Ein Kind der deutsch-französischen Geschichte: Sylvain Prudhomme

C’est l’histoire d’amour d’un grand-père, au bord du lac de Constance à 20 ans avec une jeune femme allemande. J’en avais parlé très vite dans un livre qui se passait tout entier en Algérie. Simplement parce que c’est là-bas que j’en avais entendu parler d’anciens ouvriers de la ferme dont s’était occupé mon grand-père jusqu’à l’indépendance. Eux avaient reçu ce récit avant 1962 et ils m’ont raconté que souvent ce grand-père parlait de l’Allemande du lac de Constance, ils me l’ont raconté en 2010. Donc il y avait une sorte de façon, l’amour avait une façon de survivre autant comme ça et de continuer d’exister très fort, y compris dans les récits de gens qui n’avaient jamais connu cette femme. Et je me suis dit, ce que j’ignorais à ce moment-là, alors même que je l’avais mise dans ce livre, j’ignorais qu’un enfant était né de cette histoire. Et donc c’était comme d’avoir d’avoir idéalisé quelque chose, d’en avoir vu qu’un aspect, qu’un pan, et d’avoir manqué totalement une autre réalité qui donnait à cet amour aussi une autre gravité en fait, quelque chose, et des conséquences gigantesques sur des générations en fait, puisqu’il y avait cet enfant.

Librairie Mollat: Sylvain Prudhomme, L’enfant dans le taxi, Youtube, 2023.

Es ist die Liebesgeschichte eines Großvaters, der mit 20 Jahren am Bodensee eine junge Deutsche kennenlernt. Ich hatte sie ganz kurz in einem Buch erwähnt, das komplett in Algerien spielte. Einfach weil ich dort von ehemaligen Landarbeitern davon gehört hatte, um die sich mein Großvater bis zur Unabhängigkeit gekümmert hatte. Sie hatten diese Geschichte vor 1962 gehört und erzählten mir, dass dieser Großvater oft von der Deutschen vom Bodensee sprach. Das erzählten sie mir 2010. Es gab also eine Art, wie die Liebe so überleben und weiterbestehen konnte, sogar in den Erzählungen von Menschen, die diese Frau nie kennengelernt hatten. Und ich sagte mir, was ich damals nicht wusste, obwohl ich es in das Buch geschrieben hatte, ich wusste nicht, dass aus dieser Geschichte ein Kind hervorgegangen war. Und so war es, als hätte ich etwas idealisiert, nur einen Aspekt, einen Ausschnitt gesehen und eine andere Realität völlig übersehen, die dieser Liebe tatsächlich eine andere Schwere verlieh, etwas, das tatsächlich gigantische Folgen für Generationen hatte, da es dieses Kind gab.

Im Flüsterton

Der Roman L’enfant dans le taxi von Sylvain Prudhomme (Minuit, 2023, deutsche Ausgabe: Der Junge im Taxi, aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer, Unionsverlag, Juli 2025) ist eine Auseinandersetzung mit den Schatten der deutsch-französischen Geschichte, insbesondere der Nachkriegszeit und ihrer Auswirkungen auf individuelle Schicksale und Familienbeziehungen. Das Werk verwebt die persönliche Suche des Erzählers nach einer verschwiegenen Wahrheit mit der komplexen Historie der französischen Besatzung in Deutschland – und der Möglichkeit von Versöhnung. Der Text deutet die scheinbare Passivität des familiären Schweigens („chape de silence“) um, als eine aktive, performative Praxis kollektiver Verdrängung, die über Jahrzehnte hinweg die Existenz M.s verleugnet und so familiäre Kohäsion zu wahren sucht. Diese „Omertà“ wird dabei als ein bewusstes oder unbewusstes Mittel zur Aufrechterhaltung einer idealisierten Familiennarrative entlarvt, dessen Brüchigkeit jedoch durch die Recherche des Erzählers offengelegt wird.

Der Roman setzt direkt nach dem Zweiten Weltkrieg an, einer Zeit, in der die Fronten zwischen Siegern und Besiegten, Franzosen und Deutschen, noch scharf gezogen waren. Malusci, ein französischer Soldat des 8. Regiments der Chasseurs d’Afrique, gehörte zu den Besatzungstruppen, die Anfang 1945 den Rhein überquerten und bis zum Bodensee vorstießen. In dieser Phase, die als „fabuleusement inoccupées“ Wochen der Besatzung beschrieben wird, entstand eine Beziehung zwischen Malusci und einer deutschen Frau namens Liselotte H.. Aus dieser Verbindung ging ein Kind, M. H., hervor, dessen Existenz zu einem jahrzehntelangen Familiengeheimnis werden sollte. Diese „verbotene Liebe“ und ihre ungewollten Folgen bilden den zentralen Nexus der historischen Verflechtung im Roman, die sich durch Generationen zieht und die Vergangenheit auf schmerzhafte Weise in die Gegenwart holt.

Der Junge im Taxi, aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer, Unionsverlag, Juli 2025

Das Motiv des Reisens bzw. der Bewegung zieht sich als Struktur durch das Buch. Der Autor beschreibt das Reisen als ein Mittel, um sich mit schwierigen Wahrheiten auseinanderzusetzen, neue Gleichgewichte zu finden und sich selbst zu begegnen. Die Reise ist keine Flucht, sondern ein aktives Sich-Stellen zur Herausforderung und zur Transformation. Der Bodensee selbst wird zu einem zentralen Symbol: Er ist nicht nur der geografische Ort der Zeugung von M., sondern auch ein Ort des Geheimnisses, der verborgenen Tiefen und der schwebenden Erinnerungen:

Les brumes qui tantôt les prenaient tantôt se retiraient d’eux, comme fluait et refluait la mémoire. Pays des fantômes, des souvenirs, des secrets.

Sylvain Prudhomme, L’enfant dans le taxi, P.O.L., 2023.

Der Nebel, der sie immer wieder einhüllte und wieder von ihnen zurückwich, war wie das Zuströmen und Abfließen der Erinnerung. Land der Geister, der Erinnerungen, der Geheimnisse.

Der See repräsentiert die Grenze, die überwunden werden muss, um zur Wahrheit zu gelangen. Das Taxi, in dem der deutsche Sohn später zum französischen Vater Malusci gelangt, ist eine ähnlich starke Metapher für M.s verzweifelte, aber auch naive Hoffnung auf Verbindung. Es ist ein Symbol für eine plötzliche, unkonventionelle Reise in die Vergangenheit, die von persönlicher Dringlichkeit getrieben wird.

Kommunikation ist im Roman eine zentrale Achse, die oft durch Schweigen, Geheimnisse und Missverständnisse blockiert wird, aber auch Momente der tiefen Verbindung ermöglicht: Die Existenz von M. wird als „l’affaire“ bezeichnet, die nur „im Flüsterton“ nach einem „zu feuchtfröhlichen Weihnachtsessen“ erwähnt wurde. Dieses Schweigen ist eine kollektive „Nicht-Entscheidung“, eine „malheureuse accumulation de non-décisions“. Die Familie hält am „ewigen Imperativ des ‚keine Wellen schlagen'“ fest, um den „Frieden“ zu wahren. Dieses Schweigen wird als „Verbrechen“ bezeichnet, während das Sprechen das eigentliche „Verbrechen“ in der „Ordnung der Familien“ darstellt. Franz bricht das Schweigen bei Maluscis Beerdigung, angetrieben von der „Frustration, wieder einmal geschwiegen zu haben“. Louis übermittelt Simons die detaillierte Geschichte von M.s gescheitertem Besuch, da er selbst unter der „familiären Ordnung“ gelitten hat. Diese Figuren fungieren als Katalysatoren für die Enthüllung.

Maluscis Weigerung, seinen Sohn zu empfangen, als dieser im Alter von 15 Jahren mit dem Taxi nach Frankreich reist, ist der Höhepunkt der emotionalen Ablehnung. Die Sprachbarriere zwischen M. (Deutsch) und Malusci (Französisch), die bei ihrer späten Begegnung von Franz überbrückt werden muss, symbolisiert die tiefere Kluft zwischen ihnen und den beiden Nationen. – Simon, selbst Schriftsteller, versucht, die Lücken in der Familiengeschichte zu füllen und durch seine Recherche und das Schreiben „Ordnung“ in die chaotischen „Erinnerungen“ zu bringen. Das Buch selbst wird zu einem „Buch zu ihm“ („un livre vers lui“), einer Geste der Annäherung an M.. Die Weitergabe von Geschichten, wie Bahis Erzählung über Liselotte, zeigt die hartnäckige Natur der Erinnerung.

Figureninventar

Die Figuren des Romans sind eng mit den historischen Ereignissen verbunden und verkörpern verschiedene Facetten der deutsch-französischen Beziehungen nach dem Krieg:

Malusci ist der französische Soldat und spätere Patriarch, der seine „Jugendsünde“ in Deutschland verleugnet. Er repräsentiert die Seite des Verdrängens und des strikten Festhaltens an einer konstruierten Familienidentität, die keine Fehler oder „Schande“ zulässt. Seine Unfähigkeit, sich seinem deutschen Sohn zu stellen, ist bezeichnend für die Schwierigkeiten der Nachkriegsgesellschaft, sich der komplexen Realität zu stellen.

Liselotte H., die deutsche Frau, M.s Mutter, deren Beziehung zu Malusci eine „démesure de désir“ widerspiegelt, die „plus fort que tous les interdits“ war. Sie symbolisiert die oft vergessene oder tabuisierte weibliche Erfahrung in der Besatzungszeit, die mit Scham, Verurteilung und den schwierigen Folgen einer solchen Verbindung leben musste. Ihre Fähigkeit, sich trotz der Umstände ein „erfülltes Leben“ aufzubauen, wie ihre Nekrologie andeutet, zeugt von Resilienz.

Die anfängliche Begegnung zwischen Malusci und Liselotte ist ein Moment des ungezügelten Verlangens und der menschlichen Verbundenheit, die sich den gesellschaftlichen Konventionen und der Rolle als Besatzer/Besetzte entzieht, jedoch mit weitreichenden, verborgenen Folgen.

Je sais que Malusci et cette femme s’aimèrent, mot dont je ne peux dire exactement quelle valeur il faut lui donner ici, mais qui dans tous les cas convient, puisque s’aimer cela peut être mille choses, même coucher simplement dans une grange, sans autre transport ni tendresse que la fulgurance d’un désir éphémère, l’éclair d’un plaisir suraigu, dont tout indique que Malusci et cette femme gardèrent longtemps le souvenir. Je sais que de ce plaisir naquit un enfant, qui vit toujours, là-bas, près du lac. Et que ce livre est comme un livre vers lui.

Sylvain Prudhomme, L’enfant dans le taxi, P.O.L., 2023.

Ich weiß, dass Malusci und diese Frau sich liebten, wobei ich nicht genau sagen kann, welche Bedeutung dieses Wort hier hat, aber es passt auf jeden Fall, denn sich lieben, das kann tausend Dinge bedeuten, sogar einfach in einer Scheune zu schlafen, ohne andere Empfindung als die Heftigkeit eines flüchtigen Verlangens, dem Blitz einer übersteigerten Lust, an die sich Malusci und diese Frau allem Anschein nach lange erinnert haben. Ich weiß, dass aus dieser Lust ein Kind hervorgegangen ist, das noch immer dort, in der Nähe des Sees, lebt. Und dass dieses Buch wie ein Buch für ihn ist.

Der Erzähler betont die vielschichtige Bedeutung von „Liebe“ in diesem Kontext. Es ist keine konventionelle Romanze, sondern ein flüchtiger, intensiver Moment des Verlangens („fulgurance d’un désir éphémère“) in einer chaotischen Zeit. Die Szene in der Scheune ist eine Verkörperung dieses primären, instinktiven Triebs („désir plus fort que tous les interdits“), der die politischen und sozialen Gräben überwindet. Liselotte wird als selbstbewusste, „freie“ Frau dargestellt, die ihre eigene Entscheidung trifft, sich auf den französischen Soldaten einzulassen, obwohl sie die „Verurteilung“ ihrer Freundinnen fürchten muss, die sie als „Hure“ beschimpfen. Dies beleuchtet die schwierige Lage deutscher Frauen in der Besatzungszeit, die oft zwischen persönlichem Überleben, Verlangen und gesellschaftlicher Ächtung gefangen waren.

M. H., der „deutsche Sohn“ von Malusci und Liselotte, ist die Verkörperung des Geheimnisses und der unerwünschten historischen Wahrheit. Seine Existenz ist ein Stachel im Gewissen der französischen Familie. Sein Beruf als Antiquitätenhändler ist metaphorisch bedeutsam: Er umgibt sich mit „délaissés“ (verlassenen Gegenständen), rettet ihren Wert und ihre Geschichten. Dies spiegelt seine eigene Rolle als „verlassener“ Sohn wider, der die verborgenen Geschichten bewahrt.

Simon ist als Erzähler und Maluscis Enkel der eigentliche Protagonist der Spurensuche. Er ist derjenige, der das Familiengeheimnis aufdeckt und sich mit den ungelösten Fragen der Vergangenheit auseinandersetzt. Seine persönliche Krise (Trennung von A.) und seine Rolle als Schriftsteller, der „die Welt bewohnbar“ machen möchte, parallelisieren seine Suche nach Wahrheit und Heilung. Er ist der „Bruder“ der „boiteux“ (der Hinkenden), der die Welt anders erträumt.

Auch die weiteren Figuren haben Funktionen im Umgang mit der verschwiegenen Geschichte:

Imma ist Maluscis Ehefrau und Simons Großmutter. Sie ist die Hauptwächterin des Geheimnisses, die jede Erwähnung M.s verbietet und darauf besteht, dass Maluscis Leben nicht „beschmutzt“ wird. Ihre Weigerung, die Vergangenheit zu beleuchten, ist ein Ausdruck des Nachkriegsbedürfnisses nach Stabilität und Verdrängung, oft auf Kosten der Wahrheit.

Franz ist Julies Ehemann und Simons Stiefonkel, er ist außerdem derjenige, der Simon das Geheimnis offenbart. Franz ist selbst ein „M.“, ein Kind einer deutschen Mutter und eines alliierten Vaters (neuseeländischer RAF-Pilot). Seine eigene Identität als „bâtard“ (Bastard) macht ihn zu einem Verbündeten M.s und zu einer Brücke zwischen den Generationen und Kulturen. Er ist ein „Wahrheitssager“, der die Omertà der Familie bricht.

Louis ist Immas jüngerer Bruder und Simons Großonkel. Er ist ein weiterer Hüter der Wahrheit, der M. bei seinem gescheiterten Besuch 1962 aufnahm und ihm eine „fast gewöhnliche Familie“ bot. Louis, der selbst unter dem „familiären Befehl“ litt, unterstützt Simons Suche nach der Wahrheit und teilt seine Erinnerungen mit ihm.

Bahi schließlich, ein algerischer Arbeiter auf Maluscis Farm in Oran, ist die ursprüngliche Quelle von Simons Wissen über „die Deutsche vom Bodensee“. Bahi, als Außenstehender gegenüber der französischen Familie, ist ein wichtiger Bewahrer der Erinnerung an Maluscis verbotene Liebe und zeigt, wie Erinnerungen sich über weite Entfernungen und Kulturen hinweg erhalten können.

Enthüllungen

Prudhomme erläutert im o.g. Gespräch, dass das Buch auch sehr persönlich ist, da es auf einem familiären Material beruht, aber gleichzeitig fiktionalisiert ist. Wichtig für ihn war, dass der Erzähler Simon nicht nur ein neutraler Ermittler ist, sondern selbst mit einer aktuellen Trennung und einer neuen Form von Einsamkeit kämpft. Dadurch entsteht eine Parallele und ein Mitgefühl zwischen Simon und dem verheimlichten Kind, das ohne Vater aufgewachsen ist. So wird die Recherche zu einer Suche nach Nähe, Ausgleich und Heilung, wobei Simon versucht, sowohl das Geheimnis seiner Familie zu ergründen als auch seine eigene Lebenssituation zu verstehen und zu verarbeiten

Der Erzähler Simon stellt die absolute Greifbarkeit historischer Wahrheit infrage, indem er seine eigene Erzählung explizit als „Fantasie“ und „Traum“ („mon imagination m’y reconduit, le fantasme, la rêve“) der Vergangenheit inszeniert. Dies unterstreicht, dass die „Enthüllung“ nicht zu einer objektiven Realität, sondern zu einer kontinuierlichen, durch Wünsche und Emotionen geformten Konstruktion von Wahrheit führt, welche die fehlenden Puzzleteile einer „primitiven Szene“ immer wieder neu imaginiert.

Die Enthüllung und Recherche um die Figur des M. entfaltet sich in mehreren Stufen für den Erzähler Simon. Zunächst erfährt Simon während der Beerdigung seines Großvaters Malusci von Franz, dem Mann seiner Tante Julie, von der Existenz eines deutschen Sohnes Maluscis namens M., der während Maluscis Zeit als Besatzungssoldat am Bodensee geboren wurde und noch dort lebt. Diese erste, schockierende Offenbarung lässt Simon erkennen, dass er bereits vor zehn Jahren von einem alten algerischen Arbeiter namens Bahi von der „Deutschen vom Bodensee“ gehört hatte, die Malusci geliebt hatte, wobei Bahi jedoch nie ein Kind erwähnte. Von dieser neuen Information motiviert, beginnt Simon, online nach M. zu suchen, findet eine vermeintliche Adresse und ein Foto eines pensionierten Busfahrers, den er für M. hält. Als Simon seine Großmutter Imma um Erlaubnis bittet, M. zu besuchen, verbietet diese es ihm vehement und wütend, da sie die Vergangenheit begraben sehen möchte. Trotz des Verbots reist Simon mit seinen Söhnen zum Bodensee, nur um bei dem vermeintlichen M. festzustellen, dass er sich geirrt hat und dieser Mann nie von Malusci gehört hat.

Librairie Mollat: Sylvain Prudhomme, L’enfant dans le taxi.

Die Wahrheit kommt erst ans Licht, als Simon einen Brief seines Großonkels Louis, Immmas jüngerem Bruder, erhält. Louis bestätigt M.s Existenz, korrigiert Simons Irrtum bezüglich des Nachnamens von M.U. zu M.H. und enthüllt M.s wahren Beruf als Antiquitätenhändler. Louis berichtet ausführlich von M.’s Besuch bei Malusci im Jahr 1962, als M. im Alter von 15 Jahren mit einem Taxi aus Deutschland anreiste, von Malusci jedoch abgewiesen wurde und daraufhin drei Tage bei Louis und Jacqueline wohnte, bevor er zurückgeschickt wurde. Später schickte M.s Mutter, Liselotte H., Briefe, aus denen hervorgeht, dass M. später in die Fremdenlegion eintrat, desertierte und dafür vierzig Jahre lang ein Einreiseverbot für Frankreich erhielt. Schließlich offenbart Franz, dass er selbst auch ein „M.“ ist, ein Kind eines alliierten Soldaten und einer deutschen Mutter, und teilt mit, M. habe Malusci kurz vor dessen Tod doch noch einmal besuchen können, wobei Franz als Übersetzer fungierte. M. lehnte es jedoch ab, an Maluscis Beerdigung teilzunehmen, schickte aber eine Rose als Abschiedsgruß. Diese umfassenden Enthüllungen bestärken Simon in seinem Entschluss, M. persönlich zu besuchen.

Die Beerdigung des Patriarchen wird zum Katalysator für die Enthüllung eines tief vergrabenen Familiengeheimnisses, das die jahrzehntelange Verdrängung der deutsch-französischen Geschichte innerhalb der Familie symbolisiert.

Pouvant revoir la scène avec tout ce qu’elle avait eu d’inattendu, d’ahurissant : moins en fin de compte l’extrémité d’une pelote que la mèche d’une bombe que l’homme en question – ce fameux Franz – m’avait à l’improviste mise entre les mains, cela sans prévenir, sans que ni moi ni personne ait rien vu venir, quelques mots soufflés comme en douce, dans la plus parfaite discrétion vis-à-vis des dizaines d’autres convives qui n’avaient rien deviné, rien entendu de nos deux ou trois minutes de conversation, la maison entière absorbée dans les effusions de l’après-cérémonie, Imma encore un peu hagarde là-bas dans le coin de canapé où ses enfants l’avaient fait asseoir, entourée d’attentions, de gentillesse, de mots de réconfort qu’elle ne semblait plus entendre, dépassée par le bruit alentour, comme épuisée, vidée par l’émotion des derniers jours qui enfin retombait.

Sylvain Prudhomme, L’enfant dans le taxi, P.O.L., 2023.

Ich konnte die Szene mit all ihren unerwarteten und verblüffenden Details noch einmal vor mir sehen: weniger das Ende eines Knäuels als vielmehr die Zündschnur einer Bombe, die mir der betreffende Mann – dieser berühmte Franz – unerwartet in die Hand gedrückt hatte, ohne Vorwarnung, ohne dass ich oder irgendjemand etwas kommen sah, mit ein paar leise geflüsterten Worten, in aller Diskretion gegenüber den Dutzenden anderen Gästen, die nichts ahnten, nichts von unserem zwei-, dreiminütigen Gespräch mitbekommen hatten, während das ganze Haus in den Feierlichkeiten nach der Zeremonie versunken war, Imma saß noch etwas benommen in der Sofaecke, wo ihre Kinder sie hingesetzt hatten, umgeben von Aufmerksamkeit, Freundlichkeit und tröstenden Worten, die sie nicht mehr zu hören schien, überwältigt vom Lärm um sie herum, wie erschöpft, ausgelaugt vom Gefühlsaufruht der letzten Tage, der endlich nachließ.

Franz‘ Enthüllung wird als „Zündschnur einer Bombe“ beschrieben, die Simon in die Hände gelegt wird. Dies veranschaulicht die explosive Natur des Geheimnisses und seine Fähigkeit, die sorgfältig konstruierte Fassade der Familie zu sprengen. Die Beerdigung ist ein Moment des kollektiven Abschieds und des ersehnten „Friedens“, der jedoch als „l’autre nom du déni“ (der andere Name der Verleugnung) entlarvt wird. Immas verwirrter Zustand („hagarde“) und ihre spätere Weigerung, über M. zu sprechen, zeigen die psychologische Last des Geheimnisses und den Wunsch, die „Vergangenheit ruhen [zu] lassen“, um Maluscis Leben nicht zu „beschmutzen“. Die Szene ist ein Mikrokosmos der breiteren gesellschaftlichen Verdrängung der Nachkriegsgeschehen.

Simons anfängliche Recherche und die Rückkehr der Erinnerung an „die Deutsche vom Bodensee“ durch Bahis Zeugnis offenbaren die fragmentierte und unerwartete Natur der historischen Wahrheit, die sich über transnationale und soziale Grenzen hinweg manifestiert.

Alors d’un coup ça m’est revenu. D’un coup j’ai repensé à l’Allemande du lac de Constance. D’un coup j’ai fait le lien entre elle et M. Je me suis revu dix ans plus tôt en train d’écouter l’ancien ouvrier algérien qui le premier m’avait parlé de cette femme, m’avait dit combien mon grand-père l’avait aimée, m’avait raconté avec quels trémolos dans la voix il continuait de l’évoquer chaque fois, des années et des années après la fin de la guerre, même marié depuis longtemps avec Imma, même installé depuis quinze ans de l’autre côté de la Méditerranée, dans cette ferme d’Oranie où se déroulait désormais leur paisible vie de famille, heureux parents de trois enfants déjà, à au moins deux mille kilomètres au sud des rives du lac où tout avait eu lieu.

Sylvain Prudhomme, L’enfant dans le taxi, P.O.L., 2023.

Da fiel es mir plötzlich wieder ein. Ich musste an die Deutsche vom Bodensee denken. Plötzlich stellte ich die Verbindung zwischen ihr und M. her. Ich sah mich zehn Jahre zuvor wieder, wie ich dem ehemaligen algerischen Arbeiter zuhörte, der mir als Erster von dieser Frau erzählt hatte, mir gesagt hatte, wie sehr mein Großvater sie geliebt hatte, mir mit zitternder Stimme erzählt hatte, wie er jedes Mal von ihr sprach, Jahre und Jahre nach Kriegsende, obwohl er längst mit Imma verheiratet war und seit fünfzehn Jahren auf der anderen Seite des Mittelmeers auf dem Bauernhof in der Oran-Region lebte, wo er nun mit seiner Familie ein friedliches Leben führte und bereits glücklicher Vater von drei Kindern war, mindestens zweitausend Kilometer südlich der Ufer des Sees, an dem alles geschehen war.

Die Erinnerung an „die Deutsche vom Bodensee“ wird nicht direkt von der Familie weitergegeben, sondern kommt über Bahi, einen algerischen Arbeiter auf Maluscis Farm in Oran. Dies verdeutlicht, wie Geschichte oft von den Rändern her, von den „vergessenen“ Zeugen, ans Licht kommt. Maluscis Vertrauen in Bahi, seine intimsten Erinnerungen zu teilen, zeigt eine unerwartete Verbindung über soziale und koloniale Hierarchien hinweg. Simons Erkenntnis, dass er in seinem früheren Buch nur einen Teil des Geheimnisses (nur die Affäre selbst) enthüllt hatte und M. vollständig übersehen hatte, erweist die Komplexität der Wahrheit und die Notwendigkeit einer tieferen, umfassenderen Betrachtung der Geschichte.

Immas vehementer Widerstand gegen Simons Suche nach M. offenbart die tief verwurzelte Angst der älteren Generation vor der „Beschmutzung“ der Vergangenheit und die damit verbundene Weigerung, die mühsam etablierte „Frieden“ – die eigentlich eine Form der Verleugnung ist – zu stören.

Je ne veux plus qu’on salisse la vie de mon mari tu m’entends. […] Je veux qu’on laisse mon mari en paix. Qu’on lui fiche la paix tout simplement la paix est-ce qu’il n’a pas le droit lui aussi de dormir en paix comme n’importe qui. […] Pourquoi tu ne le laisses pas en paix. Cela dit sans plus la moindre colère à présent, de sa voix la plus calme, non plus comme un reproche mais comme une vraie question, la voix d’une vieille dame qui ne cherchait plus à convaincre, seulement à comprendre. Pourquoi tu ne t’occupes pas de ta famille de tes enfants qui grandissent. […] Le problème n’était-il pas plutôt que la paix soit l’autre nom du déni. L’autre nom de l’effacement pur et simple de vies.

Sylvain Prudhomme, L’enfant dans le taxi, P.O.L., 2023.

Ich will nicht, dass man das Leben meines Mannes weiter beschmutzt, hörst du mich? […] Ich will, dass man meinen Mann in Ruhe lässt. Man soll ihn einfach in Ruhe lassen, hat er nicht auch das Recht, in Frieden zu schlafen wie jeder andere auch? […] Warum lässt du ihn nicht in Ruhe? Das sagte sie nun ohne jede Wut, mit ruhiger Stimme, nicht mehr als Vorwurf, sondern als echte Frage, die Stimme einer alten Dame, die nicht mehr überzeugen wollte, sondern nur noch verstehen. Warum kümmerst du dich nicht um deine Familie, um deine Kinder, die groß werden? […] War das Problem nicht eher, dass Frieden ein anderer Name für Verleugnung ist? Ein anderer Name für die schlichte Auslöschung von Leben.

Immas Reaktion, „schneidend wie eine Klinge“, zeigt ihre Entschlossenheit, die Fassade zu wahren. Ihr Wunsch, Maluscis Leben nicht „beschmutzt“ zu sehen und ihm „Frieden“ zu gewähren, ist ein Ausdruck des Nachkriegstraumas und des Bedürfnisses nach Normalität und Verdrängung. Simon reflektiert jedoch, dass dieser „Frieden“ auch der Verleugnung eines Lebens sein kann. Immas Forderung, dass Simon sich um „seine eigene Familie“ kümmern solle, spiegelt die traditionelle Familienehre wider, die die „wahre Familie“ über verborgene oder „illegitime“ Beziehungen stellt.

Recherchen im Werk von Sylvain Prudhomme

Mehrere Romane von Sylvain Prudhomme ähneln den Recherchen von Maluscis Enkel im Sinne eines aktiven Suchens und Sammelns von Geschichten, Erinnerungen und Fakten, um verborgene Wahrheiten oder die Komplexität vergangener Ereignisse aufzudecken.

Là, avait dit Bahi

Dieser Roman ist unmittelbar mit den Recherchen von Maluscis Enkel verbunden, da er die Grundlage für die Entdeckung des deutschen Sohnes M. bildet. Der Erzähler sucht hier gezielt den ehemaligen algerischen Arbeiter Bahi auf, damit dieser ihm seine Erinnerungen erzählt. Bahi berichtet detailliert über seine tiefe, aber auch komplexe Beziehung zu Malusci, die Zeit auf der Farm in Algerien und die verdrängten Geschehnisse des Algerienkrieges. Diese Art der narrativen Struktur, die auf der Sammlung mündlicher Überlieferungen basiert, ist ein zentrales Element, das Là, avait dit Bahi direkt mit den späteren Enthüllungen in L’enfant dans le taxi verbindet.

Légende

In diesem Roman unternimmt der Filmemacher Matt, ein Freund des Protagonisten Nel, eine umfangreiche Recherche, um das Leben von Nels verschwundenen Cousins, Fabien und Christian, zu rekonstruieren. Matt führt hierfür Interviews mit verschiedenen Personen (z.B. Josette, Toussaint, Joseph), die die Brüder kannten. Seine Motivation ist es, „die Existenz eines Individuums nach dem Zufallsprinzip zu durchleuchten, bis in ihre geheimsten Falten, ihre kleinsten Verästelungen“. Er fragt nach Fotos und forscht sogar in Büchern und online nach wissenschaftlichen Entdeckungen der Cousins. Diese systematische und doch von persönlichen Fragen getriebene Untersuchung ist sehr vergleichbar mit dem Vorgehen von Maluscis Enkel.

Par les routes

Obwohl hier der Erzähler selbst der „Autostoppeur“ ist, der seine eigenen Reisen beschreibt und nicht explizit eine externe Recherche durchführt, handelt es sich um eine Form der existenziellen und sozialen Erkundung durch zufällige Begegnungen und Gespräche. Der Autostoppeur ist ein aufmerksamer Zuhörer, der die Geschichten und Lebensansichten seiner Mitfahrer sammelt und reflektiert. Er sucht gezielt Orte auf, oft anhand von Namen, die eine bestimmte Qualität repräsentieren („Voyages adjectifs“, „Voyages amoureux“), und sendet Postkarten, die die gesammelten Eindrücke festhalten. Die Familie des Erzählers nimmt sogar „Missionen“ für ihn an, indem sie ihn bittet, bestimmte Orte zu besuchen und Fotos zu schicken. Dies ist eine andere Art der „Recherche“, die darauf abzielt, die menschliche Erfahrung und die Beschaffenheit des Landes zu verstehen, wenn auch weniger auf eine spezifische, verborgene Familiengeschichte ausgerichtet. Der Erzähler ist selbst ein Schriftsteller, der über seine eigenen Schreibprozesse nachdenkt und wie das Erlebte in die Kunst übergeht.

Sylvain Prudhommes Texte beruhen häufig auf dem Sammeln und der Rekonstruktion von Geschichten, oft durch Begegnungen, Interviews und die Erforschung vergrabener Vergangenheiten. Dies ist ein wiederkehrendes Motiv in seinen Werken, insbesondere in Là, avait dit Bahi, Légende und Par les routes.

Malusci und Bahi in L’enfant dans le taxi und in Là, avait dit Bahi

Der Roman Là, avait dit Bahi (Gallimard, 2012) von Sylvain Prudhomme erkundet die algerische Geschichte im Vorfeld und während des Unabhängigkeitskrieges, erzählt durch die Augen des altgedienten algerischen Farmarbeiters Bahi und des jungen Erzählers. Die Erzählung wird während einer Reihe von gemeinsamen Fahrten in Bahis Lastwagen durch das heutige Algerien entwickelt, wo der greise Bahi dem Erzähler seine Erinnerungen an die Farm Maluscis, des uns schon bekannten französischen Siedlers in Oran, anvertraut. Dabei zeichnet Prudhomme ein Porträt von Malusci als einem exzentrischen, aber auch naiven und oftmals verdrängenden Kolonialherren, dessen Leben in enger, aber ambivalenter Beziehung zu seinen algerischen Angestellten steht. Die zentrale Figur Bahi präsentiert sich als pragmatischer und zäher Mann, der trotz der kolonialen Unterdrückung und der Gewaltexzesse des Krieges eine bemerkenswerte Vitalität bewahrt. Seine Erzählungen enthüllen die komplexe Dynamik zwischen Malusci und seiner Belegschaft, die Malusci trotz ihrer heimlichen Zugehörigkeit zur algerischen Widerstandsbewegung wiederholt vor dem Tod bewahrt. Die späte briefliche Kontaktaufnahme zwischen dem in Frankreich verbliebenen, gealterten Malusci und Bahi, die den Kern des Buches bildet, dient dabei als Brücke, um die Bruchlinien der Vergangenheit und die kollektive wie individuelle Aufarbeitung von Erinnerungen auszuloten.

In Sylvain Prudhommes Romanen L’enfant dans le taxi und Là, avait dit Bahi stehen die Figuren Malusci und Bahi in einer komplexen, vielschichtigen Beziehung zueinander, die sowohl von tiefen persönlichen Bindungen als auch von historischen und sozialen Gräben geprägt ist. Malusci war einerseits europäischer Kolonist („enfant de colons“) und hatte andererseits als Teil der französischen Besatzungstruppen in Deutschland gedient. Seine Familie stammte aus dem Süden Frankreichs, verwurzelt in der mediterranen Kultur („sang du Sud“). Bahi war Algerier, der Sohn eines Hufschmieds auf der Farm Maluscis. Er war ebenso mit dem lokalen Land wie mit dem algerischen Widerstand verbunden. Bahi beschreibt Malusci als seinen Arbeitgeber, aber auch als Lehrmeister, Vertrauten und engsten Gefährten („apprenti, son garçon de confiance, peut-être pas tout à fait son ami“). Aus Bahis Sicht liebte Malusci ihn sogar „mehr als seine Frau“ („m’aimant plus même que sa femme“). Malusci vertraute Bahi seine Waffen und das Farmgeld an. Er erlaubte Bahi, seinen Traktor zu fahren und frei sein Haus und sein Zimmer zu betreten.

Obwohl die Beziehung persönlich tief war, blieb Malusci der Arbeitgeber und Bahi der Angestellte. Malusci nutzte Bahi manchmal, um Bahis Vater Streiche zu spielen und ihn zu demütigen. Bahi hingegen war während des Algerienkrieges heimlich Teil der FLN-Widerstandsbewegung und plante gegen die französische Kolonialherrschaft, während er Malusci gleichzeitig beschützte. Malusci wusste nichts von den Gefahren, in denen er schwebte, und dass seine Arbeiter, einschließlich Bahi, ihn mehrmals vor dem Tod retteten („Malusci n’aura jamais rien su“, „sauvé par trois fois d’une mort certaine et ne pas même le savoir“). Malusci bot Bahi an, mit ihm nach Frankreich zu gehen und ihm eine Farm zu kaufen, um ihn als seinen Sohn bei sich zu haben („être désormais mon fils“). Bahi lehnte dies jedoch ab, da er seinen eigenen Vater nicht verlassen konnte. Trotz der Trennung schrieben sie sich Jahre später Briefe, was auf eine anhaltende, wenn auch distanzierte, Verbindung hindeutet.

Malusci schien an einer romantisierten Version seiner Vergangenheit als Kolonist festzuhalten und die Realitäten des Krieges und die Rolle seiner Arbeiter zu verdrängen. Er verleugnete die Existenz seines unehelichen Sohnes M. und der deutschen Frau Liselotte über Jahrzehnte hinweg. Bahi hatte eine lebendige und emotionale Erinnerung an die Vergangenheit, insbesondere an die deutsche Frau und Maluscis Liebe zu ihr. Er erzählte dem Erzähler seine Erinnerungen, wodurch die Vergangenheit „wieder auflebte“. Er trug die Narben des Krieges und persönlicher Verluste in sich, wie den Tod seines Vaters.

Maluscis größtes Geheimnis war gleichwohl der uneheliche Sohn M., den er nicht anerkennen wollte und dessen Existenz er verdrängte. Er war sich der lebensrettenden Taten seiner algerischen Arbeiter ihm gegenüber nie bewusst. Bahis Leben war von dem großen Geheimnis seines doppelten Lebens als Arbeiter auf Maluscis Farm und aktives Mitglied der FLN geprägt, der Maluscis Leben schützte, obwohl er Befehle hatte, ihn zu töten. Insgesamt verkörpert Malusci die Figur des Kolonisten, der sich an seine Vergangenheit klammert und die Wahrheit seiner Umgebung und seiner eigenen Familie verdrängt, um sein Idealbild aufrechtzuerhalten. Im Gegensatz dazu steht Bahi als der widerstandsfähige, loyale und doch heimlich rebellische Algerier, der die Vergangenheit klarer erinnert und durch seine Erzählungen die verborgenen Schichten der Geschichte und menschlichen Beziehungen offenbart. Ihre Beziehung ist ein Mikrokosmos der komplexen, oft widersprüchlichen Dynamiken der Kolonialzeit und ihrer Nachwirkungen, die von Zuneigung und Verrat, Schutz und Ausbeutung geprägt sind.

Là, avait dit Bahi demonstriert gerade in der Verknüpfung mit L’enfant dans le taxi eine vielschichtige Konstruktion von Erinnerung, die nicht objektiv ist, sondern subjektiv gefärbt, kollektiv geformt und bewusst oder unbewusst zur Bewältigung von Traumata und zur Aufrechterhaltung von Identitäten eingesetzt. Die oft widersprüchlichen Versionen derselben Ereignisse, wie etwa die Anzahl der geopferten Schafe oder die verschiedenen Versuche, Malusci zu töten, machen deutlich, dass „Wahrheit“ im Dienst des menschlichen Bedürfnisses nach Sinnstiftung steht. Das Buch präsentiert die Ambiguität kolonialer Beziehungen, die über einfache Opfer-Täter-Dichotomien hinausgeht. Die eigenwillige Mischung aus Loyalität und Groll, Zuneigung und Abhängigkeit zwischen Malusci und Bahi, in der Malusci sogar vom algerischen Widerstand geschützt wird, hebt die vielschichtige menschliche Dimension historischer Konflikte hervor und suggeriert die Möglichkeit einer komplexen, wenn auch unvollkommenen, Koexistenz. Die beharrliche Suche des Erzählers und die späte, durch Briefe und Gespräche vermittelte Konfrontation mit diesen tief verwurzelten Erinnerungen legen nahe, dass eine ehrliche Auseinandersetzung mit der oft schmerzhaften Vergangenheit der erste Schritt zu einer Form der Heilung oder Versöhnung sein kann – nicht im Sinne eines einfachen Abschlusses, sondern eines fortlaufenden Verständnisses und der Akzeptanz der Ambiguitäten.

Kinder des Krieges

M.s verzweifelter Versuch in L’enfant dans le taxi, seinen Vater zu treffen, und die darauffolgende Episode in der Fremdenlegion, offenbaren die institutionelle und persönliche Härte der Nachkriegszeit, die die Geheimhaltung und die Trennung zwischen französischen und deutschen „Kindern des Krieges“ aufrechterhielt.

M. le fils allemand de Malusci tu es au courant n’est-ce pas que ton grand-père a eu un fils en Allemagne à l’époque où il était soldat d’occupation au bord du lac de Constance… incapable de dire ce mot : le fils de Luciano, attendu que de fils il ne pouvait de toute façon y en avoir qu’un… Malusci pendant tout ce temps introuvable, planqué derrière quelle fenêtre entrouverte pour lui permettre d’assister secrètement à toute la scène, caché dans quel placard, bouclé à double tour dans quelle soupente du grenier pour éviter d’avoir à parler au gamin, éviter d’avoir à le prendre dans ses bras, éviter d’avoir à le regarder en face, éviter d’avoir à affronter le spectacle de sa détresse, de son désespéré désir de le rencontrer, lui Malusci, son père, de recevoir de lui un geste de tendresse, une marque de curiosité, ne serait-ce qu’un mot sincère, une vérité qui ensuite l’accompagne et lui procure un minimum de réconfort dans sa vie d’enfant non voulu.

Sylvain Prudhomme, L’enfant dans le taxi, P.O.L., 2023.

Herr Maluscis deutscher Sohn, Sie wissen doch, dass Ihr Großvater einen Sohn in Deutschland hatte, als er als Besatzungssoldat am Bodensee stationiert war … unfähig, dieses Wort auszusprechen: der Sohn von Luciano, da es ja ohnehin nur einen Sohn geben konnte … Malusci war die ganze Zeit unauffindbar, versteckt hinter welchem halb geöffneten Fenster, um heimlich die ganze Szene beobachten zu können, versteckt in welchem Schrank, doppelt verschlossen in welchem Dachboden, um nicht mit dem Kind sprechen zu müssen, um es nicht in die Arme nehmen zu müssen, um ihm nicht ins Gesicht sehen zu müssen, um nicht mit seiner Verzweiflung konfrontiert zu werden, mit seinem verzweifelten Wunsch, ihn zu treffen, ihn, Malusci, seinen Vater, von ihm eine Geste der Zärtlichkeit zu erhalten, ein Zeichen der Neugier, sei es auch nur ein aufrichtiges Wort, eine Wahrheit, die ihn dann begleitet und ihm ein Minimum an Trost in seinem Leben als ungewolltes Kind verschafft.

M.s Ankunft mit dem Taxi aus Deutschland ist ein „Blitz eines übersteigerten Verlangens“, ein kindlicher Akt der Hoffnung auf Anerkennung. Maluscis Verstecken und Immas Ablehnung („il ne veut pas“) sind eine grausame Abweisung. Die Episode mit der Fremdenlegion, in die Malusci M. später aus einer missverstandenen Geste der Integration heraus schickt („Toi qui veux être mon fils sois d’abord un homme.“), entpuppt sich als traumatische Erfahrung und führt zu einem 40-jährigen Einreiseverbot für Frankreich. Diese institutionelle Bestrafung eines „Deserteurs“ verlängert die Trennung und symbolisiert die bürokratischen und militärischen Mauern, die zwischen den „Kriegskindern“ und ihrer französischen Herkunftsseite errichtet wurden. Louis‘ emotionale Beschreibung dieser Ereignisse zeigt die Tragik und das Ausmaß der Ablehnung.

Die Entdeckung von M.s wahrer Identität als Antiquitätenhändler (statt des irrtümlich angenommenen Busfahrers) verleiht seiner Figur eine tiefere metaphorische Bedeutung, die seine eigene Rolle als Bewahrer vergessener Geschichten und Werte unterstreicht.

En quelques clics j’ai appris son métier : Antiquitätenhändler, antiquaire, brocanteur. Il apparaissait peu sur internet, avait peut-être cessé d’exercer. Mais il disposait toujours d’une adresse professionnelle dans le centre. J’ai songé à tout ce que cela changeait : M. non plus chauffeur de bus mais marchand d’objets de seconde main. Non plus homme sociable familier de tous les habitants du bourg, habitué à véhiculer les uns et les autres, mais solitaire habitué à côtoyer surtout des choses, à les racheter, les revendre. M. l’orphelin de père entouré d’objets eux-mêmes comme en suspens, sur le point de changer de mains, d’entamer une nouvelle vie. M. l’enfant abandonné qui avait fait profession de s’entourer d’articles délaissés, de veiller sur eux, de découvrir ce qui s’y cachait de valeur inaperçue pour les sauver.

Sylvain Prudhomme, L’enfant dans le taxi, P.O.L., 2023.

Mit ein paar Klicks habe ich seinen Beruf herausgefunden: Antiquitätenhändler, Trödler, Brocanteur. Er war im Internet kaum präsent, hatte vielleicht aufgehört zu arbeiten. Aber er hatte noch eine Geschäftsadresse im Zentrum. Ich dachte darüber nach, was das alles veränderte: Herr X war kein Busfahrer mehr, sondern Händler für Gebrauchtwaren. Er war kein geselliger Mann mehr, der alle Einwohner des Ortes kannte und daran gewöhnt war, sie zu befördern, sondern ein Einzelgänger, der vor allem mit Dingen zu tun hatte, sie aufkaufte und wiederverkaufte. Herr, der Vaterlose, umgeben von Gegenständen, die selbst in der Schwebe zu sein schienen, kurz davor, den Besitzer zu wechseln, ein neues Leben zu beginnen. Herr, das verlassene Kind, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, sich mit ausrangierten Gegenständen zu umgeben, über sie zu wachen, ihren verborgenen Wert zu entdecken, um sie zu retten.

Die Offenbarung von M.s wahrem Nachnamen, H., und seinem Beruf als Antiquar ist ein Wendepunkt. Seine Tätigkeit als „Antiquitätenhändler“ wird zur zentralen Metapher für sein eigenes Leben: Er ist selbst ein „verlassener Gegenstand“ („l’enfant abandonné“), der den Wert des Verborgenen und Vergessenen erkennt. Er „rettet“ Dinge, die andere zurückgelassen haben, ähnlich wie er selbst zurückgelassen wurde. Dieser Beruf verleiht seiner Figur eine poetische Dimension, die Simons eigene Suche nach verborgenen Familiengeschichten und dem Sinn des Lebens widerspiegelt. Es ist ein Akt der Wertschätzung für das, was einst übersehen oder weggeworfen wurde.

Franz‘ Geständnis, selbst ein „M.“ zu sein, schafft eine unerwartete Brücke der Solidarität und des Verständnisses zwischen ihm, Simon und dem „echten“ M., wodurch eine neue, authentischere Identität jenseits der traditionellen Familiennormen entsteht.

Il y a eu 400 000 enfants comme M. 400 000 enfants allemands nés de soldats alliés. […] 400 000 dont moi. Je ne te l’ai jamais dit mais moi aussi je suis un M. Moi aussi je suis né en 1946, d’une mère allemande et d’un père allié.“ … „J’ai songé au mot qui servait communément à nommer les M. et les Franz : des bâtards. J’ai écouté le son glorieux que faisaient ces deux syllabes. J’ai pensé que naître bâtard c’était savoir d’avance que les autres ne vous feraient pas de cadeau. C’était apprendre d’emblée le grand partage entre ceux qui osaient nommer les choses et ceux qui préféraient les taire. Naître bâtard c’était gagner du temps, mûrir à vitesse accélérée, apprendre à composer dès les premiers pas avec le boitement inévitable de la vie. C’était grandir plus courageux, plus honnête avec soi-même et avec la vie, tout simplement plus vrai. N’était-ce pas ce que l’on disait des chiens bâtards : qu’ils étaient beaucoup plus intelligents que tous les chiens de race. Que pour eux la débrouille était question de survie.

Sylvain Prudhomme, L’enfant dans le taxi, P.O.L., 2023.

Es gab 400.000 Kinder wie Herrn M. 400.000 deutsche Kinder, die von alliierten Soldaten geboren wurden. […] 400.000, darunter auch ich. Ich habe es dir nie gesagt, aber auch ich bin ein M. Auch ich wurde 1946 geboren, von einer deutschen Mutter und einem alliierten Vater.“ … „Ich dachte an das Wort, mit dem man die M. und die Franz üblicherweise bezeichnete: Bastarde. Ich lauschte dem glorreichen Klang dieser beiden Silben. Ich dachte, als Bastard geboren zu werden bedeutete, von vornherein zu wissen, dass die anderen einem nichts schenken würden. Es bedeutete, von Anfang an die große Kluft zwischen denen zu lernen, die es wagten, die Dinge beim Namen zu nennen, und denen, die es lieber verschwiegen. Als Bastard geboren zu werden bedeutete, Zeit zu gewinnen, schneller zu reifen, von Anfang an zu lernen, mit den unvermeidlichen Hindernissen des Lebens zurechtzukommen. Es bedeutete, mutiger zu werden, ehrlicher zu sich selbst und zum Leben, einfach wahrhaftiger. War es nicht das, was man von Mischlingshunden sagte: dass sie viel intelligenter seien als alle Rassehunde. Dass für sie das Durchkommen eine Frage des Überlebens sei.

Franz‘ Geständnis, einer von 400.000 deutschen Kindern alliierter Soldaten zu sein, offenbart die Größe des historischen Phänomens und die individuelle Tragik dahinter. Er identifiziert sich mit dem abfälligen Begriff „bâtard“ (Bastard), aber er kehrt seine Bedeutung um: Es ist keine Schande, sondern eine Quelle von Stärke, Wahrheit und Widerstandsfähigkeit. Die „Bastarde“ sind diejenigen, die gezwungen sind, die Dinge beim Namen zu nennen, die Realität des „Hinkens“ des Lebens zu akzeptieren und „einfach wahrer“ zu sein. Diese Solidarität der „Verlassenen“ schafft eine Verbindung, die über Blutsverwandtschaft hinausgeht und eine neue Form von Familie und Identität definiert, die auf geteilter Erfahrung und Empathie basiert.

Die Figuren M. und Franz, als „Kinder alliierter Soldaten und deutscher Mütter“ und somit als „Bâtards“ abgestempelt, verkörpern die transgenerationale Last eines Nachkriegstraumas. Der Text transformiert diese Stigmatisierung jedoch in eine Quelle einzigartiger Resilienz und tieferer Authentizität; ihre marginalisierte Existenz außerhalb der hegemonialen Familienordnung ermöglicht ihnen eine schärfere Wahrnehmung der „Boitement“ des Lebens und eine „wahre“ Auseinandersetzung mit der Realität, die der verleugnenden Mehrheitsgesellschaft verwehrt bleibt.

Die von Franz und Julie initiierte späte Begegnung zwischen Malusci und M. ist ein symbolischer Akt der Versöhnung und des Bruchs mit der jahrzehntelangen Geheimhaltung, auch wenn sie nur durch Vermittlung möglich ist. Die Rose M.s auf Maluscis Sarg ist ein starkes Zeichen der Anerkennung und Vergebung zu seinen eigenen Bedingungen.

C’est-à-dire qu’il a revu Malusci avant sa mort. Pendant toute une semaine. C’était déjà presque la fin, Malusci était à bout de forces, passait la journée entière à dormir. Mais chaque matin pendant une heure ou deux M. est venu s’asseoir à son chevet. […] Et Malusci, j’ai demandé après un temps. Tu as eu l’impression que ça lui faisait plaisir. Je crois, a dit Franz. Il a ri. De toute façon si ça ne lui avait pas fait plaisir il se serait débrouillé pour se défiler. […] Je me suis demandé s’il allait faire ça à M. Mais non. Il lui a pris la main. Il lui a parlé. […] C’est toi qui traduisais, j’ai simplement demandé à Franz. C’est moi, il a répondu.

Sylvain Prudhomme, L’enfant dans le taxi, P.O.L., 2023.

Das heißt, er hat Malusci vor seinem Tod noch einmal gesehen. Eine ganze Woche lang. Es war schon fast das Ende, Malusci war am Ende seiner Kräfte, verbrachte den ganzen Tag schlafend. Aber jeden Morgen kam Herr M. für ein oder zwei Stunden an sein Bett. […] Und Malusci, fragte ich nach einer Weile. Hattest du den Eindruck, dass es ihm Freude bereitete? Ich glaube schon, sagte Franz. Er lachte. Wenn es ihm keine Freude bereitet hätte, hätte er sich schon irgendwie davongeschlichen. […] Ich fragte mich, ob er das mit Herrn M. auch machen würde. Aber nein. Er nahm seine Hand. Er sprach mit ihm. […] Du hast übersetzt, fragte ich Franz. Das war ich, antwortete er.

Die Tatsache, dass M. Malusci eine Woche lang vor dessen Tod besuchte und Franz als Übersetzer fungierte, ist ein zentraler Akt der Versöhnung. Obwohl Malusci nicht Deutsch und M. nicht Französisch sprach, ermöglichte Franz die Kommunikation und damit eine späte Annäherung. Die Geste der Rose, die M. nicht persönlich zur Beerdigung bringt, sondern Franz bittet, sie auf den Sarg zu legen, ist von tiefer Bedeutung. Es ist eine Anerkennung der Vaterschaft, aber zu M.s eigenen Bedingungen – eine Versöhnung, die nicht die Vergebung der Vergangenheit fordert, sondern eine Anerkennung der Gegenwart und M.s Platz darin. M.s Worte „C’est ici qu’est ma place“ zeigen, dass er seinen Frieden in seinem eigenen Leben gefunden hat und nicht länger die Anerkennung durch Maluscis Familie benötigt, um seine Identität zu definieren.

Simons finale Begegnung mit M. endet bewusst offen und deutet eine neue Ära der direkten, empathischen Verbindung an, die über die Last der historischen Geheimnisse hinausgeht und die Möglichkeit individuellen Glücks im Hier und Jetzt feiert.

Alors d’un coup je comprends, d’un coup j’en ai la certitude : M. est amoureux, il aime et il est aimé, et ce coup de fil qu’il passe est celui d’un homme épris comme un gamin, épris comme à quinze ans quand pour la première fois on aime et rien que d’entendre la voix aimée nous électrise. M. est amoureux, j’en ai soudain la certitude – ce n’est donc pas vrai que l’amour ne puisse jamais renaître, le cœur jamais rebattre, ce n’est pas vrai qu’on doive toujours être seul, que même l’abandonné des abandonnés doive toujours souffrir.

Sylvain Prudhomme, L’enfant dans le taxi, P.O.L., 2023.

Da verstehe ich plötzlich, da bin ich mir plötzlich sicher: M. ist verliebt, er liebt und wird geliebt, und dieser Anruf ist der eines Mannes, der verliebt ist wie ein Kind, verliebt wie mit fünfzehn, wenn man zum ersten Mal liebt und schon allein das Hören der geliebten Stimme einen elektrisiert. M. ist verliebt, da bin ich mir plötzlich sicher – es ist also nicht wahr, dass Liebe nie wieder aufleben kann, dass das Herz nie wieder höher schlagen kann, dass man immer allein sein muss, dass selbst der Verlassenste der Verlassenen immer leiden muss.

Die finale Szene, in der Simon M. in seinem Garten beobachtet, wie dieser liebevoll die Spielsachen seiner Enkel wegräumt, und wie er dann dessen Verliebtheit am Telefon bemerkt, ist entscheidend. Simons Erkenntnis, dass M. „verliebt ist, er liebt und er geliebt wird“, durchbricht die Erwartung eines von Schmerz gezeichneten Lebens. Es ist eine Feier des Lebens und der Möglichkeit, trotz vergangener Traumata Glück zu finden.

De l’autre côté de la porte la voix dit déjà ce que j’ai toujours pensé qu’elle dirait. Elle dit le mot, elle le dit d’un ton léger et d’un coup cela paraît presque dérisoire, toutes ces circonvolutions depuis le début pour en arriver là, tous ces errements pour aboutir simplement au fond à cette invitation entendue à travers le panneau de bois qui déjà s’ouvre : Entre.

Sylvain Prudhomme, L’enfant dans le taxi, P.O.L., 2023.

Auf der anderen Seite der Tür sagt die Stimme bereits, was ich immer gedacht habe, dass sie sagen würde. Sie sagt das Wort, sie sagt es in einem leichten Ton, und plötzlich erscheint es fast lächerlich, all diese Umschweife von Anfang an, um hierher zu gelangen, all diese Irrwege, um im Grunde genommen nur zu dieser Einladung zu gelangen, die durch die sich bereits öffnende Holztür zu hören ist: Komm rein.

Das letzte Wort des Romans, „Entre“ („Komm rein“), ist eine offene Einladung, die das Ende von Simons langer Suche markiert und den Beginn einer potenziell heilenden Beziehung zwischen Neffe und Onkel andeutet. Es ist ein Schritt in eine Zukunft, in der direkte Begegnung und Empathie das Schweigen und die Verdrängung der Vergangenheit überwinden können.

Möglichkeit zur Heilung historischer Traumata

Die Erzählweise spiegelt Simons persönliche Suche. Der Erzähler ist selbst ein Autor, der die Geschichte seines Großvaters bereits teilweise in einem früheren Buch behandelt hat. Seine erneute Beschäftigung mit der Materie und das Eingeständnis, wie viel er damals „verpasst“ hat, unterstreichen die iterative Natur der Geschichtsschreibung und die Notwendigkeit, immer wieder „nachzugraben“, um der Wahrheit näherzukommen. Simons Rolle als „Bruder“ der „intranquilles“ und „boiteux“ – der Unruhigen und Hinkenden – verweist auf eine Poetik der Bruchstellen und der Unvollkommenheit, die das Leben und die Geschichte ausmachen.

Obwohl die Erzählung von der Enthüllung eines tief vergrabenen Geheimnisses lebt, findet sie ihren Höhepunkt nicht in einer vollständigen Auflösung, sondern in einer prekären Form der Versöhnung und des empathischen Austauschs. Die Rolle Franz’ als „Übersetzer“ zwischen Vater und Sohn, sowie M.s Geste der Rose am Grab Maluscis, symbolisieren eine subtile Überwindung der familiären Schweigegelübde. Dies deutet darauf hin, dass die Heilung der Familienwunden in der behutsamen Anerkennung des Vergangenen liegt, statt in einer erzwungenen Aufarbeitung, und führt zu einer erweiterten, wenn auch komplexeren Definition von Familie.

Der Roman geht über die bloße Aufdeckung eines Familiengeheimnisses hinaus. Er stellt die Notwendigkeit der Wahrheit in den Mittelpunkt, nicht um zu verurteilen, sondern um zu verstehen und zu heilen. Die Erzählung suggeriert, dass wahrer „Frieden“ nur erreicht werden kann, wenn man sich den unangenehmen Realitäten stellt und die „Auslöschung von Leben“ beendet, die durch Verleugnung entsteht. Indem Simon M. findet und eine potenzielle Verbindung herstellt, deutet der Roman eine Möglichkeit zur Heilung historischer Traumata an, nicht nur auf individueller, sondern auch auf einer generationenübergreifenden Ebene, die auf Empathie und der Akzeptanz der gesamten, oft unübersichtlichen, menschlichen Geschichte beruht. M.s Verliebtheit am Schluss ist dabei nicht nur ein persönlicher Sieg, sondern eine universelle Botschaft.


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