistische Vision und Entstehung vertieft, Géographie d’un adultère die sich entwickelnde neue Stadt als symbolische Landschaft für eine Affäre und persönliche Sehnsucht nutzt, und Ville nouvelle die Herausforderungen und Enttäuschungen untersucht, die spätere Generationen in diesen geplanten Umgebungen erleben.

« Combien de temps une ville nouvelle reste-t-elle nouvelle ? » s’était-il alors demandé.

Agnès Riva, Un autre ailleurs, Gallimard, 2025.

„Wie lange bleibt eine neue Stadt neu?“, hatte er sich also gefragt.

Riva ist nicht nur Chronistin, sondern auch Architektin einer literarischen Topografie des Alltags, in der Architektur, soziale Beziehungen und persönliche Entwicklung eng verflochten sind. Ihre Romane erkunden die Möglichkeiten von Selbstfindung im urbanen Raum und schreiben der Stadt eine fast mythische Bedeutung zu – als Ort des Scheiterns ebenso wie der Erneuerung. Die Stadt Créteil wird bei ihr zum „laboratoire romanesque“, zur Projektionsfläche für ein „autre ailleurs“ – ein anderes Woanders, das nicht in der Ferne liegt, sondern im Möglichkeitsraum des Bekannten.

Le Corbusier oder Lefebvre

Le Corbusier forderte für die Stadt der Moderne eine radikale Neugestaltung und einen Bruch mit den alten, überkommenen Stadtstrukturen. Seine Visionen, insbesondere die der „Zeitgenössischen Stadt für drei Millionen Menschen“ und der „Strahlenden Stadt“, basierten auf einer tiefgreifenden technologischen Rationalität und einem Glauben an die Effizienz und Schönheit der Moderne. Le Corbusier verachtete die „seelenlosen Straßen“ der alten Städte, die er als „Krebsgeschwüre“ und „Hölle“ bezeichnete, die die Ausbeutung des Menschen widerspiegelten. Er forderte deren umfassenden Abriss und Wiederaufbau. Er sah die Notwendigkeit großer Städte, in denen die Produktion von großen Bürokratien koordiniert werden könnte. So schlug er vor, große Gebiete in den Zentren von Metropolen wie Paris einzuebnen und durch geometrisch angeordnete Wolkenkratzer aus Glas und Stahl zu ersetzen, die als „Befehlszentralen“ für eine technokratische Elite dienen sollten. Später entwickelte er die „Unités“, gigantische, aber egalitäre Wohnhochhäuser, die allen Schichten gleichermaßen Zugang zu Raum und Annehmlichkeiten bieten sollten.

Le Corbusier: Entwürfe zum Plan Voisin

Die Wolkenkratzer sollten den Boden für Parks, Gärten und breite Fußgängerwege freigeben, um die Dichte mit offenem Raum zu verbinden und eine „grüne Stadt“ innerhalb der „Stadt der Türme“ zu schaffen. Er setzte auf Superhighways und „vertikale Straßen“ (wie Aufzüge in Wolkenkratzern), um eine ungehinderte Bewegung und damit die „Geschwindigkeit“ zu ermöglichen, die für den Erfolg einer Stadt entscheidend sei. Industrie, Wohnen und Büros sollten in getrennten, aber effizient miteinander verbundenen Sektoren angesiedelt werden. Innerhalb der Wohnblöcke sollten umfangreiche Gemeinschaftsdienste angeboten werden, wie z.B. Turnhallen, Schwimmbäder, Gemeinschaftsrestaurants, Wäschereien und Kinderbetreuung, um Familien von häuslichen Pflichten zu befreien und ihnen ein reichhaltigeres Leben zu ermöglichen. Le Corbusier glaubte, dass die Stadt von einer zentralen, allmächtigen Autorität geplant und verwirklicht werden müsse, die über den „Zufälligkeiten“ der einzelnen Akteure stehe und Urbanismus als „Chirurgie“ betrachte. Nur so könne die gewünschte Ordnung und Schönheit umgesetzt werden. Seine Entwürfe zeichneten sich durch geometrische Klarheit, reine Formen und einen Fokus auf Beton, Glas und Stahl aus.

Nouveau Créteil: Choux de Créteil und Cathédrale Clocher Créteil

Das „Nouveau Créteil“ der 1970er Jahre kann als ein Versuch verstanden werden, viele dieser modernistisch-utopischen Ideale in die Realität umzusetzen, wenn auch mit den üblichen Kompromissen und Herausforderungen des Städtebaus: Créteil wurde als eine „neue Stadt“ in der Pariser Banlieue aus dem Boden gestampft, eine „Inkarnation der Zukunft“, die Gilles bei seiner Ankunft 1973 begeisterte. Es gab eine bewusste Abkehr vom „alten Créteil“ mit seinen traditionellen Strukturen. Die Stadt zeigte innovative und geometrische Formen. Es gab Gebäude in „S“-Form oder als „Maiskolben“ („épis de maïs“), sowie das große, zylindrische Rathaus aus Beton und Glas, das den See überragte. Dies entspricht Le Corbusiers ästhetischen Prinzipien der reinen Formen und der modernen Materialien.

Mille jours pour l’architecture à Créteil

Die Gebäude wurden weit auseinander („très espacés“) gebaut, um den Bewohnern „Platz zum Atmen“ zu geben. Der Bau eines künstlichen Sees mit der Präfektur des Val-de-Marne als markantem Punkt war zentral für das neue Stadtbild. Grüne Korridore und architektonische Elemente wie Arkaden oder Wasserbecken waren geplant, um eine ästhetische Kontinuität zwischen neuen und alten Vierteln zu schaffen. Die Verlängerung der Metrolinie bis Créteil-Université und der Bau von Straßen und Fußgängerbrücken waren wichtige Merkmale, die Créteil mit Paris verbinden sollten. Dies spiegelte Le Corbusiers Fokus auf effiziente Transportwege wider. Die Planung sah eine „rue chaude“ vor, die alle Freizeitmöglichkeiten wie Cafés, Restaurants, Nachtclubs und Kinos konzentrieren sollte. Die neue Schule in Créteil wurde mit großen, offenen Höfen, einer Dachterrasse und farbigen Treppenhäusern bewusst für das „Vergnügen der Kinder“ gestaltet, was auf eine Betonung kollektiver Einrichtungen hinweist. Das Krankenhaus Henri-Mondor war ein großer Arbeitgeber und ein zentraler Punkt. Der Bürgermeister trieb das Projekt des „Nouveau Créteil“ mit Energie voran. Mitarbeiter wie Gilles wurden explizit zur „animation globale“ eingestellt, um eine Gemeinschaft in dieser „entwurzelten“ Bevölkerung aufzubauen und die Bedürfnisse der „Pioniere“ zu befriedigen. Dies zeigt den Versuch einer von oben gesteuerten sozialen Gestaltung. Luc der Urbanist war stolz darauf, „ästhetische Kontinuität“ zwischen alten und neuen Vierteln zu schaffen. Die Stadt wurde als Ort dargestellt, an dem „alles realisierbar“ schien, einschließlich eines Neuanfangs für das Leben. Ema empfand Créteil als Kind als eine „Geometrie des Anderswo“ und „Idee eines Anderswo, das sie zum Träumen brachte“.

À l’intérieur, sous un plafond rouge et bleu décoré par Vasarely, une série de panneaux présentait le projet du Nouveau Créteil, depuis l’idée qu’avait eue un jour le maire de construire sur un terrain désespérément plat et sablonneux, jusqu’aux réalisations en cours et à venir. Gilles ne tarda pas à y trouver matière à défendre son projet. — Regarde comme les constructions sont originales, dit-il à sa mère en lui montrant les différents quartiers de la ville constitués d’immeubles aux formes géométriques, entourés d’équipements collectifs et de mobilier urbain assortis. Et il y aura même une « rue chaude », continua-t-il ravi.

Agnès Riva, Un autre ailleurs, Gallimard, 2025.

Im Inneren, unter einer von Vasarely gestalteten rot-blauen Decke, präsentierte eine Reihe von Tafeln das Projekt „Nouveau Créteil“, von der Idee des Bürgermeisters, auf einem hoffnungslos flachen und sandigen Gelände zu bauen, bis hin zu den laufenden und zukünftigen Realisierungen. Gilles fand schnell Argumente, um sein Projekt zu verteidigen. „Schau mal, wie originell die Gebäude sind“, sagte er zu seiner Mutter und zeigte ihr die verschiedenen Stadtteile, die aus geometrisch geformten Gebäuden bestehen, umgeben von öffentlichen Einrichtungen und passendem Stadtmobiliar. „Und es wird sogar eine ‚lebhafte Straße‘ geben“, fuhr er begeistert fort.

Das Informationszentrum ist der zentrale Ort, an dem die Vision von Nouveau Créteil präsentiert wird. Die Gestaltung durch Vasarely mit einem „plafond rouge et bleu“ (roten und blauen Decke) unterstreicht den modernen, künstlerischen und avantgardistischen Anspruch der Stadtplaner. Gilles nutzt die dort ausgestellten Pläne, um seiner Mutter die „originales“ und „géométriques“ Gebäude sowie die durchdachte Integration von Gemeinschaftseinrichtungen und Stadtmobiliar zu zeigen. Dies verdeutlicht den ganzheitlichen Ansatz der Stadtplanung, bei dem Ästhetik und Funktion Hand in Hand gehen. Die begeisterte Erwähnung einer „rue chaude“ (lebhaften Straße) mit Cafés, Restaurants, einem Nachtclub und Kinos verspricht ein pulsierendes Nachtleben und soziale Infrastruktur, die die Stadt attraktiv machen und das Klischee der „Schlafstadt“ widerlegen soll. Für Gilles ist dies ein Beweis für die Überlegenheit und den innovativen Geist des Neuen Créteil im Vergleich zu seiner alten Heimat Paris.

Nouveau Créteil entstand als Modellprojekt der französischen Stadtplanung in den 1960er Jahren, um auf die städtebaulichen Herausforderungen der Nachkriegszeit zu reagieren. Als Créteil 1965 zum Präfektursitz des neu geschaffenen Départements Val-de-Marne ernannt wurde, legte dies den Grundstein für eine umfassende Transformation. Unter der politischen Führung von Bürgermeister Pierre Billotte und der architektonischen Gestaltung von Pierre Dufau sollte eine „echte Stadt“ geschaffen werden, die Arbeiten, Wohnen und Freizeit vereint, im Gegensatz zu den reinen Funktionssiedlungen. Billotte gründete die SEMAEC als gemischtwirtschaftliche Gesellschaft zur Umsetzung. Dufau lobte Créteil als „faszinierendes Projekt“ mit 400 Hektar „freiem Feld“ in der Nähe von Paris, eine seltene Gelegenheit, modernistische Planungsprinzipien ohne historische Zwänge umzusetzen. Konzeptionell basierte das Nouveau Créteil auf den funktionalistischen Prinzipien der Charta von Athen von 1933, die wie erwähnt eine strikte Trennung von Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr vorsah. Es wurde als Zone à urbaniser en priorité (ZUP) klassifiziert, ein Verfahren, das große Siedlungen inklusive kollektiver Einrichtungen wie Schulen und soziokultureller Zentren aus dem Nichts schaffen sollte. Ein charakteristisches Element war der „urbanisme sur dalle“ (Plattenbau-Urbanismus), bei dem Gebäude auf Betonplattformen errichtet wurden, die durch Fußgängerbrücken verbunden waren. Zudem wurde großer Wert auf Landschaftsarchitektur gelegt, mit einem künstlichen See von 60 Hektar und einem 200 Hektar großen Departementpark als grüne Lunge. Das Projekt wollte sich bewusst von den reinen „Villes Nouvelles“ abgrenzen und eine „ville neuve“ im Sinne Billottes sein, die Monotonie vermeiden sollte.

Habiter statt habitat?

Trotz der Visionen einer „lebensfrohen“ Stadt sah man sich mit einer „entwurzelten“ Bevölkerung konfrontiert. Es gab das Gefühl, „eingesperrt“ zu sein, trotz der offenen Räume, da die Straßen einen „circuit qui mène d’un programme immobilier à un autre“ bildeten. Berichte über hohe Suizidraten im Zusammenhang mit den neuen Bauten wurden erwähnt. Soziale Probleme wie Jugendkriminalität und Bandenbildung traten in den 1990er Jahren auf, was zu einer Suche nach Sündenböcken führte. Nicht alles war das Ergebnis reiner utopischer Planung; pragmatische Gründe wie Platzmangel führten dazu, dass eine Schulhof auf dem Dach eines Gebäudes platziert wurde. Alte Bäume wurden von einer Baustelle umgesiedelt und neu gepflanzt, anstatt sie zu erhalten. Die anfängliche Knappheit an Annehmlichkeiten, wie frisches Brot, zwang die Bewohner, ins „alte Créteil“ zu reisen. Während Le Corbusier einen vollständigen Abriss der alten Stadt favorisierte, existierte in Créteil eine Koexistenz von „altem“ und „neuem“ Créteil. Der alte Markt und das Kino blieben wichtige Anlaufpunkte, bis die neuen Einrichtungen entstanden. Trotz der Vision einer klassenlosen Stadt Le Corbusiers (spätere Unités), gab es in Créteil Unterschiede; Pauls Haus war prächtiger als das von Ema.

Créteil war somit in vielerlei Hinsicht eine materielle Manifestation der modernistisch-utopischen Stadtplanungsprinzipien Le Corbusiers, insbesondere in Bezug auf die neue, geometrische Architektur, die Schaffung von Grünflächen und künstlichen Seen, die fortschrittliche Infrastruktur und den starken Willen einer zentralen Planung, eine ideale moderne Stadt zu schaffen. Jedoch offenbarte die Realität in Créteil auch die Spannungen zwischen utopischen Idealen und den sozialen Herausforderungen des urbanen Lebens, die Le Corbusiers rein technokratische Visionen oft nicht adressierten. Auch angesichts solcher ambitionierter Ziele stieß das Nouveau Créteil auf Kritik. Philosophen wie Henri Lefebvre entwickelten als Reaktion auf die sozialen Probleme in solchen neuen Siedlungen ihr Konzept des „Rechts auf Stadt“ und kritisierten die „Trostlosigkeit der neuen Trabantensiedlungen“ und den Verlust der Stadt als Ort kreativer Schöpfung. Der Begriff der „Sarcellisation“ spiegelte die allgemeine Kritik an den französischen Großsiedlungen wider. Auch praktische Probleme, wie Feuchtigkeit und zu große Wohnungen in den „Choux de Créteil“, zeigten die Kluft zwischen Vision und Realität auf. Dennoch wurde das Ensemble „Les Choux de Créteil“ 2008 als „Kulturerbe des 20. Jahrhunderts“ ausgezeichnet, was die Bedeutung des Projekts als Symbol der französischen Architektur der 1970er Jahre bestätigt. Heute steht Créteil vor neuen Herausforderungen der Stadterneuerung und entwickelt nachhaltige Projekte wie den „Baum des Lebens“, der Architektur und Natur verbindet.

Henri Lefebvres Schriften reagieren auf Projekte wie Créteil als paradigmatische Beispiele für die von ihm kritisierte moderne Stadtentwicklung, die er als Verlust der Stadt als Ort kreativer Schöpfung zugunsten einer bloßen industriellen Verwertungslogik betrachtet. Er zieht eine scharfe Trennung zwischen dem aktiven, gelebten „Wohnen“ (habiter) und dem geplanten, funktionalen „Wohngebiet“ (habitat), wobei letzteres die von ihm abgelehnte, von Technikern und Spezialisten von oben herab durchgesetzte Praxis des „Urbanismus“ repräsentiert. Créteil, als auf einem „verzweifelt flachen und sandigen Gelände“ geplante „neue Stadt“ in der Pariser Banlieue, verkörpert diese Top-down-Planung und funktionale Trennung. Der Bürgermeister konzipiert sie als „Musterstadt“ und initiiert sogar eine „globale Animation“, um die Bevölkerung zu integrieren, was Lefebvre als reine Zustimmung zu Entscheidungen zum niedrigsten Preis anstatt echter Selbstverwaltung kritisieren würde. Die Stadt ist von klaren funktionalen Zonen wie Bürogebäuden, Einkaufszentren und Wohnsiedlungen geprägt, wobei die „glückliche Lebensweise“ zu einem Werbeversprechen wird, das den Konsum und den Tauschwert in den Vordergrund rückt. Lefebvre sähe in den Einkaufszentren von Créteil lediglich einen „faden, verzerrten Abklatsch“ des ehemaligen, vielschichtigen Stadtkerns.

Die Auswirkungen dieser habitat-Ideologie auf die Bewohner Créteils spiegeln Lefebvres Befürchtungen wider, dass die allgemeine Durchsetzung der Ware die Stadt zerstört und zu einem Verlust des authentischen urbanen Lebens führt. Viele Bewohner empfinden die Stadt als „eingeengt und deprimierend“ und ihr Alltag ist oft fragmentiert in separate Bereiche wie Arbeit, Transport und Privatleben. Traditionelle Treffpunkte wie Märkte oder Bistros fehlen weitgehend, stattdessen wird der Supermarkt zum belebtesten Ort. Aline, eine Figur in der Erzählung, beschreibt ihre Wohnung zunächst funktional zum Essen und Schlafen, ohne eine tiefere Verbundenheit im Sinne von Lefebvres „Wohnen“. Die ursprüngliche Begeisterung, „aus dem Nichts“ etwas Neues zu schaffen und sich von alten Regeln zu befreien, wie Gilles es empfindet, weicht der Erkenntnis, dass das Landschaftsbild nicht mehr so weitläufig erscheint und die Stadt zur Summe kleiner, isolierter Elemente wird. Luc, der Urbanist, erlebt am Ende eines Bauprojekts eine Melancholie, die Lefebvres Klage über die Ersetzung des „Werks“ durch das „Produkt“ seitens der Bourgeoisie nahekommt.

Sa voix trahit une certaine mélancolie, la même que celle qu’éprouvait le père de Chrystelle à la fin d’un chantier. Il traînait ses guêtres dans l’appartement, jusqu’à ce qu’un nouveau projet vienne le remobiliser. Il entrait alors dans une phase d’ébullition et pouvait veiller tard le soir, accaparé par des problèmes techniques pour lesquels il s’efforçait de trouver la meilleure solution. Elle préférait le voir comme ça, même si le monde entier semblait alors disparaître autour de lui.

Agnès Riva, Ville nouvelle, Gallimard, 2020.

Seine Stimme verriet eine gewisse Melancholie, dieselbe, die Chrystelles Vater am Ende einer Baustelle empfand. Er hing in der Wohnung herum, bis ein neues Projekt ihn wieder mobilisierte. Dann geriet er in eine Phase der Hochstimmung und konnte bis spät in die Nacht wach bleiben, vertieft in technische Probleme, für die er die beste Lösung suchte. Sie sah ihn lieber so, auch wenn die ganze Welt um ihn herum zu verschwinden schien.

Lucs Reaktion offenbart eine Leere oder Unzufriedenheit, die über die bloße Fertigstellung eines Projekts hinausgeht und auf eine tiefere, existenzielle Ebene verweist. Lefebvre argumentiert, dass die Bourgeoisie, im Zuge der Industrialisierung und der Ausweitung des Tauschwerts, das ‚Werk‘ durch das ‚Produkt‘ ersetzt hat. Ein Werk im Lefebvre’schen Sinne ist eine kreative Schöpfung, die den Gebrauchswert und das soziale Leben in den Vordergrund stellt und ein Gefühl der Aneignung und Teilhabe ermöglicht. Es ist die Stadt als Kunstwerk, das nur durch die befreite urbane Praxis der Vielen entstehen kann. Das Produkt hingegen ist das Ergebnis einer rein ökonomischen und funktionalen Produktion, bei der die Stadt zu einem Mittel zur Organisation von Produktion und Konsum wird. Wo die Ausbeutung an die Stelle der Unterdrückung tritt, verschwindet die schöpferische Fähigkeit, und der Begriff der ‚Schöpfung‘ verblasst oder entartet. Lefebvre sah den Urbanismus selbst als eine Ideologie und Praxis, die von Technikern und Spezialisten von oben herab durchgesetzt wird, anstatt aus einem umfassenden politischen Bewusstsein heraus zu entstehen. Er kritisiert, dass der Tauschwert den Gebrauchswert nahezu auslöscht und dadurch die Stadt selbst zerstört.

Créteil, als ’neue Stadt‘ von Grund auf geplant und gebaut, ist ein exemplarisches Produkt dieser von Lefebvre kritisierten Entwicklung. Die Stadtplanung dort ist auf funktionale Trennung, Effizienz und Verwertungslogik ausgerichtet, wie der Bau von Bürokomplexen und Einkaufszentren zeigt, die Lefebvre lediglich als einen ‚faden, verzerrten Abklatsch‘ eines lebendigen Stadtkerns bezeichnen würde. Luc als Urbanist und sein Vater als Bauarbeiter sind Teil dieses Systems. Obwohl sie physische Strukturen erschaffen, fehlt dem fertigen Produkt oft die tiefere Bedeutung und der Sinn des Werks – jene Gleichzeitigkeit und Begegnung, die ein authentisches urbanes Leben ausmachen. Lucs Melancholie am Ende eines Projekts, seine Notwendigkeit, sich sofort einem neuen Problem zu widmen, um ‚re-mobilisiert‘ zu werden, ist ein direktes Echo dieser Leere. Es ist die Frustration, dass die städtische Realität zu einem zerstückelten, unverbundenen Gebilde wird, das die kreativen Potenziale und das „Recht auf Stadt“ – das Recht auf ein erneuertes urbanes Leben und die Aneignung von Raum und Zeit – nicht zulässt oder sogar aktiv zerstört. Diese Melancholie ist somit ein Symptom des von Lefebvre diagnostizierten Verlusts der Stadt als Werk zugunsten des austauschbaren Produkts.

Trotz dieser dominanten Tendenzen des geplanten Urbanismus gibt es in Créteil jedoch auch Elemente des Widerstands und der Aneignung, die Lefebvres Forderung nach einem „Recht auf Stadt“ aufgreifen. Die Bewohner äußern konkrete Bedürfnisse wie mehr Kinderbetreuungsplätze, einen Markt und eine U-Bahn-Anbindung, was den Wunsch nach Zentralität und umfassenderen städtischen Infrastrukturen unterstreicht. Gilles‘ Mission als „Animateur“ ist es, „Gemeinschaft zu bilden“ und die „Pioniere“ zu ermutigen, eigene Vorschläge für die Stadt einzubringen. Aline findet durch ihr Schreiben und ihre politische Aktivität (z. B. gegen den Krieg) einen Weg, ihre eigene Existenz und „Stimme“ in der Stadt zu behaupten. Chrystelle sucht die Nähe zu kommunistischen Aktivisten, die das System kritisieren und außerhalb offizieller Kanäle agieren, und findet dort eine Form von Gemeinschaft, die ihr der Parteiapparat allein nicht bieten kann. Diese vielfältigen widerständigen Praktiken, die dem zunehmenden Verwertungsdruck entgegenwirken, zeigen, dass die von Lefebvre beschriebene „urbane Revolution“ nicht nur eine Idee, sondern eine reale Entwicklung ist, in der das Recht auf Aneignung und auf ein erneuertes urbanes Leben zum Ausdruck kommt.

Narrativer Urbanismus

In den Romanen werden diese Hoffnungen und Visionen aus unterschiedlichen Perspektiven lebendig. In Un autre ailleurs ist Gilles, fasziniert von der Modernität des Nouveau Créteil, zunächst „verblüfft“ vom Quartier La Haye-aux-Moines und denkt: „Das gab es noch nie“. Für ihn ist die neue Stadt die „Inkarnation des Zukunft“, ein „ganz neues Landschaftsbild“, und selbst die leeren Flächen versprechen „neue zukünftige Projekte“. Er empfindet Créteil als einen Ort, an dem „alles möglich schien, einschließlich eines neuen Lebens“ , und der Slogan „Neuer Raum, neuer Mensch!“ spiegelt diese Aufbruchsstimmung wider. Die Visionen umfassen eine „globale Animation“, um eine „Gemeinschaft zu bilden“ in einer Stadt aus entwurzelter Bevölkerung, sowie die Schaffung einer „rue chaude“ mit Cafés, Restaurants und Kinos, die Paris „völlig überholt“ erscheinen lässt. Auch die Maison des Arts et de la Culture (MAC) sollte die „Seele der Stadt“ werden, ein Ort der Zuflucht, Kommunikation und Entwicklung von kritischem Geist. Diese anfängliche Begeisterung für das scheinbar grenzenlose Potenzial der neuen Stadt ist omnipräsent.

In Ville nouvelle werden die anfänglichen Träume und Hoffnungen durch die Erfahrungen von Chrystelles Eltern und Luc dargestellt. Chrystelles Eltern werden von Werbetafeln angezogen, die die neue Stadt als „innovativ“, „dynamisch“ und „Lebensglück garantierend“ beschreiben. Ihr Vater, der selbst im Bauwesen tätig war, ist stolz darauf, dass er nach dem Krieg „Hunderte von Familien mit geringem Einkommen, auch Einwanderer“ untergebracht hat und sagt: „Die Stadt haben wir aus dem Sand geholt“. Diese Aussage unterstreicht die Vision einer sozialen Utopie und der Schaffung von Chancengleichheit. Sie hofften, dass ihre Enkelkinder dank der Spielplätze „Platz zum Spielen“ haben würden. Auch Luc, selbst Urbanist, ist motiviert, der Stadt eine „wahre Identität“ zu verleihen, was seinen Glauben an die sinnvolle Gestaltungskraft des Urbanismus zeigt. Chrystelle selbst ist fasziniert von der Idee neuer „Kompetenzen, die lokalen Gewalten zugeschrieben werden“ und einer „neuen Form der Demokratie“ . Diese Romane fangen somit die kollektive und individuelle Hoffnung ein, dass die neuen Städte nicht nur funktional, sondern auch sozial fortschrittlich und gemeinschaftsbildend sein würden. Selbst in „Géographie d’un adultère“ findet sich diese Idee der unbeschriebenen Möglichkeiten wieder, wenn Ema Créteil als „Nirgendwo“ beschreibt, ein „Verflechten von Linien und Kurven, einem unfertigen Raum, einer Geometrie des Anderswo“ , und ihr leeres Appartement als „vielversprechend“ empfindet, was die Vorstellung einer tabula rasa für persönliche und städtische Neuanfänge aufgreift.

Agnès Rivas Romane erkunden das Thema der „neuen Stadt“, insbesondere Créteil, als Bühne für persönliche und gesellschaftliche Entwicklungen. In Un autre ailleurs (2025) liegt der Fokus auf der Entstehungsgeschichte von Neu-Créteil im Jahr 1973, das als eine „Stadt, die gerade aus dem Boden entsteht“ beschrieben wird. Der 23-jährige Protagonist Gilles ist von dieser Modernität fasziniert und entdeckt das Viertel Haye-aux-Moines als einen Ort mit Residenzen unterschiedlicher Größe und Formen, die wie eine Kasbah angeordnet sind und über modernste Materialien verfügen. Für ihn ist die Stadt eine „nagelneue Landschaft, Inkarnation der Zukunft“, und ihre Leerräume versprechen neue Realisierungen. Gilles sieht Créteil als ein „Entwurf, eine Skizze, ein Territorium, wo es erlaubt wäre, gerade weil es aus dem Nichts entstanden ist, die Vergangenheit zu ignorieren und sich von allen Regeln zu befreien“, was ihn zu der Erklärung veranlasst: „Neuer Raum, neuer Mensch!“. Er unterstützt aktiv die „Pioniere“ dabei, eine Gemeinschaft in diesem visionären Stadtprojekt aufzubauen, und ist überzeugt, dass Créteil niemanden gleichgültig lassen kann. Die Fragen, die der Roman aufwirft – „Wann beginnt eine Stadt? Wann beginnt ein Leben? Und welche Kluft besteht zwischen unseren Idealen und der Realität?“ – verdeutlichen die tiefere Auseinandersetzung mit den utopischen Möglichkeiten dieser neuen urbanen Räume. Gilles ist so sehr in diese Vision vertieft, dass er die Idee hegt, ein Objekt in der Stadt zu verstecken, wie es Zimmerleute früher taten, als Botschaft für zukünftige Generationen.

Die narrative Erschließung des Urbanismus in den drei Romanen schwankt zwischen Ideal, Utopie und Desillusionierung. Als Ideal oder Utopie wird Créteil in Un autre ailleurs dargestellt, wo Gilles die Stadt als „nagelneue Landschaft, Inkarnation der Zukunft“ sieht, ein Ort, an dem „alle Utopien noch möglich waren“ und wo man die Vergangenheit ignorieren und sich von Regeln befreien konnte. Auch die Architektur, wie die S-förmigen Gebäude oder die kornährenförmigen Residenzen, verkörpert diese visionäre Ästhetik. Selbst die offen gestaltete Schule mit ihrem Panoramablick weckt die Hoffnung, dass die Kinder dort „größere Träume“ entwickeln könnten. In Ville nouvelle (2020) teilt Chrystelles Vater, ein Bauarbeiter, diesen Optimismus, indem er die Gebäude als „echte Kunstwerke“ bezeichnete, die Familien mit bescheidenem Einkommen und Einwanderer aufnehmen sollten. Chrystelle selbst ist anfangs begeistert von der Vorstellung großer Räume, in denen sich Menschen treffen und austauschen können, und empfindet den Panoramablick von ihrer Wohnung als Luxus. In Géographie d’un adultère (2017) wird Créteil in Emas Kindheitserinnerungen als „unvollendeter Raum, eine Geometrie des Anderswo“ beschrieben, was ihre persönliche Suche nach Intimität und „Anderswo“ für ihre heimliche Beziehung widerspiegelt. Der Geruch des Neuen in den Novotel-Hotels ihrer Kindheit ist für sie mit der Idee der Zukunft verbunden.

Mon adolescence à Créteil

Die Desillusionierung in Bezug auf den urbanen Raum zeigt sich deutlich in Ville nouvelle, wo Chrystelle die anfänglich als „innovativ“ und „Glück des Lebens“ versprechende Stadt später als starren, teilweise „gewalttätigen Urbanismus“ empfindet. Bewohner klagen über fehlende Sonne und das Gefühl, „eingesperrt“ zu sein, oder dass die Stadt „nicht der Traum“ ist. Luc erkennt, dass sich die Wohnung nicht wie „Zuhause“ anfühlt und dies auch durch Renovierung nicht ändern wird. In Un autre ailleurs erleben Gilles und seine Mutter ebenfalls eine Desillusionierung; die Mutter findet die Stadt nicht vielversprechend und bevorzugt Paris, während die Bewohner in einer Versammlung klagen, dass Créteil keine „echte Stadt“ sei, sich ständig verändere und Grünflächen zerstört würden. Berichte von Selbstmordversuchen und das Gefühl, dass Menschen sich nicht an andere binden, weil sie bald wieder gehen könnten, tragen zur Ernüchterung bei. Gilles selbst verliert den „Glanz des ersten Tages“ und die ursprüngliche „Empfindung von Freiheit und Raum“. In Géographie d’un adultère wird das Appart’hôtel, das Paul und Ema für ihre Treffen nutzen, als „spartanisch“ und von „trockener Neutralität“ beschrieben, und die „Armut der Einrichtung“ wird für Ema unerträglich, nachdem das Treffen nicht ihre Erwartungen erfüllt. Dies symbolisiert eine Desillusionierung mit dem Raum als Ort der erhofften Erfüllung.

Agnès Rivas Romane erforschen so den radikalen Urbanismus neuer Städte als Projekt, das von utopischen Idealen, ästhetischer Faszination und schließlich tiefgreifender Desillusionierung geprägt ist. Der Urbanismus wird dabei nicht nur als physischer Raum, sondern auch als Bühne für menschliche Hoffnungen, Träume und Enttäuschungen narrativ erschlossen.

« C’est du jamais-vu », pensa Gilles ébahi en découvrant face à lui le quartier de la Haye-aux-Moines, un ensemble de résidences, de tailles et de volumes différents, agencées comme une casbah, dotées de terrasses créées çà et là dans les angles par d’habiles décrochés cubiques, et bâties avec des matériaux modernes laissant présager des appartements dernier cri. […] un paysage tout neuf, incarnation du futur, dont les vides mêmes promettaient de nouvelles réalisations à venir.

Agnès Riva, Un autre ailleurs, Gallimard, 2025.

„Das habe ich noch nie gesehen“, dachte Gilles verblüfft, als er vor sich das Viertel La Haye-aux-Moines entdeckte, eine Ansammlung von Häusern unterschiedlicher Größe und Volumen, die wie eine Kasbah angeordnet waren, mit Terrassen, die hier und da in den Ecken durch geschickte kubische Auskragungen geschaffen worden waren, und aus modernen Materialien gebaut, die auf hochmoderne Wohnungen schließen ließen. […] eine völlig neue Landschaft, Verkörperung der Zukunft, deren Leerstellen selbst neue Projekte versprachen.

Der Beginn fängt Gilles‘ anfängliche Ehrfurcht und Faszination für das Neue Créteil ein. Das Viertel Haye-aux-Moines wird als „noch nie dagewesen“ beschrieben, als Ansammlung von Residenzen verschiedener Größen und Formen, die wie eine Kasbah angeordnet sind und über moderne Materialien verfügen. Die Stadt erscheint ihm als „nagelneue Landschaft, Inkarnation der Zukunft“, deren Leerräume sogar „neue Realisierungen“ versprechen. Dieses Verständnis betont die radikale Modernität und die visionäre Ästhetik, die Gilles sofort in ihren Bann zieht und ihm eine grenzenlose Möglichkeit offenbart.

Est-ce qu’on peut vraiment appeler ça une ville ? rétorqua une jeune fille rousse qui devait avoir le même âge que lui. Je veux dire, avec tous ces chantiers, sans trottoirs, ça n’y ressemble pas, ajouta-t-elle, resserrant un peu plus son chandail contre elle. — C’est vrai que cette ville peut être impressionnante, écrasante même, déclara une femme d’une quarantaine d’années… Elle change tout le temps. À l’origine, mon mari et moi sommes venus nous installer à Créteil parce que les espaces verts nous séduisaient, mais en un rien de temps tout a été détruit… Avant, du temps des terrains vagues, la ville me paraissait immense, reprit la jeune fille rousse avec des trémolos dans la voix, mais maintenant que les rues forment un circuit qui mène d’un programme immobilier à un autre, j’ai l’impression d’être enfermée. Et puis c’est triste, tout le monde travaille, les gens ne font que se croiser.

Agnès Riva, Un autre ailleurs, Gallimard, 2025.

Kann man das wirklich eine Stadt nennen? entgegnete ein rothaariges Mädchen, das etwa in seinem Alter sein musste. Ich meine, mit all diesen Baustellen und ohne Bürgersteige sieht es nicht danach aus, fügte sie hinzu und zog ihren Pullover etwas enger um sich. „Es stimmt, diese Stadt kann beeindruckend sein, sogar erdrückend“, erklärte eine Frau um die vierzig. „Sie verändert sich ständig. Ursprünglich sind mein Mann und ich nach Créteil gezogen, weil uns die Grünflächen gefallen haben, aber innerhalb kürzester Zeit wurde alles zerstört …“ Früher, als es noch Brachflächen gab, kam mir die Stadt riesig vor“, fuhr das rothaarige Mädchen mit zitternder Stimme fort, „aber jetzt, wo die Straßen einen Kreis bilden, der von einem Bauprojekt zum nächsten führt, fühle ich mich eingesperrt. Und außerdem ist es traurig, alle arbeiten, die Menschen begegnen sich nur flüchtig.

Hier kündigt sich die beginnende Desillusionierung an: Die junge rothaarige Frau hinterfragt, ob Créteil angesichts der ständigen Baustellen und fehlenden Bürgersteige überhaupt als „Stadt“ bezeichnet werden kann, was ein Gefühl der Unfertigkeit und der Abweichung von traditionellen Stadtstrukturen ausdrückt. Die Frau mittleren Alters beklagt die Zerstörung der versprochenen Grünflächen und das Gefühl, „eingesperrt“ zu sein, weil die Straßen nur noch als Verbindungen zwischen Immobilienprojekten dienen. Dies betont die Kluft zwischen den utopischen Versprechen und der als erdrückend empfundenen Realität, in der menschliche Begegnungen oberflächlich bleiben.

Rien ne manquait dans le décor, à part peut-être le manège publicitaire à tête de girafe qu’on avait dû déplacer devant un autre appartement témoin, dans un quartier plus récent, et pourtant – était-ce l’influence d’Aline ? – Gilles ne retrouvait plus l’éblouissement du premier jour, cette sensation de liberté et d’espace, qui l’avait saisi à son arrivée à Créteil. Non, le paysage ne lui semblait plus aussi vaste, et, au lieu d’en avoir une impression d’ensemble, il ne discernait plus qu’une multitude de petits éléments s’ajoutant les uns aux autres : fenêtres, murs, volets, portes, panneaux, comme s’il était à l’intérieur du jeu pour enfants « la Maison », qui reconstituait l’aspect extérieur du quartier au fond de la cour de l’école.

Agnès Riva, Un autre ailleurs, Gallimard, 2025.

Es fehlte nichts in der Kulisse, abgesehen vielleicht von dem Werbekarussell mit dem Giraffenkopf, das man vor eine andere Musterwohnung in einem neueren Viertel hatte versetzen müssen, und doch – war es Alines Einfluss? – empfand Gilles nicht mehr das Staunen des ersten Tages, jenes Gefühl von Freiheit und Weite, das ihn bei seiner Ankunft in Créteil ergriffen hatte. Nein, die Landschaft erschien ihm nicht mehr so ausgedehnt, und statt eines Gesamteindrucks nahm er nur noch eine Vielzahl kleiner Elemente wahr, die sich aneinanderreihten: Fenster, Mauern, Fensterläden, Türen, Schilder – als befände er sich im Kinderspiel ‚Das Haus‘, das im hinteren Teil des Schulhofs das äußere Erscheinungsbild des Viertels nachbildete.“

Dieses Passage markiert einen Wendepunkt in Gilles’ Wahrnehmung. Der anfängliche „Eindruck des Glanzes“ und die „Empfindung von Freiheit und Raum“, die ihn bei seiner Ankunft in Créteil ergriffen hatten, sind verschwunden. Statt einer weiten Landschaft nimmt er nur noch eine Ansammlung kleiner, isolierter Elemente wahr: Fenster, Mauern, Fensterläden, Türen, Schilder. Der Vergleich mit dem Kinderspielzeug „La Maison“, einer Nachbildung des Viertels, deutet auf einen Verlust der organischen Einheit und eine Reduzierung des großen urbanen Projekts auf ein künstliches Konstrukt hin. Die Stadt, einst ein Symbol grenzenloser Möglichkeiten, wird zur bloßen Ansammlung von Teilen, was Gilles’ wachsende Ernüchterung widerspiegelt.

In Un autre ailleurs fantasiert Aline von Guadeloupe/Martinique als einem „Anderswo“, einem Ort der Sinnlichkeit und der Flucht aus der Banalität, wo sie ein „neues, unbeschriebenes Blatt“ aufschlagen könnte. Für Justin, einen Antillaner in Créteil, ist die Emigration jedoch eine Notwendigkeit und keine romantische Flucht. Die „Maison“, ein Spielzeug im Maßstab der Residenzen, dient Gilles dazu, das Viertel spielerisch zu betrachten, und er stellt fest, dass es sich manchmal „realer“ anfühlt als die eigentliche Stadt.

Auf Basis der drei Romane von Riva lässt sich durchaus ein Pamphlet gegen die „neue Stadt“ schreiben. Die Quellen bieten zahlreiche Argumente und narrative Kontexte, die eine kritische Perspektive auf die Planung, das Leben und die psychologischen Auswirkungen solcher urbanen Projekte beleuchten. Die neue Stadt wird als ein Ort beschrieben, der von generischer und austauschbarer Architektur geprägt ist. Ema erlebt das Appart’hotel in Créteil als „standardisiert und komfortabel“ und dessen Umgebung erinnert eher an „Schaltkreise, die Schulen auf ihrem Schulhof installieren, um für Verkehrssicherheit zu sensibilisieren“ (Géographie d’un adultère). Dies unterstreicht die Idee einer durchdachten, aber entmenschlichten Funktionalität. Lucs Beobachtung der „zwanghaft ausgerichteten geometrischen Muster“ seiner Residenz (Ville nouvelle) erinnert ihn an Jacques Tatis Film Playtime und lässt ihn fragen, wie man „die Fantasie von Menschen anregen [kann], die in Kästen gesteckt werden“ (Ville nouvelle).

Jacques Tati, Playtime (1967, dt.: Tatis herrliche Zeiten)

Die Wohnanlagen in den neuen Städten sind mit strikten Regeln verbunden, wie dem Verbot, Wäsche auf dem Balkon zu trocknen, oder der Nutzung der Aufzüge für Umzüge (Ville nouvelle). Dies schränkt die Freiheit der Bewohner ein. Dies deutet auf einen Verlust von Individualität und kreativem Raum hin. Die anfängliche Bewunderung Gilles‘ für die „noch nie da gewesene“ Architektur des Nouveau Créteil mit seinen Gebäuden in „S-Form oder als Maiskolben“ (Un autre ailleurs) weicht später der Erkenntnis, dass die Stadtlandschaft aus „einer Vielzahl kleiner Elemente“ besteht, die sich nur aneinanderreihen, was das Gefühl der Einheit und Weite nimmt. Er verliert die anfängliche „Sensation von Freiheit und Raum“ (Un autre ailleurs) und das Gefühl des „Nie-Gesehenen“ weicht einem „standardisierten und komfortablen Jetzt“ (Géographie d’un adultère). Die anfänglichen Versprechen der Stadtplanung, wie sie in Werbeanzeigen für „innovative“, „dynamische“ Städte, die „Lebensglück“ garantieren, zu sehen sind, erweisen sich als Illusion (Ville nouvelle). M. Julien, der stellvertretende Bürgermeister, enthüllt die „ursprünglichen Lügen“ der Stadt: Er kritisiert die „experimentelle“ Stadt und „Modellstadt“ und die „anarchische Architektur“ und es wird erwähnt, dass Bäume von einer Autobahnbaustelle umgepflanzt wurden (Un autre ailleurs).

Wohnen als Aneignung

Die Schlussfolgerung von Agnès Rivas Roman Un autre ailleurs lässt sich im Lichte von Henri Lefebvres Schriften als vielschichtige Reflexion über das Scheitern modernistischer Stadtutopien und die gleichzeitige, oft subversiv gelebte Suche nach dem „Recht auf Stadt“ interpretieren. Die Auflösung des Romans offenbart die tiefe Enttäuschung und Melancholie der Charaktere, die die Kluft zwischen den utopischen Versprechen Créteils und der gelebten Realität erfahren. Luc, der Urbanist, erlebt am Ende eines Bauprojekts eine Melancholie, „die gleiche, die Chrystelles Vater am Ende einer Baustelle empfand“. Dies spiegelt Lefebvres Klage über die Ersetzung des „Werks“ (einer kreativen, vom Gebrauchswert geprägten Schöpfung) durch das „Produkt“ (einer funktionalen, vom Tauschwert bestimmten Herstellung) wider. Lucs Bedürfnis, sich sofort einem neuen Projekt zu widmen, um „remobilisiert“ zu werden, deutet darauf hin, dass das fertige „Produkt“ der geplanten Stadt keine dauerhafte Erfüllung bietet. Seine letztendliche Entscheidung, die Pariser Region für eine „kleinere und weniger urbanisierte Stadt“ zu verlassen, unterstreicht diese persönliche und professionelle Erschöpfung mit den großangelegten, letztlich aber unerfüllten urbanen Projekten, die Créteil als „Musterstadt“ präsentieren, aber von Bewohnern als „eingeengt und deprimierend“ empfunden werden.

Trotz der allumfassenden Präsenz des geplanten „habitat“ (Wohngebiet als abgegrenzte Zone) in Créteil zeigt der Roman die beharrliche, oft subtile Suche der Charaktere nach dem „habiter“ (dem aktiven, gelebten Wohnen und der Aneignung). Aline, die ursprünglich skeptisch gegenüber der „neuen Stadt“ ohne Bürgersteige und „mit all diesen Baustellen“ ist, entwickelt später den Wunsch, mit Gilles „etwas zu erfinden“. Obwohl sie sich zunächst nach Guadeloupe sehnt, um einen „Neuanfang“ in der Natur zu finden, deutet ihre Entscheidung, bei Luc zu bleiben und Zufriedenheit in ihrer gemeinsamen, wenn auch bescheidenen, Existenz zu finden, auf eine geerdete Form des „habiter“ hin, die persönliche Verbindung über radikale räumliche Umgestaltung stellt. Auch Gilles, anfangs begeistert von der utopischen Vision Créteils, ringt mit den Unvollkommenheiten der Stadt. Sein Wunsch, eine „Spur zu hinterlassen“ oder ein „Objekt“ in der Stadt zu verstecken, „wie die Zimmermänner früher eine Botschaft in den Kern ihres Werks“ einarbeiteten, ist ein Versuch, dem vorwiegend produktorientierten Umfeld eine Bedeutung und den Charakter eines „Werks“ zu verleihen.

Das Ende von Un autre ailleurs stellt somit kein einfaches Scheitern der Utopie dar, sondern eine Neudefinition und Transformation utopischer Hoffnungen. Die abschließende Meta-Aussage des Romans, „Wann beginnt eine Stadt? Wann beginnt ein Leben? Und welche Abgründe zwischen unseren Idealen und der Realität?“, betont die inhärente Spannung zwischen utopischen Idealen und der komplexen urbanen Realität. Créteil, als „neue Stadt“ konzipiert, versprach „eine neue Lebensweise“, führte aber oft zu einem Gefühl der Enge und Depression. Doch die individuellen und kollektiven Akte des „Widerstands“ und der „Aneignung“ – von Alines Schreiben als Ausdruck ihrer Existenz und Stimme bis zu Chrystelles Engagement in politischem Aktivismus und der Suche nach authentischer Gemeinschaft jenseits offizieller Kanäle – verkörpern Lefebvres Konzept des „Rechts auf Stadt“. Dieses Recht ist nicht die Rückkehr zu einer idealisierten Vergangenheit, sondern die Forderung nach einem urbanen Leben in verwandelter und erneuerter Form, das den Gebrauchswert, die Begegnung und die kollektive Schöpfung über den Tauschwert und die funktionale Planung stellt. Die „urbane Revolution“ ist keine bloße Idee, sondern eine „reale Entwicklung“, ein fortwährender Kampf um Aneignung und ein erneuertes urbanes Leben, selbst wenn dieses titelgebende „andere Anderswo“ in den alltäglichen Handlungen der Verbindung und der subtilen Subversion gefunden wird, anstatt in grandiosen, von oben herab konzipierten Entwürfen.

Anmerkungen
  1. Vgl. zu diesem Absatz Florence Bouchy, „Agnès Riva, romancière très urbaine“, Le Monde des livres, 29.>>>

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