Schnitt ins Fleisch: Claire Berest über den Prozess Gisèle Pelicot

Si un simple fait divers n’est que “déchirure dans le tissu des jours”, c’est “d’une entaille comparable à celle que produit une arme tranchante dans la chair” qu’il s’agit quand survient une affaire qui provoque tout à coup une sommation à comprendre.

Claire Berest, La Chair des autres, Albin Michel, 2025.

Wenn ein einfaches fait divers nur ein „Riss im Gewebe des Alltags“ ist, dann handelt es sich um einen „Schnitt, vergleichbar mit dem, den eine scharfe Waffe im Fleisch hinterlässt“, wenn plötzlich ein Ereignis eintritt, das zum Nachdenken zwingt.

Vor den Toren von Avignon hängt ein großes Banner mit der Aufschrift „Un viol est un viol“ („Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung“). Die Autorin Claire Berest hat über zwei Wochen im Oktober und November 2024 am Prozess teilgenommen und elf Mitangeklagte verfolgt. Die literarische und philosophische Verarbeitung des sogenannten Mazan-Vergewaltigungsfalls in La Chair des autres von Berest (Albin Michel, 2025) ist ein Beispiel furchtloser Gegenwartsliteratur, das eine juristische Katastrophe in einen gesellschaftlichen Weckruf verwandelt. Die Autorin – ursprünglich als Reporterin für Paris Match zum Prozess entsandt – betrachtet das Verfahren gegen Dominique Pelicot und seine Mitangeklagten nicht nur als kollektives Trauma, sondern auch als Brennglas kultureller Blindheit und ethischer Ohnmacht. Ihre Deutung des Falls und die erzählende Strategie, mit der sie ihn beleuchtet, machen das Buch zu einem der wichtigen französischen Texte des Jahres. Im Mittelpunkt steht die sogenannte „Affaire de Mazan“: Ein älterer Mann, Dominique Pelicot, hat über Jahre hinweg Dutzende Männer in sein Haus eingeladen, um seine mit Medikamenten sedierte Ehefrau, Gisèle Pelicot, ohne deren Wissen sexuell zu missbrauchen. Die Taten wurden minutiös dokumentiert, katalogisiert, gesammelt. Der Fall wurde juristisch zwischen 2020 und 2024 untersucht; im Herbst 2024 fand der erste große Prozess in Avignon statt. Claire Berest war als Gerichtsreporterin vor Ort – und erlebte den Prozess so intensiv, dass daraus ein literarisches Zeugnis entstand, das weit über den Report hinausgeht.

Claire Berest wurde durch einen Anruf von Paris Match zum Prozessgeschehen entsandt – ursprünglich ohne literarische Ambitionen. Doch die Erfahrung vor Ort ließ sie nicht mehr los. In einem quasi ekstatischen Schreibprozess im Januar und Februar 2025 entstand in wenigen Wochen ein Werk, das sich der Frage nach dem Wesen des Bösen widmet – und gleichzeitig nach dem Wesen des Guten. Der Text gliedert sich zwar in Kapitel, folgt aber teils einem mäandernden Fluss der Reflexion, in dem Berichterstattung, Philosophie, literarisches Erzählen und autobiografische Introspektion ineinandergreifen. Claire Berests Perspektive auf den Prozess ist getragen von ihrem literarisch-philosophischen Ethos. Was zunächst wie eine journalistische Begleitung beginnt, verwandelt sich in ein persönliches und poetisches Schreiben über das Böse, das Recht, das Trauma und das Überleben. Ihre literarische Position ist kein neutraler Beobachtungspunkt – vielmehr markiert sie den Schnittpunkt von Körper, Text und Erfahrung. In Anlehnung an Camille Froidevaux-Metterie und Maurice Merleau-Ponty versteht sie sich als schreibender Körper: „Mon corps est l’instrument général de ma compréhension“ – der Körper als Medium des Denkens und des Sprechens.

Berest berichtet von Chochana Boukhobzas Forschung über nach Auschwitz deportierte Frauen und das Gefühl des „fehlenden Bildes“ bei Überlebenden. Frauen im Lager wurden zu „Stück“ reduziert. Für Rückkehrerinnen war das Bild dessen, was sie dort waren, ungreifbar, sowohl für sich selbst als auch für andere, die nicht zuhören wollten. Da es keine Spiegel, Fotos oder Existenz gab, die sich im Blick des anderen widerspiegelte, fehlte das Bild dessen, was ihnen widerfahren war. Dies wird dem Ansehen der Vergewaltigungsvideos durch Gisèle Pelicot gegenübergestellt. Diese waren „wiederhergestellte Bilder“. Der Schrecken ihrer Ausdauer ist laut Autorin unvorstellbar. Sie entschied sich, die Videos anzusehen, als sie dazu bereit war. Später forderte sie bei Prozessbeginn die Aufhebung des Ausschlusses der Öffentlichkeit, damit jeder die Bilder sehen konnte. – Ein wichtiger Bezug für Berest ist der kambodschanisch-französische Filmemacher Rithy Panh. Wie dieser sich in seinen Filmen dem dokumentarischen Grauen stellt – etwa durch die Montage von Archivmaterial – so stellt sich Berest den Videoaufnahmen der Vergewaltigungen. Sie beschreibt das Ansehen der Aufnahmen durch Gisèle als Wiederaneignung des Körpers durch das Subjekt. Die Sichtung der Bilder war notwendig – weil das Unrecht nur als Bild in die Sprache überführt werden kann.

Nachdem Gisèle Pelicot erfahren hatte, was ihr widerfahren ist, hatte sie das dringende Bedürfnis, alles wegzuwerfen – Erinnerungsstücke, Fotos, die Spuren ihres gemeinsamen Lebens mit dem Ehemann, mit dem Täter. Sie wurde zwangsweise zu einem „weißen Blatt“. Gisèle selbst sagte im Prozess, sie habe nur zwei Männer in ihrem Leben gehabt, obwohl sie Hunderte von Vergewaltigungen erlitten habe. Sie betonte die Harmonie in ihrer Ehe und beschrieb ihren Mann als „gewöhnlichen Mann“ und „perfekten Mann“. Für sie war es keine einfache Schwarz-Weiß-Geschichte, um die Verbrechen zu verstehen. – Dominique Pelicot wird als „Sammler“ bezeichnet. Den Ermittlern lagen Zehntausende Stunden Videomaterial vor. Verteidiger griffen das Bild des „Sammelns“ auf und verglichen es mit unschuldigen Hobbys, bei denen man Exemplare sammelt, besitzt und betrachtet. Pelicots Aussage: « Je n’ai pensé qu’à moi et pas à eux. Pas à elle surtout. » (Ich habe nur an mich gedacht und nicht an sie. Vor allem nicht an sie.) wird als Objektivierung der Männer und seiner Frau interpretiert; es gibt kein „wir“, nur „ich“, „sie (männlich)“ und „sie (weiblich)“. Es wird im Text auch diskutiert, ob Pelicots Gefühl der Erleichterung nach der Verhaftung dazu führte, dass er keine Beweise vernichtete, oder ob er seine „Sammlung“ nicht aufgeben oder zerstören konnte. Pelicot ließ manchmal bis zu drei Männer pro Nacht oder zwei gleichzeitig kommen. Die zentrale Frage des Kapitels lautet: « Quel est le vide que cette quantité cherche à combler ? » (Welche Leere sucht diese Menge zu füllen?). Es gab über achtzig Männer, fast zehn Jahre Missbrauch, über zwanzigtausend Fotos und Videos – ein grenzenloser Exzess. Die einzige Form der Alterität in dieser Ansammlung ist die männliche Komplizenschaft, während die Frau symbolisch tot war. Das Aufbewahren der Beweise und sogar das Aufzeigen des Speicherortes der Festplatte wird damit in Verbindung gebracht: Wenn es alle tun, warum sollte er sich besonders schuldig fühlen?

Viele Mitangeklagte definierten Vergewaltigung als etwas, das physische und demonstrative Gewalt erfordert. Sie sahen Vergewaltigung oder Gewalt nicht als zutreffend, da sie Gisèle Pelicot nicht geschlagen oder bedroht hatten. Sie gaben an, die Einladung des Ehemanns Dominique Pelicot in einem „beruhigenden Rahmen“ (ein Paar im eigenen Haus) habe ihre Vorstellung von den Kriterien für Vergewaltigung verwischt. Ein Angeklagter sagte, es habe für ihn keine Vergewaltigung vorgelegen, da der Ehemann anwesend war; ein anderer gab an, damals keine Vorstellung von Zustimmung gehabt zu haben. Die Autorin argumentiert, dass diese Männer „lacunes d’éducation et de culture pour cerner le viol“ (Bildungs- und Kulturdefizite, um Vergewaltigung zu erfassen) haben und in dieser Hinsicht „incultes“ sind. Dies entbindet sie nicht von rechtlicher Verantwortung, liefert aber Stoff zum Nachdenken. Die Staatsanwaltschaft betonte ebenfalls, dass die Abwesenheit von Zustimmung von den Angeklagten nicht ignoriert werden konnte und dass man im Jahr 2024 nicht mehr davon ausgehen könne, dass Stillschweigen Zustimmung bedeutet. Die psychologischen Gutachten der Angeklagten stellten fast systematisch fest, dass ihnen das „conscience d’autrui“ (Bewusstsein für den Anderen) als ganzes und begehrendes Subjekt fehlte. Der Angeklagte Jérôme V., ein ehemaliger freiwilliger Feuerwehrmann, der Gisèle Pelicot sechsmal missbrauchte, wird als einer der klarsten beschrieben, da er von Anfang an zugab, gewusst zu haben, dass er eine von ihrem Mann unter Drogen gesetzte Frau vergewaltigen würde. Er gab an, nie mit ihr gesprochen und nie ihre Zustimmung eingeholt zu haben, und erklärte eine unkontrollierbare Sexsucht als Motiv, verstärkt durch Trennung und Isolation während des Lockdowns. Erlittene „Mangel an Zuneigung“ seit der Kindheit werden erwähnt. Jérôme V. behauptete, sich seiner Taten voll bewusst gewesen zu sein und die moralischen und rechtlichen Konsequenzen bedacht zu haben. Die Autorin betrachtet die Justiz als einen Prozess des Fragens, auch scheinbar nebensächlicher Details, um Fakten zu enthüllen. Sie beschreibt eine langwierige Befragung eines Angeklagten (Florian R.) über die Verwendung von Papiertüchern auf einem Video, um festzustellen, ob er ejakuliert und damit Lust empfunden hatte. Das Beharren der Richter auf solchen Details wird als notwendig dargestellt, um die Worte und die dahinterliegende Realität (z. B. die brutal beschriebenen sexuellen Handlungen) in ihrer vollen Bedeutung zu verankern. Trotz der Behauptung, ein „banales“ Leben zu führen, gaben viele Männer zu, dass sich die Situation in Kontakt mit Gisèle Pelicots Körper „bizarre“ (seltsam) anfühlte. Ein Kapitel beleuchtet die „gouffres intimes“ (intimen Abgründe) in den Leben dieser Männer, um zu zeigen, dass kein Leben wirklich „normal“ ist. Es werden persönliche Dramen und Traumata aufgelistet, die während der Zeugenaussagen zur Sprache kamen: Verlust eines Kindes, Schlaganfall, versteckte Homosexualität, Verlust des Ehepartners, Suchtprobleme, Depression, abgebrochene Schulbildungen, Scheidungen, Arbeitsverlust. Drei Viertel der Angeklagten hatten nach Angaben der Gutachter eine traumatische Kindheit.

Die Generalanwältin fragt einmal einen Angeklagten: „Interessiert es Sie nicht, das Gesicht von jemandem zu sehen, mit dem Sie sexuelle Beziehungen haben werden?“ Keiner der Männer hatte einen verbalen Austausch mit Gisèle Pelicot. Einige Angeklagte sprachen von einer diffusen „Angst“, Pelicot zu missfallen, und fühlten sich hiervon „gefangen“. Einer gab an, er sei auch ein „Opfer“ von Herrn Pelicot gewesen. Berest fragt sich, welches Mysterium dieses Verlangen verbirgt, das die Zurückhaltung der Männer gegenüber einem leblosen Körper überwand. Sie betont den Aufwand (Reise, Zeit) für wenige Minuten rudimentären Geschlechtsverkehr mit einer bewusstlosen Frau, mit der keine Kommunikation stattfand. Das Kapitel endet mit der Feststellung, dass Gisèle Pelicots Gesicht, das die Angeklagten nicht sahen oder suchten, niemals wieder ausgelöscht werden wird. – Dominique Pelicots Anwältin argumentierte, dass der Fall Pelicot ohne das Netzwerk nicht existiere. Der Austausch auf Online-Plattformen wie Coco.fr, Skype und Telefon wurde als Überwindung von Einsamkeit und Tabus hervorgehoben, was zum Austausch von Fotos/Videos und einem Gefühl der Stärke und Männlichkeit führte. Die Verwendung des Possessivpronomens „ses“ (seine) in Bezug auf „ses fantasmes“ (seine Fantasien) an einer nicht einwilligenden Frau wird als möglicherweise unbewusste Verleugnung der Verantwortung oder als perverse Ironie hinterfragt. Der Ausdruck „Nuits seules“ (Einsame Nächte), den Pelicot für die Momente mit seiner sedierten Frau verwendete, deutet darauf hin, dass sie in diesen Zeiten für ihn aufhörte zu existieren und die Einsamkeit erst durch die Anwesenheit anderer Männer endete. Pelicot gab an, immer explizite Anweisungen gegeben und die Situation beschrieben zu haben. « Je ne prends pas de plaisir. Ma femme n’est pas une complice, mais une victime. C’est eux qui ont détruit leur famille, pas moi. Qu’ils prennent leur responsabilité. » (Ich empfinde keine Lust. Meine Frau ist keine Komplizin, sondern ein Opfer. Sie sind diejenigen, die ihre Familie zerstört haben, nicht ich. Sie sollen ihre Verantwortung übernehmen.) wird wiedergegeben. Ob dies eine Verteidigungsstrategie oder ein Stück Wahrheit sein könnte, bleibt dahingestellt.

Die Autorin reflektiert über ihre eigene Herangehensweise an Kriminalfälle. Sie versucht, alle Beteiligten – Opfer und Täter – mit derselben Menschlichkeit zu betrachten. Sie stellt jedoch fest, dass sie eine „tendance plus nette (…) à prendre en considération les criminels, qu’une évidence à me concentrer sur leurs victimes“ (deutlicher Tendenz, die Kriminellen stärker zu berücksichtigen, als sich offensichtlich auf ihre Opfer zu konzentrieren) hat, was sie beunruhigt. Im Fall Mazan war ihr Mitgefühl für Gisèle Pelicot unbestreitbar, aber sie betrachtete die Angeklagten ebenfalls mit Aufmerksamkeit. Sie fragt sich, ob dies bedeutet, dass sie „a bad feminist“ ist. Sie verbindet dieses Selbstzweifel mit der allgemeinen Faszination für Kriminelle in True Crime, während Opfer oft in den Hintergrund rücken. Dieses Kapitel widmet sich der wiederkehrenden Frage, wie Gisèle Pelicot die Taten nicht bemerkt haben konnte. Obwohl die Frage legitim sei, impliziere sie Misstrauen gegenüber der Aussage des Opfers. Die Autorin erklärt, dass Gisèle Pelicot durchaus durch eine Vielzahl „très angoissants“ (sehr beunruhigender) Zeichen alarmiert war. Dazu gehörten massive Gedächtnislücken, abnormal lange Schlafphasen, Gewichts- und Haarausfall. Andere bemerkten, dass sie „hagard“ (verstört) wirkte, stammelte und einen ausdruckslosen Gesichtsausdruck hatte. Sie litt unter gynäkologischen Problemen. Sie konsultierte Ärzte, die nichts fanden. Ihr Mann erklärte ihre Symptome als Müdigkeit und weckte sie nicht, weil sie so erschöpft aussah. Er verabreichte ihr außerdem Stilnox ohne Rezept.

Berest beschreibt eine große Tapisserie oder ein Bild an der Wand des Gerichtssaals (salle Voltaire) in Avignon. Sie hat die Details des Werkes tagelang genau betrachtet, konnte aber keine weiteren Informationen dazu finden; onlinen waren sie in den Suchergebnissen zum Fall Mazan „ertrunken“. Da Zeugen und Angeklagte mit dem Rücken zum Publikum sprachen, konzentrierte sich die Autorin auf ihre Stimmen, die Gesichter der Richter und eben auf diese Wandarbeit. Sie zeichnete sie in ihre Notizbücher, da Fotografieren im Gerichtssaal verboten war. Sie zieht eine Parallele zu einem Bild von Dominique Pelicot namens „L’emprise“ (Die Beherrschung/Der Griff), das nach seiner Verhaftung in seinem Haus gefunden wurde. Dieses Bild einer liegenden nackten Frau, beschriftet mit „L‘emprise, 2018“, wurde von der Familie als Anspielung auf seine Verbrechen interpretiert, was Pelicot jedoch bestritt. Die Autorin vergleicht dies mit dem Rätsel um Jack the Ripper und einer Theorie, dass der Maler Walter Sickert der Täter war und ein Bild von ihm selbst im „Jack the Ripper Kostüm“ existiert. Sie sieht Pelicots Bild als eine Art „Lettre volée d’Edgar Allan Poe“ (Gestohlener Brief von Edgar Allan Poe) – das Verbrechen, offen sichtbar aufgehängt.

Das Verfahren wird von Berest als Ort der Inszenierung und der Konfrontation beschrieben – eine Bühne, in der Rollen, Macht, Schuld und Ohnmacht öffentlich performt und verhandelt werden. In einem bemerkenswerten intertextuellen Zugriff verknüpft Berest das Gerichtsdrama von Avignon mit dem Theaterbegriff schlechthin: Das Gerichtsverfahren wird zur pädagogischen Bühne, zur dramatischen Allegorie der Aufklärung, zur Umkehrung des Schweigens in Sprache. – Berest verortet das Verbrechen als „fait divers“ in Roland Barthes‘ Sinn: als abgeschlossene, anonyme Informationseinheit, die nichts erklärt, sondern bloß zeigt. Doch im Fall Mazan sprengt die Wirklichkeit die Form: Sie „blitzt in die ganze Gesellschaft“. Das Grauen wird nicht durch Kontext gebändigt, sondern durch dessen völliges Fehlen radikalisiert. Der fait divers wird zum Kulturbruch. Denn Berest begnügt sich nicht mit der Rede von der „Vergewaltigungskultur“ im Sinne feministischer Klassiker. Sie benennt eine Unkultur, eine Leere: ein intellektuelles Vakuum, in dem das Andere nicht gedacht wird, „inculture du viol“. Der fehlende Blick auf das Gesicht der Frau, das Ausblenden ihres Menschseins, wird zum Symbol dieser Blindheit. Die Männer begegneten keinem Subjekt, sondern Fleisch, „chair“, und deshalb handelt es sich auch um die „Fleischwerdung“ des Anderen im schlechtesten Sinne – seine Verdinglichung.

Dominique Pelicots Auftreten im Gericht wird von Berest als ruhig, präzise und beinahe distanziert beschrieben, mit einer Tendenz, seine Mitangeklagten zu belasten. Er eröffnete seine Aussage mit den Worten: „Ich bin ein Vergewaltiger wie alle anderen in diesem Saal“. Er verteilte „gute und schlechte Noten“ an die anderen. Die erhöhte Position seines Glasbunkers im Saal wird als symbolisch für die Metaphern wie „Dirigent und Musiker“ oder „Meister und Jünger“ beschrieben. Der Begriff „bombe paraphilique“ (Paraphilie-Bombe) wird eingeführt, eine Metapher, die im Prozess verwendet wurde. Es wird der Begriff Paraphilie erklärt als sexuelle Praxis, die von traditionell als normal angesehenen Handlungen abweicht, oder als anormale sexuelle Anziehung. Beispiele wie Pädophilie, Zoophilie, Candaulismus (Erregung durch Teilen des Partners), Somnophilie (Anziehung zu Bewusstlosen) und Nekrophilie (Anziehung zu Toten) werden genannt. Die Autorin diskutiert die Etymologie des Präfixes para- (gegenüber, daneben, beinahe) und fragt, ob Paraphilie „neben der Liebe“ oder „fast Liebe“ bedeutet. Sie schließt mit der Idee, dass das Leben in Verkleidung, das Einswerden mit den Masken (guter Ehemann vs. Vergewaltiger), möglicherweise dem am nächsten kommt, was man sich unter dem Bösen vorstellt. Berest rekurriert auf Hannah Arendts berühmt-umstrittene Kategorie der „Banalität des Bösen“, ohne sie zu simplifizieren. Wie Arendt beschreibt sie nicht Dämonen, sondern konforme, denkfaule Mitläufer. Sie warnt zugleich vor der populären Fehllektüre Arendts: Das Böse ist nicht banal, weil es gewöhnlich ist, sondern weil es keine Tiefe besitzt. Es ist nicht metaphysisch – es ist konturlos, opportunistisch, unfähig zum Denken. Berests zweite philosophische Referenzgröße ist Simone Weil. Das Gute, so Weil, sei die Aufmerksamkeit gegenüber der Existenz des Anderen. Berest macht dies zur politischen wie poetischen Maxime: Das Böse hat keine Poesie, keine Tiefe. Nur das Gute ist radikal. Gisèle Pelicot, die zentrale Figur des Buches, wird zur Zeugin dieses Guten: nicht durch Heldentum, sondern durch die Rückkehr zur Alterität – zur Fähigkeit, den Anderen zu sehen, sogar im Moment der eigenen Auslöschung.

Die Frage der Staatsanwältin Laure Chabaud hallt nach: « Pourquoi elle ? Celle qu’il aime le plus au monde ? » (Warum sie? Die, die er am meisten auf der Welt liebt?). Die Staatsanwältin schloss ihre Ausführungen zu Pelicot mit dieser Frage, was darauf hindeutet, dass die Fragen auch am Ende des Prozesses gerade erst begannen und alle betrafen. Anschließend wandte sie sich den Mitangeklagten zu und erörterte das zentrale Thema des „Bewusstseins der Tat“ und die zugrunde liegende Frage der „Beeinflussung“ durch Pelicot. Sie erläuterte den Unterschied zwischen „Vorsatz“ und „Absicht“. Sie betonte, dass der Zustand des Opfers eher einem Koma als einem Schlaf ähnelte („Sie schien tot“). Unter Berufung auf einen psychiatrischen Sachverständigen, der die Taten mit „Nekrophilie“ in Verbindung brachte, argumentierte sie, dass die Angeklagten die „Abwesenheit der Einwilligung nicht ignorieren konnten“. An die Gesellschaft gerichtet erklärte sie: « On ne peut plus considérer, en 2024, que si elle n’a rien dit, c’est qu’elle était d’accord. » (Man kann im Jahr 2024 nicht mehr davon ausgehen, dass, wenn sie nichts geäußert hat, sie einverstanden war.).

Berests Schreibweise ist stark geprägt von Ellipsen, Einschüben, Fragen. Sie schreibt in einem Duktus, der literarische Reflexion mit essayistischem Denken verknüpft. Die Ich-Perspektive wirkt nicht als Selbsterzählung, sondern als Resonanzraum – ein instrumentierter Körper, der durch seine eigene Geschichte und Sensibilität offenlegt, warum Schreiben ein moralischer Akt ist. Sie nimmt sich nicht heraus, sondern hinein. Ihre Sprache ist nie pathetisch, aber stets aufgeladen: ein langsamer, bohrender Ton, der sich dem Subjekt nicht nähert, um es zu erklären, sondern um ihm zu begegnen. – Berest ist mit diesem Buch radikal konsequent geworden in dem, was ihre gesamte bisherige Arbeit durchzieht: das Schreiben an der Grenze zwischen Wahrheit und Darstellung. Die Autorin erwähnt in La Chair des autres explizit, dass ihr letzter Roman L’Épaisseur d’un cheveu war. Sie gibt an, dass ihre Recherchen für dieses Buch, das sich mit dem Thema „féminicide“ befasst, sie zur Lektüre eines Werks von Joëlle Guillais über „crime passionnel“ im 19. Jahrhundert führten, dessen Titel La Chair de l’autre sie in abgewandelter Form für den Titel von La Chair des autres übernommen hat. Von ihrem Debüt Mikado (2011), das eine fragmentierte Familiengeschichte verhandelte, bis zu Artifices (2021), wo sie sich mit Kunst, Täuschung und Manipulation auseinandersetzte, zieht sich ein Leitmotiv: die Hinterfragung von Identität, Wirklichkeit und Darstellung. In Gabriële (2017), gemeinsam mit ihrer Schwester Anne geschrieben, entwarf sie das Porträt ihrer Urgroßmutter, einer Avantgardistin – ein Versuch, weibliche Genialität sichtbar zu machen. In Rien n’est noir (2019) wagte sie sich an Frida Kahlo – ebenfalls eine Ikone zwischen Schmerz und Ästhetik. Doch La Chair des autres sprengt den Rahmen. Es ist ihr bisher realistischstes, gleichzeitig aber ihr metaphysischstes Werk. Es verbindet Recherche mit Philosophie, Zeugenschaft mit Poesie. Hier geht es nicht um Kunst, sondern um das nackte Leben – la chair, das Fleisch, als Träger der Gewalt und als Ort der ethischen Rettung.

Die Autorin verzichtet allerdings bewusst auf eine Schlussfolgerung zum Fall Mazan. Es gab Berufungen von neun Männern, und Dominique Pelicot wird sich weiteren Ermittlungen wegen anderer mutmaßlicher Verbrechen stellen müssen. Gisèle Pelicot äußerte Respekt vor der Arbeit des Gerichts und dankte ihnen. Sie hat eine existenzielle Debatte über die Beziehung zwischen Männern und Frauen eröffnet. Berest betont, wie viele Frauen davon betroffen sind. Unter Bezugnahme auf Joë Bousquets Worte über Simone Weil versteht die Autorin die absolute Bedeutung der Botschaft, die aus diesem schrecklichen Vorfall hervorging. Indem sie sagte, dass die Scham die Seite wechseln müsse, hat Gisèle Pelicot „Worte von unbegrenzter menschlicher Bedeutung ausgesprochen“. – La Chair des autres ist kein Tatsachenbericht, kein Gerichtsprotokoll, keine feministische Streitschrift – und doch ist es all dies in einem. Es ist ein dichter, verstörender, aufwühlender Essay-Roman über die Verletzbarkeit des Menschen und die Notwendigkeit, die Welt – auch in ihrem Grauen – denkend zu durchqueren. Die Autorin schreibt gegen das Verstummen, gegen die banalisierte Erzählform, gegen die Normalisierung der Ungeheuerlichkeit. Claire Berest gibt dem Prozess und seinen ethischen Dimensionen eine literarische Form, die sowohl dokumentarisch als auch poetisch ist. Ihre Stärke liegt in der Komplexität: Sie fragt, sie urteilt nicht. La Chair des autres ist ein Versuch, dem Schweigen Sprache zu geben, dem Abgrund einen Text – und dem Opfer einen Ort in der Geschichte.


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